Hell Divers - Buch 3 - Nicholas Sansbury Smith - E-Book

Hell Divers - Buch 3 E-Book

Nicholas Sansbury Smith

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Beschreibung

Die NEW YORK TIMES-Bestseller-Serie Sie springen hinab in die Hölle, damit die Menschheit überlebt ... Zwei Jahrhunderte nach dem Dritten Weltkrieg ist unser Planet nahezu komplett radioaktiv verseucht. Die letzte Bastion der Menschheit sind zwei mächtige Luftschiffe, die den Globus umkreisen – immer auf der Suche nach einem bewohnbaren Gebiet. Doch mit zunehmendem Alter zerfallen die Schiffe. Das Einzige, was sie noch am Himmel hält, sind die Hell Divers: Männer und Frauen, die ihr Leben riskieren, indem sie auf die Erdoberfläche springen, um nach Ersatzteilen zu suchen. Buch 3: Commander Michael Everhart und sein Team kämpfen sich auf der Suche nach Xavier X Rodriguez durch die verpestete Landschaft der Erde. Sie erwarten, auf weitere gigantische Mutationen oder Horden von Kannibalen zu treffen. Doch sie finden etwas ganz anderes. Etwas, das alles ändern wird. Orson Scott Card: »Die Action-Szenen sind sehr gut. Smith schafft es, sie aufregend und lebendig zu schildern.« Bob Mayer: »Unaufhörliche Action und Gefahren in einer rauen postapokalyptischen Welt, in der das Überleben von ein paar tapferen Männern und Frauen abhängt. HELL DIVERS ist ein verdammter Pageturner!« A. G. Riddle: »Eine packende und ungewöhnliche Schilderung vom Untergang der Welt ... Fans von postapokalyptischen Thrillern werden begeistert sein.« Matthew Mather: »Das Ende der Welt sollte eigentlich nicht so viel Spaß machen!« Space and Sorcery: »Solch ein Buch kann Sie bis in die frühen Morgenstunden wach halten.« E. E. Giorgi: »Hugh Howey trifft auf Michael Crichton in Nicholas Smiths neuem postapokalyptischen Thriller.« Sam Sisavath: »Eine Mischung aus WATERWORLD und SNOWPIERCER ... aber mit Monstern und Luftschiffen. Ein Muss für Fans von cleveren postapokalyptischen Storys.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 589

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Hell Divers 3: Deliverance

erschien 2018 im Verlag Blackstone Publishing.

Copyright © 2018 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-783-7

www.Festa-Verlag.de

An meine guten Freunde und Partner bei Blackstone Publishing:

Danke, dass ihr dabei geholfen habt, der Hell Divers-Reihe Leben einzuhauchen. Die Zusammenarbeit mit jedem Einzelnen von euch ist mir eine Ehre.

»Eine große Vision ist nötig, und der Mann, der sie hat, muss ihr so folgen, wie der Adler das satteste Blau des Himmels sucht.«

– Crazy Horse

1

Vor sechs Jahren

Gezackte Blitze zuckten mitten durch die gewaltige Unwetterfront, die sich über dem Ödland zusammenbraute. Die Senke aus rissigem Erdreich schien sich in alle Richtungen endlos zu erstrecken. Das konstant flimmernde Licht erhellte eine Straße, die gewunden durch das kahle Terrain verlief. Vor Hunderten Jahren hätten diese Straße blühende Felder gesäumt. Nun jedoch gab es weit und breit nur zwei Lebewesen, die ihre Spuren im Staub hinterließen.

Ein Mann und sein Hund wanderten über den aufgerissenen Asphalt. Der Mann trug einen schwarzen Strahlenschutzanzug und ein olivfarbenes Halstuch zwischen der Brustpanzerung und dem Helm. Vor langer Zeit hatte das Metall seiner Körperpanzerung matt geschimmert, doch die Jahre unter freiem Himmel hatten alles zu einem stumpfen Grau ausgebleicht. Er hinkte leicht – eine Folgeerscheinung alter Verletzungen und abgenutzter Gelenke.

Der Mann bedeutete dem Hund, zu ihm zu kommen, als sie weiter über die verfallene Straße stapften. Während der 30 Kilo schwere Siberian Husky die kristallblauen Augen auf den Weg gerichtet ließ, behielt der Mann die wirbelnden Sturmwolken im Blick.

Beide suchten sie – der Hund nach Feinden, der Mann nach etwas, an das er sich kaum noch erinnern konnte. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die Form einer aufgedunsenen Wolke, die ihn an einen überdimensionierten Käfer erinnerte. Er blieb auf der Straße stehen, ließ das Gewehr sinken und legte den Kopf schief, als Erinnerungen seinen gequälten Geist fluteten.

»Was du suchst, das gibt es nicht mehr«, murmelte er in kratzigem Flüsterton. »Sie sind inzwischen alle tot.«

Fragend schaute der Husky zu ihm auf, bevor der Hund weiter voraustrabte. Der Mann verharrte im böigen Wind, der sein Halstuch wie ein Flügelpaar hinter ihn wehte, während er in seine Vergangenheit einzutauchen versuchte. Ganz gleich, wie sehr er es versuchte, an bestimmte Dinge konnte er sich einfach nicht erinnern. Auch nicht an wichtige Dinge. Zum Beispiel, wer in seinem alten Leben eine Rolle gespielt hatte, bevor man ihn zurückgelassen hatte. Aber er konnte sich an den eigenen Namen erinnern. Er stand in gekritzelter Handschrift auf der ersten Seite eines eselsohrigen Buches, das er in einer Plastikfolie in der Brusttasche seiner Weste aufbewahrte.

»Du bist Xavier Rodriguez.« Er schluckte, zwang den Speichel seine trockene Kehle hinunter. »Du bist X«, sagte er, diesmal lauter. »Du bist der letzte Mensch auf Erden.«

Miles schaute zu ihm zurück. Der Kunststoff des Strahlenschutzanzugs, den der Hund trug, flatterte hin und her, als Miles mit dem Schwanz wedelte. X spürte ein unwillkürliches Ziehen an den Lippen. Näher war er einem Lächeln seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gekommen. Ihm wurde klar, dass er sich gar nicht an die letzte Gelegenheit dafür erinnern konnte.

»Bleib in Bewegung«, sagte er sich. Die Worte wurden zu einem Mantra, das er in Gedanken unablässig wiederholte, während er sich den Weg über den aufgerissenen Asphalt bahnte, der einst eine Schnellstraße gewesen war.

Sein Weg waren die Straßen. Sie verbanden die Städte der alten Welt miteinander, in denen einst das blühende Leben der Menschen geherrscht hatte. In der Ferne streckten sich die skelettartigen Hüllen von Wolkenkratzern den Sturmwolken entgegen. Ein Kind, das nie eine Stadt gesehen hatte, würde im Leben nicht darauf kommen, dass die Gebilde von Menschen gebaut worden waren. Jemand, der noch nie einen Fuß auf die Erdoberfläche gesetzt hatte, würde sie für einen Bestandteil der Landschaft halten.

Und in gewisser Weise waren sie dazu geworden, genau wie die Gebeine der Menschen und Tiere, die früher hier gelebt hatten. X hingegen wusste nur allzu gut, wie es um die uralten Städte bestellt war – und was in den Labyrinthen der einander kreuzenden Straßen hauste. In dieser Stadt würde es nicht anders sein. Früher einmal hatten hier Millionen Menschen ihr Zuhause gehabt, mittlerweile jedoch beherbergte der Ort nur noch mutierte Bestien wie die Sirenen – genmanipulierte Menschen, die sich zu Monstern weiterentwickelt hatten.

Er selbst besaß keine dauerhafte Heimat mehr. Sein Zuhause war überall dort, wo er entschied, anzuhalten und sich auszuruhen. Er schlief immer dann, wenn sein Körper es brauchte. Da er niemanden zum Reden und nichts anderes zu tun hatte, als quer durch das verwüstete Land zu marschieren, war er in eine Routine verfallen, durch die er sich mehr wie eine Maschine als wie ein Mensch fühlte.

X wanderte.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon gewandert war. Den Überblick über die Zeit hatte er längst verloren. In der Ödnis war die Zeit alles, und die Zeit war nichts. Das hatte er vor langer Zeit gelernt – wann genau, das vermochte er nicht mehr zu sagen. Eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Wie der Kies und der Staub, die um ihn herum durch die Luft wirbelten, tauchten Erinnerungen an sein altes Leben auf und wurden dann verweht. Mittlerweile fand er es fast unmöglich, sich Bilder und Geräusche ins Gedächtnis zu rufen. Dennoch ließ ihn etwas aus seiner Vergangenheit weiterwandern.

Sein Ziel war der Ort, an dem sich Wasser bis zum Horizont erstreckte. Die Erinnerung an jenen Anblick suchte ihn heim, rief nach ihm. Er hatte vergessen, wie die Menschen es früher genannt hatten, aber von seinen Sprüngen erinnerte er sich daran, wie kalt und dunkel es aussah. Das schien vor einer Ewigkeit gewesen zu sein. Andererseits galt das Gleiche für seine Wanderung durch die Ödnis. Wie lange reiste er schon, seit er den Hades verlassen hatte? Vier Jahre? Oder waren es bereits fünf? Konnte es noch länger sein?

Blitze bohrten sich in der Ferne in den Boden, versengten die vernarbte Erde. Der dazugehörige Donnerschlag brachte sein Visier zum Vibrieren. Das darauffolgende Geheul ließ ihn mitten im Schritt erstarren. Miles blieb ebenfalls stehen und stellte im Helm die Ohren auf.

