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Unheimlich und unglaublich fesselnd. Action, Action und noch MEHR ACTION! In den Geheimlabors des amerikanischen Militärs gerät eine Biowaffe außer Kontrolle. Innerhalb von Tagen rast die Pest um den Globus und rottet den größten Teil der Menschheit aus. Buch 6: Mehr als 70 Jahre nach dem Einmarsch der Alliierten im Kampf gegen die Nazis dringt das Delta Force Team Ghost in die Normandie vor. An ihrer Seite kämpfen die verbündeten europäischen Streitkräfte. Ihr Auftrag: Die Ausrottung aller Entarteten und deren Nachkommen. Doch als die Truppen nach Osten stürmen, verbreiten sich die Gerüchte, dass sich eine ganz neue Art von Monstern entwickelt hat … Buch 1: Verpestet Buch 2: Krieg gegen Monster Buch 3: Mutierte Bestien Buch 4: Entartung Buch 5: Von der Erde getilgt Buch 6: Metamorphose Buch 7: Am Ende bleibt nur Finsternis Russell Blake: 'Nicholas Sansbury Smith kombiniert Wissenschaft mit rasanter Militär-Action in einem epischen Literatur-Monstrum, das mit Überschallgeschwindigkeit dahinrast. Fans des Genres werden es lieben!'
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Seitenzahl: 556
Veröffentlichungsjahr: 2018
Aus dem Amerikanischen von Michael Krug
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Aftermath (The Extinction Cycle, #6)
erschien 2016 im Verlag Createspace Independent Publishing.
Copyright © 2016 by Nicholas Sansbury Smith
Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-631-1
www.Festa-Verlag.de
Für Jeni Rico
Du hast diese Welt viel zu früh verlassen,
aber dein Lächeln und dein Andenken
werden ewig weiterleben.
Team Ghost salutiert vor dir, »Sergeant«.
Wir werden unsere Insel verteidigen, koste es, was es wolle. Wir werden an den Stränden kämpfen, wir werden an den Landezonen kämpfen, wir werden in den Feldern und auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen. Wir werden niemals kapitulieren.
– Winston Churchill
Prolog
Eine Flutwelle von Dunkelheit schwappte über die kopfsteingepflasterten Straßen von Rom. Feldwebel Piero Angaran und Leutnant Antonio LoMaglio beobachteten, wie die Wand aus Schwärze Kirchtürme und Dächer verschlang, über die Skyline aufstieg und langsam der Brücke näher rückte, auf der sie standen.
Piero senkte sein Beretta ARX-160 Sturmgewehr, als sich die rötliche Scheibe hinter den Horizont zurückzog. Auch Piero und Antonio befanden sich auf dem Rückzug. Und ihnen lief bei der Rückkehr zu ihrem Unterschlupf die Zeit davon.
Piero warf den Kopf zurück, schluckte die letzten zwei Aufputschpillen, die er hatte, und spülte sie mit einem Schluck Wein aus seinem Trinkrucksack hinunter. Zum ersten Mal in seinem Leben sehnte er sich nach Wasser statt nach Wein. Allerdings war sauberes Wasser so wie alles andere in Rom Mangelware.
»Komm schon«, drängte Antonio. In seiner Stimme schwang Panik mit – ungewöhnlich für einen Mann, der sonst in der Regel lachte und Witze riss.
Antonio klappte sich die Nachtsichtbrille über die Augen und winkte Piero vorwärts. Seite an Seite rannten sie über die historische Brücke, die sich über den Tiber spannte.
Rom war im Verlauf der Jahrhunderte schon öfter eingenommen worden, hatte sich aber immer wieder aus der Asche der Unterwerfung erhoben. Die Gallier, die Westgoten, die Normannen und sogar die Truppen von Kaiser Karl V. hatten versucht, die Stadt zu unterjochen. Nun jedoch hatten Dämonen vollbracht, was Menschen nicht gelungen war. Die gottlosen Kreaturen beherrschten Rom und es gab nur noch zwei Männer zur Verteidigung der uralten Stadt.
Piero und Antonio verkörperten die letzten verbliebenen Mitglieder ihrer Einheit, des 4. Alpini Fallschirmjäger-Regiments. Sie hatten zusammen in Afghanistan gegen die Taliban und im Irak gegen Al-Qaida gekämpft und sowohl in der Wildnis als auch in der Wüste gegen eine überwältigende Überzahl von Feinden überlebt. Die jungen Varianti jedoch hatten nur eine einzige Nacht gebraucht, um Pieros und Antonios Brüder abzuschlachten.
Ihre Mission zur Rückeroberung der Stadt war gescheitert. Alle waren tot. Mittlerweile, zwei Wochen später, gingen Piero und Antonio auf dem Zahnfleisch. Sie waren erschöpft, ausgehungert und verletzt. An diesem Tag war ihnen der Anfängerfehler unterlaufen, nicht vor Sonnenuntergang zu ihrem Unterschlupf zurückzukehren. Nachts verhielten sich die Jung-Abartigen am aktivsten.
Obwohl Piero seinen Freund und Teamleiter an der Seite hatte, war er sich noch nie im Leben einsamer oder hilfloser vorgekommen. Bisher hatten sie nur eine Handvoll Überlebender entdeckt, die in der Stadt festsaßen. Die Letzten davon waren vor drei Tagen getötet worden, in Stücke gerissen von einem jungen Varianti, der ihnen zu ihrem Bunker gefolgt war.
Piero blinzelte die Erinnerung weg und fuhr sich mit einem ausgefransten Ärmel über die Stirn. Er würde später, wenn sie zurück im Unterschlupf wären, mehr Abwehrmittel auftragen müssen. Die in Deutschland hergestellte Flüssigkeit wirkte wie Insektenspray, bestand jedoch aus Chemikalien, die wesentlich übler rochen. Der Geruch bereitete ihm allerdings am wenigsten Kopfzerbrechen. Beide Männer hatten seit Wochen nicht geduscht, nicht mehr, seit sie mit dem Fallschirm in die Stadt abgesprungen waren. Sie trugen immer noch dieselben grünen Tarnanzüge von damals, wenngleich sie mittlerweile eher wie Lumpen aus irgendeiner Mülltonne aussahen.
Antonio hob eine Hand und sank im selben Bewegungsablauf auf ein Knie. Er richtete sein ARX-160 auf eine Statue dreier muskulöser Männer in Roben. Piero tat es dem Leutnant gleich und setzte das Zielfernrohr seines Gewehrs am Nachtsichtgerät an. Nichts rührte sich in der grünstichigen Ansicht. Er schwenkte die Waffe von links nach rechts, drittelte sein Sichtfeld und überprüfte jede Zone auf Bewegung. Das Fadenkreuz erfasste einen mit dem Gesicht nach unten liegenden Körper. Knochen ragten aus dem Hemd des Leichnams, wo ein Varianti die Lunge herausgeholt hatte wie beim Blutadler-Ritual der Wikinger. Der Anblick jagte einen Schwall von eisiger Kälte durch Pieros ausgelaugten Körper.
Nachdem sich Antonio vergewissert hatte, dass die Gegend frei von Feindkontakt war, gab er das Zeichen zum Vorrücken.
Die zwei Soldaten setzten den Weg über die Brücke fort. Unter ihnen zog die starke Strömung des Tiber dahin. Das Wasser teilte sich schäumend um den roten Rumpf eines gekenterten Schnellboots. Piero blickte prüfend über einen Park zu ihrer Rechten, in dem Vegetation wucherte, die nicht mehr gepflegt wurde. Ranken krochen über die Steinfassade eines angrenzenden Gebäudes. Es hatte nicht lange gedauert, bis das Gras und das Unkraut Teile von Rom zurückerobert hatten. Die Natur hatte einfach ohne die Menschheit weitergemacht.
Die nächste Straße führte sie über einen offenen Marktplatz, den Dutzende Restaurants und Geschäfte säumten. Leichen, von denen das gesamte Fleisch genagt worden war, übersäten den Boden zwischen umgekippten Tischen und zerfetzten Sonnenschirmen. Glasscherben türmten sich unter zerbrochenen Fenstern. An jeder Ladenfront, die Piero passierte, sah er Gesichter – die Gesichter von Menschen, die in den Geschäften und Restaurants einst eingekauft und gegessen hatten. Als er noch ein Kind gewesen war, hatten seine Eltern ihn und seine Schwester jeden Sommer nach Rom mitgenommen. Er hatte sich dann immer mit Carbonara vollgestopft, während seine Eltern Meeresfrüchte-Risotto genossen und sich eine Flasche Pinot noir geteilt hatten. Danach hatten sie sich Gelato von einem kleinen Laden in der Nähe des Trevi-Brunnens gegönnt.
Wenn du in Rom bist, mach’s wie die Römer.
Das Sprichwort hatte ihm von jeher gefallen. Bevor das Blutervirus vor sieben Monaten alles verändert hatte, war es in ganz Italien einfach gewesen, sich an die Lebensart anzupassen. Nun bedeutete das zu sterben.
Rom hatte es von allen italienischen Städten am härtesten getroffen. Und Italien gehörte insgesamt zu den Ländern in Europa, die es am härtesten getroffen hatte. Sie hatten zwar beide Biowaffen eingesetzt, die von den Amerikanern entwickelt worden waren, um die Abartigen zu töten, doch es war viel zu spät gewesen. Über 99 Prozent der Bevölkerung waren tot.
Als Piero die zertrümmerten Ruinen einer Bäckerei passierte, krümmte er sich beim Geräusch seines knurrenden Magens. Das Rumoren schien laut genug zu sein, um von Antonio – und etwaigen Varianti in der Nähe – gehört zu werden. Seit Tagen hatte keiner der beiden eine feste Mahlzeit zu sich genommen und die verwaisten Gebäude nach Lebensmitteln zu durchstöbern wurde zunehmend gefährlicher. Weil man nie wissen konnte, wo sich die Jung-Abartigen aufhielten.
