Ihr zweiter Tod - Sandra Brown - E-Book

Ihr zweiter Tod E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Wie weit würdest du gehen, um Gerechtigkeit walten zu lassen? Der brandneue Thriller von Bestsellerqueen Sandra Brown!

Zach Brigder steht vor einer schweren Entscheidung. Der einst gefeierte Quarterback muss über das Schicksal seiner Exfrau Rebecca entscheiden, die nach einem brutalen Angriff ins Koma gefallen ist. Sollen die lebenserhaltenden Maßnahmen abgestellt werden? Da kontaktiert ihn Kate Lennon, die zuständige Staatsanwältin für Rebeccas Fall, mit einer dringenden Bitte: Sie möchte unbedingt erreichen, dass Rebeccas Angreifer so schnell wie möglich wieder inhaftiert wird. Zach verspricht, ihr zu helfen, zumal er die toughe Staatsanwältin verboten attraktiv findet. Doch noch ahnt er nicht, zu welchen Mitteln Kate für ihr Vorhaben greifen will – oder welch mächtige Gegenspieler sie hat. Als er erkennt, wie brenzlig die Situation ist, erscheint es fast schon zu spät: Kate und Zach können nur noch um ihr Leben fliehen ...

Genießen Sie weitere spannende Stunden mit Thriller-Königin Sandra Brown und lesen Sie auch »Dein Tod ist nah« und »Verhängnisvolle Nähe«!

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Seitenzahl: 485

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Buch

Zach Bridger steht vor einer schweren Entscheidung. Der einst gefeierte Quarterback muss über das Schicksal seiner Ex-Frau Rebecca entscheiden, die nach einem brutalen Angriff ins Koma gefallen ist. Sollen die lebenserhaltenden Maßnahmen abgestellt werden? Da kontaktiert ihn Kate Lennon, die zuständige Staatsanwältin für Rebeccas Fall, mit einer dringenden Bitte: Sie möchte unbedingt erreichen, dass Rebeccas Angreifer so schnell wie möglich wieder inhaftiert wird. Zach verspricht, ihr zu helfen, zumal er die toughe Staatsanwältin verboten attraktiv findet. Doch noch ahnt er nicht, zu welchen Mitteln Kate für ihr Vorhaben greifen will – oder welch mächtige Gegenspieler sie hat. Als er erkennt, wie brenzlig die Situation ist, erscheint es fast schon zu spät: Kate und Zach können nur noch um ihr Leben fliehen …

Autorin

Sandra Brown arbeitete als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihr endgültiger Durchbruch als Thrillerautorin gelang Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland zum Bestseller wurde. Seither konnte die Autorin mit vielen weiteren Romanen ihre Leser und Leserinnen weltweit begeistern. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Von Sandra Brown bereits erschienen (Auswahl)

Vertrau ihm nicht

Dein Tod ist nah

Sein eisiges Herz

Verhängnisvolle Nähe

Stachel im Herzen

Tödliche Sehnsucht

Sanfte Rache

Blinder Stolz

Eisige Glut

Kalter Kuss

Sandra Brown

Ihr zweiter Tod

Thriller

Deutsch von Christoph Göhler

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Overkill« bei Grand Central Publishing, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2022 by Sandra Brown Management Limited

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de

BSt · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-30195-8V001

Prolog

Die Orgie war in vollem Gang.

Angefangen hatte alles relativ gesittet um zehn Uhr. Gegen Mitternacht waren die Grenzen des guten Geschmacks unter dem Einfluss von Alkohol, diversen Drogen und nackter Fleischeslust ins Wanken geraten.

Inzwischen, in den frühen Morgenstunden, hatten die Gäste jeden Anschein von zivilisiertem Benehmen aufgegeben. Die meisten hatten diverse Kleidungsstücke abgelegt – und ausnahmslos jegliche Hemmungen. Rap dröhnte aus den diskret in dem stattlichen Anwesen verteilten Lautsprechern, so als würden die Wände selbst die Kakofonie vertuschen wollen. Die Bässe wummerten durch das ansonsten so sittenstrenge Buckhead. Seit Stunden hatte das zuständige Revier des Atlanta Police Departments Beschwerden wegen Ruhestörung entgegennehmen müssen.

Der Gastgeber des Bacchanals hatte alle eingeladen. Die meisten der Feiernden, die sein Haus bevölkerten, hatte er noch nie gesehen, eingeschlossen jene junge Frau, die ihm angeboten hatte, die nächste Line Kokain von der Innenseite ihres nackten Schenkels zu schnupfen.

Schon eine ganze Weile lungerten sie zusammen auf einem Sofa in einer abgeschiedenen Ecke, wo sie sich nicht nur das weiße Pulver, sondern auch eine Flasche Wodka teilten. Letztere hatte Anlass zu zahllosen phallischen Anspielungen gegeben.

Falls die junge Frau ihm irgendwann ihren Namen verraten hatte, war er inzwischen zu high, um sich daran zu erinnern. Als er sich nach ihrem Beruf erkundigen wollte und gefragt hatte, was sie so machte, hatte sie geantwortet: »Das hier.«

»Das hier?«

»Abfeiern.«

Perfekt. Sie war gekommen, um Party zu machen, und zufällig war er darin Spezialist.

Sie sah super aus. Ihre dunklen Augen waren schwarz umrahmt wie die von Kleopatra. Ihre glatten, schwarz glänzenden Haare reichten ihr fast bis auf den so wahnsinnig heißen Hintern. Üppige Brüste waren in dem tiefen, lockeren Ausschnitt ihres hautengen Kleides zu sehen. Der goldglänzende Stoff war spinnwebendünn, sodass sogar ihre Warzenhöfe durchschimmerten.

Als er ihr ein Kompliment zu ihrem Kleid gemacht hatte, hatte sie ihm erklärt, sie hätte es »auf dem roten Teppich« getragen, allerdings wusste er nicht, auf welchem roten Teppich, und es war ihm auch egal. Während er das Kokain schnupfte, genoss er von ihrem Schenkel den Ausblick unter ihren kurzen Rock.

Das Mädchen hatte Abenteuerlust und keinen Anstand.

Er atmete tief ein, setzte sich auf, warf den Kopf in den Nacken und brüllte einen obszönen Fluch an die Decke, um seine Leidenschaft zu zeigen.

Sie trank kichernd aus der Wodkaflasche, schob ihren nackten Fuß an seinem Schenkel aufwärts und hielt erst inne, als ihre Zehen beinahe sein Geschlecht berührten. »Hast du gespinkst, als du unten warst?«

»Was glaubst du denn?« Er grinste. »Ich bin ein böser Junge.«

»Böse Jungs sind genau mein Fall.«

»Ach ja?«

Sie zog die perfekt geschwungenen Brauen hoch.

Er lachte. »Dann wirst du uns lieben.«

Er drehte sich nach seinen beiden besten Freunden um und sah sie am anderen Ende des Raums am Büfett stehen, das aussah, als wäre ein Wolfsrudel darüber hergefallen. Ein Mädchen schlief nackt und zusammengerollt auf einem Salatbett, auf dem zuvor eisgekühlte Shrimps gelegen hatten. Seine Freunde garnierten ihren schlummernden Leib mit übrig gebliebenen Zitronenscheiben.

»Komm mit«, sagte er und nahm Kleopatra an der Hand.

Sie sträubte sich. In die Sofapolster gedrückt, hob sie ein Knie an und schwenkte es hin und her. »Wieso bleiben wir nicht hier?«, beschwerte sie sich.

»Nicht privat genug.« Er zog sie aus den Polstern und schlang den Arm um ihre Taille, als sie gegen ihn taumelte.

Auf dem Weg zum Büfett drehte sie sich kurz um. »Ich hab meine Sandalen vergessen.«

»Denen passiert schon nichts. Ich möchte dir meine Freunde vorstellen.« Als sie beim Büfett ankamen, sagte er: »Jungs, wir gehen nach oben und machen Erwachsenenspiele. Wollt ihr auch … kommen?« Er lachte über seine Anzüglichkeit.

Die beiden musterten Kleopatra mit glasigem Blick. Der große Blonde mit dem schläfrigen Lächeln, dem keine Frau widerstehen konnte, meinte träge: »Klar doch.«

Der andere blickte auf das im Salatbett schlafende Mädchen. »Und was ist mit ihr?«

»Mit der kannst du dich später beschäftigen«, meinte der Gastgeber. »Falls du dann noch die Energie dazu hast.«

»Garantiert nicht«, schnurrte Kleopatra und ließ ihre Fingerspitzen über seinen Kragen wandern. »Ich halte die ganze Nacht durch.«

»So mag ich meine Mädchen«, sagte der gut aussehende Blonde.

Sie sah ihn an wie die meisten Frauen: Als wollte sie ihn von Kopf bis Fuß ablecken. »Wir werden viel Spaß haben.«

Der Gastgeber spürte einen eifersüchtigen Stich, aber der ließ sich mit einer weiteren Line Kokain und einem tiefen Schluck Wodka betäuben. Er und nicht sein unwiderstehlicher Kumpel wäre derjenige, der Kleopatra im Gedächtnis bleiben würde.

»Ich hab das Koks drüben auf dem Tisch vergessen. Hol es und ihre Sandalen dazu«, sagte er zu dem Dritten. »Wir nehmen den Aufzug. Keine Ahnung, ob auch nur einer von uns die Treppe schaffen würde.«

Das Kokain und die goldenen Sandalen wurden herbeigeschafft. Das Quartett bahnte sich einen Weg durch die anderen Gäste, die entweder schon ihren Rausch ausschliefen oder sich ihren eigenen sündigen Vergnügungen widmeten.

