Hell Divers - Buch 4 - Nicholas Sansbury Smith - E-Book

Hell Divers - Buch 4 E-Book

Nicholas Sansbury Smith

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Beschreibung

Die NEW YORK TIMES-Bestseller-Serie Sie springen hinab in die Hölle, damit die Menschheit überlebt ... Zwei Jahrhunderte nach dem Dritten Weltkrieg ist unser Planet nahezu komplett radioaktiv verseucht. Die letzte Bastion der Menschheit sind zwei mächtige Luftschiffe, die den Globus umkreisen – immer auf der Suche nach einem bewohnbaren Gebiet. Doch mit zunehmendem Alter zerfallen die Schiffe. Das Einzige, was sie noch am Himmel hält, sind die Hell Divers: Männer und Frauen, die ihr Leben riskieren, indem sie auf die Erdoberfläche springen, um nach Ersatzteilen zu suchen. Buch 4: Die Sea Wolf begibt sich auf die Suche nach den Metallinseln. An der Spitze der Expedition steht der legendäre Hell Diver Xavier Rodriguez. Stürme, Seemonster und die kannibalischen Cazadores bleiben nicht die einzige Bedrohung für X und seine kleine Crew. Orson Scott Card: »Die Action-Szenen sind sehr gut. Smith schafft es, sie aufregend und lebendig zu schildern.« Bob Mayer: »Unaufhörliche Action und Gefahren in einer rauen postapokalyptischen Welt, in der das Überleben von ein paar tapferen Männern und Frauen abhängt. HELL DIVERS ist ein verdammter Pageturner!« A. G. Riddle: »Eine packende und ungewöhnliche Schilderung vom Untergang der Welt ... Fans von postapokalyptischen Thrillern werden begeistert sein.« Matthew Mather: »Das Ende der Welt sollte eigentlich nicht so viel Spaß machen!« Space and Sorcery: »Solch ein Buch kann Sie bis in die frühen Morgenstunden wach halten.« E. E. Giorgi: »Hugh Howey trifft auf Michael Crichton in Nicholas Smiths neuem postapokalyptischen Thriller.« Sam Sisavath: »Eine Mischung aus WATERWORLD und SNOWPIERCER ... aber mit Monstern und Luftschiffen. Ein Muss für Fans von cleveren postapokalyptischen Storys.«

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Seitenzahl: 504

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Hell Divers 4: Wolves

erschien 2018 im Verlag Blackstone Publishing.

Copyright © 2018 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-891-9

www.Festa-Verlag.de

Für diejenigen, die gegen die ­Dunkelheit kämpfen:

Mögt ihr das Licht sehen …

und den Kampf nie aufgeben.

»Glück ist ein sehr schmaler Grat zwischen Überleben und Katastrophe, und nicht viele Menschen können darauf das Gleichgewicht halten.«

– Hunter S. Thompson

1

Als der Himmel den dritten Tag in Folge seine ­Schleusen geöffnet ließ, verspürte Xavier Rodriguez die erste Regung von Verärgerung. Im Verlauf der Jahre war er ein überaus geduldiger Mann geworden. Sein beinahe ein Jahrzehnt umspannender Marsch durch radioaktiv verseuchtes Ödland hatte die Tugend der Geduld gelehrt. Doch am fünften und sechsten Regentag neigte sie sich allmählich dem Ende zu.

Er hasste die beengten Verhältnisse an Bord des Bootes, und der neue Sturm, der sich zusammenbraute, war seiner Stimmung nicht gerade zuträglich. Das lange Herumsitzen ließ ihm reichlich Zeit zum Nachdenken. Es kam immer noch zu Augenblicken tief verwurzelten Zorns und Grolls, wenn er über jene zehn langen, gefahrvollen Jahre auf der Erdoberfläche nachgrübelte. Während der Reise mit dem Boot ertappte er sich immer wieder dabei, oft stundenlang in seinen Gedanken zu versinken oder vor den albtraumhaften Bildern in seinem Kopf zurückzuschrecken.

Ein verästeltes Geflecht von Blitzen erstreckte sich über den Horizont – eine willkommene Abwechslung von den Erinnerungen. Jedes Donnergrollen jagte leichte Vibrationen durch die Sea Wolf.

X saß im Kontrollraum und betrachtete seinen Keramikbecher auf dem Instrumentenbrett. Der kostbare Inhalt schwappte darin hin und her, wodurch sich der Tee mit gutem, altem Fusel von der Hive vermischte. Miles, sein treuer Huskymischling, lag mit der Schnauze auf den Pfoten am Boden. Alle paar Minuten schauten die kristallblauen Augen des Hundes auf.

Die zwei Rümpfe zu beiden Seiten der Kommandozentrale ächzten, während die zwei Turbomotoren das Gefährt durch das aufgewühlte, gegen die Backbordseite klatschende Meer beförderten. X legte einen Schalter am Instrumentenbrett um, und die Fernlichter schnitten durch die pechschwarze Finsternis, erhellten Wellen, die wie verschneite Berggipfel anmuteten, so weit das Auge reichte.

Plötzlich schien die verstärkte Karosserie aus Glasfaser und Metall nicht besonders robust zu sein. X spielte mit dem Gedanken, auf Autopilot zu schalten, doch er wollte das Risiko, vom Kurs abzukommen, nicht eingehen. Also versuchte er stattdessen, sich auf dem Ledersitz zu entspannen, und setzte sein Vertrauen in Timothy Pepper, die künstliche Intelligenz, die sich um die Steuerung der Sea Wolf kümmerte.

Ein Blick auf die Karte am Bildschirm zeigte, dass sie immer noch östlich einer einst als Kuba bekannten Insel kreuzten. Die dunklen Bahamas hatten sie bereits passiert, ohne eine Spur von Metallinseln oder den Schiffen der Cazadores zu entdecken.

X überprüfte den runden Navigationsmonitor am Instrumentenbrett und hielt Ausschau nach Landmassen, anderen Schiffen oder mutierten Kreaturen, die vermutlich im kalten, dunklen Wasser lebten.

Ein grünes Lämpchen blinkte und zeigte an, dass sich keinerlei Kontakte in der Umgebung befanden. Die Aussicht durch die Windschutzscheibe offenbarte nur Wasser, so weit X sehen konnte.

Wenngleich er grundsätzlich nichts dagegen hatte, dass der erste Abschnitt ihrer Jungfernfahrt ereignislos verlief, wurde ihm allmählich langweilig. Beim Quietschen der sich öffnenden Luke drehte er sich auf dem Stuhl herum. Magnolia Katib stand am Eingang, eine Hand an der blassen Stirn.

»Wie fühlst du dich, Kleine?«, erkundigte sich X.

»Wie sieht’s denn aus?«

Sie schleppte sich zum anderen Stuhl, ließ sich auf das gepolsterte Leder plumpsen und stöhnte gedehnt. »Ich glaub, ich fahr lieber auf Straßen als auf dem Meer.«

Um Energie zu sparen, schaltete X die Lichter am Instrumentenbrett aus. Die dunklen Wellen erstreckten sich in eine finstere Unendlichkeit. Es ließ sich kaum erkennen, wo der Ozean endete und der Himmel begann. Ohne das Licht der sporadischen Blitze hätte es sich angefühlt, als würden sie durch die Leere des Alls treiben.

»Ich wollte ja eigentlich immer das Meer sehen«, fuhr Magnolia fort, »aber das ist echt scheiße. Ich hab heut Vormittag viermal gekotzt.«

X unterzog sie einer flüchtigen Musterung. Die kurzen, blau gefärbten Haare hingen ihr in die saphirblauen Augen. Früher hatte X ihren Stil als ­gruselig empfunden, aber mittlerweile hatte er sich dafür erwärmt.

»Trink lieber ein bisschen Wasser, damit du nicht dehydrierst«, riet er ihr. Sie hatten einen ordentlichen Vorrat an Wasser und ein Aufbereitungsgerät, damit es noch länger vorhielt, aber wenn es so weiterginge, würde sie mehr als ihre normale tägliche Ration ­brauchen.

»Jaja.« Sie richtete die Aufmerksamkeit auf die Instrumententafel und tippte mit einem violett lackierten Fingernagel auf die Ladestandsanzeige. »Ist das hier richtig?«

»Was?« X beugte sich vor und betrachtete die Werte.

»Sieht so aus, als würde Batterie 2 Leistung verlieren«, sagte Magnolia. »Warum hat uns Timothy nicht gewarnt?«

»Pepper?«, erwiderte X. »Der hat mich genervt, deshalb hab ich ihn ausgeschaltet.«

Stirnrunzelnd schwenkte Magnolia ihren Sitz zu einem anderen Abschnitt des Steuerpults und drückte auf eine Taste.

Die Stimme der künstlichen Intelligenz ertönte über die Lautsprecher.

»Guten Tag, Miss Katib und Mr. Xavier.«

»X. Ich hab dir gesagt, du sollst mich X nennen.«

»Verzeihung, Sir.«

»Einfach nur X!«, stieß er gereizt hervor, brüllte es beinahe.

Magnolia schmunzelte und sah X mit hochge­zogenen Brauen an. »Er geht dir wirklich auf die Nerven, was?«

»Ich bin nicht an Roboter gewöhnt.«

»Timothy, was ist mit der Batterieleistung los?«, fragte Magnolia und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Monitor.

»Wie Sie bestimmt wissen, ist das Boot mit zwei ­Batterien als Versorgungsquellen für die Biturbo-­Motoren ausgestattet«, erklärte Timothy.

X stöhnte. »Komm einfach zum Punkt, Kumpel.«

Nach einer flüchtigen Pause fuhr Timothy fort. »Batterie 2 ist defekt, allerdings kann ich die Ur­sache nicht genau ermitteln. Es ist wohl eine analoge Beurteilung nötig, da es sich um etwas so Simples wie einen kaputten Sensor handeln könnte.«

X überprüfte die Anzeige für Batterie 2. Und tatsächlich, sowohl Mags als auch die künstliche Intelligenz hatten recht: Die Leistung stand bei 25 Prozent. Aber wie konnte das passieren, und wie zum Teufel konnte es ihm entgehen? Bei beiden Batterien handelte es sich um Lithium-Ionen-Akkus, laut Chefingenieur Samson um zwei der besten, die je von der Erdoberfläche geborgen worden waren.