Mehrere Sekunden lang standen sie schweigend da und lauschten. Der wie juwelenbesetzt wirkende Himmel und der Halbmond warfen genug Licht über die Stadt, um es Piero zu ermöglichen, die Nachtsichtbrille hochzuklappen. Antonio folgte seinem Beispiel.
Im Schein des natürlichen Lichts betrachtete Piero das Gesicht seines Freundes. Beide waren 35 und mit ihren nahezu identischen, ungepflegten Bärten und braunen Haaren hätte man sie für Zwillinge halten können. Trotz der Anspannung brachte Antonio ein Lächeln zustande. Wenn es in ihrer Einheit einen Komiker gegeben hatte, dann den Leutnant.
Er hatte immer gewusst, wie man die Stimmung mit einem Witz auflockerte.
»Was guckst du so? Hab ich was im Gesicht?«
»Eine Dummvisage«, schoss Piero zurück. Den Ausdruck hatte sein Großvater manchmal für ihn verwendet, wenn er als Kind etwas Törichtes gesagt oder getan und dann dumm aus der Wäsche geschaut hatte, und seither benutzte ihn Piero gern bei Freunden.
Entferntes Geheul – ein Mahnmal dafür, dass Monster die Gegend unsicher machten und jagten – ließ ihr gemeinsames Grinsen rasch verblassen.
Die Männer nickten einander zu. Antonio setzte das Gewehr an der Schulter an und bewegte sich in die von einer nahen Kirche geworfenen Schatten. Piero folgte ihm in knappem Abstand auf einen Hof, der früher einen täglichen Bauernmarkt beherbergt hatte. Die Stände selbst gab es sogar noch, die frischen Waren jedoch waren längst verrottet.
In der Mitte des Platzes befand sich ein Springbrunnen mit der Statue eines nach Osten zeigenden römischen Soldaten. Das Weiß von Vogeldung überzog die Rüstung. Piero und Antonio schwenkten die Gewehre über den Hof.
Sie hatten es fast zurück zu ihrem Unterschlupf geschafft und Piero hatte in der Tasche nicht nur die geschmolzenen Schokoriegel, die er erbeutet hatte, sondern auch die Funkgerätteile, die es ihnen ermöglichen würden, Verbindung mit der Zentrale aufzunehmen. Er war sich nicht sicher, worauf er sich mehr freute.
Der Gedanke an die Schokolade brachte seinen Magen erneut zum Knurren. Ein anderes Geräusch jagte seinen Puls schlagartig in die Höhe.
Antonio erstarrte, hörte es im selben Moment.
Zuerst erinnerte das Geräusch Piero an Stromschnellen, doch es ging rasch zu etwas über, das mehr nach einem vollwertigen Wasserfall klang.
Was zum Geier ist das?
Piero bewegte den Finger vom Abzugsbügel zum Abzug selbst. Er ließ den Blick auf der Suche nach Anzeichen von Jung-Abartigen durch die Gegend wandern, aber das Geräusch stammte nicht von den Straßen oder Gebäuden. Es kam vom Himmel.
Auf einmal erhoben sich Hunderte – nein, Tausende – Vögel in die Lüfte. Ihre schwarzen Schwingen bildeten ein so dichtes Geflecht, dass sie den Mond wie eine wabernde Decke der Dunkelheit verhüllten.
Pieros wild pochendes Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Etwas Ähnliches hatte er in der ersten Nacht beobachtet, als sie mit Fallschirmen in die Stadt abgesprungen waren. In der Nacht, in der sie ein Nest von Jung-Abartigen in deren Bau geweckt hatten.
Antonio schaute zurück zu Piero.
»Lauf«, flüsterte er.
Piero zog den behelmten Kopf ein und rannte hinter seinem einzigen auf der Welt verbliebenen Freund her. Ihr Unterschlupf befand sich zwei Häuserblocks entfernt in einem Wartungstunnel, den man in die uralte, entlang des Tiber verlaufende Mauer gebaut hatte. Statt die Route den Fluss entlang einzuschlagen, hatte sich Antonio für eine Abkürzung entschieden. Eine Abkürzung, die sie zurück in die Stadt geführt hatte. Dadurch mussten sie einem der unterirdischen Baue zu nah gekommen sein.
Die kopfsteingepflasterten Straßen begannen, unter ihren Stiefeln zu vibrieren, doch es handelte sich um kein Erdbeben. Das Erzittern des Bodens erinnerte Piero an die Stierläufe in Spanien. Der Kick, zusammen mit Hunderten anderen Menschen vor einer Herde Stieren davonzurennen, galt als unvergleichlich – bis man erlebte, wie es sich anfühlte, vor einer Herde Jung-Abartiger der Größe von Nashörnern zu flüchten.
Er drückte sich das Gewehr an die Brust. Schweiß lief ihm in die Augen, doch er ignorierte das Brennen und den Drang, die Tropfen wegzuwischen. Mit verschwommener Sicht nahm er Bewegung entlang der Dächer im Osten wahr.
Antonio zeigte auf drei Reihenhäuser. Mehrere kleine Jung-Abartige hatten die Außenmauer des mittleren Gebäudes erklommen. Sie kauerten auf der Dachterrasse und schnupperten die Nachtluft mit knolligen, von Warzen übersäten Nasen. Es dauerte nur Sekunden, bis ihn Reptilienaugen der Größe von Espresso-Untertassen sichteten. Das Klappern der Panzerplatten ihrer Körper ertönte, als sie auseinanderstoben, um die Meldung über Frischfleisch zu verteilen.
Diese Monster bildeten lediglich die Aufklärungseinheit – die Kleinsten und Schwächsten, nur ungefähr halb so groß wie ihre älteren Brüder und Schwestern. Aber sie waren genauso schnell, wenn nicht noch schneller, und besaßen eine genauso dicke Panzerung.
Piero hatte Mühe, Luft zu bekommen, während er rannte. Antonio befand sich bereits 30 Meter vor ihm. Sein Freund war schon immer schneller als er gewesen, aber für gewöhnlich wartete er auf Piero.
Nicht in dieser Nacht – nicht wenn die Gefahr drohte, von Hunderten überaus hungrigen Varianti in Stücke gerissen zu werden.
An der nächsten Ecke bog Antonio nach links, hielt aber nach wenigen Schritten an.
Eine Sackgasse.
Die Wolke aus Vögeln flatterte über die Straßen und warf einen großflächigen Schatten auf die beiden Männer. Piero machte kehrt, lief den Weg zurück, den sie gekommen waren, und rutschte in einer Pfütze aus. Er krachte zu Boden, spürte jedoch sofort, wie ihm Antonios Hände auf die Beine halfen.
»Beeilung!«, drängte Antonio.
Als Piero die Füße wieder unter sich hatte, preschte er mit seinem Freund zurück zu dem offenen Marktplatz. Sie visierten auf der Westseite eine Nebenstraße an, die zur französischen Botschaft führte. Mittlerweile Seite an Seite rannten die zwei Soldaten eine schmale Gasse hinunter, die in eine breite Straße vor der Botschaft mündete. Über ihnen hing noch die französische Flagge von einer Fahnenstange.
Früher hatte Piero nie wirklich gern zusammen mit Franzosen gekämpft, doch im Augenblick hätte er ihre Hilfe mit Freuden angenommen. Scheiße, er wäre demütig auf die Knie gesunken, um sie willkommen zu heißen.
Das Vibrieren des Bodens verstärkte sich. Ein Blumentopf fiel von einem Fenstersims eines nahen Gebäudes und zerschellte auf dem Kopfsteinpflaster.
»Schnell!«, rief Antonio. Er preschte eine enge Häuserschlucht rechts der Botschaft hinab. Die Geschäfte hier waren kleiner, gehörten überwiegend örtlichen Kunsthandwerkern. Piero hatte aus einem davon vor ein paar Tagen Wein erbeutet – denselben Wein, der sich nun in seinem Trinkrucksack befand.
Sie hatten ihre Zuflucht fast erreicht. Die Gasse mündete in eine Straße und danach lag nur noch eine Brücke zwischen ihnen und der Sicherheit. Antonio hielt neben einem Baum inne, setzte das Gewehr an der Schulter an und richtete das Zielfernrohr auf die Brücke vor ihnen. Dann gab er Piero mit der Hand ein Zeichen. Als sie auf die Straße vorrückten, füllten Vögel den Himmel über ihnen. Nasser Kot prasselte herab und traf Pieros Hand und Gesicht, doch das störte ihn nicht weiter. Scheiße ließ sich abwischen.
Er beging den Fehler, über die Schulter zurückzuschauen, als er die Brücke erreichte. Der Anblick der Herde Jung-Abartiger, die nach Süden galoppierte, brachte ihn beinahe zum Stolpern. Einen Moment lang bewegten sich ihre gepanzerten Körper wie eine Einheit und pflügten wie ein Panzer die Straße herab.
Dutzende gelbliche Augen schienen die Blicke gleichzeitig auf ihn zu heften.
Sein Herz drohte in der Brust zu explodieren.
Antonio riss seine letzte Granate mit Abwehrstoffen von der Splitterschutzweste. Mit den Zähnen zog er den Stift heraus, dann warf er die Granate auf die Straße und machte sich im Laufschritt davon.
Das Zischen der austretenden Chemikalie war aus dem Getrampel der Monster und dem durchdringenden Geheul herauszuhören, das erklang, als die Ungetüme auf die Wand aus Rauch trafen. Das Gas sollte die Kreaturen eigentlich durcheinanderbringen, doch sie brachen die Verfolgung nicht ab. Der hohe, schrille Lärm schwoll zu einer Kakofonie an, die Piero dermaßen in den Ohren schmerzte, dass er die Hände über sie schlug.