Der Aufzug befand sich unter der geschwungenen Treppe und war allein dem Hausherrn vorbehalten. Die Kabine war nahtlos und unsichtbar in die Wandvertäfelung eingearbeitet. Sie war klein. Die vier zwängten sich hinein, wobei Kleopatra ihren kurvigen Körper zwischen den Gastgeber und den Blonden zwängen musste. Der Dritte legte in einer Art Gruppenumarmung die Arme um die anderen.

Kurz darauf waren sie im ersten Stock. Sie drängten aus der Kabine und taumelten durch den breiten Flur zum Schlafzimmer. Der Gastgeber trat als Erster ein, verbeugte sich tief und bat die anderen mit einem einladenden Armschwenken herein. Er schloss die Tür und verriegelte sie.

Dann drehte er mit dem Gesicht Kleopatra zu sich und erklärte ihr lächelnd: »Bei unseren Spielen gibt es genau eine Regel. Ich bestimme.«

Sie schob die dünnen Träger ihres Kleides über die Schultern und ließ den Stoff an ihrem Körper zu Boden gleiten, dann stolzierte sie nackt durchs Zimmer, legte sich aufs Bett und reckte die Arme über den Kopf. »Na dann los.«

Kapitel 1

Als Zach Bridgers Leben auf den Kopf gestellt wurde, saß er gerade auf den Cayman Islands an einer Poolbar, trank ein kaltes Bier und entspannte zu Jimmy Buffetts »Cheeseburger in Paradise«.

Es war erst halb neun Uhr morgens, aber sein Date der Woche hatte einen idealen Sonnenbadeplatz für den Tag ergattern wollen und ihn darum in aller Frühe aus dem Bett gezerrt. Andere Gäste in dem protzigen Resort hatten offenbar den gleichen Gedanken gehabt. Im Freiluftrestaurant hatte sich schon eine Schlange vor dem Frühstücksbüfett gebildet, und auch die Bar machte gute Geschäfte.

»Ist das nicht Ihre Ex?«

Zach hatte gerade genüsslich die Auslage von gut geölten Frauenkörpern inspiziert, drehte sich jetzt aber dem Barkeeper zu, der mit seinem Ziegenbärtchen zu dem Fernseher hin nickte. In der rechten oberen Ecke des Bildschirms, direkt hinter der Schulter der Nachrichtensprecherin, war ein Foto von Rebecca zu sehen.

Zach reagierte sowohl auf die Frage des Barkeepers als auch auf das Bild mit einem undefinierbaren Grunzen. Er konnte die Frau, die mit ihren dunklen Augen die Kamera betörte, nicht mit dem Wort »Ehefrau« in Verbindung bringen. Es wollte ihm nicht in den Kopf, wie er ihr je ewige Liebe, Ehre und Treue hatte schwören können. Beide hatten ihr Gelübde gebrochen. Allerdings hatte er Rebecca danach mit einem ansehnlichen Haufen weltlicher Güter überhäuft.

»Die fünf Jahre seit unserer Scheidung waren die besten meines Lebens«, sagte er lapidar.

»Kann ich nachfühlen.« Der Barkeeper ließ ein seelenverwandtes Grinsen aufblitzen. »Seit meiner sind es drei Jahre.« Er nahm Zachs Plastikbecher, füllte ihn mit Bier auf und sah dann kurz über die Schulter auf den Fernseher, auf dem inzwischen ein anderes Bild von Rebecca zu sehen war. »Seit Neuestem hängt sie mit einem Eishockeyspieler ab. Einem von diesen Typen ohne Vokal im Namen.«

»Der arme Kerl«, sagte Zach.

Der Barkeeper lachte leise. »Ich glaube, sie haben sich schon wieder getrennt.«

»Ich hab den Überblick verloren.«

Zack hatte Rebecca nicht mehr persönlich gesehen, seit sie nach ihrer Scheidungsverhandlung aus dem Gericht gestöckelt war – sie durch den Haupteingang, um sich den dort wartenden Paparazzi zu zeigen, während er von seinem Anwalt durch einen Hinterausgang geschleust worden war, um der Presse zu entgehen.

Gelegentlich hörte er ihren Namen zufällig in einer dieser hyperaktiven Promi-Shows. Gewöhnlich wurde sie als glitzerndes Accessoire am Arm eines Mannes gezeigt, der gerade in den sozialen Medien trendete.

Der Barkeeper wischte einen nassen Fleck weg. »Offenbar haben Sie damals ihren Appetit auf Berufssportler geweckt.«

Zach hob zustimmend sein frisch gezapftes Bier.

»Wir sollen uns bei prominenten Gästen zurückhalten. Kein Gedöns machen, Sie wissen schon. Aber ich muss Ihnen sagen, ich bin ein Riesenfan von Ihnen.«

»Haben Sie einen Stift?«

»Äh, ja, sicher.« Der Barkeeper zauberte einen Kugelschreiber hervor. Zach zog eine Cocktailserviette aus dem Halter auf der Theke und kritzelte ein Autogramm darauf.

Mit einer schnellen Wischbewegung ließ der Barkeeper die Autogrammserviette verschwinden. »Danke, Mann.«

»Kein Problem.«

Zach hatte eben das Glas zum Trinken angesetzt, als er sah, dass sich die Bilder im Fernseher verändert hatten. Jetzt wurde ein Livevideo gezeigt, das von einer Drohne oder aus einem Hubschrauber übertragen wurde. Die Kamera kreiste über einem anscheinend extrem weitläufigen Grundstück, das rundum von Streifenwagen und Krankenwagen umstellt war. In dem Textband unten am Bildschirm las er mehrmals Rebeccas Namen.

Zach stellte das Bier ab und schob die Sonnenbrille in die Stirn. »Können Sie das mal lauter stellen?«

Der Barkeeper kam seiner Bitte nach, sodass die Nachrichtensprecherin sogar über den »Good Vibrations« aus den Boxen zu verstehen war, die in diesem Moment sagte: »Die Behörden haben mitgeteilt, dass der Notruf heute Morgen um drei Uhr acht einging, der Anrufer aber noch nicht identifiziert werden konnte.«

Zach und der Barkeeper wechselten einen Blick. Zach löste sich von seinem Barhocker und trat hinter die Bar, um besser hören und sehen zu können.

»Die Sanitäter trafen dreizehn Minuten nach Eingang des Notrufs im Haus der Clarkes ein und fanden Rebecca Pratt in einem Gästezimmer im ersten Stock vor. Einzelheiten sind noch nicht bekannt, aber sie soll nicht ansprechbar gewesen sein. Sie wurde ins Emory University Hospital gebracht, aber bisher war nichts darüber in Erfahrung zu bringen, was der Grund dafür ist oder wie ernst es um ihren Zustand bestellt ist. Die Polizei ist am Tatort und befragt alle Teilnehmer der Feier in der Nobelvilla. Es waren schätzungsweise zwischen vierzig und sechzig Gäste anwesend. Die Polizei berichtet, dass in mehreren Räumen Rauschgift und Drogenutensilien gefunden wurden. Eine Straftat kann nicht ausgeschlossen werden. Rebecca Pratt war in letzter Zeit oft an der Seite berühmter Persönlichkeiten zu sehen und ist Single, seit sie sich 2017 von dem Quarterback Zach Bridger scheiden ließ. Der ehemals beim Super Bowl als Most Valuable Player ausgezeichnete Spieler hat sich noch nicht zu dem Vorfall geäußert. Sollte es neue Entwicklungen geben, werden wir sofort darüber berichten. Und nun zu der politischen Schlammschlacht in Washington, die sich nach einigen Kommentaren entwickelt hat, in denen …«

Zach nahm dem Barkeeper die Fernbedienung ab und schaltete den Fernseher stumm. Inzwischen hatten die Beach Boys den Stab an Lionel Richies »All Night Long« weitergegeben, aber in Zachs Umgebung waren sämtliche Gäste erstarrt und alle Unterhaltungen verstummt.

Zach wurde bewusst, dass alle ihn anstarrten.

Er kam hinter der Bar hervor, setzte die Sonnenbrille wieder auf und vermied jeden direkten Augenkontakt. Er und Rebecca hatten ihrer kurzen, aber turbulenten Ehe keine Träne nachgeweint. Aber offenbar waren sie die Einzigen, die damals einen Schlussstrich gezogen hatten.

Sie hatte wieder ihren Mädchennamen angenommen, trotzdem blieben ihre Namen verbunden, und nur selten wurde einer von beiden in den Medien erwähnt, ohne dass auf den anderen verwiesen wurde, ob es ihnen nun gefiel oder nicht. Ihm gefiel es ganz und gar nicht. Tatsächlich war es ihm zutiefst zuwider, weil ihm Rebeccas heutiger Ruf nur noch peinlich war. Aber das war eben der Preis des Ruhms.

Auch wenn er tief in sich gehen musste, um ein anderes Gefühl ihr gegenüber als Gleichgültigkeit zu entdecken, hatte er ihr nie etwas Böses gewünscht. »Nicht ansprechbar« klang gar nicht gut. Er schlenderte zum Pool zurück und versuchte, sich unterwegs ins Gedächtnis zu rufen, wo er sein Date der Woche abgelegt hatte und wie das Mädchen hieß.