»Scheiße«, fluchte X. Sein Tonfall erregte die Aufmerksamkeit von Miles, der von den Pfoten aufschaute und nach einem entnervten Seufzen wieder weiterdöste. X konnte nachempfinden, wie sich der Hund fühlte. Obwohl er den Großteil der bisherigen Reise entweder auf seinem Stuhl oder in seiner Koje verbracht hatte, fühlte er sich erschöpft.

Langeweile hatte die Eigenart, Müdigkeit heraufzubeschwören, die ihrerseits zu Fehleranfälligkeit führte, und trotz der aufgewühlten See war X zu Tode gelangweilt. Er war nicht daran gewöhnt, in beengten Verhältnissen eingepfercht zu sein. Einem Teil von ihm fehlte die Freiheit, die damit einherging, durch das Ödland zu wandern – die Hive hingegen fehlte ihm kein Stück.

»Ich geh nach oben«, kündigte X an und öffnete seinen Sitzgurt.

Magnolias Brauen wanderten in die Höhe. »Im Ernst?« Ihr Blick schwenkte zurück zur Windschutzscheibe. »Bei diesem Regenguss? Kann das nicht warten?«

»Nein«, entgegnete er mit fester Stimme. In Wahrheit bereiteten X die Lithium-Ionen-Akkus kein allzu großes Kopfzerbrechen – er brauchte bloß Freiraum und frische Luft.

Er hatte sich daran gewöhnt, auf sich allein gestellt zu sein, und sosehr er zu schätzen wusste, dass ­Magnolia bei diesem Unterfangen an seiner Seite sein wollte, ihm fehlte zum einen die Einsamkeit, zum anderen raubte ihm die künstliche Intelligenz den letzten Nerv.

X überprüfte die Anzeige auf dem Hauptmonitor. Insbesondere achtete er auf Strahlung und Anzeichen von Quecksilber im Regen. Beide Werte lagen im gelben Bereich, und er entschied, auf dem zweiten Deck über ihnen den Schutzanzug anzulegen.

»Bleib hier, Junge«, sagte er zu Miles.

Der Hund ließ ein Winseln vernehmen, richtete sich auf, setzte sich auf die Hinterbeine und beobachtete, wie sich X zum Gehen wandte.

»Sei vorsichtig«, sagte Magnolia und schob sich eine blaue Strähne hinters Ohr.

»Soll ich Ihnen helfen, X?«, fragte Timothy.

»Nein. Du sorgst einfach weiterhin dafür, dass wir nicht kentern, okay, Kumpel?«

Timothys Hologramm flackerte kurz und lächelte dann. »Kumpel – das ist für mich ein neuer Begriff, und ich habe soeben mit Freude festgestellt, dass er laut meiner Datenbank ›Freund‹ bedeutet.«

X schüttelte den Kopf, als er hinaus in den ­schmalen Gang unter Deck trat. Er vertraute dieser künstlichen Intelligenz nicht – oder irgendeinem sonstigen Roboter mit einem Bewusstsein. Hätte Katrina nicht darauf bestanden, er hätte das Programm nie an Bord des Bootes gelassen. Allerdings konnte er nicht leugnen, dass sich Pepper auch schon als nützlich erwiesen hatte, vor allem wenn es darum ging, die Sea Wolf durch raue See zu steuern.

Die Luke schloss sich mit einem Klicken hinter X, und er bahnte sich den Weg vorbei an seiner Unterkunft auf der linken Seite. Magnolia hatte sich die Kabine rechts ausgesucht. Der dritte Raum enthielt einen gemeinsamen Essbereich mit Herd, kleiner Küchenzeile und einem ovalen Tisch, an dem sie die meisten ihrer Mahlzeiten einnahmen.

Als Nächstes folgten Badezimmer, achtern davon schlossen ein Wartungsraum und ein begehbarer Lagerschrank an, in dem sie ihre Vorratsrationen und medizinisches Material verwahrten.

Er erklomm den Niedergang zur zweiten Kabine, die sie in einen Sammelpunkt für künftige Missionen umgebaut hatten. Am Schott zu seiner Rechten waren Halterungen mit Waffen verschraubt. Der Raum enthielt gut gesichert brandneue Maschinenpistolen, eine Harpune und sogar Angelruten. In am Deck ­festgeschraubten Kisten befanden sich Tauch­ausrüstung, Schwimmwesten und Bojen.

X steuerte die Kiste mit seinem Schutzanzug, seiner Körperpanzerung und seinem Helm an. Das Metall seiner Ausrüstung schimmerte in der Deckenbeleuchtung, was jedoch nicht über die Kratzer und Dellen von seinem Jahrzehnt auf der Erdoberfläche hinwegtäuschen konnte.

Nachdem er in seinen neuen Anzug geschlüpft war, legte er darüber die verlässliche alte Körperpanzerung an. Als ihn Michael Everhart an Bord der Hive gefragt hatte, ob er eine neue wollte, hatte X abgelehnt. Warum etwas aufgeben, das einem unzählige Male das Leben gerettet hatte? Sicher, die Ausrüstung war alt, aber X hatte an seinem Helm und an der Batterieeinheit Anpassungen vorgenommen, durch die sie nützlicher als je zuvor waren.

Er sicherte den Helm, der mit einem Klicken einrastete, dann trat er zu den Waffenhalterungen und entschied sich für ein automatisches Gewehr mit angebautem Granatwerfer. Den Patronengurt mit Granaten ließ er an der Halterung. Er schlang sich nur die Waffe selbst über die Schulter, bevor er den Griff zum Öffnen der Luke drehte, die zum Wetterdeck führte.

Böiger Wind bombardierte seinen Anzug mit prasselndem Regen. In der Helligkeit der ständigen Blitze kämpfte er sich hinaus auf das 21 Meter lange Deck. Eine weitere gezackte elektrische Entladung fegte über den Himmel und fuhr in eine Welle ein. Der gleißende Schein erfasste das Heck. X begutachtete seine Arbeit dort. Zwei um die Reling gewickelte Lagen Stacheldraht sollten im Meer lauernde, mutierte Bestien davon abschrecken, sich an Bord zu wagen.

An Deck waren drei Harpunenkanonen in umge­bauten Angelrutenhalterungen montiert. X hatte sie höchstpersönlich angeschweißt. Das hatte er sich von den Cazadores abgeschaut. Auch sie hatten solche Waffen auf ihren Schiffen installiert.

In der Mitte des Decks ragte ein sechs Meter hoher Mast auf, der oben über einen Ausguck verfügte. Am Heck befand sich ein zweiter Mast. An keinem der beiden waren derzeit Segel gehisst, und sie waren nicht auf die volle Länge ausgefahren, um ein kleineres Ziel für Blitzeinschläge zu bieten.

X öffnete mit dem Kinntaster eine Leitung zur Kommandozentrale.

»Mags, hörst du mich?«

»Höre dich.«

»Ich bin an Deck und unterwegs zum Maschinenraum.«

»Bitte versuchen Sie, kein Wasser in den Maschinenraum eindringen zu lassen, Kumpel«, meldete sich Timothy zu Wort.

Unwillkürlich schmunzelte X. »Lassen wir das ›Kumpel‹ einfach weg, in Ordnung?«

»In Ordnung … X.«

»Bitte sei vorsichtig, X«, fügte Magnolia hinzu. In ihrer Stimme schwang Beklommenheit mit. Woraus er ihr angesichts ihrer Verfassung keinen Vorwurf machen konnte – es ging ihr hundeelend, und er vermutete, dass sie allmählich bereute, mitgekommen zu sein.

X wickelte ein Seil vom Schott vor der Luke ab und schlängelte es durch zwei Karabiner. Er überprüfte den Knoten, bevor er den Weg über das rutschige Deck antrat, wobei er den Blick auf die Silhouette eines ­Siberian Husky gerichtet ließ, die nicht weit vom Mast auf das Deck gemalt war. Der Name Sea Wolf stand auf der rechteckigen Luke, die in die Eingeweide des Bootes führte.

Dort lag sein Ziel. In der Kabine verwahrten sie die Segel in der Nähe des Antriebs und der Batterie­einheiten. Den einzigen Zugang bot die Luke, auf die er sich gerade zubewegte.

Langsam bahnte er sich den Weg vorwärts und stemmte sich den heftigen Böen entgegen. Der dröhnende Donner brachte unter seinen Stiefeln das gesamte Deck zum Vibrieren. Eine Welle klatschte gegen die Steuerbordseite und jagte einen Schwall Wasser über seine Körperpanzerung. Die Dusche störte ihn nicht weiter, sehr wohl jedoch fürchtete er sich vor einem Vollbad im Meer.

X arbeitete sich vorsichtig vor und zog das Seil auf dem Weg zur Luke hinter sich her. Als er sie erreichte, bückte er sich, legte die Hand auf den Griff und wollte sie gerade öffnen, als das Boot auf einer Welle aufstieg. X wappnete sich für das unweigerlich folgende Absacken.

Das Boot stieg noch weiter auf, bevor es mit solcher Wucht nach unten krachte, dass X von den Beinen geschleudert wurde. Wasser schwappte über die Seite und traf ihn mit der Gewalt einer anstürmenden Sirene. Er kroch zurück zur Luke und wischte sich mit einem Handschuh über das Visier.

»Zur Information, ich erfasse schwere elektrische Interferenzen ungefähr zwei Knoten südwestlich«, meldete Timothy.

»Du hast dir echt einen beschissenen Zeitpunkt ausgesucht, um nach oben zu gehen«, merkte Magnolia über die Funkverbindung an.

