Kevin fragt: "Warum bin ich anders?" - Gudrun Anders - E-Book

Kevin fragt: "Warum bin ich anders?" E-Book

Gudrun Anders

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte von Kevin und seiner Mutter Regina J. in den ersten Lebensjahren des Kindes. Kevin verhält sich seltsam und ist stark verhaltensauffällig. Für beide beginnt ein jahrelanger Spießruten-lauf zwischen Behörden, Ärzten und Betreuern, der für sie mehr als nur herausfordernd ist und unter anderem mit der Diagnose Asperger-Autismus endet. Die Mutter, die gern unerkannt bleiben möchte, schildert uns hier die Irrungen und Wirrungen auf der herausfordernden und auch anstrengenden Suche nach dem richtigen Weg für das intelligente, aber kranke Kind.

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Seitenzahl: 135

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Gudrun Anders

Kevin fragt: "Warum bin ich anders?"

Die ersten Jahre mit einem autistischen Kind

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Vorwort

„Was an mir ist anders?“

Seltsames Verhalten …

Entwicklungstherapien

Veränderungen stehen an

Kevin im Kindergarten

Stottern und 1000 Fragen

Mein Sohn ein Autist?

Mutter-Kind-Station

Ein Freund mit ADHS

Ab in die Grundschule

Familienhilfe

Die Suche nach einer Schule

Verschlimmerungen

Tourette-Syndrom

Der Weg in die Klinik

Die Fahrt zum Professor

Ein Schlachtplan für Kevin

Die Klinikzeit ist zu Ende

Back to the roots

Ein Internat für Kevin?

Das Internat

Am runden Tisch

Neues Jahr – neues Glück?

Der weitere Werdegang

Struktur und Routinen

Zwischenresümee

Autismus und die moderne Hochsensibilität

Nachwort der Mutter

Durch Schreiben ins Sein

Life is a story

Impressum neobooks

Impressum

Kevin fragt:

„Warum bin ich anders?“

Die ersten Jahre mit einem autistischen Kind

Gudrun Anders | Regina J.

Motibooks

© Alle Rechte und Copyrights bei der Herausgeberin bzw. der Erzählerin.

Nachdruck – auch auszugsweise – nicht gestattet.

Erstausgabe: 30.07.2022

Coverbild: © Pixabay.de.

Kontakt zur Herausgeberin:

Gudrun Anders | Email: [email protected]

www.motibooks.de | www.gudrun-anders.de | www.schreiben-und-sein.de

Vorwort

Als Regina J. mich vor einigen Jahren anrief und fragte, ob wir gemeinsam die Geschichte von ihrem autistischen Sohn aufschreiben könnten, war ich zunächst ehrlich gesagt gar nicht begeistert. Sie kam zu mir auf Empfehlung einer Autorin, der ich geholfen hatte, ihr Buch zu überarbeiten und die wusste, dass ich neben meiner Arbeit als Verlegerin auch ausgebildete Heilpraktikerin (Psychotherapie) bin.

Regina erzählte mir telefonisch oder auch per Skype Bruchteile ihrer Geschichte. Leider konnte sie überhaupt nicht mit dem Computer umgehen, verspürte aber in sich den unwiderstehlichen Drang, die Geschichte ihres autistischen Teenagers zu erzählen, um anderen Menschen – anderen Eltern – vielleicht damit ein wenig helfen zu können. Sie hoffte auf meine erfahrene Hilfe, weil ich Verlegerin gewesen war und auch Erfahrung in der Therapie hatte.

Ich selbst hatte keinerlei Bezug zum Thema Autismus, außer dem theoretischen Unterricht zum Thema während meiner Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie, die allerdings schon einige Zeit zurück lag.

Aber Theorie und Praxis schienen zwei komplett verschiedene Dinge zu sein. Zumindest hörten sich Teile der Geschichte vollständig anders an als der trockene Unterricht in der Schule vor vielen Jahren vermuten ließ.

Nach einigen Gesprächen einigten wir uns dann und ich begab mich auf die faszinierende Reise ins Land der autistischen Störung. Eine holperige Reise, die auch meine Emotionen triggerte.