Vor ihm tat Antonio dasselbe. Er fiel auf die Knie und schrie vor Schmerzen. Piero biss die Zähne zusammen und zog seinen Freund wieder auf die Beine. Die beiden schleppten sich gegenseitig über den letzten Abschnitt der Brücke. Die Leiter zu ihrem Versteck befand sich noch um die 30 Meter entfernt – allerdings hatten die Monster bereits die andere Seite erreicht.
Es war vorbei. Sie konnten entweder kämpfen und auf dieser Brücke sterben oder flüchten und wie Feiglinge draufgehen. Piero setzte das Gewehr an der Schulter an und zielte auf die heranwalzende Wand der Monster, doch Antonio schlug den Lauf beiseite.
»Komm schon!«, befahl er. Dann stieg er auf den rechten Sims der Brücke, zog sich auf das Geländer hoch und blickte hinab. Es ging sechs Meter in die Tiefe. Die Strömung an der Stelle war stark. Und die Jung-Abartigen konnten wesentlich besser schwimmen als ihre Varianti-Eltern.
Piero kletterte neben ihn und eine Sekunde lang starrten beide zu den anrückenden Bestien. 50 gekrümmte Schädel schnitten durch die Luft, 200 Hände und Füße zerschmetterten Ziegelsteine, die jahrhundertelange Misshandlung durch Wagen und Fahrzeuge überstanden hatten.
Dann packte Antonio den Arm von Piero und zog ihn mit sich über die Seite. Mit angewinkelten Knien, wie es ihnen bei der Ausbildung beigebracht worden war, tauchten sie ins Wasser ein. Die Wucht des Aufschlags erschütterte Pieros Sinne. Ein Stein streifte sein Bein und ließ Schmerzen durch seine Knochen rasen. Kaum tauchte Piero wieder auf, hörte er das Platschen der Monster, die am anderen Ende von der Brücke sprangen.
Antonio schwamm mit der Strömung aufs Ufer zu. Piero hatte eine Weile gebraucht, nun jedoch begriff er, was sein Gruppenführer vorhatte. Die Entscheidung zu springen statt zu rennen hatte er deshalb getroffen, weil sie dadurch für ein paar Sekunden außer Sicht sein würden. Worin ihre einzige Chance bestand, ihr Versteck zu erreichen, ohne dabei gesichtet zu werden.
Hustend spuckte Piero Wasser aus und schwamm hinter seinem Freund her. Antonio mochte an Land schneller sein, doch im Wasser bewegte sich Piero flinker. Rasch schwamm er voraus. Schwimmzug, Atemzug. Schwimmzug. Schwimmzug, Atemzug. Wenige Augenblicke später erreichte er den Sims, packte ihn und zog sich hoch. Zwischen der Mauer und dem Ufer verlief ein Radweg. Die zum Wartungstunnel führende Tür befand sich direkt unter der Brücke.
Als sich Piero umdrehte, um Antonio die Hand entgegenzustrecken, zögerte er beim Anblick der gekrümmten Schädel und geriffelten Rücken der Monster, die durch das Wasser schnitten. Dutzende schwammen durch den Tiber und holten Antonio rasch ein, der den Fehler beging, innezuhalten, um zu den Bestien zurückzuschauen. Dabei trat er kostbare Sekunden lang nur Wasser, ohne sich vorwärtszubewegen, bevor er weiterstrampelte. Als er endlich weiterschwamm, hatte ihn die Strömung bereits gute drei Meter flussabwärts getragen. Piero rannte den Weg hinunter. Sein Blick schnellte von seinem Freund zu den Bestien, dann weiter zu den Vögeln, die immer noch den Himmel verstopften. Das Rauschen von Schwingen drang an seine Ohren. Allerdings entsprang das Geräusch nicht der Summe Tausender schlagender Flügel. Es stammte vielmehr von einem einzigen Paar …
Piero stolperte rücklings, als sich der Vorhang der Flügel teilte und den Blick freigab auf eine gewaltige Kreatur, die wie ein Dämon aus der Hölle über den Himmel schwebte. Ein dorniger Schwanz peitschte hinter der Abscheulichkeit hin und her.
»Großer Gott im Himmel«, murmelte Piero.
Die Bestie schwebte mit Flügeln einer Spannweite von mindestens dreieinhalb Metern durch die Luft. Ein unförmiges Gesicht mit einem langen Horn als Nase und umhersuchenden Augen blickte auf die Artgenossen im Wasser herab. Die Kreatur öffnete wulstige Saugnapflippen und stieß ein durchdringendes Zischen aus.
Das Geräusch ließ Piero unwillkürlich die Luft aus der Lunge pressen. Er hatte es schon in der Nacht gehört, war davon aus unruhigem Schlaf geweckt worden.
Mittlerweile konnte er die Tür bereits sehen, die zum Versteck führte. Wenn er rannte, könnte er vielleicht den Tunnel hinunter entkommen und es zur anderen Seite schaffen.
»Piero!«, schrie Antonio zwischen den Schwimmzügen. »Piero, hilf mir!«
Eine Sekunde lang überlegte er, seinen Freund im Stich zu lassen, bevor er zurück zum Rand des Wassers lief. In dem Moment, als Piero die Hand seines Kameraden ergriff, riss etwas Antonio zurück in die Fluten. Sein Helm verschwand mit einem Gewirr von aufsteigenden Blasen unter der Oberfläche.
Die geflügelte Abscheulichkeit stieß auf sie herab. Die Schwingen streiften Piero. Er plumpste auf den Hintern und robbte rücklings weg, starrte wie vom Donner gerührt hin.
»Hilfe!«, brüllte Antonio, als er wieder auftauchte.
Piero rappelte sich auf die Beine, setzte das nasse Gewehr an der Schulter an und suchte das Wasser nach einem Ziel ab. Antonio war bereits verschwunden, wieder unter die Oberfläche gezogen worden.
Piero lief am Ufer des Flusses auf und ab. Sein Blick schwenkte zwischen Himmel und Wasser hin und her. Der geflügelte Jung-Abartige war in die Dunkelheit verschwunden, aber er konnte immer noch das Geräusch der Flügel hören.
»Piero!«, schrie Antonio. Er war drei Meter weiter rechts erneut aufgetaucht und schnappte nach Luft. »Hilf mir!«
Bevor Piero die Hälfte der Entfernung zu seinem Freund zurückgelegt hatte, stieß das Ungeheuer vom Himmel abermals herab und packte Antonios Kopf mit zwei klauenbewehrten Füßen. Es zerrte ihn aus dem Wasser, weg vom Zugriff seiner hungrigen Brüder und Schwestern.
Der bleiche, gepanzerte Körper eines über zwei Meter großen Jung-Abartigen schoss aus den Fluten und streckte sich nach Antonios Füßen. Das Monster bekam das rechte Bein zu fassen und zerrte daran, während der geflügelte Jung-Abartige in die Luft aufsteigen wollte.
Piero beobachtete voll Grauen, wie die beiden Ungetüme in entgegengesetzte Richtungen zogen. Antonio brüllte vor Qualen. Für Piero gab es nur noch eins, das er tun konnte. Einen Herzschlag bevor Antonio in zwei Hälften gerissen wurde, jagte Piero eine Kugel ins Hirn seines Bruders.
Antonio hatte immer gesagt, dass er mit einem Lächeln im Gesicht sterben wollte. Er lächelte nicht. Vielmehr glich sein Gesicht einem blutigen Ausdruck blanken Grauens. Die Hälfte seines Körpers wurde gen Himmel gezogen, die andere Hälfte unter Wasser.
Piero wurde speiübel. Unwillkürlich wich er zurück, stolperte über ein zurückgelassenes Fahrrad und ließ das Gewehr fallen. Er versuchte, irgendetwas zu empfinden, nahm jedoch nur Taubheit in sich wahr. Nach Luft schnappend überwand er sich dazu, sich in Bewegung zu setzen, da ihm klar wurde, dass er sonst der Nächste sein würde. Die offene Wartungstür befand sich nur einen kurzen Lauf entfernt. Er stürmte hindurch und verriegelte sie hinter sich. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen das rostige Metall, schloss die Augen, atmete durch und versuchte verzweifelt zu verdrängen, was gerade geschehen war.
Was er gerade getan hatte.
Nein, dachte er. Das kann nicht wirklich passieren.
Dunkelheit umhüllte ihn undurchdringlich und erstickend. In seiner Lunge befand sich noch Wasser. Sosehr er sich bemühte, nicht zu husten, er konnte es nicht zurückhalten. Röchelnd beugte er sich vornüber und spie Wasser auf den Boden. Würgend erbrach er das bisschen Essen, das er im Magen gehabt hatte.
Schließlich wischte er sich mit einer Hand den Mund ab, während er mit der anderen zur Nachtsichtbrille griff. Seine Finger ertasteten nur den Helm. Die Brille fehlte, war im Tiber verloren gegangen. Wenigstens hatte sein Gewehr eine Nachtsichtoptik.
Piero stieß einen leisen Fluch aus.
Bei all dem Chaos hatte er das Gewehr draußen vergessen.
Allein, unbewaffnet und in vollkommener Finsternis schlurfte Feldwebel Piero Angaran den Tunnel entlang. Mit erhobenen Händen tastete er sich die feuchte Wand entlang. Wenig später krachte etwas gegen die Metalltür hinter ihm.
Da rannte er los, die Augen geschlossen, die Hände vor sich ausgestreckt, ohne auf die Gefahr zu achten, er könnte fallen. Die Tür ratterte, dann wurde sie von einem weiteren wuchtigen Schlag erfasst, der sie aus den Angeln riss. Mondlicht strömte in den Wartungsgang und im gespenstischen Licht zeichneten sich die Umrisse einer großen, geflügelten Bestie ab.