Schließlich entdeckte er sie. Sie plauderte mit einem schlanken, haarlosen, europäisch aussehenden Mann in knapper Badehose, der sich auf ebenjenem Liegestuhl fläzte, aus dem Zach keine zwanzig Minuten zuvor aufgestanden war.

Während er sich einen Weg durch die anderen Sonnenbadenden bahnte, läutete sein Handy. Er wurde oft damit aufgezogen, dass er nie ohne anzutreffen war. Es war wie an seiner Hand festgewachsen.

Er erkannte auf dem Display die Vorwahl von Atlanta und vermutete, dass ihn ein Reporter anrief, der irgendwem ein paar Scheine zugesteckt hatte und so an seine Nummer gekommen war. Höchstwahrscheinlich wollte jemand einen kurzen Kommentar von ihm zu Rebecca und zu der Schlagzeile des Tages.

Schnell legte er sich ein paar passende Worte zurecht, an denen niemand Anstoß nehmen konnte und die gleichzeitig betroffen, aber auch distanziert klangen. Dann drückte er die Sprechtaste.

»Zach hier.«

Keine dreißig Sekunden später wünschte er, er hätte das Gespräch nie angenommen.

Er brauchte fast zwölf Stunden vom Pool des Hotels auf Grand Cayman bis ins Krankenhaus in Atlanta.

Er hatte keine Skrupel, sein Date zurückzulassen; sie schien sich ausgezeichnet mit der Badehose zu verstehen. Zum Abschied erklärte er ihr, sie sollte ihren restlichen Aufenthalt genießen und einfach seine Kreditkarte belasten, deren Nummer das Hotel gespeichert hatte. Er gab dem Concierge dreihundert Dollar Trinkgeld und ließ sich dafür einen Platz auf dem nächsten Flug in die Staaten sowie einen Wagen mit Fahrer vor und nach dem Flug buchen.

Am Flughafen Atlanta wartete eine unverfänglich aussehende schwarze Limousine auf ihn. Nach der obligatorischen Begrüßung merkte der Fahrer, der bereits Instruktionen bekommen hatte, an welchem Gebäude des Krankenhauskomplexes Zach abgesetzt werden sollte, recht schnell, dass seinem Passagier nicht der Sinn nach Unterhaltung stand.

Zach hatte sich auf eine chaotische Szene gefasst gemacht, aber das Getümmel vor dem Krankenhaus überstieg seine schlimmsten Befürchtungen. Und seine Ankunft verstärkte das Tohuwabohu zusätzlich. Sobald er aus dem Wagen stieg, kam die Journalistenmeute wie eine Flutwelle über ihn, oder vielleicht eher wie eine Rotte Haie, die frisches Blut gewittert hatte.

»Wann haben Sie es erfahren, Zach?«

»War es eine Überdosis?«

»Hatte sie Depressionen nach der Trennung von …«

Die Reporterin rief einen ihm unbekannten Namen, der so klang, als käme er ohne jeden Vokal aus. Zach hielt den Kopf gesenkt und ließ sich nicht einmal dazu hinreißen, mit einem »Kein Kommentar« auf das Sperrfeuer von Fragen zu reagieren. Er pflügte durch die Reporter und Kameraleute, bis er hinter der gläsernen Eingangstür Bing stehen sah.

Ned »Bing« Bingham hatte ihn an der Clemson University trainiert. Das Band, das sie damals geschmiedet hatten, war noch stärker geworden, nachdem Zach es zu den Profis geschafft hatte. Obwohl Bing sich inzwischen zur Ruhe gesetzt hatte, war er immer noch der Mensch, an den Zach sich wandte, wenn die Scheiße am Kochen war.

Er sah, wie Bing den uniformierten Sicherheitsleuten an der Tür einen Befehl zubellte. Die Sicherheitsleute reagierten augenblicklich, so wie fast jeder, dem Bing einen Befehl erteilte. Sie öffneten Zach die Tür, und er zwängte sich durch den Spalt, während die Pressemeute enttäuscht, aber umso aufgeheizter zurückblieb.

Dass er hier auftauchte, verlieh der Story zusätzliche Würze, dadurch wurde sie in die Stratosphäre der absoluten Sensationen katapultiert. Gewöhnlich nahm Zach die unersättliche Sensationsgier der Medien stoisch hin. Aber dies waren keine gewöhnlichen Umstände, und er verübelte den Reportern ihr aufdringliches Auftreten, denn sie verletzten damit nicht nur seine Privatsphäre, sondern auch die von Rebecca und ihren Eltern.

Er dankte den Sicherheitsleuten, die ihn eingelassen hatten, und ging dann auf seinen Freund und Mentor zu. »Was für ein erfreulicher Anblick, Bing.«

»Kann ich nicht erwidern. Du siehst beschissen aus.«

»Ich fühle mich auch so. Jemand aus der Krankenhausverwaltung hat mich angerufen und mir erklärt, dass ich so schnell wie möglich herkommen müsste.«

Bing nickte düster. »Vierter Stock.«

Er winkte Zach zu den Aufzügen. Auf dem Weg durch die Lobby registrierte Zach die schamlos in die Höhe gehaltenen Handys, die auf ihn gerichteten Kameras. Jede Geste, jede Gesichtsregung, alles, was er sagte oder tat, würde schon Sekunden später im Cyberspace kreisen.

Bing und er hatten den Aufzug für sich allein. Als sich die Türen schlossen, sagte er: »Danke, dass du gekommen bist.«

Bing runzelte die Stirn, wobei das in seinem ledrigen, faltigen Gesicht kaum zu erkennen war. »Ich hab dir doch geschrieben, dass ich komme.«

»Ich hab gesehen, dass du geschrieben hast, aber mein Handy explodiert vor Nachrichten, also hab ich sie gar nicht mehr gelesen. Jedenfalls bin ich verflucht froh, dass du hier bist.«

»Du steckst in der Scheiße. Wo sollte ich denn sonst sein?«

Seine vertraute barsche Art wirkte beruhigend. »Weißt du, was passiert ist?«

Bing schüttelte den Kopf. »Entweder weiß es noch niemand, oder sie rücken nicht damit raus.«

»Wer ist Clarke?«

»Eban, der Sohn von Sid Clarke. Ein großes Tier nach hiesigen Maßstäben. Und stinkreich, nach universellen Maßstäben. Eban war mit Rebecca im Schlafzimmer, als sie das Bewusstsein verlor.«

»In den Nachrichten hieß es, sie sei nicht ansprechbar.«

Bing sah ihn deprimiert an. »Während ich hier auf dich gewartet habe, konnte ich was aus den Polizisten rauskitzeln, die vor ihrer Tür Wache halten. Einer von ihnen hat mit den Sanitätern gesprochen, die sie hergefahren haben. Sie haben ihm erklärt, dass ihr Herz noch schlägt.«

Zach sagte nichts, sondern wartete in stummem Grauen ab.

Bing seufzte. »Aber für sie sah es so aus, als wären oben die Lichter endgültig ausgegangen.«

Zach hielt die Hand vor den Mund. »Jesus.«

»Genau.«

Zach sah auf die beleuchtete Zifferntafel neben der Aufzugtür. Sie passierten gerade den dritten Stock, darum beeilte er sich: »Die Anruferin aus der Verwaltung sagte etwas von einem Dokument.«

»Es geht um die Vorsorgevollmacht.«

»Rebecca und ich sind seit fünf Jahren geschieden. Damit sollte die Vollmacht automatisch hinfällig sein. Wieso ist sie noch gültig?«

»Keine Ahnung, Zach, aber ihr Daddy hat eine Kopie davon und wedelt wutschäumend damit herum.«

Der Aufzug wurde langsamer, und Zach bat hastig: »Komm zum Punkt.«

Bing sah ihn mitleidig an. »Der Punkt ist, dass du jetzt entscheiden musst, ob die Geräte abgeschaltet werden sollen oder nicht.«

Kapitel 2

Vier Jahre später …

Der Ausblick auf den Wasserfall war an diesem Morgen spektakulär. Nach einem der nassesten Sommer seit Menschengedenken in North Carolina schossen Unmengen von Wasser über die Felsklippe und achtzig Meter tief ins Flussbecken. Die durch die Gischt dringenden Sonnenstrahlen brachen sich in einem Regenbogen.

Zach stand am Rand der Klippe und blickte über den tiefen Abgrund, der sich zwischen seinem Standort und dem Wasserfall auftat. Über Nacht hatte ein Sturm heftigen Regen herangetragen. Der Boden war so gesättigt, dass er unter den Sohlen seiner Wanderstiefel schmatzte.

Aber inzwischen war die Wetterfront nach Osten abgezogen, und der Himmel strahlte in kristallklarem Blau. Die Luft war frisch und kühl. Es roch nach Holzfeuer, und er sah jenseits der Schlucht eine dünne Rauchfahne aus einem Kamin steigen. Ein dichter, dunkler Nadelwald bedeckte den Berghang. Vereinzelt fügten Laubbäume in voller Herbstpracht leuchtende Farbtupfer hinzu.

Die reinste Reizüberflutung.

Die ihn grausam daran erinnerte, dass die Footballsaison begonnen hatte.

Sein Sturz vom Olymp der Footballspieler hatte vor vier Jahren und direkt nach jenem schicksalhaften Anruf begonnen. Zwei Jahre später war er ganz unten aufgeschlagen und hatte seine Sportlerkarriere an den Nagel hängen müssen. Bis heute spürte er den bitteren Nachgeschmack.

