Mörderlied - J.D. Robb - E-Book

Mörderlied E-Book

J.D. Robb

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Beschreibung

Vier packende Fälle für Eve Dallas und ihr Team!

Todestanz
Etwas Seltsames passiert mit Eve Dallas: Sie hat Visionen und Déjà-vus und spricht plötzlich fließend Russisch. Und sie muss eine Frau finden, die spurlos verschwunden ist – wie auch acht weitere junge Frauen, alles Tänzerinnen. Kann sie ihre neuen »Kräfte« für diese Suche einsetzen?

Eine heiße Spur
Ein seltsamer Fall hält Eve Dallas in Atem, denn die einzige Augenzeugin eines Mordes berichtet, dass der Killer grüne Haut, geschwollene rote Augen und Koboldohren hat. Ist es eine Maske, oder gutes Make-up? Die Ermittlungen führen sie zu einer Reihe von Medizinstudenten, aber wer von ihnen hat ein Motiv?

Der besessene Mörder
Zwei kleine Kinder verschwinden spurlos, ihre Nanny wird tot aufgefunden. Auf der Suche nach den Kindern wird Eve Dallas mit einem Killer konfrontiert, der sich rächen will – koste es, was es wolle! Und Eve läuft die Zeit davon ...

Mörderlied
Eine junge Erbin ermordet ihren Bruder und springt danach von einem Dach in den Tod. Eve Dallas glaubt nicht an ein Familiendrama oder an einen Selbstmord und ermittelt schließlich in einem seltsamen Fall von Gehirnwäsche und Manipulation ...

Mehr spannende Kurzgeschichten um Eve Dallas und ihr Team finden Sie auch in »Mörderspiele« und »Mörderstunde«.

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Buch

Todestanz

Etwas Seltsames passiert mit Eve Dallas: Sie hat Visionen und Déjà-vus und spricht plötzlich fließend Russisch. Und sie muss eine Frau finden, die spurlos verschwunden ist – wie auch acht weitere junge Frauen, alles Tänzerinnen. Kann sie ihre neuen »Kräfte« für diese Suche einsetzen?

Eine heiße Spur

Ein seltsamer Fall hält Eve Dallas in Atem, denn die einzige Augenzeugin eines Mordes berichtet, dass der Killer grüne Haut, geschwollene rote Augen und Koboldohren hat. Ist es eine Maske, oder gutes Make-up? Die Ermittlungen führen sie zu einer Reihe von Medizinstudenten, aber wer von ihnen hat ein Motiv?

Der besessene Mörder

Zwei kleine Kinder verschwinden spurlos, ihre Nanny wird tot aufgefunden. Auf der Suche nach den Kindern wird Eve Dallas mit einem Killer konfrontiert, der sich rächen will – koste es, was es wolle! Und Eve läuft die Zeit davon …

Mörderlied

Eine junge Erbin ermordet ihren Bruder und springt danach von einem Dach in den Tod. Eve Dallas glaubt nicht an ein Familiendrama oder an einen Selbstmord und ermittelt schließlich in einem seltsamen Fall von Gehirnwäsche und Manipulation …

Autorin

J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts. Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren und veröffentlichte 1981 ihren ersten Roman. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt: Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von 500 Millionen Exemplaren überschritten. Auch in Deutschland erobern ihre Bücher und Hörbücher regelmäßig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.

Liste lieferbarer Titel

Rendezvous mit einem Mörder · Tödliche Küsse · Eine mörderische Hochzeit · Bis in den Tod · Der Kuss des Killers · Mord ist ihre Leidenschaft · Liebesnacht mit einem Mörder · Der Tod ist mein · Ein feuriger Verehrer · Spiel mit dem Mörder · Sündige Rache · Symphonie des Todes · Das Lächeln des Killers · Einladung zum Mord · Tödliche Unschuld · Der Hauch des Bösen · Das Herz des Mörders · Im Tod vereint · Tanz mit dem Tod · In den Armen der Nacht · Stich ins Herz · Stirb, Schätzchen, stirb · In Liebe und Tod · Sanft kommt der Tod · Mörderische Sehnsucht · Ein sündiges Alibi · Im Namen des Todes · Tödliche Verehrung · Süßer Ruf des Todes · Sündiges Spiel · Mörderische Hingabe · Verrat aus Leidenschaft · In Rache entflammt · Tödlicher Ruhm · Verführerische Täuschung · Aus süßer Berechnung · Zum Tod verführt · Das Böse im Herzen