1
Eine sommerliche Brise zerzauste Master Sergeant Joe Fitzpatricks zottiges, rotes Haar, als er das Deck der USS Iwo Jima überquerte. Das amphibische Angriffsschiff der Wasp-Klasse schnitt durch die rauen Wasser des Ärmelkanals und bereitete den Weg für die USS Mesa Verde und die USS Ashland. Zusammen bildeten die drei amphibischen Fahrzeuge das, was von der 24. Marine Expeditionary Unit noch übrig war. Die USS Forrest Sherman, ein mit Lenkflugkörpern bestückter Zerstörer der Arleigh Burke-Klasse, befand sich mehrere Stunden davon entfernt, mit der Marine Expeditionary Unit zusammenzutreffen.
Fitz berührte den Griff des Beils, das er in einer Scheide an seinem Dienstgürtel trug. Das entsprach zwar nicht den Vorschriften, dennoch behielt er es zum Gedenken an die tapferste Frau bei sich, die er je gekannt hatte. All die Verluste der vergangenen sieben Monate hatten während der einsamen Fahrt übers Meer mit ihren langen Tagen und rastlosen Nächten schwer auf ihm gelastet. Ohne Captain Reed Beckham und Master Sergeant Parker Horn an der Seite fühlte er sich einsamer als seit sehr langer Zeit.
Er dachte an die Freunde und Brüder, die er nie wiedersehen würde: Sergeant José Garcia, Staff Sergeant Jay Chow, Staff Sergeant Alex Riley, Lieutenant Colonel Ray Jensen und so viele andere. Am meisten jedoch vermisste er die ehemalige Feuerwehrfrau Meg Pratt. Sie war für ihn wie die Schwester gewesen, die er nie gehabt hatte.
Über den Griff ihrer Lieblingswaffe zu streichen half ihm, den Schmerz des Verlusts ein wenig zu lindern. So verblieb wenigstens ein Teil von ihr bei ihm, auch wenn es sich nur um Holz und Stahl handelte.
Er näherte sich der Warnlinie am Rand des Decks und spähte zum roten Sonnenuntergang hinauf, der wie das Mündungsfeuer einer Waffe aussah. Fitz strich seine Uniform glatt, die frisch aus einem Vorratsspind an Bord der Iwo kam. Sein Haar peitschte in einem Windstoß. Es war entschieden zu lang. Seine schwarzen Prothesenklingen aus Carbonfaser und sein schwarzer Kampfanzug entsprachen ebenfalls nicht den Vorschriften, aber er hatte keinen befehlshabenden Offizier mehr, der ihm wegen Kleinigkeiten wie nicht polierter Stiefel oder Gesichtsbehaarung im Nacken saß.
Als frischgebackener, für Team Ghost verantwortlicher Unteroffizier operierte Fitz mittlerweile überwiegend unabhängig von den anderen Soldaten. Er fasste nach unten, um seinen Stellvertreter hinter den Ohren zu kraulen. Apollo schnüffelte die salzige Brise und stellte die Lauscher auf, als wäre er einsatzbereit und würde auf Befehle warten.
Solche Befehle würden warten müssen.
Sie befanden sich noch eine Stunde davon entfernt, in Frankreich an Land zu gehen. Vor über 70 Jahren hatten die alliierten Truppen im Zuge von Operation Overlord die Strände der Normandie gestürmt, um das Land von den Nazis zurückzuerobern. Fitz und sein Team standen kurz davor, die Geschichte zu wiederholen, um Frankreich von den Abartigen zurückzuholen.
Fitz war bereit, dieses Erbe voll Stolz anzutreten. Mehr als bereit. Nach einer fast dreimonatigen Pause würde die 24. Marine Expeditionary Unit endlich in den Kampf um Europa eingreifen. Präsidentin Jan Ringgold und Vizepräsident George Johnson hatten auf den Ruf der neuen vereinigten Streitkräfte Europas reagiert, allerdings hatte sich die Hilfe verzögert – aufgrund von bürokratischen Hürden und militärischen Befehlshabern, die entschieden hatten, Befehle nicht zu befolgen. Stattdessen hatten sie darauf bestanden, dass die Truppen der Vereinigten Staaten der Sicherheit des eigenen Landes oberste Priorität einräumen müssten. Ihre Argumente hatten sich stark nach dem angehört, was Colonel Zach Wood von sich gegeben hatte, bevor ihm von Fitz der Schädel weggeschossen worden war.
Amerika war zwar noch bei Weitem nicht sicher, doch der Wiederaufbau hatte bereits begonnen. Die erwachsenen Abartigen waren nahezu vollkommen ausgelöscht worden, die verbliebenen Jung-Abartigen befanden sich auf der Flucht. Dem Rest der Welt war es bislang weniger gut ergangen. Gerüchte über neue Arten von Abartigen tauchten überall auf – Kreaturen mit monströsen Mutationen.
Team Ghost hatte fast zwei Monate bei der 24. Marine Expeditionary Unit verbracht und bei Bergungsunterfangen entlang der Ostküste der Vereinigten Staaten geholfen. Drei Wochen wurden damit verbracht, den Pazifik von aufgegebenen Schiffen zu räumen und Zerstörer der Navy zu plündern, deren mit dem Blutervirus infizierte Besatzungen den Biowaffen entgangen waren, die sie ins Grab befördern sollten. Fitz hatte bei diesen Missionen mehrere neue Freunde verloren. Er hegte keinerlei Zweifel daran, dass er in Frankreich weitere verlieren würde.
Wie so viele Male zuvor waren die Marines bereit, gegen das Böse zu kämpfen, wo auch immer es auftauchte. Nur kämpften die Marines diesmal lediglich mit einem kleinen Teil ihrer ursprünglichen Truppenstärke. Nur noch fünf Prozent des Marine Corps waren übrig. Die 24. Marine Expeditionary Unit bestand aus rund 2000 Männern und Frauen. Darunter befanden sich etliche Freiwillige, die Vizepräsident Johnson um Hilfe zum Wiederauffüllen der stark gelichteten Reihen des amerikanischen Militärs gebeten hatte. Hunderte neue Gesichter hatten sich bereits an Deck versammelt und waren damit beschäftigt, M1A1-Abrams-Panzer zu beladen, außerdem LAV-25er, Humvees, Minenräumpanzer, schwere MTVR-Trucks und Fitz’ neuen fahrbaren Untersatz, ein geländegängiges, stark gepanzertes MRAP-Fahrzeug, das MATV, geeignet für eine Besatzung von sechs Mann und weitere zwölf Personen hinten.
Die Einsatzvorbereitungsgeräusche jagten einen Phantomschauder durch Beine, die Fitz nicht mehr besaß, und Adrenalin in seinen Kreislauf. Er spuckte über die Reling.
Ein Vollmond ging über dem blutigen Horizont auf. Für den Bruchteil einer Sekunde erblickte er vor dem Mond eine Silhouette von etwas, das wie ein Drache aussah. Fitz hatte schon eine Menge Monster gesehen, doch er wusste, das war unmöglich. Dennoch hob er die Hand, rieb sich die Augen und konzentrierte sich auf den Mond. Die Silhouette war verschwunden.
Er drehte sich um und sah nach der Mesa Verde und der Ashland, die der Iwo Jima nach wie vor folgten. Auf den Decks der anderen Schiffe fanden letzte Missionsbesprechungen statt. Bewaffnungsspezialisten beluden vorsichtig Waffensysteme, während Piloten ihre Instrumente überprüften. Jeder hatte eine Aufgabe.
Drei Blackhawks flogen über die Schiffe hinweg. Die Helikopter stiegen zum aufgehenden Mond hin an und schwirrten davon wie Insekten, die ein Flutlicht anvisierten. Fitz drückte sich das Headset ans Ohr und lauschte dem Funkverkehr. Durch den Lärm all der Maschinen und die Stimmen der Einsatztruppen auf dem Deck hinter ihm gestaltete es sich schwierig, vernünftig zu hören, dennoch bekam er die Übertragungen zumindest vage mit.
»Zentrale, Rogue 1 … Echo 4 und Echo 5 melden Abartige an der Küste. Erwachsene in der näheren Umgebung.«
»Bitte wiederholen, Rogue 1. Letzten Teil nicht verstanden. Bitte um Bestätigung … Erwachsene? Die vereinigten Streitkräfte Europas haben gesagt, der Bereich sei sauber.«
»Roger, Zentrale. Sie haben richtig gehört. Die vereinigten Streitkräfte Europas müssen sich geirrt haben. Echo 4 und Echo 5 bestätigen Abartige auf dem Boden. Wir haben ein Erwachsenenproblem.«
Eine Hand auf Fitz’ Arm erschreckte ihn. Sergeant Jeni Rico schnippte sich eine Haarsträhne mit rosa Spitze aus dem Gesicht und lächelte, wodurch sich die Grübchen auf ihren Wangen vertieften.
»Fitzie, hast du die Scheiße gehört?«, fragte sie. »Klingt, als hätten die Franzosen bei der Ungeziefervernichtung keine besonders gute Arbeit geleistet. Anscheinend ist Kryptonit wohl nicht überall eingesetzt worden.«
Fitz seufzte und bückte sich erneut, um Apollos weiches Fell zu streicheln. Dabei erhaschte er einen flüchtigen Blick auf den Stützverband, den Rico noch immer am verletzten Bein trug. Sie konnte von Glück reden, dass sie keinen Gips hatte.
Apollo winselte. Seine gelben Augen blickten suchend in Fitz’ Gesicht. Der Hund wusste durch all das Treiben an Deck, dass irgendetwas im Busch sein musste.