Ich erlebte nicht nur beim Erzählen die vielen Emotionen der Mutter hautnah und intensiv mit, lernte viel über Autismus, was ich in der Heilpraktiker-Schule definitiv nicht gelernt hatte und hörte Dinge, die ich eigentlich gar nicht hatte hören wollen, weil ich dachte, dass diese Zustände schon längst ausgestorben waren. Waren sie aber offensichtlich noch längst nicht.

Nachdem wir die Rohfassung aufgeschrieben hatten, hatte Regina plötzlich bedenken, das Material zu veröffentlichen. Sie hatte Ängste, erkannt zu werden und als schlechte Mutter dazustehen. Oder schlimmer noch: Dafür gemobbt zu werden. Sie wollte auch ihren Sohn nicht in ein schlechtes Licht rücken. Offenbar war die Zeit für die Veröffentlichung noch nicht reif.

So vergingen einige Monate. In der Zwischenzeit entdeckte ich beim abendlichen Zappen in den Fernsehprogrammen die Serie „The good doctor“ in der der junge autistische Arzt Dr. Shaun Murphy mit ähnlichen Dingen kämpft, wie sie mir vor Monaten von Regina erzählt wurden.

Mich veranlasste das, wieder mit ihr in Kontakt zu treten, nachdem ich eigentlich das Projekt mehr oder weniger ad acta gelegt hatte.

Nachdem auch sie einige Episoden der Fernsehserie gesehen hatte, skypten wir ausgiebig und es reifte langsam der Entschluss heran, das Buch vielleicht doch noch fertig zu stellen. Eines Tages entschloss sie sich dann doch, dass es an der Zeit wäre, die Geschichte ihres Sohnes zu veröffentlichen.

Während des Corona-Lockdown 2020 begann langsam die komplette Überarbeitung des vorhandenen Materials, wobei wir etliche der von ihr diktierten Episoden teilweise ersatzlos strichen, zumindest aber stark kürzten, um einigen Menschen nicht zu nahe zu treten.

Wir wollten auch ausschließen, dass ihr Sohn anhand der Schilderungen in irgendeiner Weise erkannt werden konnte. So strichen wir alle Namen und Orte, an denen man Rückschlüsse auf die wahre Identität hätte ziehen können.

Selbstverständlich sind auch die Namen der Autorin und ihres Sohnes geändert worden, ebenso die Orte, an denen diese Geschichte spielt, wenn sie nicht ganz ausgelassen wurden.

Die sehr emotionalen Erzählungen riefen in mir teilweise Wut und auch Frustration hervor, aber auch eine unglaubliche Hochachtung vor diesen beiden Menschen, die so tapfer und mutig der Welt und ihren Mitmenschen entgegen treten und jeden Tag aufs Neue ihr hartes Schicksal in die Hände nehmen.

Ich hoffe sehr, dass der/die geneigte Leser/in aus diesem Büchlein Rückschlüsse oder Erkenntnisse für das eigene Leben ziehen können, wie auch immer sie mit dem Thema Autismus verknüpft sind.

Wir hoffen, es hilft Ihnen ein kleines Stückchen weiter.

Gudrun Anders

Neustadt, im Juli 2022

Kevin fragt:

„Was an mir ist anders?“

Mein Sohn war schon immer etwas „schwierig“. Er war anders als andere. Weniger einfühlsam, manchmal unnahbar. Lauter, eigensinniger, unzugänglicher, versunken in seinem eigenen Inneren, wenig bis gar nicht interessiert am anderen Menschen.

Oft lebte er in seiner eigenen Welt, zu der ich keinen oder nur sehr wenig Zugang fand. Ihm fiel es immer schon schwer, mit anderen in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Lieber tat er etwas allein und vergrub sich stundenlang in seinem Zimmer als sich mit anderen zu beschäftigen oder sich gar mit ihnen auseinandersetzen zu müssen.

Seine Welt war klein und eingeschränkt. Hätte ich irgendwie eine körperliche Behinderung vorgefunden, hätte ich wohl ganz anders damit leben können. Oder es anders gelernt. Aber ich habe keine Behinderung gesehen, und doch verstehe ich heute, dass er eine Beeinträchtigung hat, die ich niemals werde verändern können. Ich werde damit leben lernen müssen. Und es fällt mir extrem schwer.

Kevin ist heute ein Teenager. Vor sechs Jahren wurde er als „Asperger-Autist“ diagnostiziert. Kevin ist aber nicht unintelligent oder gar dumm. Und er ist auch nicht desinteressiert, er hat nur seine eigenen, sehr eingeschränkten Interessen.