Das Kreischen des Windes klang genau wie die Monster – eine schrille Sirene, die Gefahr und Tod auf schnellen Flügeln ankündigte. Ein Geräusch, das X nie vergessen würde, ein Geräusch, das ihn immer das abgewetzte Gewehr anheben und auf die verstrahlte Landschaft richten ließ. Er suchte nach den Schemen der Sirenen, entdeckte jedoch nichts.

Die kalten Finger des Windes schlängelten sich durch die Löcher in seinen abgetretenen Stiefeln und in seiner Kleidung. Ein weiterer Windstoß fuhr ihm in die Seite. Der Kies und der Staub sammelten sich in Schichten unter seinem Anzug und seiner Körperpanzerung. Ganz gleich was er versuchte, er schien den Dreck einfach nicht draußen halten zu können.

Er schlang sich den Riemen seines Gewehrs über den Rücken und drückte das lose Klebeband nieder, das um sein Handgelenk flatterte. Es hatte sich gelöst und seine dunkle Haut ungeschützt der Luft entblößt. X betrachtete sein Fleisch, als sähe er es zum ersten Mal. Der Dreck verkrustete seinen gesamten Körper wie eine zusätzliche Hautschicht. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er sich zuletzt sauber gefühlt hatte, doch er hatte längst aufgehört, sich daran zu stören. Es zählte nur, sich die Strahlung vom Leib zu halten.

X füllte sich die Lunge mit einem tiefen Atemzug gefilterter Luft. Manchmal vergaß er, wie erschöpft er davon war, ständig von Stadt zu Stadt zu wandern und in alten Gebäuden alles zu plündern, was er zum Überleben brauchen konnte, während er nach dem Ozean suchte.

So haben es die Menschen genannt, ging es ihm durch den Kopf. Ozean.

Er band eine Schnur um sein Handgelenk, um das Klebeband zu fixieren, dann griff er nach dem Gewehr. Es verfing sich an seinem riesigen Rucksack, der alles enthielt, was er besaß, von der Wasserreinigungsvorrichtung, in die er jeden Abend pinkelte, bis hin zu den Blöcken kalorienreicher, synthetischer Nahrung, die ihm und dem Hund die nötige Energie lieferte, um weiterzumachen.

Das Gewicht des Rucksacks lastete schwer auf seinen Schultern, allerdings nicht annähernd so schwer wie das Wissen, dass er den letzten Menschen auf der Erde verkörperte.

Er kämpfte sich vorwärts, zwang seine Beine, ihn einige weitere Schritte zu tragen. Bleib in Bewegung. Sein Blick schnellte zurück zu den Sturmwolken, die elektrische Entladungen ausspien. Die grellsten Ranken schossen zur Erde herab und schlugen im Westen in den Boden ein. Ein weiterer Blitz fuhr weiter im Osten in die Erde. In den Abständen dazwischen erschien ein seltsam geformtes Licht über der Kuppel der Wolken, wie eine Glühbirne, die von einer versiegenden Energiequelle gespeist wird.

Das waren keine Blitze.

Ein Gefühl von Ehrfurcht überkam ihn, als er die Strahlen betrachtete. Wo er das blaue Restlicht von Blitzen erwartete, sah er einen warmen, orangefarbenen Schimmer.

»Das kann nicht sein«, murmelte er.

Miles legte bei dem neuen, ungewöhnlichen Anblick den behelmten Kopf schief.

Bis X verarbeitete, dass es sich tatsächlich um die Sonne handelte, hatten Wolken den warmen Schein wieder verschluckt. Er hatte die Sonne so lange nicht mehr gesehen, dass er völlig vergessen hatte, wie wunderschön sie war.

X blies die Luft aus, als er bemerkte, dass er unterbewusst den Atem angehalten hatte. Etwas aus der Vergangenheit zu sehen, half ihm manchmal, sich an andere Dinge zu erinnern. Er schloss die Augen und versuchte, sich die schnittigen, käferähnlichen Konturen des Luftschiffes vorzustellen, das er einst als Zuhause betrachtet hatte. Als Nächstes rief er sich dessen Inneres ins Gedächtnis. Vor seinem geistigen Auge sah er die Umrisse von Bewohnern, die durch die schmalen Gänge liefen. Wie jedes andere Mal, wenn er sich zu erinnern versuchte, besaßen diese Menschen keine Gesichter.

Er kramte sein Tagebuch und einen Stift heraus, bereitete sich vor, um alles aufzuschreiben, was ihm einfiel. Aber das gedankliche Bild hatte sich bereits wieder verflüchtigt.

Ein neuer Blitz fuhr nicht weit vor ihm in die Erde und sträubte ihm die Nackenhaare, dann setzte Regen ein und prasselte auf seinen Körper. Rasch verstaute er das kostbare Buch und den Stift wieder in ihrer wasserdichten Hülle und steckte sie zurück in seine Weste. Anschließend hob er sich das Zielfernrohr seines Gewehrs ans Visier und schwenkte die Mündung langsam über die Landschaft, hielt Ausschau nach einem Unterstand.

Viel gab es hier draußen nicht, nur vereinzelte Stämme abgestorbener Bäume oder Mauerreste einiger, vor langer Zeit zerstörter Gebäude. Im Osten bemerkte er Ansammlungen von rotem giftigem Unkraut. Hinter dem Feld jener Pflanzen, die in dem radioaktiven Umfeld gediehen, schützte ein felsiger Hügel die Ziegelsteingrundmauern einer alten Gemeinde.

Würde reichen müssen.

X ließ das Zielfernrohr in dem Moment sinken, als eine Bewegung aufblitzte und etwas zwischen den Grundmauern hervorhuschte und in einem Loch im Boden verschwand.

Über ihm rankte sich ein Blitz über den Himmel, aber X zuckte mit keiner Wimper. Sein Blick blieb auf einen einzigen Punkt fixiert. Hier draußen konnte eine Bewegung von einem Staubsturm bis hin zu einem mutierten Monster alles Mögliche sein. Die meisten Bestien ernährten sich von Pflanzen, aber auch sie würden sich mit Freuden seinen Hund oder ihn zu Gemüte führen, wenn sie ihnen zu nahe kämen.

Donner grollte am Himmel wie eine weitere Warnung. X hob den linken Arm und überprüfte die Strahlungswerte auf der Messanzeige, die wie eine überdimensionierte Uhr aussah. Die Strahlung in diesem Gebiet erwies sich als minimal.

Dann suchte X erneut den Himmel auf Anzeichen der Sirenen ab. Er hatte schon länger keine der geflügelten Monster mehr gesehen, dennoch wurde er nie unachtsam, blieb sich der Bedrohung durch sie stets bewusst und lauschte auf ihr widernatürliches Geheul.

»Komm mit, Junge«, sagte X schließlich.

Er ließ die Nachtsichtoptik ausgeschaltet, um die Batterie zu schonen, und knipste stattdessen die Taschenlampe an, richtete den hellen Strahl auf das Erdreich rechts der Straße. Er orientierte sich an dem Licht und verfiel an der Seite seines einzigen Freundes auf der Welt in Laufschritt. Wohin er auch blickte, verunstalteten Risse und Löcher die Landschaft wie einen verstümmelten Körper.

X entfernte sich nicht gern von der Fernstraße. Es war sicherer, ihr zu folgen. Die Fernstraße bewegte sich nicht. Zumindest das schien auf der verfluchten Erde konstant zu bleiben.

Ein Käfer der halben Größe von Miles streckte zwei faserige Fühler aus einer Höhle im Erdreich. X verlangsamte die Schritte und beobachtete, wie der schwarz gepanzerte Rumpf zum Vorschein kam. Als der Käfer loskrabbelte, waberten die Fühler hin und her. Wie so viele Kreaturen auf der Erdoberfläche besaß auch dieses Geschöpf keine Augen.

Wieder wurde X an das Luftschiff am Himmel erinnert. Aber auch an all die Kreaturen, die unter der Erde lebten, vom Ödland bis hin zu der Wüste, die er einst durchquert hatte. Schlangen, groß genug, um einen Menschen zu verschlingen, jagten zwischen den Dünen, gruben mit ihren schuppigen, gepanzerten Körpern Tunnel durch den Sand. Seine erste Begegnung mit ihnen hätte ihn um ein Haar das Leben gekostet.

Die Insekten erwiesen sich in der Regel als harmlos, trotzdem wollte er kein Risiko eingehen. Er trat die Kreatur mit dem Stiefel beiseite. Hastig wieselte sie davon und suchte sich ein Versteck.

X setzte den Weg fort, ließ weiter den Blick über die Risse und Löcher im Boden wandern. Ihm bereitete weniger Sorgen, dass etwas aus der Erde gekrochen kommen könnte, sondern vielmehr die Gefahr, in eine Ritze zu stolpern und sich das Fußgelenk zu brechen. Das wäre schlimm. Und manchmal beherbergten die Löcher größere Kreaturen als Insekten. Das wäre noch schlimmer.

Wenigstens erwies sich der Boden hier als solide. Über Sand zu marschieren, war eine Erfahrung, die X niemals wiederholen wollte.

»Bleib dicht bei mir, Junge«, sagte er zu Miles.

Der felsige Hügel wurde größer, als sie sich ihm näherten. Es handelte sich um eine natürliche Formation, nicht um einen Haufen Schutt oder Geröll von einem zerstörten Gebäude. Besser noch, X erkannte einen Überhang, der Miles und ihn vor dem Wind und dem Regen schützen würde.

Er lief schneller, konnte es kaum erwarten, seine Ausrüstung auszupacken und ein Feuer anzuzünden. Im Westen durchzuckten knisternde Blitze den Himmel, auf die ein Blinzeln danach Donnerschläge folgten. Das Feld der giftigen Pflanzen zog sich in dem plötzlichen Regenguss zurück, schlängelte sich in Löcher in der Erde.