»Halt uns einfach auf Kurs, Pepper«, sagte X. Er streckte sich nach etwas zum Festhalten, doch in Reichweite befand sich nur der Mast, der ihm nicht weiterhelfen würde. Also klammerte er sich weiter an der Luke fest und wappnete sich für die nächste Welle.

Er konnte nicht über die Kabine hinwegsehen, die den Bug des Bootes einnahm, daher hatte er keine Ahnung, wann sie eintreffen würde. Der Kahn stieg erneut auf. Der Motor brummte unter Deck angestrengt, kämpfte gegen die aufgewühlte See an.

»X, ich empfehle Ihnen dringend zurückzukommen, bevor …«

X schnitt Timothy das Wort ab. »Und ich empfehle dir dringend, mir keine Befehle zu erteilen, Pepper.«

Das Boot stieg höher und höher, und X umklam­merte den Griff der Luke fester, biss die Zähne zusammen und wartete. Diesmal klatschte der Bug so heftig zurück ins Meer, dass das Wasser sogar über das Dach der Kabine schwappte. X schaute durch die Gischt auf, als ein Blitz über den Himmel zuckte und eine ganze Wand von Wellen vor ihnen erhellte.

»Magnolia, übernimm für Timothy«, befahl er.

»Aber …«

»Tu es, Mags. Ich vertraue dir mehr als ihm. Nichts für ungut, Pepper.«

»Schon in Ordnung, Sir«, gab Timothy zurück.

Ohne den Griff zu lockern, spähte X über die Schulter zur anderen Luke, die zurück ins Boot führte. Sie befand sich keine sechs Meter entfernt, doch er durfte nicht riskieren, über die Seite gespült zu werden, nicht mal mit dem an seiner Körperpanzerung verzurrten Seil.

»X, du solltest Timothys Vorschlag beherzigen und zurückkommen«, meldete sich Magnolia zu Wort.

»Negativ, Mags. Ich geh in den Batterieraum.«

Mit ihrer Antwort knisterten statische Interferenzen über die Leitung. »Okay, aber tu’s bald.«

X bereitete sich darauf vor, die Luke zu öffnen und sich hineinzuziehen. Er durfte nicht riskieren, dass der Raum geflutet wurde. Während er auf den richtigen Moment wartete, schnellte sein Blick zum Stacheldraht an der Reling. Er hatte ihn um das Metall dort gewickelt, um das Boot vor Kreaturen aus dem Meer zu schützen. Aber wenn er selbst sich darin ­verfinge …

Wieder erklomm das Boot eine Welle, was X einen flüchtigen Rundumblick auf den Ozean bot. Kilometerweit umgab den winzigen Kahn nur dunkles, aufgewühltes Wasser. Im Licht eines Blitzes vermeinte er zu sehen, wie sich im trüben Nass etwas bewegte.

Als die Sea Wolf zurück ins Meer platschte, ächzte sie unter der Wucht. Obwohl sich X abgestützt hatte, wurden seine Knochen kräftig durchgeschüttelt.

Er kämpfte gegen den Schock an.

Magnolia drehte weiter bei, doch es war bereits zu spät. Über die Funkverbindung tönte das Piepen eines Sensoralarms, und X brauchte nicht auf Magnolias panischen Bericht zu warten, um zu wissen, dass die Sea Wolf einen Schaden erlitten hatte.

»Wir haben einen Riss im rechten Rumpf«, meldete Magnolia. »Ich versiegle ihn gerade.«

Als X ein Scheppern hörte, schaute er auf und sah, dass der dreiteilige Segelmast auszufahren begann und sich in Richtung der Sturmwolken erhob.

»Was zum Teufel ist denn jetzt los?«, rief X. »Der Mast richtet sich auf!«

»Muss eine Fehlfunktion sein«, erwiderte Magnolia schnell. »Ich kann es nicht aufhalten.«

X’ Blick wanderte zurück zur Luke. Er musste hinein, bevor ein Blitz in den Mast einschlug und ihn an Ort und Stelle grillte. Die nächsten Sekunden verbrachte er damit, den Takt der Wellen zu beobachten und auf seine Gelegenheit zu warten, sich schleunigst ins Innere zu verdrücken.

»X, ich hab hier etwas auf …«

Der Rest der Übertragung wurde abgeschnitten. Er drückte den Griff nach links und zog die Luke auf. Mit nur einem Zeitfenster von Sekunden hakte er das Seil von der Körperpanzerung aus und drehte sich zum Hineinklettern um, als er aus dem Augenwinkel eine flüchtige Bewegung über dem backbordseitigen Schandeck wahrnahm.

In dem Bruchteil eines Herzschlags, den sein Gehirn brauchte, um den Anblick zu verarbeiten, klatschte ein dicker, von Saugnäpfen überzogener Arm der Größe eines Baumstamms aufs Deck, zog sich rasch über die Reling zurück und riss ein gutes Stück des Stacheldrahts mit sich.

»Was zum …?«, murmelte X. Sein wild pochendes Herz setzte einen Schlag aus, als drei weitere ­Tentakel aus dem Wasser und über die Reling kamen. Es handelte sich nicht um die schlangenähnlichen ­Kreaturen aus den Sümpfen. Diese Fangarme gehörten alle zu ein und demselben Ungeheuer.

»X, irgendwas hat sich ans Boot geheftet!«, brüllte Magnolia. »Etwas …«

»Großes? Ja, ich seh’s!«

Schließlich huschte X durch die Luke und hatte bereits dazu angesetzt, sie zu schließen, als eines der Tentakel sie packte und wieder aufzog. Ein dritter Arm wickelte sich um den Mast und schlängelte sich gewendelt nach oben, bis er den Mast knapp unterhalb des Ausgucks knickte.

X nahm alle Kraft zusammen und versuchte, die Luke zuzuziehen. Allerdings stieg die Sea Wolf auf eine weitere Welle auf und raste gleich darauf zurück in die Tiefe, wodurch X den Halt an der Luke verlor und in die Luft gehoben wurde.

Fuchtelnd tastete er nach etwas zum Festhalten. Ohne das Seil hatte er nichts mehr, das ihn sicherte. Krachend landete er auf dem Deck und rutschte sofort davon. Die Backbord-Reling bremste ihn mit dem Klirren seines Gewehrs auf Metall. Der Aufprall presste ihm den Atem aus der Lunge, und Rot sickerte in die Ränder seiner Sicht. Als sich der Schleier lichtete, blieb ihm gerade noch ein Blinzeln, um einem weiteren, über das Deck schnellenden Fangarm auszuweichen.

X trat den Tentakel weg, stemmte sich hoch und kämpfte sich zurück zu der Luke, die ins Innere des Bootes führte. Als er dabei eine der Harpunenkanonen passierte, schnappte er sie sich aus der Halterung. Seine Stiefel rutschten auf dem glitschigen Deck aus. Er schwenkte die Waffe auf den nächstbesten Tentakel und feuerte sie auf den dicken Fleischstrang ab.

Geheul erhob sich über das Tosen des Sturms – die Stimme eines Monsters. Der dunkle, tote Ozean war also doch nicht so tot. Deshalb hatte X solche Waffen mitgebracht.

Er packte die Luke zur Kabine, öffnete sie und schlug sie hinter sich zu. Unmittelbar danach prallte von außen ein Tentakel dagegen. X entfernte sich rückwärts von der Luke, zog das Gewehr von der Schulter und zuckte zusammen, als erneut ein Fangarm die Luke bestürmte.

»X, komm hier runter!«, rief Magnolia aus der Kommandozentrale.

Er ließ den Lauf auf die Luke gerichtet, während er zum Niedergang zurückwich. Dann stieg er zum unteren Deck hinab und preschte los zum Kommandoraum. Eine heftige Welle erfasste den Rumpf wuchtig von der Steuerbordseite und ließ X hart gegen das Schott prallen. Sternchen explodierten vor seinen Augen, aber er blieb in Bewegung, kämpfte sich weiter zur nächsten Luke.

Im Kontrollraum umklammerte Magnolia das Steuer und starrte durch die Glasscheibe hinaus. Sie hatte die Scheinwerfer wieder eingeschaltet. Der grelle Strahl erhellte einen fleischigen, orangefarbenen, von Hautlappen und Erhebungen übersäten Körper von der Seite.

»X …«, murmelte sie. »Was in Dreiteufelsnamen ist das?«

Miles war aufgestanden und knurrte der Scheibe entgegen.

Ein Teil des Meeresungeheuers war aufgetaucht und bot ihnen einen Blick auf glänzende, kreuz und quer von tiefen Narben übersäte Haut. Längs verlaufende Runzeln und Hautfalten bedeckten den Leib und den schmaleren Kopf.

»Das kann Pepper wahrscheinlich besser be­­ant­worten als ich«, gab X zurück.

»Ich glaube, es handelt sich um einen Enter­octopus, einen Riesenkraken«, meldete sich die künstliche Intelligenz zu Wort.

Der gewaltige Kopffüßer verstärkte den Griff um die zwei Rümpfe der Sea Wolf. Das erinnerte X an ein anderes Monster – nicht so groß und mit weniger Armen, trotzdem ein Monster. El Pulpo, König der Cazadores.

Ein Bauchgefühl verriet ihm, dass sie sich den Metallinseln allmählich näherten.

»Diese Kreatur ist nicht in meiner Datenbank ­registriert«, fügte Timothy nach einigen Sekunden Pause hinzu.

Dicke, von Narben gezeichnete Tentakel zogen das Boot näher zu einem klaffenden, krummen Schnabel. Das riesige Ungetüm richtete einen reifengroßen Augapfel auf die Windschutzscheibe. Magnolia drehte das Steuer nach rechts, doch die Ruder reagierten nicht. Die Triebwerke heulten.

»Halt.« X hob die Hand. »Du überhitzt sie noch.«

»Ich erkenne ein Problem mit Motor 2«, meldete Timothy. »Ich empfehle, ihn auszuschalten.«

Magnolia sah X an.