Er fluchte in den Kaffeebecher, den er an seinen Mund gesetzt hatte. Der aufsteigende Dampf nahm ihm für eine Sekunde die Sicht, aber nicht einmal das ferne Tosen des Wasserfalls konnte das Brummen eines näher kommenden Autos übertönen.

Ein SUV hielt direkt hinter den Pfeilern aus aufgestapelten Flusssteinen, die den Fußweg zu seinem Haus flankierten. In dieser bergigen Gegend waren die Straßen eng und kurvig, und fast jeder hier fuhr eine Art Geländewagen.

Aber dies war kein Standardmodell, sondern neu und mit einem schwarz lackierten fetten Kühlergrill und dazu passenden Felgen ausgestattet. Beides zusammen schrie: Aufgepasst. Ich bin ein harter Hund.

Zach kommentierte dieses Imponiergehabe mit einem verächtlichen Schnaufen. Drei Viertel seines Lebens hatte er damit zugebracht, Spielern der Defense auszuweichen, die nur ein Ziel hatten: den Quarterback außer Gefecht zu setzen. Aber er war niemals wehrlos zu Boden gegangen und würde es auch heute nicht tun. Wer der Typ auch sein mochte, und ganz gleich, wie glatt seine Verkäufersprüche waren, die Antwort würde Nein lauten.

Sie stieg aus. Sie.

Die ersten drei Abgesandten, die GreenRidge Incorporated losgeschickt hatte, waren joviale onkelhafte Typen gewesen, die nostalgisch über Zachs ruhmreiche Zeiten auf dem Spielfeld schwadroniert hatten.

Nachdem der leutselige Ansatz nicht zum Erfolg geführt hatte, hatten sie einen coolen Dude im Sportwagen und mit Pilotenbrille ausgesandt, der Wolken von Eau de Cologne und genauso viel wolkiges Blabla ausgedampft hatte.

Ihm war eine Frau um die fünfzig mit mütterlicher Ausstrahlung gefolgt, die ihm angeboten hatte, ihm einen Sonntagsbraten zu machen. Danach eine attraktive Geschiedene, die sich durchs Leben kämpfen musste, zwei Kinder auf dem College hatte und deren Ex ständig mit den Alimenten im Verzug war. Auch ihr unverhohlener Appell an Zachs weiches Herz war fehlgeschlagen.

Als Nächstes war eine Sexbombe gekommen. Er hatte den Verdacht, dass sie eher auf Stundenbasis und nicht auf Kommission arbeitete, denn ihre nicht allzu subtile Körpersprache hatte deutlich signalisiert: Wenn du hier unterschreibst, kannst du alles von mir haben. Er hatte den Vertrag wie auch ihr Angebot dankend abgelehnt.

Und sie hier war offenbar die Nachfolgerin der Sexbombe. Ihr Eintreffen vermieste ihm den friedlichen Morgen, aber er war auch neugierig, welchen Ansatz sie wählen würde. Er stellte den Kaffee auf dem Baumstumpf ab, den er genau zu diesem Zweck hier postiert hatte, und verschränkte abwartend die Arme.

Sie kam hinter der Motorhaube ihres SUV hervor und lächelte ihn an. »Mr. Bridger? Zachary Bridger? Guten Morgen.«

»Ich verkaufe nicht.«

Sie war jetzt auf einer Höhe mit den Natursteinpfeilern, blieb dazwischen stehen und schüttelte leicht den Kopf. »Verzeihung?«

»Es ist nicht zu verkaufen. Vielleicht drehen Sie also besser um, bevor Sie noch versinken.« Er deutete auf die Absätze ihrer High Heels, die sich in den wassergetränkten Erdstreifen zwischen den Pflastersteinen gebohrt hatten.

Das schien sie nicht zu beunruhigen. Und auch nicht abzuschrecken. Sie zog erst einen Absatz aus dem Schlamm, dann den anderen und ging dann auf Zehenspitzen weiter, was bei der Höhe ihrer Absätze bestimmt nicht einfach war.

Nicht dass die High Heels sie viel größer gemacht hätten. Als sie ihn erreicht hatte, musste sie trotzdem den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. So wie fast alle Menschen. Aber sie musste den Kopf weiter zurückbiegen als die meisten.

»Mr. Bridger, mein Name ist Kate Lennon.«

Sie reichte ihm eine Visitenkarte. Er nahm sie entgegen und steckte sie ungelesen in die Tasche seines Flanellhemds. Ihre ausgestreckte Hand ignorierte er.

»Wann gebt ihr endlich auf?« Er schwenkte eine Hand über das Panorama. »Warum sollte ich je von hier wegziehen wollen?«

Sie zog die Hand zurück, ließ den Ausblick auf sich wirken und schaute dabei mehrere Sekunden lang auf den Wasserfall, ehe sie sich ihm wieder zuwandte. »Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie dazu bewegen könnte. Dieses Fleckchen ist atemberaubend.«

»Genau. Und was noch wichtiger ist, es gehört mir, und es wird mir bis zu meinem letzten Atemzug gehören. Kapiert?«

Falls ihr Zurückzucken irgendwas verriet, dann hatte sie kapiert. Gut. Damit war das geklärt.

Trotzdem hatte er das Gefühl, eine Fee geohrfeigt zu haben. Mit ihrem Elfenhaar, dem herzförmigen Gesicht und so weiter. Und das ununterbrochene Brausen des fernen Wasserfalls entschuldigte seine Lautstärke kaum. Eigentlich gar nicht. »Hören Sie, ich möchte nicht unhöflich sein, aber …«

»Aber Sie sind es. Unhöflich, meine ich.« Sie zupfte einen verschlossenen grauen Umschlag aus ihrer übergroßen Schultertasche. »Ich persönlich nehme Ihnen das nicht übel, aber unter den gegebenen Umständen ist Ihr Verhalten eindeutig unangebracht.«

Schnell und präzise wie ein Center beim Football klatschte sie ihm den Umschlag an die Brust. Er presste ihn intuitiv an sein Hemd, weil er keinen Fumble riskieren wollte.

»Der Umschlag enthält mehrere Dokumente, aber besonders wichtig ist …«

»Ich hab sie schon mal gesehen«, unterbrach er sie.

»Ja, aber das ist einige Zeit her.«

»Ich habe ein gutes Gedächtnis.«

»Exzellent. Das wird Ihnen helfen …«

Er riss den Umschlag mitsamt allen Dokumenten in zwei Hälften und ließ sie zu Boden segeln.

Sie senkte langsam den Kopf und blickte auf die beiden Hälften, dann hob sie den Kopf genauso langsam wieder an und starrte ihm genauso unverwandt in die Augen wie er ihr.

Und er hatte gedacht, der Himmel wäre kristallblau.

»Morgen Vormittag um zehn Uhr.«

Er baute sich etwas breitbeiniger, selbstbewusster auf, was allerdings nichts brachte, da sie ihm bereits den Rücken zugedreht hatte. »Morgen um zehn ist was?«

»Da sprechen wir uns. Die Adresse steht hinten auf der Visitenkarte. Zimmer zwei-null-drei.«

»Machen Sie sich keine Hoffnungen.«

Er wollte ihr etwas hinterherrufen, etwas Handfestes, aber er wurde abgelenkt von ihren Wadenmuskeln, die unerwartet klar definiert und außerdem stark genug waren, um sie auf Zehenspitzen zu ihrem SUV zu tragen.

Und dann fiel ihm ihr Hintern auf. Politisch korrekt oder unkorrekt, er war eindeutig kein Mönch, und der Anblick zeigte Wirkung.

Er wartete ab, bis sie ihren SUV gewendet hatte und auf demselben Weg verschwand, auf dem sie gekommen war. Dann hob er die Hälften des Umschlags auf und nahm sie mit ins Haus.

Aus purer Neugier warf er die Papiere nicht sofort in den Papierkorb. Stattdessen ließ er sie auf die Kücheninsel segeln, schenkte sich Kaffee nach und setzte sich auf den Hocker an der Theke, auf dem er immer saß. Niemand außer Bing hatte je auf einem der anderen Hocker gesessen.

Er nahm einen Schluck Kaffee und zog dann die Blätter aus den beiden Umschlaghälften. Die offiziell aussehenden Seiten waren zusammengeheftet worden, nur das Begleitschreiben lag lose bei. Er legte die beiden zerrissenen Hälften übereinander. Bevor er auch nur einen Blick auf den Text warf, inspizierte er die Unterschrift. Kate Lennon stand in schwarzer Tinte unter einem getippten: Mit freundlichen Grüßen, Kathryn Cartwright Lennon.

»Also, Kate Lennon, was hast du mir zu bieten?«

Und dann las er den Briefkopf.

Das Gerichtsgebäude in der Stadtmitte wirkte ehrwürdig und durchaus imposant für ein größtenteils ländliches, dünn besiedeltes County, das im Schatten der Blue Ridge Mountains im Westen von North Carolina lag. Die Fassade war aus rotem Backstein und hatte über dem Eingang ein Giebeldreieck, das von vier weißen Säulen getragen wurde.

Allerdings hatte Kathryn Lennon ihn nicht hierher bestellt. Die Adresse, die sie handschriftlich angefügt hatte, befand sich direkt gegenüber. Und dieses Gebäude gehörte zu den hässlichsten, die Zach je gesehen hatte.