Die Tropfen prasselten auf X’ Visier und liefen über die dicke Scheibe hinab. Er schaltete die Taschenlampe aus und die Nachtsichtoptik wieder ein, als er sich dem Hügel näherte. Miles blieb stehen, allerdings nicht, weil das Licht erloschen war. Im Gegensatz zu X war der Hund gentechnisch so modifiziert worden, dass er in beinahe völliger Finsternis sehen konnte.

»Was ist?«, fragte X und hob das Gewehr an.

Einige Augenblicke lang standen sie schweigend da, während der verseuchte Regen auf ihre Strahlenschutzanzüge einprasselte. Schließlich trottete der Hund weiter, und X ließ das Gewehr sinken, bevor er ihm vorsichtig folgte.

Reste von Grundmauern aus Ziegelstein verliefen 60 Meter weit vor ihm. Die Felserhebung ragte dahinter drei oder vier Stockwerke hoch in den Himmel. X schabte mit der Seite des Stiefels Schlamm vom Boden einer alten Straße, die durch das Gelände verlief. Straßen waren generell gut. Nicht alle ganz so gut wie die Fernstraße, aber allgemein spielten Straßen den Augen keine Streiche, wie es der Erdboden manchmal tat.

Derselbe Erdboden, aus dem in verschiedenen Winkeln schief stehende Masten ragten wie achtlos fallen gelassene Pfeile. Vor Hunderten von Jahren hatten sie der Stromversorgung dieser kleinen Gemeinde gedient, wenngleich die Kabel längst verschwunden waren.

X bahnte sich den Weg durch die nasse, verwüstete Siedlung und fragte sich, ob dieser Ort die ursprünglichen Bomben überlebt hatte, von denen der Großteil der alten Welt zerstört worden war. Er blieb stehen und bückte sich, um etwas zu betrachten, das aus dem Boden lugte. Er wischte die Erde von den skelettierten Überresten einer menschlichen Hand ab. X zog einen Ring von einem der Finger und untersuchte ihn kurz mit der Taschenlampe, bevor er ihn sich für später in die Tasche steckte. Anschließend bedeckte er das flache Grab mit frischer Erde, die sich rasch in Schlamm verwandelte.

Nachdem er sich aufgerichtet hatte, ließ er den Blick erneut über die Umgebung wandern und hielt Ausschau nach dem Loch, in das er etwas huschen gesehen hatte. Jene Kreatur war größer als ein Käfer gewesen, und X hatte nicht viel für Überraschungen übrig. Er brauchte ein paar Sekunden, um das Loch zu sichten. X gab Miles ein Zeichen, dann richtete er das Gewehr auf die Öffnung, als er sich ihr näherte. Dabei lauschte er auf das elektronisch klingende Geheul der Sirenen, hörte aber nur das Grollen des Donners. Etwa 30 Meter entfernt blieb er stehen und hob die Hand.

Der Hund setzte sich auf die Hinterbeine und wartete auf Befehle.

X fasste in die hintere Tasche und holte eine alte Blechbüchse mit Münzen heraus, die er im Verlauf seiner Reise durch das Ödland gesammelt hatte. Er warf den Ring zu den Münzen in die Büchse und schraubte den Deckel zu. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die dünne, oben befestigte Schnur fest genug hielt, warf er die Büchse. Sie verschwand in dem Loch und klapperte auf dem Weg nach unten.

Als sich die Schnur in seiner Hand straffte, begann er, die Büchse nach oben zurückzuziehen. Ein anderes Geräusch antwortete auf das klappernde Metall. Es begann als Krächzen, schwoll jedoch zu einem hohen Quietschen an.

X zog an der Schnur, bis die Büchse wieder auftauchte. Sie schepperte über den Boden, als er sie einige weitere Meter einholte. X hob das Gewehr an und zielte auf den Rand des Lochs, wartete darauf, dass sein Köder herauslockte, was immer sich unter der Erde versteckte.

Er konnte hören, wie die Klauen der Kreatur auf dem Weg zur Erdoberfläche über Felsgestein kratzten. Das war kein Käfer. Miles zog den Schwanz zwischen die Beine, X jedoch verharrte unerschütterlich und ließ den Lauf des Gewehrs auf die Öffnung gerichtet.

Ein unförmiger Schädel mit einem Irokesen aus dornigen Hauterhebungen tauchte aus dem Loch auf und richtete den Blick eines Paars blutunterlaufener Augen auf die Büchse. Das Wesen schnüffelte mit kaum mehr als zwei Löchern mitten im Gesicht, die als Nase dienten. Dann sah es X finster an. Der Regen, der auf die wahnsinnig wirkenden Augäpfel prasselte, schien die Kreatur ebenso wenig zu beeindrucken wie der Anblick eines Menschen.

Das Geschöpf hievte sich mit zwei langen Armen aus dem Erdloch, bedeckt von gehärteten Schuppen, die wie eine Art organischer Panzer anmuteten. Die erhöhten Platten erstreckten sich über den ganzen Körper, über breite Schultern, einen drahtigen Rumpf und mächtige Hinterbeine.

X hatte noch nie eines dieser Wesen gesehen. Da er keine kostbaren Patronen vergeuden wollte, musterte er die Kreatur, suchte sie nach Schwachstellen ab. Auf allen vieren wölbte sie einen von Erhebungen und mehreren Finnen gesäumten Rücken durch. Am Hals öffnete und schloss sich beim Atmen ein Kragen aus dickerer Panzerung wie eine Lüftungsöffnung.

Miles knurrte warnend, und X zielte auf die kiemenartigen Teile. Die Kreatur sah ihn mit schief gelegtem Kopf an, als er den Abzug drückte. Das Projektil schnellte in das weiche Fleisch an der Öffnung des Kragens und trat mit einem Aufspritzen von Körperflüssigkeiten aus, die den regennassen Boden verfärbten. Das Blut sah grün aus, andererseits galt das in der Ansicht durch die Nachtsichtoptik für so ziemlich alles.

Die Kreatur brachte keinen Aufschrei zustande, klatschte nur geräuschlos auf den Boden, als sie an ihrem eigenen Blut erstickte. X ließ das Gewehr sinken und zog sein Messer. Als er das abscheulich anzusehende Geschöpf erreichte, war es bereits tot.

Er schaute zu seinem Hund. »Meinst du, es schmeckt gut?«

Miles trabte herbei, schnupperte durch den Luftfilter um seine Schnauze daran und trottete desinteressiert wieder davon.

»Ja, ich auch nicht«, murmelte X. Er stieß den Kadaver zurück in das Loch und richtete das Gewehr in die grünstichige Dunkelheit. Wenige Sekunden später schlug das echsenartige Monster unten auf. Ein dumpfes Klatschen und ein Knirschen drangen aus der Tiefe. Als das Geräusch verhallt war, befanden sich der Mann und der Hund wieder allein im Regenguss.

X senkte die Waffe und ging in den Schutz des Felsüberhangs, wo er den Rucksack abnahm und auf den Boden stellte. Er überprüfte erneut die Strahlenmessung. Als er sah, dass die Werte nach wie vor im grünen Bereich lagen, zog er sich den Helm vom Kopf. Dann bückte er sich und entfernte auch Miles’ Helm. Als Nächstes griff er sich die drei 30 Zentimeter langen Pflöcke, die er seitlich an seinem Rucksack befestigt hatte, und reichte einen davon dem Hund.

Miles klemmte sich den Pflock ins Maul und trabte hinaus in den strömenden Regen. X folgte ihm mit den anderen zwei Pflöcken. Sie arbeiteten dabei zusammen, die Pflöcke an drei verschiedenen Stellen in die Erde zu rammen und so ein Dreieck um ihr Lager zu bilden. Als sie fertig waren, hob X den Handgelenkscomputer und aktivierte das Netzwerk. Falls sich irgendetwas in den Bereich zu schleichen versuchte, würde ein Alarmsignal in seinem HUD angezeigt und ein Piepton in seinem Helm ausgegeben werden.

Er überprüfte die Daten auf dem Display an seinem Handgelenk. Als alles gut aussah, kehrte er zu seinem Rucksack zurück und holte einen Topf aus Metall hervor. Als Nächstes stellte er den Minikocher auf dem Boden auf und entzündete die von einer langlebigen Brennstoffzelle befeuerte Flamme.

X trat unter dem Überhang hervor, stellte den Topf auf den Boden, schüttelte den einklappbaren Auffangtrichter aus und brachte ihn auf dem Topf an. Regenwasser sickerte in das breite, kegelförmige Gebilde. Innerhalb von Minuten war der Topf gefüllt. X trug ihn zurück zum Kocher und stellte ihn über die Flamme. Er ließ eine Tablette in den Topf fallen, die das Wasser von Strahlung befreien und etwaige Schadstoffe abtöten würde, die das Kochen überlebten. Zwar gingen ihm die kostbaren Tabletten allmählich aus, aber Miles und er mussten essen.

Zuletzt kramte er einen Block synthetischer Nahrung aus dem Rucksack hervor. Mit dem Messer schnitt er einen Brocken von dem Riegel ab und warf ihn ins Wasser. Der braune Klumpen weitete sich zu etwas, das wie ein Schlangennest aussah. Wenige Minuten später hatten sie einen Topf voll Nudeln und Brühe.

X ließ die schmerzenden Knochen auf einem glatten Stein nieder. Er wartete, bis der Inhalt des Topfs abkühlte, dann fasste er mit den behandschuhten Fingern hinein.

X holte einen Batzen heraus und gab ihn Miles, der ihn hinunterschlang, ohne zu kauen.