»Ist schon gut, Junge«, beruhigte ihn Fitz. Liebevoll streichelte er den Kopf des Hundes. Fitz vermutete, dass die Unruhe des Tiers nicht an Angst lag. Wahrscheinlich vermisste der Deutsche Schäferhund Beckham und Kate. Fitz hatte ihnen versprochen, dass die 24. Marine Expeditionary Unit nicht so lange weg sein würde, und Beckham hatte zögerlich eingewilligt, Apollo mitkommen zu lassen, um für Fitz’ Sicherheit zu sorgen.
Das war vor drei Monaten gewesen.
Mit einem Seufzen richtete sich Fitz auf. Auch ihm fehlten seine Freunde und so weit von Plum Island entfernt zu sein, erfüllte ihn mit Beklommenheit. Wie sollte er sie beschützen, wenn er nicht dort war?
»Willst du gar nichts zu meiner neuen Haarfarbe sagen?«, fragte Rico.
Fitz schüttelte den Kopf, als hätte er nichts davon bemerkt. »Ist sie denn anders?«
Sie drehte eine rosa Strähne zwischen den Fingern. »Sie sind nicht mehr blau.«
Fitz betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Rico war süß, intelligent und witzig, aber er hatte immer nur Zeit für eine Beziehung – die mit dem Marine Corps. Gut möglich, dass Rico zu flirten versuchte, doch Fitz hätte selbst dann nicht gewusst, wie er zurückflirten sollte, wenn er es gewollt hätte.
Mit einem frustrierten Schnauben wechselte Rico das Thema. »Wie verflucht schwer kann es sein, Kates Vertilgungsmittel nachzubilden?« Während sie sprach, kaute sie wild auf einem Kaugummi, eine Hand an der Hüfte. »Ich meine, sie mussten das Zeug doch nur in die Luft schießen und sich dann auf Gartenstühlen zurücklehnen und zusehen.«
Fitz brachte ein Nicken zustande. Er war nicht sicher, was er in Frankreich zu erwarten hatte. Das wusste niemand. Die vereinigten Streitkräfte Europas hatten letztlich einen Teil von Paris zurückerobert, aber es war schwierig, an genauere Informationen ranzukommen. General Vaughn Nixon, der für die Invasion zuständige Befehlshaber, hatte Operation Beachhead ohne vernünftige Ausgangsbasis geplant. Nicht lange nach der letzten Besprechung hatte Colonel Roger Bradley, Kommandant der 24. Marine Expeditionary Unit, Fitz und die anderen Teamleiter zu einem Meeting gerufen und eine Bombe platzen lassen. Fitz suchte immer noch nach der besten Möglichkeit, es Team Ghost zu sagen.
»Fitzie, hörst du mir überhaupt zu?«
»Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht so nennen«, herrschte Fitz sie an.
Rico hörte auf zu kauen und senkte den Blick.
»Entschuldige. Ich hab’s bloß satt, darauf zu warten, endlich von diesem verfluchten Schiff runterzukommen. Verlassene Schiffe zu räumen und Bergungsoperationen durchzuführen ist verflucht langweilig«, klagte Fitz.
Zwei Ospreys hoben ab und stiegen in den Himmel. Die Motoren erwiesen sich als lauter als eine ganze Flotte Rasenmäher.
»Du kommst noch früh genug zum Kämpfen«, meinte Rico. Sie zog den Riemen ihrer abgesägten Schrotflinte enger um ihre Schulter.
Weitere Blackhawks schlossen sich den Ospreys am Horizont an.
»Scheiße, wir haben echt ein Erwachsenenproblem, oder?«, murmelte Rico.
»Die erwachsenen Abartigen bereiten mir nicht wirklich Kopfzerbrechen. Das tut eher der Nachwuchs. Hier hatten die Jungen noch länger Zeit, sich weiterzuentwickeln. Und die erwachsenen Monster hatten länger Zeit, sich zu vermehren.«
Er betrachtete das seiner Gruppe zugeteilte Fahrzeug. Die fünf Zentimeter dicke, sandbraune Panzerung des MATV war darauf ausgelegt, die Insassen vor Sprengfallen zu schützen, doch er war nicht sicher, ob sie auch den Toxinen der Jung-Abartigen standhalten würde.
Rico schaute finster drein. »Ich hoffe, Captain Davis hat zu Hause in den Staaten mehr Glück.«
Fitz zog die Augenbrauen hoch, als er an die Frau dachte, die dabei geholfen hatte, die USS George Washington von der geistesgestörten Offizierin zurückzuerobern, die eine Meuterei versucht hatte. Lieutenant Colonel Marsha Kramer war überzeugt gewesen, dass eine nukleare Lösung die einzige Möglichkeit darstellte, die Abartigen zu besiegen. Ohne Davis hätte Fitz als Häufchen Asche auf dem Beton in Washington, D. C. geendet. Die Frau Captain hatte sich bei der Aktion damals ein paar Kugeln eingefangen, aber soweit er gehört hatte, versah Davis bereits wieder Dienst auf der George Washington.
»Ich bin sicher, es geht ihr gut«, sagte Fitz. Er zwang sich, den Blick vom Horizont abzuwenden, und deutete mit dem Kinn in Richtung ihres Fahrzeugs. »Trommeln wir das neue Team zusammen, in Ordnung?«
Rico nickte und blies eine Kaugummiblase. Zusammen überquerten sie das Deck und stellten ihre Ausrüstung neben dem MATV ab. Staff Sergeant Blake Tanaka, Specialist Yas Dohi und Sergeant Hugh Stevenson beluden bereits den Passagierraum am Heck des Fahrzeugs.
»Meine Herren«, sagte Fitz, als er sich ihnen näherte.
Alle drei Männer wirbelten herum und bildeten eine Linie. Fitz musterte jeden nacheinander, wie Beckham es ihm beigebracht hatte. Er fing mit Tanaka an, der an einem iPod fingerte. Der Soldat stammte aus New York und hatte einen leichten Brooklyn-Akzent. Tanaka war einen Kopf kleiner als die anderen, was er jedoch durch den Körperbau eines Olympiaringers aufwog. Er war mit Anfang 30 ungefähr im selben Alter wie Fitz.
»Die sollten besser nicht im Weg sein«, merkte Fitz an, als er die lange Klinge eines Katanas sowie deren kürzeren Gefährten, ein Wakizashi, an Tanakas Rücken geschnallt sah.
»Die sind seit Generationen in meiner Familie. Mein Großvater hat mit diesen Klingen im Zweiten Weltkrieg getötet und es wäre für meine Familie eine Ehre, wenn ich damit im Dritten Weltkrieg Abartige töten würde. Mir ist bewusst, dass sie nicht den Vorschriften entsprechen, Sir, aber das gilt dafür auch.« Tanaka senkte den Blick auf Fitz’ Beil.
Fitz zuckte mit den Schultern. »He, wenn du damit Abartige erledigen kannst, dann nimm sie gern mit. Aber grundsätzlich wird die Primärwaffe verwendet, es sei denn, es kommt zum Nahkampf. Verstanden?«
»Sir, ja, Sir.«
»Mit diesen Zahnstochern gegen gepanzerte Jung-Abartige?« Stevenson lachte. »Viel Glück damit.«
»Was hast du gesagt?« Tanaka zog die Ohrstöpsel seines iPods heraus. Die Musik dröhnte so laut, dass Fitz ein paar Takte eines Songs von Lil’ Troy erkannte, den er seit Jahren nicht mehr gehört hatte. »Willst du mal versuchen, dir die Zähne mit einem davon zu putzen?«
Stevenson starrte den kleineren Mann finster an. Die Musik dudelte weiter aus Tanakas Ohrstöpseln. Er zog einen Handschuh aus, um das Gerät auszuschalten.
»Warum hörst du dir solchen Mist an?«, fragte Stevenson. Er schüttelte den Kopf und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust.
»Mist? Das ist pures musikalisches Gold!« Tanaka straffte den Rücken. »Was zum Teufel hast du für ein Problem, Alter?«
»Hört auf mit dem Scheiß«, mahnte Fitz. Er trat zwischen die beiden Männer – seine erste Gelegenheit, sich als ihr Anführer zu behaupten, zudem eine wichtige Gelegenheit. Immerhin bereiteten sie sich auf einen Kampfeinsatz vor.
»Tut mir leid, Sir«, entschuldigte sich Tanaka.
Stevenson nahm stramme Haltung ein, als Fitz ihm einen mürrischen Blick zuwarf. Das jüngste Mitglied des neuen Teams war in Texas aufgewachsen und hatte am College Football gespielt wie einst Big Horn. Stevenson war nicht ganz so groß wie Horn, aber seine Brustmuskeln wölbten sich deutlich unter der schwarzen Körperpanzerung, um die er seine Ausrüstung ergänzt hatte.
Den Großteil der Fahrt nach Europa hatte er mit Yoga und damit verbracht, Comics zu lesen, die er über die halbe Welt mitgeschleppt hatte.
Rechts von Stevenson stand das älteste Mitglied von Team Ghost: der 45-jährige Sondereinsatzspezialist Yas Dohi, was in der Sprache der Navajo »Fels« bedeutete, wie er Fitz erklärt hatte. Er war ein stiller Mann mit schwarzem Haar und einem silbrig gesprenkelten Kinnbart, doch Fitz hatte das Gefühl, dass er so einiges miterlebt haben musste. Seinen scharfen braunen Augen entging kaum etwas und er war der beste Pokerspieler, der Fitz je untergekommen war.
Ein letztes Mal ließ Fitz den Blick prüfend über sein Team wandern, wie es Beckham immer getan hatte, um sich zu vergewissern, dass alle cool waren. Alle drei Männer stammten von anderen Einheiten der Special Forces. Stevenson war Maschinengewehrschütze einer Aufklärungseinheit der Marines gewesen, während sowohl Tanaka als auch Dohi Navy SEALs waren, spezialisiert auf Spurensuche, Aufklärung und amphibische Landungen. Ihre Dienstränge hatten sie bei der Versetzung zu Team Ghost mitgenommen.