Mörderspiele. Drei Fälle für Eve Dallas · Mörderstunde. Drei Fälle für Eve Dallas

Nora Roberts ist J. D. Robb

Ein gefährliches Geschenk

J. D. Robb

Mörderlied

Vier Fälle für Eve Dallas

Deutsch von Uta Hege

Die Originalausgaben der Kurzromane erschienen 2010, 2011, 2012 und 2015

unter den Titeln »Possession in Death«, »Chaos in Death«, »Taken in Death« und »Wonderment in Death« bei Jove Books, The Berkley Publishing Group, a member of Penguin Group (USA) Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe 2010, 2011, 2012, 2015

by Nora Roberts

Published by Arrangement with Eleanor Wilder

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe by Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Regine Kirtschig

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: plainpicture/Andrea Schoenrock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

LH ∙ Herstellung: sam

ISBN: 978-3-641-25577-0V002

www.blanvalet.de

Todestanz

Denn Liebe ist stark wie der Tod.

Salomo

Was bist du und woher, verfluchtes Bild?

John Milton

1

Sie hatte ihren Vormittag mit einem Mörder zugebracht.

Er hatte streng bewacht in einem Bett im Krankenhaus gelegen, denn sein eigener Komplize hätte ihn versehentlich fast umgebracht, aber sie hatte nicht einen Hauch von Mitleid mit dem Kerl.

Natürlich war sie froh, dass er noch lebte, denn sie wünschte ihm viele, viele Jahre möglichst in einer der Sträflingskolonien irgendwo im All. Die Beweise, die sie und ihre Leute gegen ihn gesammelt hatten, waren so erdrückend, dass der Staatsanwalt bei ihrer Durchsicht beinah einen kleinen Freudentanz vollführt hätte. Wobei das Sahnehäubchen auf dem Kuchen das Geständnis war, das sie dem Kerl entlocken konnte, während er ihr gegenüber eine spöttische Bemerkung nach der anderen fallen ließ.

Nachdem es ihm nicht gelungen war, sie am Vortag zu töten, obwohl er sich alle Mühe gegeben hatte, war seine Häme einfach von ihr abgeprallt.

Sylvester Moriarity würde dank der besten medizinischen Behandlung, die man einem Menschen im New York des Jahres 2060 angedeihen lassen konnte, wieder vollkommen gesund, und nach seiner Genesung in das Gefängnis überführt, in dem sein Kumpel Winston Dudley bereits saß. Dort würden sie auf die Eröffnung des Prozesses warten, über den bestimmt im großen Stil berichtet würde, da sie beide Sprosse reicher, angesehener Familien waren.

Für sie war der Fall jetzt schon abgeschlossen, dachte Eve, als sie an diesem heißen Samstagnachmittag nach Hause fuhr. Den Toten war die einzige Gerechtigkeit zuteilgeworden, die sie ihnen anzubieten hatte, und ihre Familien und Freunde müssten sich mit dem Gedanken trösten, dass die beiden Kerle für das Leid, das den geliebten Menschen ihretwegen widerfahren war, zahlen würden.

Trotzdem ließen die Grausamkeit und Egozentrik dieser beiden Männer sie noch immer nicht ganz los. Sie hatten sich aufgrund ihrer eigenen Wichtigkeit und ihres gesellschaftlichen Stands das Recht herausgenommen, Mord als amüsanten Zeitvertreib oder vielleicht auch schlicht als ihnen zustehenden Luxus anzusehen.