Während der Hund die blauen Augen auf ihn geheftet ließ, hob sich X selbst Nudeln an die Lippen und schlürfte sie hinunter. Eine Erinnerung blitzte aus seinem Gedächtnis auf. Er befand sich in seiner alten Unterkunft an Bord des Luftschiffes, das er früher als Zuhause bezeichnet hatte, und teilte sich eine Mahlzeit mit einem Jungen, der einen Stanniolhut trug. Der Sohn seines besten Freundes. Aaron, erinnerte er sich. Aaron Everhart und sein Sohn Michael Everhart.

In der Erinnerung beobachtete X, wie Michael, der den Spitznamen »Stan« hatte, einen Teller voll Essen verschlang. Aber wie bei den meisten Erinnerungen sah er die Züge des Jungen verschwommen wie über einen kaputten Videobildschirm.

X holte sein Tagebuch heraus und schrieb sie trotzdem auf. Wie all die anderen verblasste sie rasch, doch diesmal gelang es ihm, sie auf Papier festzuhalten.

Eine neue Erinnerung tauchte auf, als er die erste gerade zu Ende niederschrieb. Es handelte sich um den Augenblick, in dem ihm Stan einen Zettel gereicht hatte, kurz vor dem letzten Sprung, bei dem X auf der Erdoberfläche gestrandet war.

Stell dich deiner Zukunft …

X zuckte zusammen. Die Narben an seinem Körper erstreckten sich über müde Muskeln.

»Ohne Angst«, hauchte er beim Ausatmen, womit er das Zitat vollendete, während er es in sein Tagebuch schrieb.

Gelegenheiten wie diese, bei denen er sich erinnern konnte, was jemand gesagt hatte oder welche Worte auf einem Stück Papier gestanden hatten, waren selten. So selten, dass X gar nicht mehr wusste, wann er zuletzt eine derart lebhafte Erinnerung gehabt hatte.

Ein Geflecht von Blitzen erstreckte sich in der Ferne über den Himmel, und eine dritte Erinnerung bahnte sich den Weg aus seinem Gedächtnis. Sie fiel ihm ohne Probleme ein, denn sie suchte ihn häufig heim, wenn er in dieser vermaledeiten Ödnis einzuschlafen versuchte. Er spürte förmlich, wie er mit den um sich geschlungenen ledrigen Flügeln einer Sirene durch die Wolken fiel. X sah vor sich blaue Batterieeinheiten – und das schlagende Herz eines Hell Divers. Drei verschwommene Gesichter blickten auf ihn herab – Springerkameraden, darunter die Frau, die er einst geliebt hatte –, als sie zur Hive aufstiegen, während er zurück in die Hölle fiel.

Das war keine Erinnerung, die er in seinem Tagebuch haben wollte.

X knurrte, als die Bilder verblassten wie das Restlicht eines Blitzes. Er steckte das Buch zurück in dessen Hülle und beendete sein Abendessen. Dann breitete er die unten an seinem Rucksack angebrachte Decke aus. Miles rollte sich neben ihm ein.

»Gute Nacht, Junge«, sagte X. Er griff nach seinem Helm und zog ihn herüber zur Decke. Dabei erhaschte er einen flüchtigen Blick auf seine Reflexion im verspiegelten Visier. Das flackernde Feuer erhellte ein Gesicht, das er beinah nicht wiedererkannte.

Einen Fremden, einen Geist.

X hob die behandschuhten Finger zu dem dichten, ergrauenden Bart über der kantigen Kieferpartie. Mit einem Finger fuhr er eine Narbe nach, die eine Schlucht über die rechte Wange nach oben und durch die Augenbraue bildete. Dunkle, von Krähenfüßen umrandete Augen starrten ihn an. Die Regenbogenhäute wurden beinah von den unergründlichen schwarzen Pupillen verdrängt.

Er legte den Helm beiseite, weil er es nicht ertragen konnte, sich noch länger anzusehen. Mit schmerzenden Knochen ächzte er, als er den Kopf auf die Decke bettete. Der Schein des Feuers füllte die Ritzen des Felsüberhangs aus. Draußen vor dem Unterschlupf prasselte weiter der Regen herab. Das Geräusch wirkte beruhigend, und X kämpfte nicht gegen den Anflug von Erschöpfung an, der über ihm zusammenschwappte.

Minuten später schlief er und träumte von Ereignissen und Menschen aus seiner Vergangenheit. Aber nicht einmal in den Träumen konnte er sich an Gesichter oder an Stimmen erinnern. Wie die Wirklichkeit blieben die Träume größtenteils bruchstückhaft.

Ein Piepton drang darin ein. Jäh schlug X in der Dunkelheit die Augen auf, als ihn der Alarm schlagartig weckte. Zu seiner Linken erspähte er eine Silhouette. Miles stand knurrend da und starrte aus ihrem Schutzkreis.

X tastete nach seinem Helm und verfluchte sich für seine Dummheit. Er hatte vergessen, ihn wieder aufzusetzen, bevor er eingeschlafen war. Kaum hatte er ihn sich über den Kopf gestülpt, erblickte er mehrere Kontakte auf der Minikarte rechts oben auf seinem HUD. Sie hatten den Alarm ausgelöst.

Fluchend schnappte er sich sein Gewehr und legte es in Richtung der verlassenen Siedlung an, hielt Ausschau nach Zielen. Sein Blick schwenkte von der Karte auf seinem HUD zur grünstichigen Ansicht des Geländes, aber im Regen rührte sich nichts.

Was zum …

Miles knurrte hinter X, doch der Hund schaute nicht in Richtung der Siedlung. Mit wütender Miene und gefletschten Zähnen starrte er stattdessen an die Felswand hinter ihnen.

Langsam hob X das Gewehr in die Richtung an und rechnete halb damit, dass eine Sirene oder irgendeine andere Bestie über den Fels krabbeln würde.

»Was ist denn, Junge?«, flüsterte er. Wieder blickte er auf das HUD. Die Kontakte näherten sich von rechts. Miles knurrte weiter die Felswand an, und X setzte sich langsam, mit dem Gewehr an der Schulter, in Bewegung. Er näherte sich der steilen Wand, um sie zu untersuchen.

Nach einem mahlenden Geräusch kullerte eine kleine Lawine von Kieseln herab. X sog scharf die Luft ein, als plötzlich riesige Augäpfel in der scheinbar soliden Wand blinzelten. Eine Gliedmaße der Größe eines erwachsenen Mannes löste sich direkt aus dem Gestein. Dann erschien ein Brustkorb, gefolgt vom restlichen Körper.

X schluckte schwer und wich zurück, als sich das Ungetüm von der Felswand schälte und fallen ließ. Die Wucht der Landung des über zwei Meter großen Ungetüms erschütterte den Boden. Staub stieb um die Hufe auf.

»Lauf!«, brüllte X.

Miles drehte sich um und rannte los, als die Bestie auf sein Herrchen zustapfte. X hob das Gewehr an und zielte auf die Brust der Kreatur. Drei Projektile durchschlugen die steinartige Panzerung über der Haut und den lebenswichtigen Organen.

Das Felsmonster stimmte ein tiefes Geheul an und hieb mit einem langen Arm nach X. Die gewaltige Pranke traf die Mündung und schlug X die Waffe aus den Händen. Er taumelte rückwärts und streckte die Hand aus, um seine Schrotpistole wie ein Revolverschütze bei einem Duell aus dem Holster zu ziehen.

Er richtete die Mündung auf die Stirn der Kreatur und drückte den Abzug.

Klick.

Sein Herz hämmerte wie wild gegen die Rippen. Auf seinem HUD piepte weiter die Anzeige von Kontakten. In der Umgebung befanden sich noch mehr Monster, die aus dem Winterschlaf erwachten.

Die Kreatur vor X näherte sich einen weiteren Schritt und hob die dicken, muskelbepackten Arme. Die Haut sah haargenau wie verwitterter Stein aus. X wich weiter aus dem Lager zurück. Er klappte den Lademechanismus seiner Schrotpistole auf, dann jedoch entschied er, stattdessen zu flüchten.

Die Bestie verfolgte ihn, riss die Kiefer weit auf und entfesselte Gebrüll wie ein Donnergrollen. Der felsige Untergrund erzitterte erneut, als sich vier weitere Ungetüme zu Boden fallen ließen.

Miles kläffte sie an, dann schaute er zu X, wartete auf Anweisungen. X spähte zu seinem Gewehr und zum Rucksack, der noch an der Wand lehnte. Sie würden später zurückkehren, um die Ausrüstung zu holen.

»Lauf, Miles!«, brüllte er. Dann bedeutete er dem Hund, ihm hinaus in den verseuchten Regen zu folgen. Kämpfen konnten sie an einem anderen Tag.

2

Heute

In der Startbucht roch es nach Schweiß und Angst. Captain Leon Jordan hasste diesen Mief. Der Duft der Hive – ein Geruch, den er schon sein Leben lang atmete.

Unter normalen Umständen hätten sich in der Bucht Techniker, Ingenieure und Hell Divers gedrängt, die einen Absprung auf die verseuchte Erdoberfläche vorbereiteten. Aber an diesem Tag blinkten keine Lichter, und keine Countdowns wiesen auf einen unmittelbar bevorstehenden Start hin. Was jedoch keineswegs hieß, dass der Bereich verwaist war – weit gefehlt.

Zum ersten Mal in der dokumentierten Geschichte der Hive gab es nicht genug Hell Divers für einen ordnungsgemäßen Sprung. Nur drei waren übrig. Zwei davon befanden sich in der Krankenstation – einer mit einem gebrochenen Rückgrat von einer Mission vor mehreren Jahren, der andere litt an Krebs. Die dritte Springerin, Jordans ehemalige Geliebte Katrina, saß im Knast.