Früher wäre es ein wenig unorthodox gewesen, SEALs und Marines zusammenzuspannen, doch da beim Militär allgemein immer noch Chaos herrschte, stellte es nichts Außergewöhnliches dar, dass ein neues Einsatzteam aus Soldaten verschiedener Zweige bestand. Auch untypische Waffen wie Schwerter oder das an Fitz’ Gürtel hängende Beil betrachtete man nicht mehr als ungewöhnlich. Bei einer Mission zur Rückeroberung eines Containerschiffs hatte Fitz sogar einen mit einem Baseballschläger bewaffneten Soldaten gesehen.
Vor ihnen tauchte eine zerklüftete Küstenlinie auf und zeichnete sich in Form von Umrissen im Mondlicht ab. Nebel trieb über das Wasser und erinnerte Fitz an das Auftauchen der dampfenden Köpfe von Abartigen im Meer damals vor Plum Island, als er in seinem alten Wachturm Dienst versehen hatte. Der Anblick entfesselte einen weiteren Adrenalinschub in seinem Kreislauf. Ein Schauder lief ihm in der kalten Nachtluft über den Rücken und er fragte sich, ob sich sein Großvater auch so gefühlt hatte, bevor er die Strände zusammen mit Zehntausenden anderen Männern erstürmt hatte, um das Land von den Nazis zurückzuerobern.
»Herhören«, ergriff Fitz das Wort. »Zunächst mal müsst ihr alle damit aufhören, mich mit ›Sir‹ anzureden. Ihr könnt Fitz, Fitzpatrick oder auch ›Bruder‹ zu mir sagen.«
Sein Team nickte zustimmend und er fuhr fort. »Operation Beachhead beginnt in wenigen Stunden. Wir gehen an Land, nachdem die Panzer eine Schneise geräumt haben. Dann arbeiten wir uns ins Landesinnere vor und helfen dabei, eine vorgerückte Einsatzbasis zu errichten. Wir stellen Kontakt mit den vereinigten europäischen Streitkräften her und warten auf Befehle. Irgendwelche Fragen?«
Rico hob die Hand. »Fitzie …«
Fitz bedachte sie mit einem finsteren Blick und beobachtete, wie sich ihre Grübchen zu einer stirnrunzelnden Miene verzogen. Manchmal erinnerte sie ihn stark an Riley. In der Regel begrüßte er ihren Humor, allerdings musste sie noch lernen, wann er angebracht war und wann es ernst zu bleiben galt.
»Ich meine Fitz. Tut mir leid«, entschuldigte sich Rico. »Wo sind die vereinigten europäischen Streitkräfte?«
»Ja«, meldete sich auch Stevenson zu Wort und legte die Hand wie ein Visier an die Augen, als er in Richtung der Klippen blickte. »Ich seh da draußen keine weißen Uniformen.«
Das war der Augenblick, vor dem Fitz gegraut hatte. Er holte tief Luft und gab bekannt: »Sie kommen nicht.«
Alle Mitglieder von Team Ghost starrten ihn entgeistert an.
»Was?«, fragte Stevenson mit offenem Mund.
»Colonel Bradley hat uns vor einer Stunde darüber informiert, dass es die vereinigten europäischen Streitkräfte nicht riskieren können, uns irgendwelche Truppen zu schicken. Gestern Nacht wurden sie von einer Armee der Jung-Abartigen angegriffen und haben sich in Paris eingebunkert. Sie können mit Müh und Not noch ihren Stützpunkt halten. Sie sind von allen Richtungen umzingelt. Unsere Aufgabe besteht darin, einen Weg zu ihnen zu räumen.«
»Und ihnen die Ärsche zu retten?«, fragte Stevenson.
»Dafür sind wir hier«, bestätigte Fitz mit ernster Miene.
Dohi holte ein Stück Süßholzwurzel aus einer Tasche hervor, klemmte es sich zwischen die Zähne und kaute langsam darauf. Alles, was er tat, erfolgte langsam und unscheinbar. Fitz wurde nie so recht schlau aus ihm und genau deshalb war der Mann so gut im Pokerspielen.
Rico hatte angesichts der Neuigkeit aufgehört, auf ihrem Kaugummi zu kauen.
»Verflucht noch mal, die kommen gar nicht …«, murmelte Stevenson.
»Nein, sie kommen nicht, aber das ändert nichts an unserer Mission«, sagte Fitz. »Und ich weiß, wir arbeiten noch nicht sehr lange zusammen, aber wir besitzen alle Erfahrung im Kampf gegen Abartige. Wir werden lernen, zusammen zu kämpfen.«
Fitz stand so aufrecht wie möglich, blies einen Atemzug aus und nickte jedem Mitglied seines neuen Teams zu. Im Augenblick brauchten seine Leute mehr als beruhigende Worte. Sie mussten wissen, dass sie Bestandteil von etwas Größerem waren, von etwas, das bedeutender war als sie selbst.
Er fasste in die Tasche und holte die zusätzlichen Abzeichen für Delta Force Team Ghost heraus, die Beckham ihm an dem Tag gegeben hatte, als Fitz vor drei Monaten mit Apollo an Bord eines Schiffs gegangen war.
»Das ist er«, verkündete Fitz. »Der Moment, auf den wir Monate gewartet haben. Willkommen bei Team Ghost.«
Er verteilte die Abzeichen eines nach dem anderen. Danach stellte er sich zu seinem Team und ließ den Blick über die Klippen wandern. Sein Großvater hatte es aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause geschafft, viele von dessen Waffenbrüdern jedoch nicht. Fitz selbst hatte ähnliche Verluste im Krieg gegen den Terror und zuletzt im Krieg gegen die Abartigen erlebt. Er dachte an seine Freunde, sowohl die lebenden als auch die toten, und rückte seinen Helm zurecht. Fitz würde sie mit Stolz erfüllen.
»Wir sind voll dabei, Sir«, sagte Tanaka.
»Dann werden wir die Scheiße wohl allein durchziehen«, meinte Stevenson mit einem Schulterzucken. Er zog einen Arm über die Brust, um ihn zu dehnen. »Ich steh voll dahinter, Sir.«
»Ich auch.« Rico ließ zu den Worten ein ansteckendes Lächeln aufblitzen.
Dohi nickte beruhigend.
Apollo schaute auf und wedelte mit dem Schwanz.
»Für Europa«, sagte Fitz mit tiefer Stimme in selbstsicherem Ton. »Für die Menschheit.«
Der zweite D-Day der Geschichte lag nur wenige Stunden in der Zukunft und jeder und jede Einzelne der Spezialisten für Sondereinsätze waren gewillt, das eigene Leben für das Heimatland zu opfern. Team Ghost war zurück und bereit, Europa von den Monstern zurückzuholen – oder beim Versuch zu sterben.
Captain Reed Beckham blickte prüfend zu dem M4-Karabiner, der an einer Schubkarre in der Nähe einer unlängst geernteten Getreidereihe lehnte. Er spuckte auf den Boden und wischte sich das Gesicht an der Schulter ab. Fitz stand kurz davor, Team Ghost nach Frankreich zu führen, gegen Gott weiß welche Feinde, und Beckham hob frische Gräber auf Plum Island aus.
Er schaute zu dem provisorischen Plumpsklo und dem Graben, die den Friedhof von 20 Hektar Ackerland trennten. Mais, Bohnen und andere Feldfrüchte bedeckten jeden Hinweis auf die Grundmauern, die noch von den Laborgebäuden der Sanitätstruppe verblieben, die Colonel Rick Gibson hatte errichten lassen. Aber nur weil Beckham sie nicht sehen konnte, würde er noch lange nicht vergessen, was sich dort zugetragen hatte oder dass Hunderte Männer und Frauen dort gestorben waren – viele von ihnen lagen hier begraben, jeweils gekennzeichnet von einem weißen Kreuz.
Er würde all das nie vergessen.
Wachtürme ragten über den Stränden auf, Elektrozäune säumten die Küste. Wasser glitzerte in der Ferne und ein Zerstörer mit einem riesigen Käfig am Bug trieb über den Horizont, wahrscheinlich unterwegs zum Hafen der Insel, um neue Zivilisten abzusetzen.
Wieder betrachtete Beckham seinen M4-Karabiner. An diesem Tag hatte er die Waffe gegen eine Schaufel getauscht. Er hob die neue Prothesenhand und wischte sich Schweiß von der Stirn. Für Oktober war es ungewöhnlich heiß. Er blickte hinab zu der unter seinem linken Knie angebrachten Klinge aus Carbonfaser. Mittlerweile fiel es ihm erheblich leichter, damit zu stehen, aber für einen Lauf von anderthalb Kilometern brauchte er immer noch zehn Minuten. Sein Ziel bestand darin, mit Fitz bei einem Lauf um die Insel Schritt zu halten, wenn sein Freund von der Front in Europa zurückkäme. Vorläufig musste sich Beckham damit bescheiden, mit Kate Schritt zu halten, und sie war schon fast im sechsten Monat schwanger.
Es lag über sieben Monate zurück, seit Beckham Team Ghost in Gebäude 8 geführt hatte, um dem Ausbruch eines Virus aus der Biowaffenforschungseinrichtung auf den Grund zu gehen. Er konnte immer noch vor sich sehen, wie sich Sergeant Tenor in seinen Armen in ein Monster verwandelte. Auch der Ausdruck in Tenors Gesicht, als ihn Staff Sergeant Riley von seinem Elend erlöste, hatte sich unauslöschlich in Beckhams Gedächtnis gebrannt.