Er denkt gern nach. Sein Kopf versucht Fragen und Probleme zu lösen.

Seit vielen Monaten ist er auf der Suche nach jemandem, der ihm erklären kann, was Autismus eigentlich genau ist. Er findet keine Antwort auf die Fragen:

Was an mir ist anders?

Was macht mich zum Autisten?

Kürzlich kam Kevin zu mir und ich erkläre ihm, dass ein Autist gar nicht so anders ist als andere Menschen. Äußerlich könne man ja nicht sehen, dass etwas bei ihm „anders“ funktioniert. Ich versuchte zu erklären, dass er Dinge einfach anders erkennt oder erlebt als andere Menschen. Wenn Menschen etwas erzählen, wenn sie von Gefühlen oder Erlebnissen berichten – viele Dinge kommen in seiner Welt ganz anders an als in meiner.

Natürlich hat jeder Mensch seine eigene Sichtweise. Natürlich denkt jeder Mensch „anders“ über das tägliche Leben und all die vielen menschlichen Erfahrungen, die wir damit machen.

Beim Autisten kommt jedoch erschwerend hinzu, dass es für ihn nur eine schwarze und eine weiße Welt gibt – es gibt keine Facetten von Grau, weil die Farbe Grau gar nicht wahrgenommen wird.

„Aber ich sehe doch die Farbe Grau!“ Kevin war unzufrieden mit meiner Antwort. Sie ist ihm nicht detailliert genug. Für ihn ist das keine klare Aussage, denn mit der Symbolik kann er nichts anfangen. Er kann es nicht greifen, nicht in seine eigene Wahrnehmungsweise integrieren.

Und so geht seine Suche weiter, wer ihm ganz genau erklären kann, was an ihm autistisch ist.

Wer hat den Autismus erfunden?

Ist Autismus eine Krankheit?

Wie wird Autismus festgestellt?

Was ist falsch an mir?

Wie viele Autisten gibt es?

Wer bestimmt ob jemand autistisch ist oder nicht?

Warum müssen wir den Regeln der Schule folgen, obwohl wir die gar nicht haben wollen?

Warum lässt man uns nicht einfach in unserer eigenen Welt leben?

Warum muss ich Sport machen, wenn ich keine Lust dazu habe?

Warum hören die Erwachsenen mir nicht richtig zu?

Woher weiß jemand, der nicht Autist ist, wie ich mich fühle?

Warum bin ich anders?

Kevin liest einen langen Artikel im Internet. Der ist allerdings sehr wissenschaftlich verfasst und für ihn auch nicht verständlich.

Er fragt mich, welche Person ihm das genau erklären kann. Und ich schicke ihn zu seiner Schulpsychologin. „Die Frau ist psychologisch ausgebildet, hat die nötigen Kenntnisse und betreut mehrere Autisten.“

Am nächsten Tag marschierte Kevin zur Schulpsychologin und fragte sie: „Was an mir ist autistisch?“

Die Frau antwortet auf die Frage sehr ähnlich wie ich. Als Kevin sie dann nach dem Warum fragte, hat sie allerdings auch keine Antwort mehr für ihn. Wissenschaftlich wisse man nur, dass die Reizverarbeitung zwischen den beiden Gehirnhälften gestört ist, was dazu führt, dass die Reize und Informationen beim Autisten anders verarbeitet werden.

Die Schulpsychologin vertröstet Kevin mit dem Versprechen, jemanden zu suchen, der ihm seine Fragen beantworten kann.

Kevins Suche ging also weiter. Er versucht durch seine Suche nach Wissen, seine Alltagsprobleme besser bewältigen zu können.

Er hat auch einmal gesagt, dass Nicht-Autisten inkompetent für ihn seien. Schließlich urteilen diese Personen über ihn als Menschen, wissen aber letztlich gar nicht wieso. Wüssten sie wieso, könnte ihm doch jemand seine Fragen beantworten. …

Seltsames Verhalten …

Also tut Kevin das, was er eigentlich immer tut. Er geht zur Schule – sein tägliches Ritual und ungeliebtes Pflichtprogramm. Wenn er mittags nach Hause kommt, isst er etwas, was er gerade im Kühlschrank findet und verbringt dann den Nachmittag in seinem Zimmer am Computer und mit seinen Spielfreunden im Internet.