Statt des Gewimmels vor einem Sprung hatten sich Hunderte Bürger in die Startbucht gezwängt, um den Verlust der Männer und Frauen zu betrauern, die vom letzten Sprung nicht zurückgekehrt waren. Alle starrten quer durch den Raum zu den glatten Kunststoffkuppeln, die wie riesige Eier aussahen und die Startröhren bedeckten.

Nur wenige Menschen wussten, dass die Springer nicht alle in der Hügelbastion umgekommen waren und dass Jordan entschieden hatte, sie dort zurückzulassen. Die Hell Divers könnten durchaus noch am Leben gewesen sein, als er den Befehl erteilt hatte, sie unten auf der Erdoberfläche auszusetzen. Aber die Verräter hatten ihre Wahl getroffen – und den Preis dafür bezahlt.

»Wir haben uns heute hier versammelt, um die Hell Divers zu ehren, die beim letzten Sprung zur Hügelbastion ihr Leben gegeben haben«, sagte Jordan. Seine Stimme dröhnte durch den gewölbeartigen Raum.

Sämtliche Gesichter drehten sich in seine Richtung, als er aus der Menge hervortrat und zu den Startröhren ging. An der ersten Kunststoffkuppel blieb er stehen, drehte sich um und ließ den Blick über die Versammelten wandern.

Zuvorderst befanden sich Lieutenant Hunt, Jordans neuer Stellvertreter, und Ensign Ryan, beide in steifer Haltung. Sie kannten die Wahrheit darüber, was sich in der Hügelbastion ereignet hatte, aber als loyale Soldaten würden sie diese Wahrheit mit ihren Lügen schützen – oder sich den Konsequenzen stellen müssen.

Es gab noch einige andere, die wussten, was in Wirklichkeit passiert war. Männer wie Ty Parker, die nicht so vertrauenswürdig wie Ryan und Hunt waren. Der Techniker fristete sein Dasein mittlerweile im Knast, wenige Zellen von Katrina entfernt. Jordan war immer noch nicht sicher, ob Chefingenieur Samson Bescheid wusste, jedenfalls war der Mann bisher loyal geblieben, zudem war er entschieden zu wertvoll, um ihn in den Knast zu stecken – oder ihn durch eine Luftschleuse hinauszuwerfen.

Jordan setzte seine Betrachtung der Menschenmenge fort. Rechts von Lieutenant Hunt stand Sergeant Leonard Jenkins, Befehlshaber der Miliz. Auch er kannte die Wahrheit. Tatsächlich wusste er mehr als irgendjemand sonst von Jordans Besatzung – vor allem über die falsche Prophetin Janga. Und wenngleich auch Jenkins bisher loyal geblieben war, regte sich in Jordan zunehmend der Verdacht, dass dem Mann nicht gefiel, wie er das Schiff leitete. Was an unterschwelligen Kleinigkeiten lag – der kaum wahrnehmbaren trotzigen Anspannung in seiner Haltung, dem flüchtigen Zögern, bevor er Befehle befolgte.

Wegen Jenkins würde er etwas unternehmen müssen, aber zuerst musste er alle anderen auf Schiene bekommen. Nach einem bedauernden Seufzen, das man im gesamten Raum hören konnte, begann Jordan mit der Ansprache, die er mehrere Tage lang vorbereitet hatte.

»Commander Michael ›Stan‹ Everhart, Commander Rick Weaver, Magnolia Katib, Rodger ›Dodger‹ Mintel, Layla Brower und Andrew ›Pipe‹ Bolden sind vielleicht nicht mit Brennstoffzellen oder sonstigen Vorräten für die Hive zurückgekommen, ebenso wenig haben sie einen bewohnbaren Ort gefunden, an dem wir landen könnten, trotzdem war ihr Opfer nicht umsonst. Ihr Verlust, so zutiefst bedauerlich er sein mag, hat etwas bewiesen, das zu akzeptieren vielen von uns so schwergefallen ist.«

Er ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er fortfuhr. »Sie haben bewiesen, dass auf die Menschheit dort unten nur der Tod wartet. Keine wundersamen grünen Zonen, keine strahlungsfreien Gebiete, in denen wir neue Feldfrüchte anbauen könnten. Nur … der … Tod.«

Wieder verstummte er, um die Worte wirken zu lassen. Unter den Versammelten befanden sich mehrere Unterdeckbewohner, wovon ihre erbärmliche Körperhygiene und ihre abgerissene Kleidung zeugten. Einige von ihnen vergossen Tränen. Andere standen hocherhobenen Hauptes da und zogen es vor, das Andenken der Springer zu ehren, ohne dabei Emotionen zu zeigen. Dafür respektierte Jordan sie. Übertrieben emotionalen Menschen hatte er noch nie vertraut. Menschen wie Captain Ash, die auf ihr Herz statt auf ihr Hirn hörten. Dadurch wurde man kompromittiert, konnte unmöglich rational denken.

Eins stand fest: Ihm galt die ungeteilte Aufmerksamkeit aller im Raum Anwesenden. Gut. Er hatte die Nase gründlich voll von Verrätern, Dieben und falschen Schlangen. Die Menschheit konnte nur durch uneingeschränkten Gehorsam an Bord der Hive überleben. Etwas Geringeres würde er nicht dulden. Die Zeit für Nachsicht war vorbei.

»Falls irgendjemand in dieser Startbucht immer noch glaubt, dort unten gäbe es etwas für uns, kann derjenige gern vortreten. Ich werde unsere Techniker mit Freuden anweisen, eine einfache Fahrkarte zur Erdoberfläche vorzubereiten, damit derjenige sie genau untersuchen kann.« Jordan deutete zu den Startröhren.

»Heißt das, wir geben die Suche endgültig auf?«, fragte eine tiefe Stimme.

Jordan suchte in der Menge nach dem Mann, der ihn unterbrochen hatte, konnte jedoch keinen offensichtlichen Sprecher entdecken. »Treten Sie vor, wenn Sie etwas zu sagen haben«, verlangte er.

Das Meer der Passagiere teilte sich und spie den abgehärmt aussehenden Cole Mintel aus.

»Wollen Sie damit sagen, mein Sohn hat sein Leben nur dafür geopfert, etwas zu beweisen?«, fragte er.

Jordan dachte einen Augenblick über seine Antwort nach. Das Letzte, was er wollte, war eine Szene mit dem verärgerten Vater eines toten Springers. Abgesehen davon hatte Rodger seinen Teil tadellos erfüllt, die Karte der Industrial Tech Corporation benutzt, die Jordan ihm mitgegeben hatte, und enthüllt, was sich dort unten befand.

»Ihr Sohn ist für viel mehr als das gestorben, Sir.« Jordan entschied, bei der Wahrheit zu bleiben. »Ihr Sohn ist gestorben, indem er aufgedeckt hat, was jeden erwartet, der einen Fuß auf die Erdoberfläche setzt.«

Cole verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust – Arme, die unzählige Stunden der Arbeit mit Holz gestärkt hatten. Verwirrte Gesichter hefteten sich auf Jordan. Ihm galt nach wie vor die geballte Aufmerksamkeit aller. Er hatte den Menschenauflauf unter Kontrolle, aber damit es so blieb, würde er mit mehr von der Wahrheit herausrücken müssen, als er geplant hatte. Der Wahrheit über die Welt, die sie fürchteten, und der Vorstellung von einem Zuhause, die manche immer noch für realistisch hielten.

»Rodger und die anderen Hell Divers haben die Hügelbastion aufgrund falscher Informationen von Captain Ash betreten«, erklärte Jordan. »Ihr Tod lastet auf ihren Schultern, nicht auf meinen. Sie hatte die Hoffnung, die Hügelbastion könnte etwas sein, das wir in ein neues Zuhause verwandeln können. Aber wie von mir vermutet, hat sich der Bunker nur als Gruft herausgestellt, überrannt von Kreaturen aus einem Albtraum.«

Mintel blieb vor der Menge stehen, den Blick der dunklen Augen starr auf Jordan fixiert. Es würde mehr als diese kryptische Erklärung nötig sein, um den Vater davon zu überzeugen, dass sein Sohn für eine noble Sache gestorben war.

Jordan strich mit einer Hand über die glatte Kunststoffoberfläche einer Startröhre und fuhr fort: »In gewisser Weise hatte Captain Ash ja recht. Die Hügelbastion war ein guter Ort für Menschen, um abzuwarten, bis sich die Strahlung an der Erdoberfläche legen würde. Allerdings haben die Sirenen und andere mutierte Bestien den Bunker zu ihrer neuen Heimat auserkoren. Dank der Informationen, die uns Ihr Sohn und seine Springerkameraden geliefert haben, können wir uns jetzt darauf konzentrieren, solche Orte zu meiden und weiter am Himmel zu überleben.«

»Wenn Sie gewusst haben, dass es dort unten diese Sirenen gibt, wieso haben Sie meinen Jungen dann runtergeschickt?« Darauf ließ Cole ein Knurren folgen, senkte die Arme an die Seiten und ballte die Hände zu Fäusten.

»Das haben Sie falsch verstanden«, erwiderte Jordan. »Ich wusste es nicht mit Sicherheit.« Sein Blick schnellte zu Sergeant Jenkins, der Cole finster anstarrte und bereit zu sein schien, den Mann blitzschnell zum Schweigen zu bringen. Nur wollte es Jordan nicht dazu kommen lassen. Er würde nicht zulassen, dass irgendetwas den ohnehin brüchigen Frieden an Bord des Schiffes zusätzlich gefährdete. Der Verlust so vieler Springer auf einmal hatte die Ober- und Unterdeckbewohner zum ersten Mal überhaupt in seiner Erinnerung geeint.