Die zwei Stockwerke sahen aus, als hätte jemand sie platt gedrückt, damit sie zwischen das Flachdach und den Bürgersteig passten. Eine Fassade, die diesen Namen verdient hätte, gab es nicht, nur eine Fensterreihe, die sich links und rechts einer Glastür erstreckte, auf der mit goldenen Lettern festgehalten war, dass sich hier das Büro des Bezirksstaatsanwalts befand.

Drinnen roch es wie in allen alten Verwaltungsgebäuden: muffig, metallisch und modrig. Zach nahm zwei Stufen auf einmal. Der lange Korridor im Obergeschoss war mit abgewetztem Teppichboden belegt, der seine Schritte dämpfte, während er auf Zimmer 203 zusteuerte. Die Tür war angelehnt. Er lockerte kurz seine Schultern, ließ den Kopf kreisen und klopfte dann an.

»Herein.«

Er drückte die Tür auf, blieb aber auf der Schwelle stehen. Das Büro war klein und uncharmant wie das ganze Gebäude, aber immerhin roch es besser. Eine Duftkerze flackerte auf dem Fensterbrett hinter dem Eckschreibtisch.

Kate Lennon wandte sich von dem Computer auf dem Seitentisch ab und drehte ihren Stuhl dem eigentlichen Schreibtisch zu. Und ihm.

Sie sah praktisch genauso aus wie gestern. Kurzes platinfarbenes Haar, das über dem Scheitel fedrig nach oben stand und an den Seiten glatt über ihre Wangen fiel. Kleine Ohrstecker. Eine funktionale Uhr am linken Handgelenk, ein dünnes Armband am rechten. Eine taillierte Kostümjacke, die mit den zweireihigen Messingknöpfen auf dem dunkelblauen Stoff beinahe militärisch wirkte.

Er konnte nicht unter den Schreibtisch sehen, aber er hätte gewettet, dass die untere Hälfte ihres Kostüms genauso eng anlag wie der Rock gestern und dass sie wieder High Heels trug, die genauso arrogant wirkten wie der Kühlergrill ihres SUV.

Neu war die rot gerahmte Brille, die sie absetzte und auf den Schreibtisch legte, bevor sie ihn kühl begrüßte: »Guten Morgen, Mr. Bridger. Danke, dass Sie pünktlich gekommen sind.«

»Kein Problem. Ich konnte es kaum erwarten.«

»Bitte schließen Sie die Tür, und setzen Sie sich.«

Er trat ein, drückte die Tür etwas energischer zu als nötig und setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Dabei rumpelten seine Knie gegen die Verblendung. Weil sie nicht mitbekommen sollte, wie peinlich ihm das war, gab er sich verärgert und schob den Stuhl übertrieben umständlich zurück, um Platz für seine langen Beine zu haben.

Falls sie es bis dahin nicht bemerkt hatte: Er war angefressen.

»Ich würde Ihnen ja Kaffee anbieten, aber die Brühe, die sie in der Kaffeeküche brauen, ist wirklich grausam, und …«

»Nein danke.«

»Wasser? Ich habe …«

»Nein danke.«

Sie faltete die Hände auf dem Schreibtisch und senkte den Kopf, als würde sie stumm um Geduld beten oder bis zehn zählen. Dann sah sie wieder auf und fragte: »Haben Sie das Dokument gelesen?«

»Ja, Madam. Ich habe in der Küchenschublade eine Rolle Klebeband gefunden und es wieder zusammengeklebt. Es war nicht das, was ich erwartet hatte.«

»Was hatten Sie denn erwartet?«

»Eine Markteinschätzung, einen Grundbuchauszug, eine Flurkarte. Etwas in der Richtung.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ist auch nicht nötig. Wir können diesen Teil überspringen. Er tut nichts zur Sache.«

»Na schön«, sagte sie. »Ich hatte mehrere Passagen markiert, die ich …«

»Neongelb. Unübersehbar.«

»… mit Ihnen besprechen muss. Haben Sie sich damit vertraut gemacht?«

»Ich wusste bereits, was darin steht.« Er griff in die Innentasche seines Blazers, zog die zusammengeklebten Seiten heraus, legte sie auf den Schreibtisch und schob sie ihr mit einer abwehrenden Geste zu. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, weshalb Sie bei mir zu Hause aufgekreuzt sind und mir das vor den Latz geknallt haben.«

»Das ist die Kopie einer Patientenverfügung, Mr. Bridger. Unterzeichnet von der Vollmachtgeberin und zwei Zeugen.«

»Meinetwegen könnte sie in Stein gemeißelt sein. Sie ist nicht mehr von Bedeutung.«

»Lassen Sie sich versichert sein, das ist sie.«

»Lassen Sie sich versichert sein, das ist sie nicht. Seit Jahren nicht mehr. Vier Jahren, um genau zu sein.«

»Ich hätte Sie nicht aufgesucht, wenn sie nicht noch gültig und extrem wichtig wäre. Die einzelnen Punkte des Dokuments …«

»Sie brauchen mich nicht daran zu erinnern. Das hat Doug Pratt bereits erledigt. Dem ganzen beschissenen Universum hat er jeden einzelnen Punkt vorgetragen. Es war eine eindrucksvolle Szene, die er da im Krankenhausflur aufgeführt hat. Ein Dutzend Leute haben sie mit ihren Handys aufgezeichnet und an den Meistbietenden verhökert. Sie haben diese Videos bestimmt schon gesehen.«

Sie antwortete nicht, aber er erkannte an ihrer leicht schuldbewussten Miene, dass sie von seinen vielen hitzigen Gefechten mit Rebeccas Vater wusste. Alle hatten Brandblasen hinterlassen, aber die erste war besonders schmerzhaft gewesen.

Offenbar hatte Doug damals von seiner Ankunft im Krankenhaus erfahren, denn er hatte im vierten Stock vor dem Aufzug auf ihn gewartet. Die Aufzugtüren hatten sich noch nicht ganz geöffnet, da war er schon voller Hass und Zorn mit Anklagen und Vorwürfen auf Zach losgegangen, bevor dieser auch nur die grausamen Details der Situation oder von Rebeccas Zustand erfahren hatte.

Die von den Umstehenden aufgenommenen Videos waren im Fernsehen übertragen und unendlich oft in allen sozialen Medien verbreitet worden. Sie kursierten bis heute und würden das bis ans Ende der Zeit tun.

Er wiegte sich leicht auf seinem Stuhl vor und zurück, um seinen Zorn im Zaum zu halten. »Damals habe ich Rebeccas Schicksal in die Hände ihrer Eltern gelegt, denn die hätten meiner Meinung nach von Anfang an darüber entscheiden sollen. Ich weiß nicht, wieso Sie sich mit dieser Sache befassen, Ms. Lennon, aber Sie müssen nicht mit mir, sondern mit Pratt sprechen.«

Sie zögerte kurz, schob die Seiten dann wieder über den Schreibtisch und drückte sie mit der flachen Hand auf die Tischplatte, um sie vor ihm in Position zu halten.

»Das Originaldokument ist noch gültig, und damit sind es auch die Bestimmungen, die darin festgehalten sind, Mr. Bridger. Ausgestellt wurde es im November …«

»… vor neun Jahren, inzwischen fast vor zehn.« Auf einmal wurde ihm der vollgestellte Raum zu eng, darum schob er den Stuhl zurück und stand auf. »Nur ein paar Monate – man hätte fast noch die Tage zählen können – nach dieser …« Er deutete auf die Papiere. »Wie haben Sie das noch genannt?«

»Vorsorgevollmacht. In diesem Fall eine medizinische Vollmacht.«

»Richtig. Also, praktisch bevor die Tinte getrocknet war, hatten Rebecca und ich uns getrennt. Scheiden lassen. Wir waren nicht mehr verheiratet. Wir waren gar nichts mehr.«

»Das ändert nichts, Mr. Bridger. Zwar wären in dem Bundesstaat, in dem dieses Dokument aufgesetzt wurde, diese Vollmacht, jedes Testament sowie alle anderen Verfügungen mit der Scheidung automatisch ungültig geworden, aber nur solange keine anderweitige Verfügung getroffen wurde.«

Sie legte eine Pause ein, um ihre Worte wirken zu lassen. »Rebecca Pratt Bridger erließ eine sogenannte Vorbehaltsklausel, dass Sie selbst im Falle einer Scheidung ihr Bevollmächtigter bleiben sollten, was bei einer Vorsorgevollmacht durchaus möglich ist. Sie gab auch keinen Ersatzbevollmächtigten an. Sie hat allein Ihnen die Entscheidung über alle medizinischen Maßnahmen und über ihr mögliches Lebensende anvertraut, falls sie irgendwann nicht mehr in der Lage sein sollte, diese Entscheidungen selbst zu fällen.«

Er schnaubte abfällig. »Lassen Sie sich nicht täuschen. Vertrauen hatte nichts damit zu tun. Oder Gefühl. Oder Zuneigung. Rebecca hat in ihrem ganzen Leben nichts Uneigennütziges getan. Indem sie diese Vorbehaltsklausel, wie Sie es nennen, unterschrieb, hat sie sich die Kontrolle über mich gesichert, nicht andersherum.«

Er drehte eine winzige Runde durch den Raum und kam danach mit dem Gesicht zur Wand zu stehen. Erst fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare, dann stemmte er die Hände in die Hüften, ließ den Kopf hängen und atmete mehrmals tief durch, um die Fassung wiederzugewinnen.