»Tu es und komm wieder zurück«, forderte er sie auf.

Langsam löste Magnolia ihren Sitzgurt. Das gewaltige Auge mit der seltsam länglichen Pupille ­verfolgte ihre Handlungen, und bevor sie oder X reagieren konnte, klatschte ein Arm gegen die Windschutzscheibe. Spinnwebartige Risse breiteten sich über das Glas aus, das durch die Wucht des Aufpralls hörbar sprang.

Magnolia erhob sich aus dem Sitz, und X setzte das Gewehr an der Schulter an, richtete die Mündung auf den knolligen, von Beulen übersäten Schädel des Riesenkraken.

»Bring Miles in deine Unterkunft«, sagte X. »­Timothy, du übernimmst die Kontrolle über das Boot, sobald ich mit diesem Pisser fertig bin.«

»Was soll das heißen, sobald du mit ihm ›fertig bist‹?«, wollte Magnolia wissen und rührte sich nicht von der Stelle.

»Sir, ich glaube nicht, dass Ihre Waffen viel ausrichten können gegen …«, setzte Timothy an.

Wasser sickerte durch die gesprungene Scheibe, als erneut ein langer Fangarm gegen das Glas schlug. Diesmal zogen die Saugnäpfe einen dreieckigen Splitter davon weg. Der heulende Wind fegte herein, begleitet von salziger Gischt.

»Los, Mags!«, rief X.

Er bewegte den Finger zum Abzug, hielt den Atem an und feuerte auf das riesige Auge mit der elliptischen Pupille.

Michael Everhart hieb mit der Forke auf die verfaulte Melone ein und blinzelte sich den Schweiß aus den Augen. Ein grüner und roter Brei spritzte aus der verseuchten Feldfrucht auf die Erde.

Der grelle Schein der an der Decke montierten Wachstumslampen erhellte eine deprimierende Szene. Andere Arbeiter karrten ihre erste Ernte davon. Die Hybrid-Samen hatten große Melonen ergeben, aber eine Seuche hatte die Feldfrüchte verdorben.

»Was zum Teufel ist passiert?«, fragte Cole Mintel.

Der kräftige Mann mittleren Alters hatte sich dem neuen Team von Farmarbeitern an Bord der ­Deliverance angeschlossen, um beim Anbau der landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu helfen. Er krempelte die Ärmel hoch, wodurch starke, von lebenslanger Arbeit mit Holz geformte Unterarme zum Vorschein kamen.

Michael schüttelte den Kopf, während er die drei Reihen mit Melonen betrachtete. »Irgendeine Art von Fäule, würde ich sagen.«

Cole ließ den Blick über die anderen Anbauflächen wandern.

Zwölf Reihen Mais reiften bereits, und von dunkelgrünen Ranken hingen pralle, gesunde rote Tomaten. In einem großen Beet lugten erste Kartoffeln aus der rostfarbigen Erde hervor.

»Wir kriegen das schon hin«, meinte Michael. »Entweder versuchen wir’s noch mal mit den Melonen, oder wir probieren etwas anderes aus.«

Er schaufelte die Sauerei in einen Sack und reichte ihn Cole, der den Rest der ruinierten Feldfrüchte einsammelte. Seit dem Verlust seines Sohns vor zwei Monaten erwies sich der ältere Mann als äußerst wortkarg, und Michael merkte ihm an, dass er auch die Leidenschaft für die Arbeit mit Holz verloren hatte. Neuerdings verbrachte er mehr Zeit auf der Farm als in seinem Laden.

»Wie geht’s Ihrer Frau?«, erkundigte sich Michael.

»Sie … Wir vermissen Rodger.«

»Ich vermisse ihn auch. Er war für mich wie ein älterer Bruder.« Michael legte Cole eine Hand auf die Schulter. Der schien wegen der Berührung zu schmollen.

»Sein Opfer hat eine Menge Leben gerettet«, sagte Michael.

Cole nickte nur. »Ich bringe das besser zu den Kompostern.«

»Okay.« Michael schaute dem Mann nach und seufzte. In den vergangenen Monaten hatten sie zu viele Freunde verloren. Commander Rick Weaver, Andrew Bolden, Rodger Mintel, Ty Parker – die Liste ging weiter und weiter. Dafür war ein Geist aus der ­Vergangenheit zurückgekehrt. Wie zum teilweisen Ausgleich all des Leids und der Opfer war Xavier Rodriguez von den Toten auferstanden. Die Menschheit hatte wieder eine Zukunft – es mochte eine ungewisse Zukunft sein, aber immerhin bestand Hoffnung.

Die gefährlichste aller Emotionen. Michael zog einen Hemdzipfel von der Taille hoch und benutzte den zusammengeknüllten Stoff, um sich Schweiß von der Stirn zu wischen.

»Commander Everhart.«

Er folgte der Stimme zurück zum Reinraumeingang, wo Lieutenant Les Mitchells hereingekommen war. »Sir, Sie werden auf der Brücke gebraucht.«

»Ich komme in einer Stunde«, erwiderte Michael.

Les rührte sich nicht von der Stelle, und selbst auf die Entfernung konnte Michael die Besorgnis in seinen Augen erkennen.

»Na schön, geben Sie mir ein paar Minuten«, sagte Michael.

Damit schien Les zufrieden zu sein und kehrte zurück in den Reinraum.

Michael schlüpfte in sein Hemd, bahnte sich den Weg zwischen den Reihen der Feldfrüchte hindurch und achtete darauf, nicht auf einen Halm oder eine Ranke zu treten. Er spürte, wie ihm Blicke folgten.

Die meisten Leute der Mannschaft verstanden nicht, weshalb er Zeit vom Springen und von der Technik abzwackte, um hier zu arbeiten. Aber für Michael hatte die Landwirtschaft eine therapeutische Wirkung entwickelt. Jede Tomate, die er in der Hand hielt, jede Kartoffel, die er aus dem Boden zog, jeder Apfel, den er von einem Baum pflückte, war ein greifbarer Erfolg – etwas, das er riechen und schmecken konnte. Etwas, das die menschliche Rasse ernährte.

Layla begleitete ihn von Zeit zu Zeit hierher, doch sie liebte diesen Ort nicht so wie er. Sie hielt sich lieber in der neuen Bibliothek der ­Deliverance auf, durchforstete die Archive und informierte sich über die Geschichte einer zerstörten Welt.

Michael legte die Arbeitskleidung ab, machte sich sauber und schlüpfte anschließend in seinen roten Overall. Auf dem Weg durch die Gänge zog er die Blicke fast aller Passanten auf sich. Es waren nicht mehr viele Hell Divers übrig, und wenngleich Michael beim Unterfangen half, neue zu rekrutieren, würden die Springer nie mehr die Zahlen erreichen, die sie zur Zeit seines Vaters unter X gehabt hatten.

Die wahren Legenden waren mittlerweile fast alle tot.

Zwei Arbeiter, die ein Schott vor der Farm bemalten, hielten inne und salutierten vor Michael. Er nickte nur und setzte den Weg fort. Nach Captain Jordans Tod war man auf beiden Luftschiffen zu den Wurzeln der Hive zurückgekehrt. Die entfernten Kunstwerke wurden erneuert, zerstörte und gelöschte Archive wurden nach und nach wiederhergestellt, doch es blieb noch viel zu tun.

Michael bog in einen Gang, in dem immer noch Kabinen zu neuen Unterkünften aufgerüstet wurden. Weitere Arbeiter in gelben Uniformen trugen Gerätschaften und Möbel in die kleinen Räume, um sie für ihre neuen Bewohner einzurichten.

Ein Drittel der Bevölkerung der Hive war bereits in Quartiere an Bord der ­Deliverance umgezogen. Es gab immer noch Probleme zu bewältigen. Sie drehten sich vor allem um Unterdeckbewohner, die das Gefühl hatten, bei der Neuverteilung der Quartiere zu kurz zu kommen. Aber der Ausschuss, der gebildet worden war, um sich mit solchen Themen zu befassen, arbeitete jeden Tag, um zu gewährleisten, dass Lebensmittel, medizinische Versorgung und Unterkünfte gleichmäßig verteilt wurden.

Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte erlebten die Bewohner der beiden Luftschiffe etwas, das einer egalitären Gesellschaft zumindest nahekam.

Da sie nun ein zweites Schiff hatten, gab es mehr Arbeit. Mehr Arbeit bedeutete mehr Lebensmittel. Mehr Lebensmittel bedeuteten eine gesündere Be­­völkerung. Eine gesündere Bevölkerung bedeutete, dass Michael eine größere Auswahl an möglichen ­Rekruten für künftige Hell Divers bekommen würde.

An manchen Tagen beschlich ihn wirklich das Gefühl, dass noch Hoffnung für die Menschheit bestand, vor allem da X und Magnolia auf der Erdoberfläche nach einer dauerhaften neuen Heimat suchten.

Als er sich der Luke zur Brücke näherte, band er die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Nur ein Milizsoldat stand vor dem Eingang Wache – ein weiteres Zeichen von Veränderung. Da Jordans Handlanger entweder im Knast schmorten oder tot auf der Erdoberfläche in Florida lagen, gab es keinen Grund für eine überdimensionierte Sicherheitsmannschaft. Der Führungsstab hatte den Großteil der Miliz für andere Aufgaben eingeteilt, beispielsweise für die Landwirtschaft.

Die Luke öffnete sich und Michael betrat die blitzsaubere Brücke. Er blinzelte in der gedämpften Beleuchtung.

Layla stand vorne am Steuer neben ihrer neuen Kapitänin, Katrina DaVita.

»Commander Everhart an Deck«, meldete einer der Offiziere.

Katrina und Layla drehten sich zu Michael um. Beide lächelten, wenngleich es gekünstelt wirkte, beinahe gezwungen. Im Nu verflüchtigte sich der Optimismus, den er zuvor in sich aufsteigen gespürt hatte.

»Captain«, sagte Michael.