»Ich bedauere den Verlust Ihres Sohnes aufrichtig«, sagte Jordan, »aber Rodgers Tod hat erneut bestätigt, wovon die meisten von uns bereits überzeugt waren. Das Leben wird sich die nächsten 200 Jahre am Himmel fortsetzen, bis sich die Strahlung und die Gewitterstürme auf der Erdoberfläche endlich gelegt haben.«

Er tätschelte ein letztes Mal die Startröhre. Aus ihr waren einst die Bomben abgeworfen worden, die für die Zerstörung des Planeten verantwortlich waren. Nun warf sie Männer und Frauen ab, die dafür sorgten, dass ihr Schiff in der Luft blieb.

Nach einer halben Minute Stille rang sich Jordan ein gezwungenes Lächeln ab. »Ich wollte das eigentlich vertraulich belassen, aber Ihr Sohn hat eine letzte Botschaft zur Hive geschickt.«

Mintel kniff die Augen zusammen, als ob er mit einer Lüge rechnete. »Was hat mein Sohn gesagt?«

»Er wollte, dass seine Entdeckung der Monster in der Hügelbastion uns allen Mut macht. Er hat gesagt, er will, dass weitere Männer und Frauen seinem Beispiel folgen und mit Zähnen und Klauen für die Zukunft der Menschheit kämpfen.«

Jordan wartete einen Herzschlag lang, bevor er hinzufügte: »Rodger hat gewusst, dass sein Tod und der Tod der anderen Springer eine Lücke hinterlassen würde, aber in seinen letzten Augenblicken hat er eine Botschaft des Muts übermittelt – und zugleich eine Herausforderung an diejenigen von uns, die noch atmen.«

Jordan sah, wie Cole Mintels Adamsapfel hüpfte, als er schluckte. Seine geballten Fäuste öffneten sich und er steckte die schwieligen Hände in die Taschen.

Beinah hätte Jordan gelächelt. Er hatte das Blatt mit einer weiteren wunderbaren Lüge gewendet. Sofort setzte er nach, nutzte den Vorteil.

»Wir haben uns heute hier nicht nur versammelt, um die verlorenen Hell Divers zu betrauern, sondern auch, um sie zu ehren. Und ganz im Sinne von Rodger Mintels letztem Wunsch ersuche ich demütig um Freiwillige. Wer nimmt seine Herausforderung an? Wer tritt vor und wird Hell Diver?«

Sofern das Luftschiff ein Nervenzentrum besaß, befand sich Michael Everhart mittendrin.

Durch die glatten holzkohlegrauen Schotten der gesamten Brücke des ITC-Luftschiffes Deliverance ging ein leises Summen. Monitore und Touchscreens zeigten überall um Michael herum Daten an. Die Brücke maß nur ein Drittel jener an Bord der Hive und bestand statt aus mehreren Ebenen aus einer einzigen runden Fläche. Sämtliche Stationen waren um eine Insel in der Mitte angeordnet, die als Steuerpult diente.

An den Schotten montierte Monitore umgaben den Raum. Ein großer Ledersessel stand dem größten Bildschirm am Steuer zugewandt. Hinter dem Kapitänssitz schloss eine Reihe von Stühlen an. Was Michael von seinem alten Zuhause vermisste, war das Steuerrad aus Eichenholz. Hier gab es eine moderne Flugsteuerung für den Kapitän und die Co-Piloten.

Die Unterschiede bei den kleinen Details hielten Michael vor Augen, dass dies nicht sein Zuhause war und nie sein würde. Die Deliverance stellte lediglich ein Luftfahrzeug dar, das er benutzen würde, um Xavier Rodriguez zu finden, bevor sie zur Hive zurückkehren würden.

Er konnte kaum glauben, dass X immer noch auf der Erdoberfläche lebte. Andererseits fiel ihm auch schwer, zu glauben, dass sie tatsächlich mit einem brandneuen Schiff aus der Hügelbastion entkommen waren. Na ja, zumindest die meisten von ihnen. Nicht allen war so viel Glück vergönnt gewesen.

Commander Weaver und Pipe hatten ihr Leben gelassen. Und wofür? Als Bauernopfer für Captain Jordans persönliche Pläne? Ihr Blut klebte an Jordans Händen, und Michael würde dafür sorgen, dass der Drecksack teuer für ihren Tod bezahlen würde.

Aber zuerst musste er sich überlegen, wie sie überleben könnten.

Er konzentrierte sich auf die Bildschirme, verarbeitete so viele Informationen wie möglich, doch sein Know-how bezog sich auf die Systeme der Hive. Die Deliverance war wesentlich ausgereifter, ein neueres Modell als das uralte Luftschiff, auf dem er aufgewachsen war. Und nachdem sie ein paar Stunden lang auf der Brücke Staub gewischt hatten, glänzte sie, wie sie es getan haben musste, als das Gefährt vor zwei Jahrhunderten aus der Fabrik gekommen war.

Michael tippte auf den holografischen Bildschirm vor ihm und rief die Flugdaten auf. Im Gegensatz zur Hive verließ sich die Deliverance überwiegend auf Mantelstromtriebwerke und Schubdüsen. Außerdem besaß sie einen einzigen Nuklearantrieb und überhaupt keine mit Helium gefüllten Gasblasen, was die geringere Größe erklärte. Und die Deliverance war mit der ersten künstlichen Intelligenz ausgestattet, der Michael je begegnet war. Timothy Pepper, Leiter der Hügelbastion, hatte sein Bewusstsein bei seinem Tod auf das denkfähige Programm übertragen. Das Programm, das in diesem Augenblick das Luftschiff steuerte.

Laut Timothy handelte es sich um den Jungfernflug der Deliverance. Das löste nicht unbedingt Zuversicht aus. Michael, Layla, Magnolia und Rodger hatten die vergangenen zwei Tage damit verbracht, gegen eine Fülle von Problemen anzukämpfen, von der Mechanik bis hin zur Elektrik. Kaum hatten sie etwas behoben, begann ein anderer Alarm zu piepen, wurde eine neue Krise angezeigt. Im Augenblick waren alle in verschiedenen Bereichen unterwegs.

»Timothy, kannst du mir einen Lagebericht über unsere Betriebssysteme liefern?«, fragte Michael.

»Einen Moment, Commander Everhart«, antwortete Timothy über die Lautsprecheranlage.

Michael sah weiter die Daten durch, während er wartete, doch es gelang ihm nicht, die müden Muskeln in dem festen Ledersessel zu entspannen. Zum ersten Mal im Leben saß er tatsächlich auf etwas »Neuem«.

»Der Nuklearantrieb läuft mit 85 Prozent Leistung, das Energienetz mit 75 Prozent«, berichtete Timothy. »Allerdings funktionieren mehrere Sekundärsysteme nicht einwandfrei. Die Lebenserhaltungssysteme stehen bei 51 Prozent, Tendenz sinkend. Nur drei der sechs Schubdüsen funktionieren, und die Mantelstromtriebwerke sind …«

Die ovalen Luken der Brücke öffneten sich mit einem flüsternden Laut. Schritte klapperten über die Metallplattform und unterbrachen Timothy mitten im Satz.

Michael drehte sich auf dem Sitz herum und sah nach, um wen es sich handelte. Layla, seine Geliebte und beste Freundin, zeichnete sich als Umriss vor der offenen Luke ab.

Er sah ihr an der Haltung an, dass wieder irgendetwas nicht stimmte.

»Da bist du ja«, sagte sie.

Die Deckenbeleuchtung ging flackernd an und breitete grellweißes Licht über den Raum aus. Laylas sommersprossiges Gesicht war voll von Schmiere, die zu einem Zopf geflochtenen Haare trug sie über eine Schulter. Sie zog die Hände aus den Taschen des weiten blauen Sweatshirts, das ihren athletischen Körper verschleierte, und sie suchte seinen Blick.

Michael eilte zu ihr. »Hi«, begrüßte er sie. »Was ist denn los?«

Sie lächelte herzlich. »Geht’s dir gut?«

»Ja.« Er zog die Brauen hoch. »Und dir?«

Ihre tiefbraunen Augen senkten sich auf die Metallplattform, als ihr ein Gedanke oder eine Erinnerung durch den Kopf ging und den Schatten einer Wolke auf ihre sonst so sonnigen Züge warf. Dann begegnete sie seinem Blick wieder und seufzte. »Ich beiße mich durch.«

Bevor Michael etwas erwidern konnte, schlang sie die Arme um ihn und zog ihn fest an sich. »Schätze, du hast mir einfach gefehlt.«

»Du hast mir auch gefehlt«, flüsterte er ihr zu. Seit dem Aufbruch aus der Hügelbastion hatten sie kaum Zeit gefunden, miteinander zu reden. Wenn sie nicht arbeiteten, dann schliefen sie, zu erschöpft, um sich in der spärlichen gemeinsamen Zeit zu lieben.

»Timothy hat mir gerade einen Bericht über die Sekundärsysteme geliefert«, sagte Michael. »Sieht nicht gut aus.«

Sie lösten sich voneinander, als die künstliche Intelligenz auf der Plattform neben ihnen erschien. Die computergenerierte Version von Timothy ahmte den echten Menschen nach, von dem altmodischen Anzug bis hin zu den ordentlich frisierten Haaren und dem penibel gestutzten Bart.

»Möchten Sie, dass ich mit dem Bericht fortfahre, Sir?«, erkundigte sich die künstliche Intelligenz.