Er hatte geglaubt, er hätte mit allem abgeschlossen, er hatte geglaubt, für ihn sei die Sache erledigt, nachdem er mit Rebeccas Eltern und mit sich selbst einen brüchigen Frieden geschlossen hatte. Aber ab und zu wurde er hinterhältig an damals erinnert, und jedes Mal traf ihn die Erinnerung mit derselben Wucht wie an jenem Tag vor vier Jahren, als er vor eine Entscheidung gestellt wurde, an der selbst Salomon verzweifelt wäre.

Ms Kate Lennon hatte sich ein paar Sympathiepunkte verdient, denn immerhin ließ sie ihm Zeit, zu verarbeiten, dass sie gerade die schlimmsten, folgenreichsten Tage seines Lebens heraufbeschworen hatte.

Gewöhnlich lagerten diese Erinnerungen in seinem Unterbewusstsein wie in einem tiefen, dunklen Kaninchenbau. Und dort ließ er sie möglichst ruhen, denn immer, wenn er sich dorthin vorwagte, kostete es ihn ungeheure Kraft, wieder aus diesem Loch herauszukrabbeln. Jeden Tag während der letzten vier Jahre hatte er sich damit abgemüht. Manchmal hatte er es fast geschafft, doch regelmäßig zerrte ihn etwas – oder jemand, so wie diese engelsgesichtige Botin der Hölle – zurück in den Abgrund. Er musste sie zur Einsicht bringen.

Er wandte sich ihr wieder zu. »Ms Lennon, offenbar ist Ihnen nicht klar, dass Rebecca und ich uns im Streit getrennt hatten. Als endlich alles vorbei war, haben wir uns aus tiefstem Herzen gehasst. Wir wollten nichts mehr miteinander zu tun haben. Absolut nichts. Und schon gar nicht …« Er deutete wieder auf die Vollmacht. »Schon gar nicht hätten wir uns gegenseitig so wichtige Entscheidungen anvertraut.«

»Dann hätten Sie die Vollmacht gemeinsam widerrufen sollen.«

»Genau das habe ich auch getan. Direkt nach der Scheidung.«

»Aber Rebecca nicht.«

»Ich habe sie über unsere Anwälte immer wieder daran erinnert.«

»Vergeblich, so wie es aussieht.«

»Die Scheidungspapiere hatte sie sofort unterzeichnet. Damals wartete schon ihr nächster Lover hinter dem Vorhang. Nicht dass mir das viel ausgemacht hätte. Ich wollte nur noch raus aus dieser Ehe, darum habe ich damals alles bezahlt, was ihr Drachen von Scheidungsanwältin verlangte. Und zwar nicht über mehrere Jahre hinweg. Ich wollte die Sache ein für alle Mal hinter mich bringen, deshalb beglich ich alles auf einen Schlag, und damit war der Fall erledigt. Danach hatten wir keinen Kontakt mehr. Null. Keinen einzigen.«

Er verstummte und wandte kurz den Blick ab, dann sah er ihr wieder ins Gesicht. »Nicht, bis ich fünf Jahre später auf den Cayman Islands Urlaub machte und aus heiterem Himmel nach Atlanta beordert wurde, wo man mir eine schreckliche Verantwortung übertrug, die ich liebend gern abgelehnt hätte und die Rebecca mir auf keinen Fall in die Hände hatte legen wollen, ganz gleich, was sie anderweitig verfügt hatte, was sie damals übrigens aus reinem Trotz getan hat. Sie wissen genau, was passiert ist, als ich im Krankenhaus auftauchte. Die öffentliche Moralpredigt ihres Vaters sagte alles, meinen Sie nicht auch? ›Gott, und nur Gott, wird Rebecca zu sich rufen, wenn ihre Zeit gekommen ist!‹« Er hielt wieder inne und atmete tief durch. »Ihre Prognose war verheerend. Tragisch. Gegen die Empfehlungen sämtlicher Ärzte, die sie untersucht und diagnostiziert hatten, habe ich mich daran gehalten«, sagte er und deutete wieder auf das Dokument, »genau, wie ihre Eltern es von mir verlangten. Danach überließ ich ihnen nur zu gern alle weiteren Entscheidungen.«

Kate Lennon holte tief Luft und hielt sie sekundenlang an, ehe sie wieder ausatmete. Sie klopfte auf das Dokument. »Mit einer mündlichen Erklärung lässt sich das hier nicht widerrufen, Mr. Bridger. Hätten Sie Ihre Verantwortung wirklich abtreten und Ihr Amt als Bevollmächtigter niederlegen wollen, dann hätten Sie und die Eltern eine gerichtliche Petition einreichen müssen, um die Vollmacht an die beiden zu übertragen.«

»Ich hätte bestimmt nichts dagegen unternommen, aber damals überschlugen sich die Ereignisse, es ging drunter und drüber, und vor Gericht zu gehen wäre völlig überflüssig gewesen, weil ich mich den Wünschen der Familie nicht widersetzt hatte.«

»Dann ist dieses Dokument immer noch wirksam.«

»Okay, aber ich habe Ihnen eben erklärt, dass ich eine Vereinbarung mit den Pratts getroffen habe. Wo liegt also das Problem?«

Sie stand hinter dem Schreibtisch auf, als wollte sie etwas offiziell verkünden. »Es gibt eine neue Entwicklung, auf die ich Mr. Pratt bereits hingewiesen habe. Und ich wollte sie Ihnen persönlich mitteilen.«

»Warum?«

»Weil es gut möglich ist, dass Sie daraufhin die Entscheidung widerrufen möchten, die Sie vor vier Jahren gefällt haben. Vielleicht werden Sie zu dem Schluss kommen, dass es tatsächlich in Rebeccas bestem Interesse ist, sie nicht länger am Leben zu erhalten.«

Kapitel 3

Auf ihren Vorschlag hin gingen sie über den Platz in ein schnuckeliges Café namens Wholly Ground. Es war Zach schon zuvor aufgefallen, aber weil er nicht in solchen Lokalen verkehrte, war er noch nie hier gewesen. Sie bestellte irgendwas Koffeinfreies mit fettarmer Milch und Vanillearoma. Er einen gewöhnlichen schwarzen Kaffee.

Unter den Gästen waren zwei ältere Herrschaften, die gemeinsam über einem Kreuzworträtsel brüteten, ein Trio von Frauen in Sportkleidung und mehrere junge Leute mit Ohrhörern und Laptops, die wahrscheinlich am hiesigen College studierten.

Kate Lennon fügte sich hier hervorragend ein, er hingegen fühlte sich in dem beengten Ambiente fehl am Platz. Gott sei Dank erkannte ihn niemand. Er hatte keine Lust, Autogramme zu geben, mit einem Fremden für ein Selfie zu posieren oder gar Fragen zu beantworten, was er mit seinem Leben vorhatte.

Im Augenblick wollte er nur wissen, was Kate Lennon vorhatte.

Sie bestand darauf, zu zahlen, und er ließ sie. Während sie ihm den verschlossenen Kaffeebecher reichte, fragte sie ihn, ob es ihm recht wäre, wenn sie sich nach draußen setzten. Er nickte und ließ sie vorangehen. Sie traten durch eine Tür in einen Innenhof, der mit vermoosten Backsteinen gepflastert und von efeubewachsenen Mauern eingeschlossen war. Außer ihnen war niemand hier.

»Hier werden wir nicht belauscht«, sagte sie, nachdem sie sich an einem schmiedeeisernen Tisch niedergelassen hatten, der kleiner war als eine durchschnittliche Pizza.

Er merkte, dass sein streichholzdünner Stuhl auf den unebenen Steinen kippelte. »In Ihrem Büro hätte uns auch niemand belauscht.«

Sie stellte ihre Tasche neben dem Stuhl ab, zu ihren Füßen, die wie erwartet in High Heels steckten. Die untere Hälfte ihres Kostüms bestand heute nicht aus einem eng anliegenden Rock, sondern aus einer engen Hose, die ihrer schlanken Figur nicht weniger schmeichelte.

»Ich dachte, Sie würden lieber an der frischen Luft bleiben.« Sie löste den Plastikdeckel von ihrem Kaffee, pustete in den Becher und trank einen Schluck, wobei ein Schaumbart an ihrer Oberlippe zurückblieb. Gedankenverloren leckte sie ihn ab.

Sein Blick folgte unwillkürlich ihrer Zunge, aber die Ablenkung hielt nur kurz an. »Die frische Luft ist wirklich angenehm«, sagte er. »Aber ich will vor allem, dass Sie diese Vollmacht widerrufen, und zwar endgültig. Wir werden diese Petition einreichen, von der Sie gesprochen haben. Bestimmt werden Doug und Mary einverstanden sein, sie sind mit Sicherheit froh, wenn sie offiziell die Vormundschaft für Rebecca übernehmen können.«

Sie legte den Kopf schief und sah ihn verwundert an. »Wussten Sie das nicht? Mary Pratt ist verstorben.«

Das saß wie ein Kinnhaken. »Mary ist gestorben? Wann?«

»Vor ein paar Monaten. Im April.«

»Das hat mir niemand erzählt. Woran denn?«

»In der Todesanzeige stand: ›nach langer Krankheit‹, aber nicht, was für eine Krankheit es war oder wie lange sie daran litt.«

Er drehte den Kopf zur Seite. Es überraschte ihn, wie sehr es ihn traf, dass ihm das niemand erzählt hatte.

Sie schien seine Gedanken zu ahnen. »Mr. Pratt hätte Sie höflichkeitshalber informieren sollen.«

»Wahrscheinlich dachte er, dass er mir keinerlei Höflichkeit schuldet. Also kümmert er sich inzwischen allein um alles?« Wobei mit »alles« Rebecca gemeint war.