Er schlug sich mit der Prothesenhand gegen die Stirn und versuchte, die Erinnerungen wegzuhämmern, doch sie stürmten weiter als endloser Strom auf ihn ein wie die Projektile aus der MP5, die er an jenem Tag abgefeuert hatte. Er sah Sergeant José Garcia in dem Bunker unter dem Kapitol, wo er sich geopfert hatte, damit der Rest des Teams flüchten konnte – eine Pflicht, die Beckham selbst hätte übernehmen sollen. Er sah Lieutenant Colonel Jensen, der auf dem Rollfeld von Plum Island verzweifelt nach Luft schnappte, während er aus einer Schussverletzung blutete, von der Beckham wünschte, er hätte sie statt seiner erlitten. Und er sah Riley auf der Transportliege an Bord der George Washington, der Körper ruiniert und blutig. Der Gedanke an Kid in diesem Zustand war schier unerträglich …
Beckham war nicht in der Lage gewesen, irgendeinen dieser Menschen zu retten.
Tränen traten ihm in die Augen und ließen seine ohnehin beeinträchtigte Sicht zusätzlich verschwimmen. Die ätzenden Toxine der Jung-Abartigen hatten ihm eine Hand, ein Bein und einen Großteil des Sehvermögens seines rechten Auges geraubt. Beckham hatte alles gegeben, was er konnte, dennoch war es ihm nicht gelungen, seine Brüder zu retten.
Nein. Tu das nicht, Reed. Sie wollen nicht deine Tränen. Sie wollen, dass du weiterlebst.
Beckham zog die Schaufel aus der Erde, umklammerte den Griff mit der linken Hand. Dann bohrte er die scharfe Spitze seiner linken Prothesenklinge in den Boden, um das Gleichgewicht zu halten, und stach mit der Schaufel erneut ins Erdreich. Er hob einen Brocken aus und warf ihn beiseite, ehe er den Vorgang wiederholte und wiederholte, bis ihm ein Wasserfall von Schweiß über die Brust strömte.
Da er von Natur aus Rechtshänder war, fand er es zermürbend, lernen zu müssen, alles mit der Linken zu bewältigen. Er hatte allein Tage dafür gebraucht, die verflixte Schaufel richtig zu handhaben, und er war immer noch dabei, mit der linken Hand schießen zu lernen. Das fiel ihm am schwersten – abgesehen davon, Kate zu berühren. Es fühlte sich nicht richtig an, dafür etwas zu verwenden, das kein Teil von ihm war.
Beckham holte tief Luft, füllte die Lunge. Drei Tage am Stück hatte er daran gearbeitet, ein neues Bewässerungssystem für die Feldfrüchte fertigzustellen. Da er es mittlerweile geschafft hatte, arbeitete er stattdessen an Gräbern für Zivilisten. Plum Island war schwer von Krankheiten heimgesucht worden. Viele der Menschen, die vom Festland gerettet worden waren, litten an der Ruhr. Manche sogar an Typhus. Aus ländlichen Gegenden hörte man Gerüchte über Infektionen mit dem Blutervirus, doch das war bislang auf Plum Island nicht aufgetreten. So oder so würde sich das Ausheben von Gräbern wohl noch eine ganze Weile fortsetzen.
Eine Stimme unterbrach ihn beim Graben.
»Boss, wir haben kein KP mehr.«
Die Tür des Plumpsklos schwang auf. Heraus trat Master Sergeant Parker Horn. Er trug eine Tarnhose und ein weißes, ärmelloses Shirt mit Schweißflecken um die Achselhöhlen. Ausgebleichte Tätowierungen übersäten seinen Oberkörper und seine Arme, an der Stelle über dem Herzen jedoch stach ein neues Keltenkreuz mit den Namen all der im Krieg verlorenen Brüder und Schwestern hervor. Die Idee hatte er sich von Garcia abgeschaut.
»Da scheiß ich doch lieber ins Gebüsch«, brummelte Horn, als er die Holztür hinter sich zuwarf. »In dem Klo stinkt’s wie ein toter Abartiger.«
Beckham schmunzelte. Zu lachen fühlte sich grundsätzlich gut an, allerdings fiel es ihm nach wie vor schwer, keine Schuldgefühle zu empfinden, wenn er es tat.
Horn zog seine Schaufel aus dem Boden und schloss sich Beckham bei der Arbeit an. Wenige Minuten später schauten beide auf, als sie das Brummen eines Dieselmotors hörten. Ein Truck der Army mit offenem Passagierraum pflügte die Schotterpiste herab. Der Fahrer parkte das Ungetüm von einem Fahrzeug am Straßenrand. Dann sprang er aus der Kabine, winkte Beckham und Horn zu und verschwand um die Seite des Trucks, um für ein Dutzend Zivilisten die Heckklappe zu öffnen. Alle trugen Rucksäcke und Wasserflaschen, genau wie die Wanderarbeiter, an die sich Beckham von den Orangenplantagen in Florida erinnerte, wo Team Ghost einmal einen Urlaub verbracht hatte.
Die Zivilisten schwärmten über ein Karottenfeld aus, um das Gemüse zu ernten. Horn wandte sich wieder dem Buddeln zu, doch Beckham schien außerstande zu sein, den Blick von den Anbaufeldern und den frischen Gräbern zu lösen. Leben und Tod, nur durch einen Graben voneinander getrennt.
Schließlich buddelte auch Beckham weiter. Körperliche Arbeit bot eine Möglichkeit, den Verstand von anderen Dingen abzulenken. Natürlich war das Graben nicht annähernd so anstrengend wie das Training der Delta Force, trotzdem empfand er es durch seine Verletzungen als ziemlich hart. Und als verflucht langweilig. Wenngleich ihm das Töten nicht fehlte, vermisste er das Schießen und die Übungsmissionen. Und er vermisste Apollo.
Ihn vor drei Monaten mit Fitz gehen zu lassen, gehörte zu den härtesten Entscheidungen, die Beckham je getroffen hatte, doch da Plum Island offiziell zu einer Sicherheitszone erklärt worden war, hatte er sich verpflichtet gefühlt, Apollo als Schutz für Fitz und dessen neues Team mitreisen zu lassen. Fitz brauchte den Rückhalt des treuen Deutschen Schäferhunds. Beckham nicht.
Er fragte sich, wie es seinen beiden Freunden gerade ergehen mochte. Zuletzt hatte er vor mehreren Tagen mit Fitz gesprochen und auch da nur für wenige Minuten. Nicht annähernd lang genug, um sich umfassend über den letzten Stand der Dinge zu informieren.
»Boss, vielleicht hättest du die Position annehmen sollen, die dir Ringgold angeboten hat«, meinte Horn. »Du könntest den Ort hier als Bürgermeister von Plum Island leiten und es dir in dem schicken, klimatisierten Botschaftsgebäude gut gehen lassen. Diese Hitzewelle ist …«
»Ich bin kein Politiker«, fiel ihm Beckham ins Wort. »Und ich werde nie einer sein.«
»Tja, und ich bin kein Grabengräber.«
Beckham stach die Schaufel in die Erde und sah seinen besten Freund an. »Wir sind jetzt im Ruhestand, Big Horn. Wir haben uns dieses Leben für Kate und für deine Töchter ausgesucht. Schon vergessen?«
»Als Fitz, Davis und wir vor drei Monaten von Präsidentin Ringgold persönlich befördert worden sind, hätte ich nicht gedacht, dass wir diejenigen sein würden, die Gräben ausheben. Wir haben unser Leben mit Kämpfen verbracht. Und jetzt machen wir diese Scheiße hier.«
»Wäre dir lieber, du wärst in Europa und deine Mädchen würden sich jede Nacht darüber Sorgen machen, dass ihr Papa diesmal vielleicht nicht zurück nach Hause kommt?«
Horn murmelte etwas bei sich und bückte sich, um eine weitere Schaufel voll Erde auszuheben. »Nein. Es fehlt mir bloß.«
Beckham brauchte nicht nachzufragen, was er damit meinte. »Mir ja auch. Jede verdammte Minute. Ich wünschte, wir könnten da draußen bei Fitz sein. Ich wünschte vieles, Bruder. So ziemlich alles wäre besser als dieser Mist. Aber du wärst auch nicht glücklich damit, hinter einem Schreibtisch zu hocken. Du willst draußen sein. Außerdem müssen wir an deine Mädchen denken und ich habe Kate und mein kommendes Kind. Hier zu bleiben war die richtige Entscheidung. Wir können sie beschützen.«
»Ja«, pflichtete ihm Horn bei. »Sheila würde von mir wollen, dass ich für die Sicherheit unserer Mädchen sorge. Von Europa aus könnte ich das nicht. Wollte nicht respektlos sein, Boss.«
»Schon gut, Big Horn. Ich versteh das.«
Mehrere Minuten lang buddelten sie schweigend weiter. Beckham nutzte die Zeit zum Nachdenken. Er hatte das Angebot von Präsidentin Ringgold nur aus Respekt vor seiner Oberbefehlshaberin nicht sofort ausgeschlagen. Stattdessen hatte er ihr versprochen, es sich zu überlegen, ihr letztlich aber dennoch eine Absage erteilt. Es gab reichlich andere, kompetentere Anwärter für den Posten des Bürgermeisters.
Eine halbe Stunde verging, bevor sich Horn erneut zu Wort meldete. »Hast du gehört, was Kate gestern Abend darüber gesagt hat, dass es das Blutervirus immer noch gibt?« Er hielt inne, um den Saum seines verschwitzten Shirts auszuwringen. »Was ist mit VX9H9 und Kryptonit? Ich dachte, das Zeug sollte alle Abartigen erledigen.«
»Erinnerst du dich an die Truxtun?«
Beckham sah Horn über das Grab hinweg, an dem sie arbeiteten, in die Augen. Blanker Schmerz trat in Horns Blick.