»Nicht jetzt gleich. Wie weit ist es noch bis zu Commander Rodriguez’ Koordinaten? Und wie lange brauchen wir noch dorthin?«

»Ich benötige zusätzliche Parameter. Mit welcher Geschwindigkeit beabsichtigen Sie zu fliegen?«

Michael rieb sich den Nasenrücken. Timothy sah aus und klang wie ein Mensch, trotzdem blieb er eine Maschine. »Selbstverständlich will ich so schnell wie möglich dort ankommen.« Frustration schlich sich in seine Stimme.

»Bis die Sekundärsysteme ordnungsgemäß funktionieren und zumindest eine weitere Schubdüse in Betrieb ist, empfehle ich, nicht mit voller Geschwindigkeit zu fliegen«, sagte Timothy.

»Dann eben mit unseren aktuellen Daten. Wie lange noch, bis wir X erreichen?«

»Das hängt von den Witterungsbedingungen ab, Commander. Auch die meteorologischen Systeme des Schiffs funktionieren nicht optimal, und das …«

»Gib mir einfach eine Zahl«, fiel ihm Michael ins Wort.

»62 Stunden, 15 Minuten und 32 Sekunden«, antwortete Timothy.

Layla streckte die Hand aus, legte sie Michael auf den Rücken und massierte seine verspannten Muskeln. »Wir haben Zeit«, sagte sie. »X hat so lange überlebt, da spielen ein paar Tage mehr oder weniger auch keine Rolle mehr.«

»Und was, wenn doch?«, konterte Michael und löste sich von ihr. Er bemühte sich, nicht ruppig zu klingen, aber Layla verstand es einfach nicht. »Wir haben ihn vor über zehn Jahren dort unten gelassen. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie das für ihn gewesen sein muss? Er ist die ganze Zeit mutterseelenallein gewesen.«

Michael hatte an kaum etwas anderes gedacht, seit er erfahren hatte, dass X noch lebte. Tagelang hatte er sich gefragt, wie der Mann inzwischen sein würde – und ob er in der Lage sein würde, ihnen zu verzeihen.

»Wir müssen so schnell wie möglich zu ihm, Timothy«, entschied Michael. »Pfeif auf optimale Effizienz. Volle Fahrt voraus.«

»Verstanden, Commander.«

Layla griff nach Michaels Hand. »Hör mal, ich kann ja nachvollziehen, wie du dich fühlst, aber …«

»Kannst du das wirklich?«

Sie ließ die Hand sinken und schüttelte den Kopf. »Ich versuch bloß zu helfen, nur stellst du dich nicht besonders gut dabei an, mich zu lassen.«

»Ich bemühe mich bestmöglich, diese Mission zu erfüllen, Layla.«

Als sie ihn ansah, sprachen aus ihren Augen zu gleichen Teilen Frustration und Liebe. »Ich weiß. Da Weaver nicht mehr unter uns weilt, hast du das Sagen. Du hast den höchsten Rang. Das bedeutet, Mags, Rodger und ich verlassen uns darauf, dass du die richtigen Entscheidungen für uns alle triffst.«

»Was genau willst du damit sagen?«

Sie seufzte. »Ich will damit sagen, dass es egoistisch ist, das Schiff in Stücke zu reißen, nur um X ein paar Stunden früher zu erreichen. Tut mir leid, aber es ist so.«

Michael holte schnappend Luft und hatte vor, sich zu rechtfertigen, aber plötzlich legte sich das Feuer der Leidenschaft, das noch vor wenigen Augenblicken durch seine Adern geflutet war, und kühlte durch Laylas zärtliche Berührung ab. Sie hatte recht. Er verflocht die Finger mit den ihren. »Entschuldige. Ich werd unser Leben nicht in Gefahr bringen. Ich muss mich in Geduld üben. Ist bloß so, dass …«

»Du gibst dir die Schuld an der Sache mit X.«

»Ja.«

Sie küsste ihn, ein leichter Hauch ihrer Lippen auf den seinen. »Michael, dass X zurückgelassen wurde, war nicht deine Schuld. Es war Jordans Schuld, und er wird bezahlen. Komm mit. Suchen wir die anderen und essen wir etwas.«

»Timothy, vergiss meinen Befehl von vorhin«, sagte Michael. »Halte den Kurs mit sicherer Geschwindigkeit.«

»Verstanden, Sir.«

Michael folgte Layla von der Brücke, doch seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Immerhin kamen sie dem Mann immer näher, der wie ein zweiter Vater für ihn gewesen war, dem Mann, den alle als tot abgeschrieben hatten. Bis vor wenigen Tagen war X lediglich ein Geist aus der Vergangenheit gewesen, doch in nur knapp mehr als 60 Stunden könnte Michael mit dem legendärsten Hell Diver aller Zeiten wieder vereint sein. Was würden sie nach all der Zeit zueinander sagen? Würde X den Mann überhaupt erkennen, zu dem Michael herangewachsen war? Und die noch besorgniserregendere Frage: Würde Michael umgekehrt X nach dessen langer Tortur auf der Erdoberfläche wiedererkennen?

Die ovale Luke schloss sich mit einem leisen Zischen hinter ihnen. Lichter entlang des Bodens erhellten die schwarz lackierten Schotten. Weit und breit keine bunten Malereien und Graffiti, wie sie die Gänge der Hive übersäten. Michael fehlten die Bilder bereits, die er sonst jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit betrachtete. Es fühlte sich merkwürdig an, durch einen Korridor zu gehen, den vor ihm noch kaum jemand benutzt hatte.

»Der Ort hier ist mir unheimlich«, gestand er.

»Jetzt sei kein Depp, Stan«, erwiderte Layla schmunzelnd.

»Echt jetzt? Du nennst mich immer noch so?«

»Was meinst du? ›Stan‹? Oder ›Depp‹?«

Ein warnender Alarm irgendeines Sensors unterbrach die Frotzelei. »Was ist das?«, fragte Michael.

Gleich darauf ertönte Timothys seidige Stimme. »Eine geringfügige Schwankung im Energienetz. Es liegt jetzt bei 70 Prozent.«

Sie gingen weiter den Korridor entlang. Es würde lange dauern, sämtliche Quartiere nach Vorräten zu durchsuchen, aber vorerst galt sein Augenmerk dem Versuch, das Schiff ordentlich zum Funktionieren zu bringen. Sie passierten die Luken der Offiziersunterkünfte, anschließend die Kojen für den Rest der Besatzung.

»Dieses Schiff ist zwar schon verdammt groß«, meinte Layla, »aber er sieht nicht so aus, als wäre es für eine so große Bevölkerung wie die an Bord der Hive ausgelegt. Dafür gibt es nicht genug Kabinen.«

Michael wischte sich die schulterlangen Haare zurück und band sie im Gehen zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Scheint so.«

»Sieht wohl auch viel größer aus, weil wir nur zu viert an Bord sind.«

Timothys Hologramm räusperte sich.

»Zu fünft an Bord«, korrigierte sich Layla.

»Danke«, drang Timothys Stimme aus der Lautsprecheranlage.

Layla lächelte. »Schön zu hören, dass du Sinn für Humor hast.« Dann raunte sie Michael flüsternd zu: »Trotzdem vertraue ich ihm nicht ganz.«

Falls Timothy sie hörte, ließ er es sich nicht anmerken.

Michael verlangsamte die Schritte, als sie sich der größten Luke des Schiffes näherten. Ein Schild mit der Aufschrift WAFFENKAMMER prangte am Schott darüber. Da sie den Großteil ihrer Waffen in der Hügelbastion verloren und die meiste Munition aufgebraucht hatten, stand dieser Raum ganz oben auf seiner Liste der zu erkundenden Orte. Michael versuchte, den Drehgriff zu öffnen, aber er rührte sich keinen Zentimeter.

»Geht’s nicht auf?«, fragte Layla.

Er schüttelte den Kopf und schaute zu der nächstbesten der schwarzen Kuppelkameras auf, die Timothy als »Augen« dienten.

»Kannst du den Eingang für mich entriegeln?«

»Einen Moment«, gab Timothy zurück.

Eine Sekunde später meldete er: »Es tut mir leid, Commander, aber die Luke ist mit einem verschlüsselten Kennwort geschützt.«

Michael rieb über die Stoppeln an seinem Kinn und sah Layla an. Sie zuckte mit den Schultern.

»Kannst du das nicht überbrücken?«, fragte Michael.

»Dazu fehlen mir die entsprechenden Rechte«, erklärte Timothy. »Diese Kammer wurde am 15. März 2075 von General Stan Lorn verriegelt. Das System zu überbrücken könnte einen Selbstzerstörungsmechanismus auslösen.«

»Wovon um alles in der Welt redet er da?«, fragte Layla. »Das Schiff geht in die Luft, wenn wir versuchen, diese Luke zu öffnen?«

»Dazu überlegen wir uns später etwas. Lassen wir es vorerst gut sein.« Michael deutete mit dem Kopf, und sie setzten den Weg zum Maschinenraum fort. Layla drehte den Griff, und Michael half ihr, die Luke zu öffnen. Eine schwach beleuchtete Wendeltreppe erstreckte sich mehrere Ebenen in die Tiefe. Heiße Luft wehte Michael ins Gesicht, als er Layla in die Eingeweide des Schiffes folgte.

Auf halbem Weg nach unten wischte er sich Schweißperlen von der Stirn. Die Temperatur stieg weiter an, je tiefer sie gelangten. Fast unten angekommen, hörte Michael Stimmen. Laute Stimmen. Klang nach einem Streit.

»Ich hab dir gesagt, dass wir nicht genug haben!«, keifte Magnolia.

»Wir haben sehr wohl genug, nur eben knapp«, konterte Rodger. »Du musst mir vertrauen!«

Layla blieb an der offenen Luke unter Michael stehen und warf einen Blick zu ihm nach oben. Er bedeutete ihr weiterzugehen und folgte ihr in den Maschinenraum. Stege erstreckten sich über die zweite Ebene, die einen Überblick über Generatoren und Motoren bot.