Sie manövrierte ihren Wagen durch die Straßen von New York. Es herrschte der gewohnte Lärm aus Hupen und nervtötender Fröhlichkeit, mit der die Werbeflieger Kundschaft in die Sky Mall oder andere Geschäfte locken wollten. Die Bürgersteige waren, wie wahrscheinlich auch die Läden, mit Touristen überfüllt, die sich die an den Schwebegrills verkauften Sojadogs und Pommes schmecken ließen, während sie in den gepriesenen Geschäften und bei diversen Straßenhändlern auf der Jagd nach Andenken und Schnäppchen waren.

Ein brodelnder Hexenkessel, dachte Eve, und die drückende Hitze, die in diesem Sommer auf der Stadt lag, trug das ihre dazu bei.

Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie sich ein Taschendieb blitzschnell an einem Touristenpaar vorbeischob, dem die eigene Sicherheit eindeutig nicht so wichtig war wie das Staunen über die Gebäude und die hochmodernen Gleitbänder, die sie umgaben. Im Handumdrehen verschwand die Brieftasche des Mannes in einer der Taschen seiner schlabberigen Cargohose, bevor er wie eine Schlange durch den Pulk an Menschen glitt, der sich über die Straße schob.

Wenn sie zu Fuß oder zumindest in derselben Richtung unterwegs gewesen wäre, hätte sie sich an die Fersen dieses Kerls geheftet, und wahrscheinlich hätte ihre Stimmung sich bei der Verfolgung deutlich aufgehellt. So aber tauchten er und seine Beute einfach ab, und wenn ihn niemand anderes stoppte, nähme er an diesem Tag bestimmt noch jede Menge argloser Touristen aus.

Das Leben ging immer weiter, egal was auch geschah.

Als Lieutenant Eve Dallas endlich in die Einfahrt ihres ausgedehnten Grundstücks bog, rief sie sich diesen Leitspruch nochmals in Erinnerung. Egal, was auch passiert war, ging das Leben weiter, was die Grillparty, zu der sie heute eine Horde Polizisten, Freundinnen und Freunde eingeladen hatten, nachdrücklich bewies.

Bis vor zwei Jahren wäre sie nie auf die Idee gekommen, einen Samstagnachmittag auf diese Weise zu verbringen, aber schließlich hatte sie damals auch keinen Ehemann gehabt. Statt in einem von besagtem Gatten selbst entworfenen Palast hatte sie in einer kleinen Wohnung mit nur einer Handvoll Möbel mitten in der Stadt gelebt. Der Mann, mit dem sie kurz zuvor den zweiten Hochzeitstag gefeiert hatte, hatte das Verlangen, die Vision und die erforderlichen finanziellen Mittel zur Errichtung eines wunderbaren Hauses mit zahlreichen elegant und funktional möblierten Räumen inmitten einer ausgedehnten Parklandschaft mit Bäumen, Sträuchern, bunt blühenden Blumen und selbst bei sommerlicher Hitze leuchtend grünem Gras gehabt.

Ein einladender, friedlicher und warmer Ort. Genau das brauchte sie im Augenblick vielleicht sogar noch mehr als sonst.

Sie ließ den Wagen vor der Haustür stehen, damit Summerset ihn in die Garage fuhr, und hoffte, dass sie in ihr Schlafzimmer gelangen würde, ohne dass Roarkes Butler vogelscheuchengleich am Fuß der Treppe stand.

Sie brauchte nur ein paar Minuten in der kühlen Stille dieses Raums, um vor der Invasion der Gäste die bedrückte Stimmung abzuschütteln, in der sie seit dem Gespräch mit dem Mörder war.

Auf halbem Weg zur Haustür blieb sie stehen. Um Himmels willen, schließlich gab es auch noch andere Eingänge ins Haus, warum in aller Welt hatte sie bisher nie daran gedacht? Sie joggte los, und ihre langen Beine trugen sie im Handumdrehen durch einen kleinen, von einer hübschen Steinmauer umgebenen Garten, dann weiter über eine der Terrassen bis zu einer Seitentür. Sie zog sie auf, rollte mit ihren müden braunen Augen, weil sie keine Ahnung hatte, ob der Raum, den sie betrat, ein Wohn-, ein Frühstücks- oder Fernsehzimmer war, und schlich sich so verstohlen wie der Taschendieb durch das Foyer, bis sie ein Spielzimmer erreichte, das ihr annähernd vertraut war und ihr deutlich machte, wo sie war.