»Schätzungsweise.«

Er griff nach seinem Kaffee, zog den Deckel ab und stellte den Becher zurück, ohne getrunken zu haben. »Vier Jahre sind eine unendlich lange Zeit, wenn ein geliebter Mensch in Rebeccas Zustand verharren muss. Hat Doug seine Einstellung inzwischen überdacht?«

»Als ich mit ihm gesprochen habe, deutete nichts darauf hin, dass er seine Meinung geändert haben könnte.«

Zach atmete etwas leichter. Solange Doug so stur blieb, blieb Zach die letzte, schwerste Entscheidung erspart.

Aber er hatte immer noch keine Erklärung für dieses Gespräch. »Und was wollen Sie von mir, wenn sich nichts am Status quo geändert hat? Wieso mischt sich plötzlich die Staatsanwaltschaft ein?«

»Dazu komme ich gleich.«

»Bitte.« Er lehnte sich gegen die lamellierte Rückenlehne, nahm die Haltung eines aufmerksamen Zuhörers ein und hoffte gleichzeitig, dass der wacklige Stuhl nicht unter ihm zusammenbrechen würde.

»Bevor ich zu Ihnen kam«, sagte sie, »habe ich überprüft, ob Ihre Vollmacht vielleicht doch irgendwann zurückgezogen wurde. Sie haben keine Nachricht über einen Widerruf bekommen?«

»Nein.«

»Nach der Scheidung setzte Rebecca ein neues Testament auf, in dem ihre Eltern als Alleinerben benannt wurden.«

»Oh, ich weiß von dem geänderten Testament. Doug hat mir das bei einer seiner öffentlichen Tiraden um die Ohren gehauen. Er meinte, er und Mary würden Rebeccas Leben nicht verkürzen, nur weil sie ›abkassieren‹ wollten.«

»Rebecca änderte damals zwar ihr Testament, aber sonst nichts. Ich finde das eigenartig.«

»Ich nicht«, sagte er. »Sie wollte bestimmt sichergehen, dass ich keinen Heller von ihrer üppigen Scheidungsabfindung zurückbekomme.« Dann merkte er, wie rüde das klang, und seufzte. »Hören Sie, ich will nicht schlecht über sie reden. So ein Arschloch bin ich nicht. Ich bin nur ehrlich, weil ich Ihnen den nötigen Kontext geben will, damit Sie meine Beweggründe verstehen.«

»Ich verstehe Sie durchaus, und ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen.«

»Es war auch für Rebecca nicht gerade ein Picknick, mit mir verheiratet zu sein. Glauben Sie mir.«

»Ich bin nicht hier, um über Sie oder Ihre Ehe zu urteilen.«

»Ehe ist ein großes Wort für das, was uns verband. Wir waren ganze zehn Monate verheiratet, ehe wir uns wieder scheiden ließen, und die letzten drei Monate bestanden aus einer einzigen Kette von blutigen Schlachten.« Er trank zum ersten Mal von seinem Kaffee, der inzwischen kalt geworden war. »Also, wieso sind Sie zu mir gekommen? Warum ausgerechnet jetzt? Offenbar dachten Sie, dass irgendwas an dem verdammten Dokument faul ist, sonst hätten Sie nicht geprüft, ob es irgendwann widerrufen wurde.«

»Ich dachte, Ihnen sei vielleicht nicht klar, dass es immer noch in Kraft ist, oder dass Sie es vergessen hätten, aber dass dieses Thema Sie in jedem Fall aus der Fassung bringen würde.«

»Ohne Scheiß. Und es hat die Sache nicht vereinfacht, dass Sie wie ein Racheengel mit einem Stapel amtlicher Papiere aufgekreuzt sind.«

Gewitterwolken bildeten sich in den klarblauen Augen. »Geplant hatte ich, mich Ihnen behutsam, sogar mitfühlend zu nähern. Bedauerlicherweise haben Sie sich wie ein absoluter Esel aufgeführt. Ich hatte gehofft, dass Sie sich bis heute Vormittag wieder in den Griff bekommen würden. Was aber nicht der Fall ist. Und jetzt stehen wir uns wie unerklärte Gegner gegenüber, Mr. Bridger, obwohl ich eigentlich gehofft hatte, dass wir uns gegenseitig in einer Situation helfen könnten, die sensibel, kontrovers, explosiv und emotional extrem belastend zu werden droht.«

Die besten Tackler in der Geschichte des American Footballs hatten sich an ihm die Zähne ausgebissen, aber sie hatte ihn mit ein paar spröden Sätzen von den Beinen geholt. Eine Elfe hatte ihn zu Fall gebracht.

Er hielt ihrem genervten Blick stand und fragte, als sie ihren Blick genauso wenig senkte: »Woher kommt eigentlich das Cartwright?« Als sie ihn überrascht ansah, erklärte er: »Auf dem Begleitschreiben stand Ihr voller Name. Ist das Ihr Mädchenname?«

»Mein zweiter Vorname.«

»Das ist ein Vorname?«

»Wie er in meiner Geburtsurkunde steht.«

»Was hat Ihre Eltern an Sue oder Beth oder Jane gestört?«

Sie schenkte ihm den Anflug eines Lächelns. »Gar nichts. Das sind sehr schöne Namen.«

»Für kleine Babys. Cartwright andererseits …«

»Ich wurde nach meinem Großvater mütterlicherseits benannt.«

»Hm. War der auch Anwalt?«

»Richter.«

»Hm.« Er trank wieder einen Schluck Kaffee und setzte den Becher übertrieben vorsichtig ab. »Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich gestern, als ich mich wie ein absoluter Esel aufgeführt habe, nicht wusste, was in dem Umschlag steckte, den Sie mir an die Brust gedrückt hatten. Ich dachte, Sie wären als Köder vorgeschickt worden.«

»Als Köder?«

Er wedelte abwehrend mit der Hand. »Das hat hiermit nichts zu tun.«

»Die Grundbuchauszüge und topografischen Karten?«

Er sah keinen Grund, ihr die Sache nicht zu erklären, und zuckte mit den Achseln. »Die Unternehmensgruppe, die auf der anderen Seite des Bergs eine neue Siedlung errichtet, hat auch auf meine Bergseite ein Auge geworfen.«

»Der Ausblick ist bestimmt begehrt.«

»Und diese Leute lassen sich nicht abwimmeln.«

»Sie glauben, dass jeder Mensch seinen Preis hat.«

Er legte die Fingerspitzen um den Rand des Bechers und drehte ihn abschnittsweise. »Wir drücken uns vor dem eigentlichen Thema, habe ich recht?«

»Ja.« Sie setzte sich aufrecht hin, atmete tief durch und entspannte sich wieder.

Dabei wurde sein Blick auf die beiden Messingknöpfe oben an ihrem Sakko gelenkt. Die topografische Anordnung, die ihm sofort in den Sinn kam, hatte nichts mit seinem Berg zu tun.

»Unter diesen Umständen«, sagte sie, »verzeihe ich Ihnen Ihr unhöfliches Verhalten.«

»Danke.« Er tat so, als hätte er nicht auf ihren Busen gestarrt. »Fortan werde ich mich bemühen, mich nicht mehr wie ein absoluter Esel aufzuführen, und mich darauf beschränken, mich wie ein gewöhnlicher Esel aufzuführen.«

Wieder schenkte sie ihm ein angedeutetes Lächeln, während sie den Kopf senkte und mit ihrem Ohrstecker spielte, einer kleinen goldenen Perle. Bei jeder anderen Frau hätte die Geste kokett gewirkt. Aber bei ihr wirkte es so, als müsste sie kurz ihre Gedanken sammeln. Als sie ihn wieder ansah, war sie durch und durch professionell.

»Beginnen wir mit der Ausstellung der medizinischen Vollmacht. Wie kam es dazu?«

»Ist das wichtig?«

»Möglicherweise.«

»Für das, worüber wir sprechen wollen? Irgendwann? In nicht allzu ferner Zukunft, hoffe ich?«

»Das hörte sich nach absolutem Esel an.«

Er lachte kurz auf, stemmte dann die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor, wobei er inständig hoffte, dass der Tisch nicht umkippen würde. »Sie wissen, dass ich Footballprofi war?«

Sie sah ihn vielsagend an.

»Okay. Wir spielten auswärts in Detroit. Im zweiten Quarter prallte unser Safety, ein Wahnsinnstyp namens Chadwick mit einem Wahnsinnstalent, mit einem Runningback des gegnerischen Teams zusammen. Beide liefen volles Tempo, denn der Runningback war schon unterwegs in Richtung Endzone, und Chadwick war unsere letzte Hoffnung, einen Touchdown zu verhindern. Jedenfalls prallten sie zusammen, und Chadwick brach sich die Wirbelsäule. Man konnte es bis zum Spielfeldrand hören. Seither ist er querschnittsgelähmt.«

Sie murmelte etwas Unverständliches, das Mitgefühl ausdrückte.