»Also willst du derjenige sein, der’s Commander Everhart sagt?«, fragte Magnolia. »Denn ich hab mit Sicherheit keinen Bock, ihm die Neuigkeit mitzuteilen.«

Magnolia und Rodger standen in der Nähe einer Wand mit Spinden, und sie hielt etwas, das nach einem Fallschirm aussah. Das Brummen von Maschinen füllte die Pause in ihrem Gespräch aus.

»Was ist hier los?«, fragte Michael.

Magnolia wirbelte zu ihm herum. Sie wischte sich eine blaue Strähne hinters Ohr, schnaubte und zeigte auf Rodger. Der wischte sich über die Stirn, bevor er in Michaels Richtung schaute. Das Klebeband, das seine Brille zusammenhielt, hatte sich gelöst, wodurch ein Bügel durchhing und das Gestell schief auf der Nase saß. Er rückte es gerade, dann wischte er sich erneut mit dem Ärmel Schmiere von der Stirn. Als er nicht antwortete, übernahm Magnolia für ihn das Wort.

»Wir haben nur genug Material für zwei Fallschirme, aber Rodger meint, wir können es auf drei, vielleicht sogar vier strecken, und ich bin der Meinung, das ist scheißgefährlich.«

Verwirrt schwenkte Michael den Blick zurück zu Layla. »Wieso brauchen wir Fallschirme?«, wollte er wissen.

Sie steckte die Hände in die Taschen ihres weiten Sweatshirts und schaute weg. Michael sah wieder Rodger an, denn er wusste, er würde eine offene Antwort aus dem Mann herausbekommen – Rodger konnte ums Verrecken nicht lügen.

»Sag mir, warum wir Fallschirme brauchen«, verlangte Michael.

Plötzlich erschien flackernd Timothys Hologramm zwischen Michael und Rodger. Alle hefteten den Blick auf die künstliche Intelligenz.

»Commander Everhart, ich entschuldige mich, dass ich es nicht schon früher erwähnt habe, aber es ist wegen eines schweren Gewittersturms nicht sicher, mit der Deliverance an den von Mr. Xavier übermittelten Koordinaten zu landen.«

»Und das hast du mir nicht gesagt, weil …«, hakte Michael nach.

»Ich wollte es vorhin tun, aber Sie haben mir das Wort abgeschnitten.«

»Ich dachte, da wolltest du mir bloß sagen, dass die Wettersensoren nicht richtig funktionieren.«

Eine Pause entstand. »Ist das eine Frage?«

»Ja.«

»Dann trifft das zu, Commander«, erwiderte Timothy. »Die meteorologischen Sensoren funktionieren nicht ordnungsgemäß, aber das Radar hat einen Sturm erfasst, der über der Quelle des letzten Notrufsignals eine Fläche von 250 Quadratkilometern umspannt. Um Mr. Xaviers Aufenthaltsort zu erreichen, müssen Sie entweder durch den Sturm abspringen oder zu Fuß ungefähr 80 Kilometer durch radioaktiv verseuchtes Gebiet zurücklegen.«

3

Vier Jahre davor

Xavier Rodriguez beobachtete den Sturm aus der Sicherheit eines uralten, am Rand eines Steilhangs gestrandeten Fahrzeugs. Donner grollte – ein ständiger Lärm, der die Karosserie um ihn herum zum Vibrieren brachte. Hunderte Jahre lang hatte der gepanzerte Truck auf der Kuppe eines einst dicht bewaldeten Hügels gestanden. Die früheren Insassen, zwei Soldaten, lagen mittlerweile neben den platten Reifen begraben. X hatte entschieden, sie auf die altmodische Bestattungsweise der Menschen zu ehren, indem er Löcher in den Boden gegraben und sie anschließend mit Erde zugeschaufelt hatte.

Er saß längst wieder wohlbehalten in dem rostigen, gepanzerten Wagen hinter dem Lenkrad auf einem rissigen Ledersitz. Miles hatte sich neben ihm eingerollt. Innen erwies sich das Fahrzeug in Anbetracht des Alters als überraschend gut erhalten. Außerdem hatte es ihm einen seiner bisher besten Funde überhaupt beschert: Kartenmaterial über militärische Bunker überall in den Vereinigten Staaten. Dabei handelte es sich um keine ITC-Einrichtungen, und er hoffte, dort würde es Brennstoffzellen, Lebensmittel, Waffen und vielleicht sogar andere Menschen geben.

Vorgebeugt begutachtete er die Schrift an der Karosserie. Anscheinend eine Art Modellbezeichnung. Seine spärlichen Kenntnisse über die alte Welt hatte er durch Erfahrungen wie diese erlangt. Das Fahrzeug hieß Stryker und hatte im Krieg als mobile Einsatzzentrale für Truppen gedient. Wenngleich die Elektrik und die Mechanik schon lange den Geist aufgegeben hatten, funktionierte noch eines der Periskope, und er war zuversichtlich, dass er das Funkgerät zum Laufen bringen könnte.

Durch die dicke Glasscheibe beobachtete X, wie die Masse des Sturms über der geplätteten Stadt brodelte. Gelbliches Licht durchzuckte die Eingeweide der Wolken.

Ein kratzendes Geräusch erschreckte ihn, und Miles schaute auf, als eine Spinne mit violetten Beinen über das Glas krabbelte. Sie pickte mit schnabelartigen Kiefern an der Scheibe, dann sah sie X mit einem Dutzend Glupschaugen an.

»Ist schon gut, Junge«, beruhigte X den Hund. »Ist bloß ’ne Spinne.«

Die Kreatur pickte erneut an der Scheibe, dann bewegte sie sich hinauf zur rechten oberen Ecke, wo sie sich mit den Saugnäpfen an den Enden der Gliedmaßen festsetzte.

»Sieht so aus, als hätten wir einen neuen Freund«, flüsterte X.

Solange das Vieh draußen blieb, störte es ihn nicht weiter. Plötzlich hatte er das Bild einer Bisswunde vor Augen. Gift aus der Verletzung schmolz die Haut des Mannes förmlich und verzehrte langsam das gesamte Bein. Die Szene hatte sich vor 20 Jahren ereignet, als X dabei zusehen musste, wie ein Springerkamerad dem Biss einer Spinne wie jener draußen erlag. Das mutierte Vieh konnte einen erwachsenen Mann mit einem einzigen Biss innerhalb von Sekunden töten.

Der Sturm spie auf die Stadt unter X Geflechte elektrischer Entladungen aus, die wieder und wieder in die verfallenden Bauten einschlugen. Von seinem Aussichtspunkt konnte X am anderen Ende des Stadtgebiets einen riesigen Krater ausmachen. Die Bombe hatte dort so gut wie alles dem Erdboden gleichgemacht und nur verbogenes Metall und Betonfundamente zurückgelassen. Der Hügel, auf dem das Fahrzeug stand, war völlig kahl gebrannt. Nicht einmal ein Stumpf eines Baums war geblieben. Steine und Felsbrocken übersäten den Steilhang. Die Oberflächen sahen selbst Jahrhunderte nach der Kernexplosion immer noch glasig und rußig aus.

X konnte es nur vermuten, aber wahrscheinlich waren die Soldaten auf die Hügelkuppe gefahren, um sich den Schaden nach der Detonation anzusehen. Aus irgendeinem Grund hatten sie das Fahrzeug nie verlassen und waren in der mobilen Kommandozentrale gestorben. Vielleicht waren sie einer Strahlenvergiftung oder irgendeiner Krankheit erlegen. Die Leichen waren zu stark verwest gewesen, um es abzuschätzen.

Wenigstens haben die Monster sie nicht erwischt.

Im flackernden Licht einer Abfolge von Blitzen stach ihm eine flüchtig wahrgenommene Bewegung ins Auge. Er folgte ihr zu einem Erdfall auf einer der Straßen. Die Gestalt, die sich nur als Umriss abzeichnete, huschte in die Öffnung und verschwand. Die Einstiege auf den Straßen führten zur weitläufigen Kanalisation und zu den U-Bahn-Systemen unter der Stadt, die X um jeden Preis mied. Ein Mensch und sein Hund hatten dort unten nichts verloren.

Dennoch würde er früher oder später einen Weg durch das riesige Trümmerfeld finden müssen. Viel länger konnten sie hier nicht mehr warten. Ihm gingen allmählich wieder die Lebensmittel aus, und er hatte nur noch zwei Patronen für die Schrotpistole und ein Magazin für das Gewehr.

Miles schaute auf, schnüffelte und verlagerte das Gewicht seines pelzigen Körpers. Sie versteckten sich bereits seit mehreren Tagen in dem Fahrzeug. Wie viele genau, vermochte X nicht zu sagen. Er hatte wieder den Überblick über die Zeit verloren.

Das Grollen des Donners setzte sich sporadisch fort. In gewisser Weise fand er es beruhigend. X wünschte, er könnte noch länger hierbleiben, doch er hatte bis zur Küste noch Hunderte Kilometer vor sich.

Er schaute erneut zu der Spinne, dann zog er die Abdeckung an der Innenseite des Fensters zu. Dunkelheit erfüllte das Innere des Fahrzeugs. X zündete eine Notkerze an und stellte sie aufs Armaturenbrett, bevor er in die Kommandozentrale hinter den vorderen Sitzen kletterte, wo er eine zweite Kerze anzündete. Die Flamme warf einen warmen Schein auf Monitore und eine Funkanlage. Mehrere Schalensitze standen der Ausrüstung zugewandt, alle von einer feinen Staubschicht bedeckt.