Manchmal, wenn es gar nicht mehr anders geht, erledigt er auch mal einen kleinen Auftrag, den ich ihm gebe. Sein Zimmer etwas aufräumen beispielsweise, damit ich seine schmutzige Wäsche mal aus einem Haufen Müll herausangeln kann. Schließlich zieht er neuerdings ausschließlich frisch Gewaschenes an, was er im Schrank findet.

Kevin hat keinerlei Interesse daran, mit Gleichaltrigen zu spielen oder sich länger als wenige Minuten mit ihnen zu beschäftigen. Das hat er nie gehabt. Gleichgültig und desinteressiert geht er an ihnen auf der Straße oder auf dem Schulhof vorbei.

Auffällig wurde das bereits im zarten Alter von etwa zwei Jahren. Damals fing ich wieder an zu arbeiten, um zu unserem Lebensunterhalt beizutragen. Es waren nur ein paar Stunden die Woche, aber ich kam auch mal raus und hatte das Gefühl wieder unter Menschen zu kommen und meinen Beitrag zu leisten.

Meinen Sohn gab ich damals in eine Spielgruppe mit etwa gleichaltrigen Kindern. Ich dachte damals noch, ihm etwas Gutes damit zu tun. Die ersten Tage in dieser Spielgruppe waren auch sehr unauffällig. Eine Eingewöhnungszeit in eine neue Situation braucht schließlich jeder von uns.

Ein paar Tage später, als ein etwas älteres und größeres Kind ihn einmal schubste, wurde Kevin sehr aggressiv und fing plötzlich an, alle anderen Kinder ebenfalls zu schubsen. Die Gruppenleiterin schritt ein und verlangte von Kevin, mit diesem Verhalten aufzuhören, was er nicht tat. So schellte bei mir sehr schnell das Telefon und die Gruppenleiterin forderte mich auf, Kevin möglichst bald abzuholen, damit in der Kindergruppe wieder Ruhe einkehren konnte.

Ich fuhr schnell hin und holte ihn ab, mich vielmals entschuldigend. Allerdings brachte ich ihn am nächsten Tag wieder zur Spielstunde. Leider bekam ich innerhalb einer halben Stunde wieder einen Anruf von der Gruppenleitung, denn Kevin wollte wieder nicht mit den anderen Kindern spielen oder gar in Kontakt kommen.

Die Situation mit ihm gestaltete sich während kurzer Zeit so dramatisch, dass die Gruppenleiterin keine andere Möglichkeit mehr sah, als den laut schreienden und um sich tretenden Kevin wieder abholen zu lassen.

Es machte also offenbar keinen Sinn, ihn weiterhin in die Spielgruppe zu bringen. Das hatte zur Folge, dass ich nicht zur Arbeit gehen konnte und mir wieder eine persönliche Betreuung für Kevin suchen musste.

Meine Mutter, die Kevin natürlich gut kannte, erklärte sich bereit, ihn 2 x pro Woche für ein paar Stunden zu sich zu nehmen.

Mit meiner Mutter allein klappte alles sehr gut. Versuchte sie aber, Kevin im Garten mit den Nachbarskindern spielen zu lassen, hatte sie das gleiche Problem wie die Gruppenleiterin. Er reagierte zwar auf den Kontakt zu anderen Kindern, konnte diesen aber nicht dauerhaft aufrechterhalten.

Etwas stimmte auch nicht in seinem Verhalten. Er baute den Kontakt zu anderen beispielsweise durch Treten oder Schubsen auf, oder auch durch In-die Rippen-Boxen oder plumpes Anschreien.

Offenbar dachte er, dass er nur damit die Aufmerksamkeit von anderen Kindern bekam. Für ihn war es normal, offenbar hatte er es so gelernt und verinnerlicht. Ich dachte darüber nach und erinnerte mich an eine Situation, als Kevin etwa ein Jahr alt war und gerade anfing zu laufen.

Damals war ein Nachbarjunge bei uns zu Besuch gewesen. Der Junge war etwa ein Jahr älter als mein Sohn und fand es damals extrem witzig, den Kleinen immer wieder umzuschubsen, wenn er sich gerade aufgerichtet hatte.