»Der Heimflug schien kein Ende zu nehmen. Als ich endlich nach Hause kam, weckte ich Rebecca und sagte ihr, dass wir uns unterhalten müssten. Sie war im Tiefschlaf, hatte eine halbe Flasche Wodka intus. Und vermutlich ein paar Pillen. Sie war grätig, sie sagte, sie hätte keine Lust, zu reden, und ob das nicht bis zum Morgen warten könnte. Ich sagte Nein. Ich sagte ihr, wir würden so schnell wie möglich zum Anwalt gehen. ›Gleich morgen‹, sagte ich. Sie fragte wieso. Ich sagte ihr, wir müssten uns gegenseitig eine Generalvollmacht ausstellen. Ich kannte den Begriff damals noch nicht, aber so etwas hatte ich im Sinn.« Er starrte in seinen Kaffee. »Football ist ein Kontaktsport. Du brauchst nur einmal nach links zu laufen, wenn du nach rechts laufen solltest, und schon bist du für alle Zeiten aus dem Spiel. Deine Karriere ist zu Ende, dein bisheriges Leben ist zu Ende, Punkt. Dieses Risiko ist immer da, wenn du am Ball bist. Allerdings gehst du ein noch größeres Risiko ein, wenn du ins Auto steigst, um Milch zu holen. Oder wenn du dich unter die Dusche stellst, verflucht noch mal.« Er verstummte, weil er mit Widerspruch rechnete. Als keiner kam, sprach er weiter.

»Was Chadwick zugestoßen war, hat mir zugegebenermaßen schwer zugesetzt. Der Unfall passierte schneller als ein Wimpernschlag, aber es war ein lebensverändernder Wimpernschlag, und danach gab es kein Zurück. Ich dachte nicht ans Aufhören, aber mir ging sehr wohl durch den Kopf, was ich wollen würde, wenn ich mir eine Kopfverletzung zuziehen sollte und danach komplett gelähmt wäre. Oder nicht mehr ansprechbar. Ich wollte eine Vollmacht ausstellen, aber ich wollte die Entscheidung keinesfalls Rebecca überlassen, die sich schon schwertat zu entscheiden, in welcher Farbe sie ihre Zehennägel lackieren sollte. Ich fragte meinen alten Coach Ned Bingham, ob er mein Bevollmächtigter sein wollte. Und meinen Agenten setzte ich als Ersatzbevollmächtigten ein.«

»Und Rebecca hat Ihnen das nicht verübelt?«

»Sie wusste nichts davon. Es war ihr egal. Unsere Ehe war damals schon gefährlich ins Wanken geraten.«

Kate Lennon zog eine Braue hoch. »Hört sich nach einem Erdbeben an.«

»Stimmt. Unsere Trennung hätte fast die Richterskala gesprengt.« Er lachte humorlos, kniff ein Auge zusammen und betrachtete sie eingehend. »Sind Sie überhaupt alt genug, um sich daran zu erinnern?«

»Ich war im College, als Sie den Super Bowl geholt haben. Und kein Gesetzbuch konnte damals gegen die neueste Ausgabe von People anstinken.«

Stöhnend zog er die Finger über sein Gesicht.

»›Sexiest Man Alive‹«, zitierte sie und schnalzte mit der Zunge.

»Mein Name stand ganz unten auf der Liste. Auf Platz zweiundvierzig, wenn ich mich recht erinnere.«

»O nein, Sie waren auf Platz fünf, und die Konkurrenz war in diesem Jahr besonders stark.«

Er schnaubte und grinste kurz, fand das aber tatsächlich nicht besonders lustig. Er hatte zwar damals im Rampenlicht gestanden, aber gleichzeitig war sein Privatleben in aller Öffentlichkeit und vor Millionen Augen vor die Hunde gegangen. Es war schwer, über irgendetwas zu lächeln, was sich in der kurzen, aber extrem explosiven Zeit mit Rebecca zugetragen hatte.

»Zurück zu den Vollmachten«, sagte er. »Tatsächlich schwänzte Rebecca damals den Anwaltstermin. Ich ging trotzdem hin und ließ alle meine Vollmachten aufsetzen und notariell beglaubigen, mit allem Drum und Dran. Der Anwalt schickte mich mit einem Standardformular nach Hause, das sie ausfüllen sollte. Ich ging es mit ihr durch, erklärte ihr die Grundlagen, besprach dann jeden einzelnen Punkt mit ihr und machte ihr deutlich, wieso er wichtig war.«

»Warum wurden in ihrer Vollmacht alle Abschnitte bezüglich der lebenserhaltenden Maßnahmen durchgestrichen?«

»Sie nannte das ›deprimierenden Kram‹ und weigerte sich, darüber zu sprechen. Ich drängte sie immer wieder, das zu klären, aber irgendwann gab ich auf. Nicht besonders schlau, ich weiß, aber ich machte mir mehr Sorgen, dass mir etwas zustoßen könnte als ihr. Sie sagte, sie wollte mich als Bevollmächtigten einsetzen, und ich war einverstanden. Erst viel später erfuhr ich, dass sie später zusätzlich eine ›anderweitige Verfügung‹ abgegeben hatte und ich damit für alle Zeiten ihr Bevollmächtigter bleiben sollte. Sie hat ihre Unterschrift von zwei schwachköpfigen Freundinnen bezeugen lassen. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie sich darüber amüsiert haben, dass sie mich für alle Zeiten an die Kette gelegt hatte.«

Kate Lennon lachte nicht, sondern erklärte todernst: »Vielleicht hätte Rebecca die Sache ernster genommen, wenn sie gewusst hätte, dass sie Eban Clarke begegnen würde.«

Kapitel 4

Als hätten sie durch diesen Namen einen Windgeist heraufbeschworen, frischte die Brise auf und wirbelte um sie herum. An den Mauern um den Innenhof raschelten die Efeublätter, die schon herbstlich rostrot leuchteten. Kate Lennon zog einen Schal aus ihrer Tasche, den sie kunstvoll um ihren Hals schlang.

»Falls Ihnen kalt ist, können wir auch reingehen.«

»Danke, es geht.« Sie stemmte die Fingerspitzen gegeneinander und legte ihr Kinn darauf ab. »Erzählen Sie mir, wie Sie sich fühlten, als Sie das von Rebecca erfuhren.«

»Jesus. Mies. Ich saß an einer Bar neben einem Hotelpool, als es im Fernseher kam. Seit unserer Scheidung waren Jahre vergangen. Von Rebecca hörte ich damals nur noch, wenn in den Medien über ihre Eskapaden berichtet wurde, aber dieser Moment hat sich angefühlt, als wäre ich unter einen Sattelschlepper geraten. Ich liebte sie damals schon lange nicht mehr, ich hätte auch nicht mehr sagen können, warum ich je geglaubt hatte, ich würde sie lieben, und die Zeit mit ihr war in meiner Erinnerung eine einzige Katastrophe, die ich irgendwie überlebt hatte. Aber trotzdem. Sie war mal meine Frau gewesen. Ihr Leben hing an einem seidenen Faden. Also ja, ich war geschockt. Ich versuchte, das Geschehene zu begreifen, versuchte, mir vorzustellen, was ihr Grauenvolles zugestoßen war. Dann, nur ein paar Minuten nach dieser Nachrichtensendung, wurde ich angerufen.«

»Wer rief Sie an?«

»Jemand aus dem Krankenhaus. Sie stellte sich vor und sagte … Also, ich weiß nicht mehr genau, was sie sagte, aber ich verstand, was sie mir mitteilen wollte, und in diesem Moment fiel mir diese beschissene Vollmacht ein, und ich fühlte mich, als würde ich unter einer Tonne Scheiße begraben.« Er sah sie an. »So fühlt es sich immer noch an.«

Sie kommentierte die letzte Bemerkung nicht.

Er nahm den Deckel seines Kaffeebechers vom Tisch und spielte damit. »Verzeihen Sie die deutlichen Worte.«

»Ich bin nicht zimperlich.«

Er bog die Plastikkappe zusammen und ließ sie wieder auf den Tisch fallen. »Nein, zimperlich sind Sie wirklich nicht.«

Er sagte das so scharf, dass sie die Brauen zusammenzog. »Ich bin auf Ihrer Seite, Mr. Bridger.«

»Ach wirklich? Vielleicht heben Sie am besten die Hand, wenn es so weit ist.«

Sie ging darüber hinweg. »Doug Pratt brachte eine Kopie von Rebeccas Vollmacht mit ins Krankenhaus.«

»Diese Vollmacht, in der alle Passagen über lebenserhaltende Maßnahmen durchgestrichen waren. Ich weiß noch, wie mir damals durch den Kopf ging, dass Rebecca nie glücklicher war, als wenn sie für Aufsehen sorgte, und dass sie das sogar jetzt noch tat. Klingt schrecklich, ich weiß.«

Kate Lennon machte eine verzeihende Geste.

»Die Ärzte versetzten sie in ein künstliches Koma, um dem Gehirn Zeit zur Erholung zu geben, wie sie sagten. Sie schlossen sie an die Herz-Lungen-Maschine an und meinten, sie würden ein paar Tage abwarten, dann die Maschinen abhängen und Rebecca aus dem Koma holen, um sich ein genaueres Bild zu machen. Und während dieser Tage ereiferten sich Doug und Mary und all die selbst ernannten Lebensschützer, die vor der Klinik demonstrierten, dass Rebecca diese Passagen aus einem ganz offensichtlichen Grund gestrichen hätte und dass ich an ihre Wünsche gebunden sei und alles unternehmen müsste, um sie am Leben zu erhalten. Aber die Ärzte brachten Rebeccas ›mutmaßliche Willensentscheidung‹ ins Spiel. Das heißt …«

»Sie hätten nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden sollen, was Rebecca mutmaßlich gewollt hätte, auch wenn sie keine Anweisungen hinterlassen hatte.«