»Folgen Sie mir, Commander«, forderte Katrina ihn auf, im Beisein anderer stets förmlich.

Layla blieb in der Kommandozentrale, während Michael der Kapitänin in das kleine, an die Brücke grenzende Besprechungszimmer folgte. Er sparte sich die Mühe, danach zu fragen, warum sie unter vier Augen mit ihm reden wollte. Dafür konnte es buchstäblich Hunderte Gründe geben, denn die Schiffe schwebten immer nur einen Schritt von einer ­Katastrophe entfernt.

Doch wie sich herausstellte, handelte es sich diesmal nicht um ein technisches Problem, um einen neuen Grippevirus, der die Passagiere befallen hatte, oder um über die Neuverteilung unzufriedener Unterdeckbewohner.

»Wir haben gerade ein Notsignal von der Sea Wolf empfangen«, sagte Katrina. »Irgendetwas ist den beiden zugestoßen, Michael.«

Bei der Neuigkeit sackte ihm das Herz zu den Knien. Bisher war alles so gut gelaufen. Aber Michael hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es im Leben nur selten fair zuging.

»Wir haben versucht, Kontakt mit ihnen aufzunehmen«, fuhr Katrina fort, »aber ihr Funkgerät ist entweder beschädigt oder ausgeschaltet. Im Augenblick haben wir keine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, was genau passiert ist.«

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich wollte, dass du Bescheid weißt. Ich habe X früher auch geliebt.« Ihr Blick senkte sich aufs Deck. »Und ein Teil von mir wird ihn immer lieben.«

Michael blinzelte eine Träne weg. Er straffte die Schultern und bemühte sich, stark zu bleiben, denn genau das würde X von ihm wollen.

»Versuch, dir nach Möglichkeit keine Sorgen zu machen«, riet Katrina. »Wenn jemand da draußen überleben kann, dann Commander Rodriguez.«

2

Eine heftige Erschütterung rüttelte Magnolia wach. Sie hustete einen Mundvoll Salzwasser aus, würgte und hustete erneut. Ein Vorhang kurz gestutzter, blauer Haare hing ihr ins Gesicht und versperrte ihr die Sicht.

Sie wischte die Strähnen weg und schaute zur blinkenden Notbeleuchtung auf, die ihren pulsierenden roten Schein durch die Kabine ausbreitete.

Im blinkenden Licht sichtete sie einen nassen, ­pelzigen Haufen – Miles. Der Hund lag eingerollt ein Stück entfernt und rührte sich nicht.

»Miles«, flüsterte sie. Magnolia streckte die Hand aus und stupste ihn. Er winselte und strampelte mit einem Bein.

Das war gut. Zumindest lebte er noch und konnte sich bewegen.

Aber wo war X?

Magnolia berührte die mächtige Beule an ihrem Hinterkopf und zuckte zusammen. Als sie die Finger davon zurückzog, klebte Blut an ihnen. Sie hatte einen heftigen Schlag abbekommen und keine Ahnung, wie lang sie weggetreten gewesen war.

»Timothy, hörst du mich?«, fragte Magnolia.

Keine Antwort, nur das Ächzen und Knarren der Schotten.

Zuerst konnte sie sich nicht erinnern, wieso sie sich mit Miles in ihrer Unterkunft befand, dann jedoch fiel es ihr durch einen widernatürlichen Laut wieder ein.

Die schrillen Geräusche des Riesenkraken tönten durch das kleine Gefährt. Aber etwas an diesen wehmütigen Klängen unterschied sich von dem, was sie in der Steuerzentrale gehört hatte.

Der Geruch von Rauch breitete sich unter Deck aus. Das erregte ihre Aufmerksamkeit.

Mit einer Abfolge von Flüchen, die X mit Stolz erfüllt hätte, stemmte sie sich in der Pfütze kalten ­Wassers hoch.

X … Wo zum Teufel steckst du?

Auch Miles versuchte sich aufzurappeln, rutschte aber aus, platschte zurück ins Wasser und spritzte es über Magnolias schwarzen Tarnanzug. Magnolia half ihm in eine Koje und forderte ihn auf, darin zu bleiben.

Dann ertastete sie sich den Weg hinüber zur Luke und öffnete sie. Im Gang draußen stand das Wasser knöchelhoch. Vor der Steuerzentrale blinkte eine ­weitere Notlampe.

Die Luke stand einen Spalt offen und ermöglichte einen Blick in den Raum. Der rote, pulsierende Schein des Lichts fiel auf stehendes Wasser und die zerschmetterte Windschutzscheibe. Ein Sicherheitsmechanismus war aktiviert worden, hatte das zerbrochene Glas mit einer Metallklappe abgedeckt, hielt so das Wasser draußen und versperrte Magnolia gleichzeitig die Sicht auf das dunkle Meer.

»Timothy?«, sagte sie.

Die künstliche Intelligenz antwortete nicht.

Sie schloss die Luke und versiegelte sie, um zu verhindern, dass der Rest des Bootes geflutet werden konnte, dann trat sie die Suche nach X an.

Der Niedergang zum oberen Deck erwies sich als glitschig, und ein schneller Blick offenbarte, dass es nicht nur am Wasser lag.

Blut beschichtete die Sprossen.

Sie kletterte hinauf in den Sammelbereich und betrat den dunklen Raum vorsichtig. Hier gab es keine Notbeleuchtung, und sämtliche Bullaugen waren mit Metallabdeckungen versiegelt.

»X«, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme.

Keine Antwort.

Sie fasste in ihre Cargotasche und holte eine kleine Taschenlampe hervor, die sie auf den Boden richtete. Eine Blutspur verlief zur Luke.

»X, du verdammter …«

Sie eilte hinüber zu einem Waffenständer, entnahm ihm ihren Karabiner und rammte ein volles Magazin hinein. Die Waffe fühlte sich zwar gut in ihren Händen an, allerdings war sie nicht überzeugt davon, dass Projektile gegen ein so riesiges Untier viel ausrichten würden.

Hinter der Luke erwarteten Magnolia Dunkelheit und ein Schwall kalten Wassers, der sie mitten ins Gesicht traf. Heulender Wind begrüßte sie, als sie mit an der Schulter angesetztem Gewehr das Deck betrat, die Taschenlampe an den Kolben geklemmt.

Die Blutspur endete auf dem Deck, wo das Meer weitere Beweise weggespült hatte. Magnolia schwenkte den Strahl der Lampe hin und her, sichtete X jedoch weit und breit nicht.

»X!«, brüllte sie. Ihre Stimme ging im Tosen des Windes unter.

Als sie sich in Bewegung setzte, schaukelte die Sea Wolf heftig. Die Motoren trieben das Gefährt weiter durch die berghohen Wellen an, die sich unablässig brachen und wieder auftürmten.

»X!«, rief sie erneut.

Der Strahl ihrer Lampe erfasste einen schlaffen, von Saugnäpfen bedeckten Tentakel, den eine Harpune an ein Schott genagelt hatte.

Ein weiterer abgetrennter Fangarm hing an der Kabinenwand hinter ihr. Rote Flüssigkeit tropfte davon auf das zweite Deck.

Magnolia schwenkte die Taschenlampe zu den hinter dem Hauptmast verspritzten Körperflüssigkeiten. Rauch stieg von einer verkohlten Stelle und einem klaffenden Loch im Deck auf.

»O Scheiße«, murmelte Magnolia. Der Schaden war zweifelsfrei das Ergebnis einer Granate. Die Explosion hatte der Kreatur zwei weitere Fangarme abgerissen und einen undefinierbaren Fleischbrocken aus ihr gesprengt.

»X, wo steckst du?!«, brüllte Magnolia, mittlerweile panisch.

Der Wind trug ihr eine Antwort zu.

»Mags!«

Die Stimme war leise, aber erkennbar.

Sie eilte zur Seite des Bootes hinüber und achtete darauf, nicht in den Stacheldraht zu rutschen. ­Magnolia ließ das Gewehr sinken und suchte mit dem Strahl der Taschenlampe den Ozean ab.

»Mags!«, rief X erneut.

Nur stammte der Ruf nicht vom Wasser.

Sie schaute den Mast entlang nach oben und sichtete X, der sich am Ausguck festklammerte. Ein weiterer ­zerfetzter Tentakel hatte sich um das Metall des Ausguckgeländers und teilweise um sein Bein geschlungen.

»Du durchgeknallter Mistkerl«, flüsterte Magnolia.

Eine Sekunde lang starrte sie hin, dann jedoch entfernte sie sich rasch von der Seite des Bootes. Nach den überall verspritzten Körperteilen und Flüssigkeiten zu urteilen, musste das Ungeheuer eigentlich tot sein, aber wenn sie in all den Jahren des Fallschirmspringens und Kämpfens etwas gelernt hatte, dann dass man einem Monster niemals den Rücken zudrehte.

Mit gezücktem, auf die steuerbordseitige Reling gerichtetem Gewehr bewegte sich Magnolia rücklings auf den Besanmast zu. Ihre Stiefel platschten durch das stetig über das Deck schwappende Wasser. »Ist dieses Ding noch irgendwo?«, rief sie nach oben.

»Nein, ist jetzt nur noch Fischfutter!«, rief er zurück.

Magnolia blieb stehen, als sie den Mast erreichte.

»Muss ich dich holen kommen, oder schaffst du es allein herunter?«

X schwang die Beine über die Seite des Ausgucks und trat gegen den herabhängenden Tentakel, aber die Saugnäpfe hafteten an ihm und wollten ihn selbst im Tod nicht loslassen.

Magnolia behielt die Relings an beiden Seiten der Sea Wolf im Auge, während X den Weg den Hauptmast hinunter antrat. Einer der Motoren lief nach wie vor, aber wenn sie weiterhin Leistung verlören, würden sie sehr bald gezwungen sein, die Segel zu benutzen. Was sich angesichts des schwer beschädigten Hauptmasts schwierig gestalten würde. Der Besanmast sah in Ordnung aus, aber bei einem völligen Ausfall der Motoren würden sie beide Segel brauchen.