Heute weiß ich, dass Kevin eigentlich „Hallo“ sagen wollte, denn er setzte das Umschubsen mit einer Kontaktaufnahme und einem Hallo gleich.

Als kleines Kind tat Kevin noch eine ganze Reihe andere seltsame Dinge. Sich mit etwas still zu beschäftigen, schien für ihn nie ein Problem zu sein.

Wenn er beispielsweise eine Garnrolle oder Strickwolle von mir fand, machte er stundenlang und in Seelenruhe abertausend Knoten hinein. Wenn er etwas hatte, was er verknoten konnte, verbrachte er Stunden damit, ruhig und still sitzend einen Knoten nach dem anderen in die Wolle zu machen. Nahm ich ihm sein Knotenwerk dann weg, wurde er extrem ungehalten und schrie und weinte und trat nach mir.

Er verknotete manchmal auch sein ganzes Zimmer. Die Wolle kam an jeden Griff vom Schrank, ans Bein vom Bett, an seinen Stuhl, so dass sich ein Labyrinth entwickelte. Stundenlang beschäftigte er sich mit dieser Knoterei ohne jemals die Geduld zu verlieren.

Als es überhandnahm und ich die Schnüre wieder entfernen musste, weil ich nicht mehr treten konnte, wurde er sehr aggressiv. Er weinte und brüllte, stürzte sich auf mich und schlug mit seinen winzigen Fäustchen auf mich ein.

Er war völlig verzweifelt, weil ich das von ihm geschaffene Werk vernichtete.

Entwicklungstherapien

Es passierten natürlich auch Dinge, die ich als ganz normal einstufen würde, weil diese in einem Haushalt mit kleinen Kindern überall auf der Welt vorkommen könnten.

Als Kevin wenige Monate alt war, erwischte er einmal eine große Flasche Körpermilch. Ich hatte das nicht sofort mitbekommen, weil ich mit Kochen beschäftigt war.

An diesem Tag erhielt ich ein Lehrstück gezeigt, was ein kleines Baby in nur wenigen Minuten mit so einer Cremeflasche anstellen kann. Laufstall und Anrichte, Gardinen, Stühle, Fußboden inklusiv der Fußmatte, Gläser und Geschirr – alles war mit weißer Bodylotion eingeschmiert.

Er fand das extrem lustig. Ich nicht. Mein offen stehender Mund und mein total geschockter Gesichtsausdruck brachten ihn dann derart zum Lachen, wie ich es noch nie bei ihm gehört und gesehen hatte. Ich konnte dann auch nicht mehr anders – ich musste einfach mitlachen. Und genoss diese doch sehr intensive Gemeinschaft mit meinem Kind.

Als wir uns ausgelacht hatten, machte ich mich seufzend daran, den Liter Bodylotion wieder von meinen Möbeln zu entfernen und nahm mir felsenfest vor, die Creme oder etwas anderes nie wieder in Reichweite meines Sohnes stehen zu lassen.

Ich muss sagen, dass die ersten Jahre dennoch recht unauffällig waren. Zwar bekam er schon Bewegungstherapien, da er linke und rechte Körperseite nicht gleichmäßig steuern konnte, aber ich machte mir damals dazu noch keine größeren Sorgen. Ich registrierte es einfach nur und wollte einfach tun, was Ärzte mir rieten.

Dieses Ungleichgewicht hatte ich schon einmal wenige Monate nach seiner Geburt bemerkt, da er eine stark erweiterte linke Pupille hatte. Ich ließ dies damals durch einen Augenarzt klären, da ich dachte, dass sein Sehvermögen eingeschränkt sein könnte und dass man daran gegebenenfalls frühzeitig etwas ändern könne.

Der Augenarzt erklärte mir, dass dies ein Hinweis auf eine neurologische Störung sein müsse, da die linke und die rechte Gehirnhälfte eine gestörte Kommunikation haben würden. Es folgten neurologische Untersuchungen und verschiedene Therapien.

Kevin lernte in diesen Therapien Arme und Beine besser zu bewegen. Es wurde schnell deutlich, dass er erhebliche Gleichgewichtsstörungen hatte. Manche Reflexe zeigte er einfach nicht und viele Bewegungen schienen ihm erhebliche Schwierigkeiten zu bereiten.