»Wie könnte ich das vergessen?«, gab sein Freund zurück.
»Die Besatzung war mit dem Blutervirus infiziert, weil sich das Schiff außerhalb der Reichweite von VX9H9 befunden hat. Ich bin sicher, es gibt ländliche Gebiete, die beiden Biowaffen entgangen sind. Die Gerüchte stimmen wahrscheinlich.«
»Dann werden wir vielleicht ja doch wieder kämpfen.«
Beckham bückte sich und rammte die Schaufel in die Erde. Kate befand sich in ihrem neuen Zuhause, einem kleinen Fertigteilhaus mit drei Schlafzimmern, das sie sich mit Horn und dessen Töchtern Tasha und Jenny teilten. In wenigen Tagen sollten Kate und er erfahren, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen bekommen würden.
Er grub schneller, hob die Erde aus, schleuderte sie weg und bückte sich, um den Vorgang zu wiederholen, bis es ein automatischer Bewegungsablauf wurde. Seine Rückenmuskeln schmerzten, sein Bizeps brannte bei jeder Schaufelvoll.
15 weitere Minuten verstrichen, dann 30.
Als er schließlich innehielt, um einen Schluck Wasser zu trinken, stand er in einem flachen Grab und das Schiff, das zuvor am Horizont gekreuzt war, näherte sich dem Hafen.
»Neuankömmlinge«, merkte Horn an. »Wie viele weitere können wir hier noch aufnehmen?«
Beckham schüttelte den Kopf und betrachtete das Boot. Jedes Gewehr am Strand zielte auf die Neuen. Aber die Sicherheitskräfte sorgten sich nicht wegen Abartiger oder Jung-Abartiger. Sondern wegen der Zivilisten, die hergebracht wurden.
»Du glaubst wirklich, es könnte noch jemand mit dem Blutervirus infiziert sein?«, fragte Horn. Er spuckte auf den Boden.
»Alle müssen durch die Dekontamination und werden einer Befragung darüber unterzogen, wie und wo sie seit dem Aufkommen des Blutervirus überlebt haben.«
Horns Nasenflügel blähten sich. Der Horn’sche Ausdruck von Skepsis.
»Krankheiten sind nicht die einzige Bedrohung«, fügte Beckham hinzu. »Präsidentin Ringgold hat Kate verraten, dass nicht alle in der Regierung sie und Vizepräsident Johnson mit offenen Armen aufgenommen haben. Überall im Land tauchen Bastionen mit Überlebenden auf, die behaupten, die Regierung hätte kein Recht mehr, über sie zu herrschen, weil man sie zuvor sich selbst zum Sterben überlassen hat.«
»Ja, ich weiß.« Horn kramte eine Zigarette hervor und klemmte sie sich zwischen die Lippen. »Hast du von den Marines gehört, die in einen Hinterhalt geraten sind? Sie wollten einen Posten mit Überlebenden in Detroit befreien. Es wagen sich immer mehr Banden aus dem Schatten hervor. Die meisten anständigen Menschen sind tot, Bruder. Diejenigen, die noch da draußen sind, mussten üble Scheiße tun, um zu überleben. Was mich äußerst misstrauisch gegenüber all den neuen Leuten macht, die auf die Insel kommen.«
Beckham beobachtete, wie sich das Schiff in den Hafen manövrierte.
Er konnte immer noch nicht den Namen erkennen, aber es handelte sich um einen Zerstörer der Arleigh Burke-Klasse. Der riesige Käfig auf dem Deck war voll mit Zivilisten.
»Schwindler, Boss. Ich wette, ein paar dieser Leute sind Maden, die den Abartigen geholfen haben. Menschliches Überläufergesocks.« Horn rammte die Schaufel in die Erde. Die Zigarette bebte zwischen seinen Lippen. »Ich sollte diese Befragungen durchführen. Wenn es ein menschlicher Überläufer auf die Insel schafft, reiß ich ihm das Rückgrat raus.«
Beckham ließ den Blick auf das Boot gerichtet, während er den Rest seiner Wasserflasche austrank. Horn hatte recht – und Kate gehörte zusammen mit Ellis zum Team der Befrager.
»Gehen wir zurück«, schlug Beckham vor. »Ich will Kate nicht ohne mich da draußen haben. Mir egal, wie viele Leute sie beschützen.«
Horn leerte seine Flasche über seinen Kopf aus und schüttelte sich das Wasser aus den roten Haaren wie ein Hund. Dann stapfte er hinüber zur Schubkarre, um sein M249 zu holen. Beckham griff sich seinen Rucksack und schlang sich den Riemen seines Gewehrs über den Rücken.
Schweigend kehrten sie zum Jeep zurück, beide erschöpft nach sechs Stunden, in denen sie Gräber ausgehoben hatten. Trotz der Müdigkeit und seiner strapazierten Muskeln fühlte sich Beckham gut. Ihm hatte die Erschöpfung nach langen Trainingsläufen und Workouts gefehlt. Und obwohl seine neue Arbeit nicht unbedingt einem Training der Delta Force gleichkam, fühlte es sich toll an, wieder draußen im Freien zu sein. Den Großteil des ersten Monats seiner Genesung, nachdem sie von der George Washington gekommen waren, hatte er im Haus zugebracht.
Horn warf ihm die Schlüssel zu, als sie den Jeep erreichten. Instinktiv hob Beckham die rechte Hand, um sie aufzufangen, und musste herumfuchteln, um zu verhindern, dass sie auf dem Boden landeten.
»Komm schon, Boss, du weißt doch selbst, dass du es willst. Der Jeep ist spitze.«
Beckham zögerte. Er hatte seit seiner letzten Mission, bevor er die Hand verloren hatte, kein Fahrzeug mehr gelenkt. Sie stiegen ein und nahmen auf Ledersitzen Platz, die noch Blutflecke von den Vorbesitzern aufwiesen. Beckham beäugte die manuelle Schaltung, dann schaute er durch das Loch an der Stelle, wo sich die Windschutzscheibe befinden sollte. Ein paar Glassplitter hingen noch am Rahmen, den Großteil der geborstenen Reste jedoch hatte Horn vor zwei Tagen weggetreten.
Du schaffst das, Reed. Kein Problem.
Er ergriff den Schalthebel, drückte mit dem Fuß die Kupplung durch, legte den Gang ein und bretterte los. Schotter stob hinter ihnen auf. Plötzlich durchlief den Jeep ein wilder Ruck, als der Motor abstarb.
Horn streckte die Hand aus, um sich am Armaturenbrett abzustützen.
»Heilige Scheiße. Sachte, Boss.«
Beckham schüttelte den Kopf und startete den Motor erneut. Wieder ergriff er den Schaltknüppel, was ihm jedoch beim ersten Versuch nicht richtig gelang. Beim zweiten bekam er ihn mit der Prothesenhand zu fassen.
Die Stille war nicht bloß unangenehm, sie war peinlich. Wie zum Teufel sollte Beckham seine Familie beschützen, wenn er nicht einmal einen Wagen mit manueller Gangschaltung fahren konnte?
Komm schon, Reed.
Horn griff nach dem Sitzgurt und schnallte sich an.
Beckham stellte den Fuß auf die Kupplung und legte abermals den ersten Gang ein, indem er mit den Überresten des Arms gegen den Hebel drückte. Der Jeep ruckelte, aber der Motor starb nicht ab, als sein Fuß vom Kupplungspedal rutschte. Die Reifen kreischten und spien Schotter in die Luft. Darüber musste Beckham grinsen. Ähnlich war es gelaufen, als er ursprünglich mit dem alten Ford Ranger seines Vaters gelernt hatte, ein manuelles Schaltgetriebe zu bedienen. Sogar die Gesichter, die in seine Richtung blickten, erinnerten ihn an damals. Die Bauern starrten Beckham an, als er an den Feldern vorbeiraste.
»So einfach, wie einem Abartigen ins Gesicht zu schießen«, meinte Horn. Dann stimmte er grölendes Gelächter an und klopfte mit dem durchs Seitenfenster baumelnden Arm außen gegen die Tür. Er streckte auch noch den Kopf durchs Fenster hinaus und atmete tief die frische Luft ein. »Riechst du das?«
Beckham schaltete in den zweiten Gang, diesmal reibungslos. »Was?«
»Den Duft der Freiheit. Amerika ist zurück, Kumpel!« Horn zog den Kopf wieder herein und lächelte.
Beckham jedoch erwiderte das Lächeln nicht. Er war zu konzentriert aufs Fahren und zu beschäftigt mit seinen Sorgen. Kate, Operation Beachhead, der Wiederaufbau. Eigentlich sollte der Ruhestand auch Seelenfrieden mit sich bringen, doch davon war Beckham meilenweit entfernt.
Er mühte sich damit ab, in den nächsten Gang zu schalten, und wartete auf eine beruhigende Wortmeldung von Horn, wie er es in Zeiten der Stille immer tat.
»Du bist immer noch derselbe Mann wie vor Washington. Du kannst immer noch kämpfen, wenn’s drauf ankommt. Das ist dir schon klar, oder?«
»Und denkst du, es wird drauf ankommen?«, fragte Beckham, obwohl er die Antwort bereits kannte. Einen Moment lang löste er den Blick von der Straße. Horn spannte die Unterarmmuskeln an. Die Tätowierungen dehnten sich darüber. Das entsprach seiner Art zu bejahen.
Beckham nickte. Er schaltete in den nächsten Gang, wiederum reibungslos, und drehte das Lenkrad nach links. Die Straße beschrieb eine Kurve in Richtung des Plum Gut Harbor auf der Westseite der Insel. Im Norden befand sich das Forschungszentrum für Tierseuchen und -krankheiten. Das Flugfeld lag östlich in der Nähe von weiterem Ackerland, das im Frühling bestellt werden sollte.