Von ihrem Handgelenkscomputer ertönte ein Piepton. Sie hob das gesprungene Display an und sah, wie die Radaranzeige erschien. Der kleine Computer war mit dem Boot synchronisiert, und sie hatte manuell ein Programm erstellt, das einen Alarm ausgab, wenn das Radar etwas erfasste.

Ihr Herz setzte beim Anblick der kleinen grünen Punkte östlich ihrer Position einen Schlag aus.

»X, äh, wir haben ein Problem«, meldete sie.

»Ja, ich weiß, ich hab versehentlich ein kleines Loch ins Boot gesprengt, aber ich hatte keine andere Wahl … und der Mast ist verbogen.«

Er sprang das letzte Stück aufs Deck hinunter, zog eine Machete aus der Scheide an seinem Rücken und hackte den einen Meter langen Teil des Krakenarms ab, der immer noch an seinem Bein haftete.

»Nein, wir haben andere Probleme.«

»Das weiß ich schon, Mags!«

Magnolia hielt ihm das Display vors Gesicht.

»Ach, Kacke!«, stieß er hervor.

»Entweder war die Kreatur bloß ein Baby, oder sie hat einen Haufen Freunde mitgebracht«, sagte Magnolia.

»Ich werd mehr Granaten brauchen.«

Das Boot schwankte hin und her, als sie über das Deck zum Sammelbereich und zur Waffenkammer eilten. Magnolia folgte X den Niedergang hinunter und in den Gang.

»Wo ist Miles?«, rief er.

»In meiner Koje.«

Magnolia öffnete die Luke.

»Alles in Ordnung, Junge?«, fragte X und bückte sich neben seinem Hund. Mit wedelndem Schwanz bestätigte Miles, dass ihm nichts fehlte.

X ging zurück zur Kommandozentrale und nahm vor einer Konsole Platz, von der Wasser troff. Mittlerweile dichtete die Metallklappe die gesprungene, geborstene Windschutzscheibe vollständig ab.

»Timothy muss offline sein«, sagte Magnolia.

»Scheiße, ausgerechnet dann, wenn wir ihn brauchen.« X tippte auf den Bildschirm, um das System neu zu starten, während Magnolia den Navigationsmonitor und die im Osten erkannten Kontakte überprüfte.

Plötzlich drang Timothys Stimme knisternd aus der Konsole. »Sir, es gelingt mir nicht, den Hauptmast einzufahren.«

»Das liegt daran, dass er verbogen ist«, erwiderte X. Er schaute zu Magnolia. »Kommt dir an diesen Kontakten auch was komisch vor?«

»Was meinst du?«, fragte Mags.

»Sie bewegen sich nicht auf uns zu … Wir bewegen uns auf sie zu.« X streckte die Hand aus und betätigte einen Schalter, um die Metallklappe von der Windschutzscheibe hochzufahren. Ein weiterer Schalter aktivierte die Suchscheinwerfer. Die Strahlen drangen weit durch die Dunkelheit und erfassten Berge über den Wellen am Horizont. Bei diesen Bergen handelte es sich nicht um hoch aufragende Wogen, riesige Meeresungeheuer oder etwas anderes Bewegliches.

»Festland«, stellte Timothy fest. »Wir haben eine weitere Inselkette gefunden.«

Magnolia betrachtete die zerklüfteten Umrisse.

»Glaubst du, das sind die Metallinseln?«, fragte sie.

X schüttelte den Kopf. »Ich sehe die Sonne nicht, und es ist erst fünf Uhr.«

Magnolia ergriff das Handteil des Funkgeräts. »Ich informiere die Zentrale.« Sie drückte mehrmals den Knopf, aber es tat sich nichts.

»Das Funkgerät ist beschädigt«, meldete Timothy. »Ich habe das Notsignal aktiviert, aber wir haben keine Möglichkeit, Verbindung mit den Luftschiffen aufzunehmen.«

»Wieso zum Teufel hast du das getan?«, verlangte X zu erfahren. »Jetzt werden sie sich Sorgen um uns machen und schicken womöglich noch Hilfe – Hilfe, die wir nicht brauchen.«

Magnolia meldete sich zwar nicht sofort zu Wort, doch lange konnte sie ihre Meinung nicht für sich behalten. »X, ich sag dir das ja höchst ungern, aber wir brauchen sehr wohl Hilfe. Das Boot hat schweren Schaden erlitten.«

»Ich will nicht, dass sie jemanden herschicken. Es war meine Entscheidung, diese Fahrt anzutreten, und du hast dich auch dafür entschieden, Mags.«

Sie legte das Handteil des Funkgeräts zurück, als eine Erkenntnis einsetzte. »Du willst nicht, dass dir Michael folgt, oder?«

»Hast du das gerade erst erkannt?«

»Und was, wenn wir die Metallinseln finden? Was dann?«

X erwiderte nichts. Er brummte nur etwas bei sich. Daran war Magnolia gewöhnt. Gelegentlich führte sich X immer noch verrückt auf. Sie hatte sich schon damit abgefunden, dass er manchmal wirres Zeug redete und Selbstgespräche führte. Sogar mit seinem nächtlichen Geschrei hatte sie zu leben gelernt. Nur kam es immer häufiger vor, und allmählich fing es wirklich an, ihr Angst einzujagen.

Ihr Blick richtete sich wieder auf die Inseln. Sie war nicht sicher, was sich da draußen befand, doch was immer es sein mochte, sie würden sich allein damit auseinandersetzen müssen.

Captain DaVita würde ihnen ebenso wenig zu Hilfe kommen wie Stan oder Layla. Die Stürme in diesem Gebiet verhinderten eine Rettungsmission – ein Absprung durch die Wolken hier käme einer Todesstrafe gleich.

»Pepper, Notsignal abschalten«, befahl X.

»Sir, wenn wir das tun, können die anderen uns nicht orten.«

»Das ist der Sinn der Sache«, gab X zurück. »Wir können das Boot allein reparieren. Und jetzt tu’s, oder ich schalte dich ab – endgültig.«

Magnolia sah den Zorn in X’ Gesicht, und zum ersten Mal seit Antritt der Reise spürte sie, wie sich Ranken der Verzweiflung in ihr ausbreiteten. Was als neues Abenteuer begonnen hatte, um einen Ort zu finden, den die Menschheit als Zuhause bezeichnen konnte – und als Chance, Rodger zu rächen –, verwandelte sich zusehends in einen Albtraum. Sie hoffte nur, sie konnte darauf vertrauen, dass X das Richtige tun würde, wenn sie die Metallinseln aufspürten.

Les Mitchells zupfte an den Manschetten seiner weißen Uniform, als er sich mit seiner Frau Katherine und ihrer siebenjährigen Tochter Phyl dem Knast näherte. Beide hatten sich bereits vor Wochen von ihrem Husten erholt und erlangten nach und nach ihre Kraft wieder. Trotzdem hatten beide noch einen weiten Weg vor sich, vor allem Phyl, die um die fünf Kilo an Gewicht verloren hatte und dürr wie eine Bohnenstange aussah. Katherine wischte sich eine schmutzig blonde Strähne aus dem Gesicht und seufzte, als sie vor dem Knast anhielten.

Es war ein großer Tag für die gesamte Familie ­Mitchells, denn endlich würden sie wieder mit Trey vereint sein, der fast ein Jahr im Knast verbringen musste, weil er im Handelsposten gestohlen hatte. Captain DaVita hatte sein Strafmaß zwar drastisch verringert, weil sich Treys Hilfe als entscheidend dabei erwiesen hatte, Captain Jordan zu stürzen, aber sie konnte ihn nicht einfach begnadigen, auch wenn sein Vater mittlerweile als hochrangiger Offizier an Bord der ­Deliverance diente.

Damit das System weiterhin so funktionierte, wie es sollte, mussten die Regeln der Gesetze geachtet werden.

Les klopfte mit der Faust an die Luke, und Lauren Sloan, neulich zum Sergeant der Miliz befördert, öffnete sie. Ihre beeinträchtigten Augen schwenkten von Les über Katherine zu Phyl.

»Wartet hier«, brummte sie, nicht im Geringsten beeindruckt von Les’ neuem Rang als Lieutenant der ­Deliverance.

Les lächelte seine Frau an und bückte sich leicht, um seine groß gewachsene Tochter in eine Umarmung zu ziehen.

»Kommt Trey wirklich mit uns nach Hause?«, fragte Phyl und schaute mit ihren haselnussbraunen Augen zu ihm auf.

»Und ob.«

Katherine erwiderte das Lächeln mit ihrem ansteckenden Grinsen und schlang die Arme um Les und Phyl. Sie kuschelten immer noch miteinander, als Trey endlich herauskam. Zwei Monate vor seinem 18. Geburtstag präsentierte sich der Junge dünner, als Les ihn je zuvor gesehen hatte – noch dünner als Phyl.

»Hi«, begrüßte Trey sie mit scheuer Stimme.

»Mein Baby«, stieß Katherine hervor und löste sich von Les, um ihren Sohn zu umarmen.

»Trey, du siehst echt aus wie …«, setzte Phyl an, wurde jedoch von Sloan unterbrochen.

»Unterschreib hier, und schon kannst du dich auf den Weg machen, Junge«, sagte sie und reichte Trey ein Klemmbrett. Er ließ seine Mutter los, um seinen Namen auf das Papier zu kritzeln.

Und einfach so war Trey Mitchells ein freier …

Mann. Dein Junge ist jetzt ein Mann, ging Les durch den Kopf. Sloan und er nickten sich gegenseitig zu. Er respektierte die Frau für ihre Mithilfe dabei, Captain Jordan zu Fall zu bringen, und für die würdevolle Behandlung Treys. Es war nicht ihre Schuld, dass die Rationen für Gefangene kaum zum Überleben ausreichten.

»Herzlichen Glückwunsch noch mal zur Beför­derung«, sagte er.

Sie zuckte mit den Schultern. »Bedeutet für mich bloß mehr Arbeit.« Sie ließ ein freudloses Grinsen aufblitzen. »Ebenfalls Glückwunsch zur Beförderung, Lieutenant.«

»Danke«, gab Les zurück.

Der Blick ihrer beeinträchtigten Augen heftete sich auf Trey. »Halt dich aus Ärger raus, Junge«, riet sie ihm.

»Hab ich vor, Sergeant.«

Les legte seinem Sohn die Hand auf den Rücken und führte seine Familie aus dem Knast der Hive, konnte es kaum erwarten, sie alle zusammen um den kleinen Tisch in ihrer Unterkunft zu haben.

Obwohl er mittlerweile an Bord der ­Deliverance arbeitete, hatte er sich wie viele der anderen Hell Divers und Offiziere dafür entschieden, weiterhin an Bord der Hive zu wohnen. Irgendetwas daran, das Luftschiff zu verlassen, hatte sich falsch angefühlt, und als ihm eine neue Kabine an Bord der ­Deliverance angeboten worden war, hatte er höflich abgelehnt.

Beim Anblick der frischen Farbe an den Schotten breitete sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus. Auch Trey grinste, als er die neuen Kunstwerke sah, die das Metall mit Bildern von der alten Welt verzierten: flauschige Wolken, exotische Tiere, Städte.

»Wie fühlst du dich?«, wollte Katherine von Trey wissen.

Sein Lächeln wurde breiter. »Ich bin einfach nur froh, raus aus diesem Drecksloch und wieder bei meiner Familie zu sein.«

Wenige Minuten später trafen sie zu Hause ein, wo sie eine Mahlzeit aus Meerschweincheneintopf, frischem Brot und warmen Kartoffeln erwartete. Sogar Butter konnten sie großzügig auf das Brot streichen.

Les konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er zuletzt Butter gegessen hatte.

»Ich wette, du bist hungrig«, meinte Phyl. »Du siehst aus wie eine Bohnenstange.«

»Da redet die Richtige«, konterte Trey. Er wischte sich die langen Haare aus dem Gesicht und zog den vertrauten, knarzenden Holzstuhl heraus, auf dem er beim Essen immer gesessen hatte.

»Wir müssen dir einen Haarschnitt und ein Bad verpassen«, befand Katherine.

»Ich werd essen und baden, aber dann mach ich mich auf den Weg. Ich will zu Commander Everhart«, kündigte Trey an.

Les nahm am Kopf des Tisches Platz und betrachtete seinen Sohn im Schein der einsam von der Decke baumelnden Glühbirne. Die Freundschaft der beiden jungen Männer reichte weit zurück, dennoch fand es Les merkwürdig, dass sein Sohn unmittelbar nach der Entlassung aus dem Knast sofort zu Michael wollte. Es sei denn …

»Warum?«, erkundigte sich Les.

»Ich hatte viel Zeit, um nachzudenken, was ich mit meinem Leben anfangen will«, antwortete Trey. Er spähte zu seiner Mutter, die aufgehört hatte, Eintopf in Schalen zu löffeln.

Sie sah genauso nervös über Treys hinter Gittern gefassten Entschluss aus, wie sich Les fühlte. Er hatte gehofft, sein Sohn würde sich wieder an der Technikerschule bewerben oder zu ihm auf die Brücke kommen, um dort zu arbeiten, doch sein Bauchgefühl verriet ihm, dass sich Trey für keine der beiden Möglichkeiten interessierte.

»Ich sag’s euch nach dem Essen«, versprach Trey und leckte sich über die Lippen. »Ich bin am Verhungern.«

Katherine löffelte den Eintopf weiter in die Schalen und verteilte sie eine nach der anderen. Dann neigten sie alle gemeinsam die Häupter und hielten sich an den Händen, wie es die Menschen vor Jahrhunderten getan hatten.

»Ich bin dankbar, dass mein Sohn Trey wieder zu Hause und unsere gesamte Familie wieder zusammen ist«, sagte Les. »Heute bete ich zu welchem Gott auch immer, dass die Hive und die ­Deliverance lang genug am Himmel bleiben, bis Xavier und Magnolia ein neues Zuhause für uns alle finden.«

Damit ließ er Treys und Phyls Hände los und wartete darauf, dass ihnen Trey seine Entscheidung mitteilte, doch der Junge war bereits damit beschäftigt, sich Essen in den Mund zu schaufeln.

»Ma«, murmelte er kauend, »das ist so was von gut.«

»Wir hatten Glück, ein Meerschweinchen zu bekommen. Ist das erste Mal seit Monaten, dass wir Fleisch haben.«

Phyl nahm einen Bissen von ihrem Brot, ihren Eintopf jedoch hatte sie immer noch nicht angerührt.

»Was ist denn, Schatz?«, fragte Katherine.

»Ich fühl mich nicht so besonders.« Phyl schaute zu ihrem Bruder auf.

»Fühlt sich dein Bauch nicht gut?«, erkundigte sich Les.

Phyl schüttelte den Kopf und legte die Hand auf die Brust. »Es ist das Herz. Es tut weh. Ich hab Trey so sehr vermisst, und jetzt mach ich mir Sorgen, dass er uns wieder verlassen wird.«

Trey legte die Hand auf die von Phyl. »Ich verlasse euch nicht schon wieder. Das verspreche ich.«

»Aber du hast mir erzählt, dass du Hell Diver werden willst«, gab Phyl zurück. »Und Hell Divers sterben.«

Plötzlich spürte Les, wie ihm das eigene Herz schwer wurde. »Ist das wahr, Sohn?«

»Ja.« Trey legte die Gabel mit einer aufgespießten Kartoffel zurück auf den Tisch. »Ich habe entschieden, dass ich dem Schiff und meiner Familie so am besten etwas zurückgeben kann. Wir werden mehr Rationen bekommen und …«

»Ich bin jetzt Stellvertreter der Kapitänin, Trey«, fiel ihm Les ins Wort. »Du musst dein Leben nicht aufs Spiel setzen.«

Treys Unterlippe bebte. »Wir können es uns nicht leisten, dich zu verlieren, Pa. Und ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass du trotz deines neuen Rangs weiterhin springen wirst. Ich hab Sloan darüber reden gehört.«

Das konnte Les nicht abstreiten. Beim Annehmen des Postens als Stellvertreter hatte er eingewilligt, gleichzeitig ein Hell Diver zu bleiben.

»Es ist an der Zeit für mich, ein Mann zu werden«, fuhr Trey fort. »Es ist an der Zeit für mich, deinen Platz als Hell Diver einzunehmen.«

Katherine sah Les über den Tisch hinweg an. Ihre Augen flehten ihn an, etwas zu sagen, um den Jungen zur Vernunft zu bringen.

Aber sein Sohn war kein Kind mehr. Er hatte dabei geholfen, Jordan zu stürzen, er hatte seine Zeit im Knast abgesessen, und nun stand es ihm frei zu tun, was immer er wollte.

Les wischte sich den Mundwinkel ab und legte sein Taschentuch auf den Tisch. Eigentlich sollte es eine freudige Wiedervereinigung bei einer wunderbaren Mahlzeit mit seiner Familie werden, doch irgendwie hatte er den Appetit verloren. Nachdem er seinen Sohn endlich wiederhatte, wurde ihm beim Gedanken daran, wie sein Junge auf die postapokalyptische Erdoberfläche absprang, regelrecht schlecht.

Katrina DaVita fing allmählich an, sich auf der Brücke der ­Deliverance heimisch zu fühlen. Überall um sie herum in dem runden Raum arbeiteten Offiziere an ihren Stationen, überwachten den Himmel auf Stürme, beobachteten die Lebenserhaltungssysteme an Bord des Schiffes und kommunizierten mit der Besatzung der Hive.

Grundsätzlich war sie die Kapitänin beider Schiffe, doch sie hatte entschieden, ihre Verantwortung von diesem Kontrollraum aus wahrzunehmen. Während der ersten Wochen hatte sie noch versucht, auf der sauberen, weißen Brücke an Bord der Hive zu arbeiten. Dort war es größer und angenehm vertraut, doch gerade diese Vertrautheit verursachte Probleme.

Durch die Erinnerungen an ihren ehemaligen Geliebten, Captain Leon Jordan, war die Arbeit dort zu schmerzlich. Wenn sie sich darauf konzentrieren wollte, das Überleben der Menschheit zu sichern und ein positives Vermächtnis als Kapitänin zu hinterlassen, musste sie es an Bord der ­Deliverance tun. Die Hive würde zwar immer ihr Zuhause bleiben, aber sie brauchte einen Neubeginn.

Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, an Bord der Hive einen eigenen Kapitän einzusetzen, hatte jedoch noch niemanden, den sie mit der Aufgabe betrauen konnte. Der frühere Lieutenant Hunt und Ensign Ryan verbüßten eine Haftstrafe im Knast wegen Verschwörung, alle anderen waren zu grün hinter den Ohren.

Menschen hatten Katrina zu oft im Stich gelassen und enttäuscht.

Deshalb hatte sie die künstliche Intelligenz Timothy Pepper aus der Hügelbastion auf das andere Luftschiff übertragen, wo sie ihr als Co-Kapitän diente.

Sie wusste, dass sich das Schiff bei Pepper in guten Händen befand. Und da auf ihn Verlass war, konnte sie sich auf den wichtigsten Teil ihrer Aufgaben konzentrieren – darauf, die beiden Luftschiffe am Himmel zu halten.

An diesem Tag standen noch einige andere Dinge auf dem Programm. In Kürze würde sie die abgeschlossenen Renovierungsarbeiten an 40 neuen Unterkünften an Bord des Schiffes überprüfen. Nach der Abnahme würden sie über 100 Menschen von der Hive beherbergen, wodurch die Gesamtbelegung der ­Deliverance auf knapp unter 200 ansteigen würde. Die anderen 273 Passagiere würden an Bord der Hive ­bleiben.

Mittlerweile jedoch hatte sie es mit einem ­größeren Problem zu tun als mit aufgebrachten Zivilisten, die sich über etwas beklagten, das sie als ungleiche Be­­handlung empfanden.

Katrina bahnte sich den Weg zu den Kommuni­kationsstationen, wo Ada Winslow, eine 20-jährige Technikstudentin, die zur Kommuni­kationsoffizierin umgesattelt hatte, auf einem Stuhl vor der Funkausrüstung saß.

Nach dem Verlust der Erfahrung von Ensign Ryan und Lieutenant Hunt war Katrina gezwungen gewesen, mehrere neue Besatzungsmitglieder direkt aus der Schule zu rekrutieren. Ada war Klassenbeste gewesen, und wenngleich Kommunikationstechnik nicht ihr Hauptfach gewesen war, lernte sie schnell.

»Ensign Winslow, haben wir schon etwas von ­Commander Rodriguez oder Miss Katib gehört?«

Ada drehte sich herum und schaute mit beflissenen braunen Augen auf. »Negativ, Captain. Ich durchkämme schon den ganzen Abend die Kanäle für den Fall, dass sie auf einer anderen Frequenz zu übertragen versuchen, aber bislang erfolglos.«

»Versuchen Sie’s weiter.« Katrina nickte ihr er­­mutigend zu. Als Nächstes schritt sie die Reihe ihrer neuen Besatzungsmitglieder ab. Ensign Dave Connor, ein 40-jähriger Techniker, der sein Bein bei einem Unfall mit den Mantelstromtriebwerken der Hive verloren hatte, bemannte das Navigationssystem und tappte mit seiner Beinprothese auf das Deck. Er fungierte zugleich als Meteorologe und galt als Experte darin, die Stürme zu deuten, wodurch er von unschätzbarem Wert für Katrina war.

»Wie sieht der Himmel aus?«, erkundigte sie sich.

»Ma’am.« Dave stellte größtenteils unversehrte Reihen vergilbter Zähne zur Schau. »Winde aus Süden mit acht Knoten. Barometeranzeige leicht gefallen. Ich orte einen Gewittersturm. Scheint sich um eine 80 Kilometer lange Unwetterfront zu handeln. Momentan halten wir den Abstand, aber sollten wir näher hineingeraten, steht uns ein wilder Ritt bevor.«

»Behalten Sie den Sturm im Auge und geben Sie mir Bescheid, falls sich irgendetwas ändert.«

»Wird gemacht, Ma’am.«

Katrina setzte den Weg zum nächsten Offizier fort, Ensign Bronson White. Als mit Abstand ältester Mann an Bord schien er nach der Farbe seines dichten Haars und Bartes benannt zu sein. Eine dicke Brille vergrößerte hellblaue Augen. Als ehemaliger Chefingenieur der Hive war er vor zehn Jahren in den Ruhestand gegangen und von Samson abgelöst worden.

»Ensign«, sagte Katrina.

Bronson nickte höflich. »Wie geht es Ihnen heute Abend, Captain?«

»Mir geht’s gut. Und wie geht’s unseren Schiffen?«

Er verlagerte die Brille auf der Nase tiefer, um darüber hinweg die Anzeige zu betrachten. »Die Gasblasen der Hive funktionieren alle ordnungsgemäß, und die Triebwerke der ­Deliverance laufen alle tadellos. Die Hive musste seit mehreren Tagen kein Mantelstromtriebwerk mehr einsetzen.«

»Und die Stützen halten?«, hakte sie nach und meinte damit die Aluminiumstreben, mit der die Technik die beiden Schiffe miteinander verbunden hatte.

»Ja, Captain.«

Katrina klopfte White auf die Schulter, bevor sie sich von ihm entfernte.

Layla Brower war ein weiteres Besatzungsmitglied der Nachtschicht, und an ihrer geknickten Haltung und den müden Augen ließ sich ablesen, dass sie Michael vermisste.

Aber Katrina brauchte Layla an diesem Abend an Deck. Sie hatte eine wichtige Aufgabe: anhand der neuen Archive von der ­Deliverance jene Aufzeichnungen wiederherzustellen, die Jordan vernichtet hatte. An diesem Abend arbeitete sie außerdem mit Sergeant Sloan von der Miliz zusammen, um Ruhe und Frieden an Bord des Luftschiffes aufrechtzuerhalten.

»Wie läuft’s?«, fragte Katrina.

Layla schüttelte den Kopf. »Bisher alles ruhig, aber die Nacht ist ja noch jung. Wir lassen vier Soldaten durch die ­Deliverance patrouillieren, weitere zehn an Bord der Hive.«

Das war nicht viel Präsenz, aber in Katrinas Augen lautete das Motto: je weniger, desto besser. Vor allem weil die Miliz bereitwillig Captain Jordans Befehle ausgeführt hatte, Janga, Ty Parker und etliche andere zu töten.

Die Passagiere trauten der Miliz nicht über den Weg, was Katrinas Aufgabe als Kapitänin erschwerte. Sehr sogar. Es half zwar, dass sie diejenige gewesen war, die Jordan den Garaus gemacht hatte, doch selbst dadurch hatte sie nicht das Vertrauen aller erlangt – insbesondere nicht das der ehemaligen Unterdeckbewohner.

Nicht auf der Brücke befand sich Lieutenant Les Mitchells, der mit seiner Familie die Entlassung seines Sohnes aus dem Knast feierte. Es war ein Freudentag für die Familie Mitchells, und auch Katrina freute sich, dass der Tag endlich gekommen war. Es war ihr damals schwergefallen, Trey zurück in seine Zelle ­bringen zu lassen, nachdem er dabei geholfen hatte, Jordan zu stürzen, doch sie musste fair bleiben. Seine Strafe um ein Jahr zu verkürzen war das Beste, was sie tun konnte, ohne andere Passagiere zu empören, die auch Verwandte im Knast hatten.

Katrina kehrte zum Kapitänsstuhl zurück und nahm darauf Platz. Ihre Besatzung mochte neu sein und sowohl aus jungen als auch aus alten Offizieren bestehen, aber es war ihre Besatzung, und sie war stolz darauf, dass diese Leute mit ihr arbeiteten.

Durch die ­Deliverance war ihnen ein Neubeginn gewährt worden. Doch ganz gleich, wie gut die Dinge am Himmel liefen, ihre Zukunft hing in Wirklichkeit davon ab, was auf der Erdoberfläche geschah. Wenn X und Magnolia tot waren, wäre der einzige Anlauf, die Metallinseln zu finden, bereits vorbei, bevor er richtig begonnen hätte.

»Ensign Connor, rufen Sie unsere aktuelle Position auf dem Bildschirm auf«, befahl sie.

Der an der Wand vor ihrem Stuhl montierte ­Monitor erwachte zum Leben und zeigte eine Karte der alten Welt. Die Luftschiffe flogen immer noch ungefähr 80 Kilometer von der Küste Floridas entfernt. Eine gekrümmte rote Linie kennzeichnete den Weg der Sea Wolf, seit die ­Deliverance das Boot zu Wasser gelassen hatte.

X war von Florida in südöstlicher Richtung zwischen Kuba und den Bahamas gekreuzt. Bei der Aktivierung des Notsignals, das jedoch kurze Zeit später wieder abgeschaltet worden war, hatten sich er und Magnolia knapp westlich der Turks- und Caicosinseln befunden.

Katrina konnte nicht genau wissen, wo sie sich gerade befanden, doch sie mussten noch in der Nähe jener Inseln sein. Sie drückte eine Taste an ihrem Monitor und überlagerte das Bild mit der Wetterkarte.

Eine rote Wolke verschluckte den Großteil der Anzeige, am intensivsten über Kuba und den Bahamas.

X hatte diese Karte gesehen. Er hatte gewusst, worauf er sich einließ, und deshalb hatte er sich für die Route zwischen den Inseln entschieden. Ein weiterer dichter roter Nebel verhüllte den Großteil von Jamaika, ­Hispaniola und Puerto Rico. Nur eine kleine Kette namens Jungferninseln zeichnete sich in der trüben Masse ab.

Vor ihrem geistigen Auge malte sich Katrina aus, wie vor zweieinhalb Jahrhunderten Raketen mit Nuklearsprengköpfen auf jeder der größeren Inseln einschlugen, Millionen Menschen verbrannten und innerhalb von Minuten zerstörten, was die Menschen über ganze Zeitalter hinweg aufgebaut hatten. Aber vielleicht waren die kleineren Inseln wie jene auf der Karte unversehrt geblieben. Vielleicht hatte man gefunden, sie wären es nicht wert, beschossen zu werden, und vielleicht bildeten sie deshalb nach wie vor bewohnbare Zonen. Vielleicht hatten sogar die Strahlung und die Gewitterstürme diese Gegend nie erreicht.

Oder vielleicht waren die Inseln bloß weiteres Ödland mit mutierten Schrecken.

Das Geräusch der sich öffnenden Luke riss sie aus ihren Grübeleien. Les duckte sich unter dem Schott hindurch und betrat die Brücke. Seine sonst so blassen Wangen waren deutlich gerötet. Katrina wusste auf Anhieb, dass irgendetwas nicht stimmte.

Sie erhob sich aus ihrem Stuhl.

»Captain«, begrüßte er sie förmlich.

»Das war aber ein kurzes Abendessen«, merkte sie an. »Wie geht es Trey?«

Les seufzte, den Blick auf seine Stiefel gerichtet. »Er will Hell Diver werden.«

Katrina rieb sich das Kinn. Sie erinnerte sich noch an den Ausdruck im Gesicht ihres Vaters, als sie ihm dasselbe mitgeteilt hatte. Er war alles andere als glücklich darüber gewesen, aber er hatte nicht mehr lange gelebt, nachdem sie beschlossen hatte, sich den Reihen der Springer anzuschließen.

»Trey ist jetzt ein Mann und muss seinen eigenen Weg gehen«, erwiderte sie.