Sie rief den Fahrstuhl, und als die Türen sich schlossen, schloss sie im Bewusstsein ihres kleinen Sieges auch die Augen und lehnte sich müde an die Wand.

Der Lift trug sie direkt ins Schlafzimmer, oben angekommen fuhr sie sich mit einer Hand durch das wirre braune Haar, zog die Jacke aus und warf sie achtlos über einen Stuhl. Dann lief sie weiter bis zu dem riesengroßen Bett und nahm ermattet auf der Kante Platz. Am liebsten hätte sie sich ausgestreckt und kurz geschlafen, aber dafür gingen ihr zu viele Dinge durch den Kopf.

Also blieb sie als erfahrene Mordermittlerin, die bereits unzählige Male durch das Blut von irgendwelchen unschuldigen Opfern gewatet war, einfach sitzen und gab sich der Trauer um die Opfer ihrer letzten beiden Mörder hin.

Als Roarke ins Zimmer kam, erkannte er an ihren hängenden Schultern und dem ausdruckslosen Blick, mit dem sie aus dem Fenster sah, wie es ihr ging. Entschlossen setzte er sich neben sie, nahm ihre Hand und stellte fest: »Ich hätte dich begleiten sollen.«

Sie schüttelte den Kopf, lehnte sich aber an ihn. »Zivilisten haben bei Verhören nichts zu suchen. Selbst wenn du als Berater wie schon öfter mit von der Partie gewesen wärst, hätte das nichts daran geändert, wie es abgelaufen ist. Ich habe diesen Typ kalt erwischt, nicht einmal das Bataillon an Anwälten, das ihm zur Seite stehen sollte, kam gegen die Beweise an. Vor lauter Freude hätte mich der Staatsanwalt fast auf den Mund geküsst.«

Auf diesen Satz hin küsste Roarke ihr sanft die Hand. »Trotzdem bist du traurig.«

Sie schloss die Augen und genoss die Wärme seiner Hand, den Hauch von Irland, der in seiner Stimme lag, und seinen ganz besonderen Duft. »Nicht traurig oder … Gott, ich weiß nicht, was ich bin. Im Grunde sollte ich mich freuen. Ich habe meinen Job gemacht, die Morde aufgeklärt und konnte den beiden ins Gesicht sehen und sie wissen lassen, dass man sie dafür zu lebenslangen Haftstrafen verurteilen wird.«

Entschlossen stieß sie sich von der Matratze ab, stapfte zum Fenster, kam zurück und stellte fest, dass ihr der Sinn nach etwas anderem als Trost und Frieden stand. Sie brauchte einen Ort, um alles rauszulassen, um den heißen Zorn, den sie verspürte, loszuwerden.

»Es hat ihn angekotzt, dort in dem Bett zu liegen, weil das dämliche, antike italienische Florett von seinem Kumpel aus Versehen in seiner Brust gelandet ist.«

»Es sollte eigentlich dich erwischen«, rief Roarke ihr in Erinnerung.

»Genau. Moriarity ist super angefressen, weil Dudley mich nicht erwischt hat und ich selbst im Gegensatz zu ihm gesund und munter bin.«

»Davon gehe ich aus«, stimmte Roarke ihr mit kalter Stimme zu. »Aber du bist nicht deswegen so aufgewühlt.«

Sie blieb stehen und sah ihn einfach an. Die leuchtend blauen Augen in dem fein gemeißelten Gesicht, die dichte Mähne schwarzen Haars, der Mund eines Poeten, den er fest zusammenpresste, als er daran dachte, dass sie diesen Kerlen erst im letzten Augenblick entkommen war.

»Du weißt, dass sie mich nie hätten erwischen können, denn schließlich warst du selbst dabei.«

»Trotzdem hast du etwas abgekriegt.« Roarke wies auf die noch nicht verheilte Stichwunde in ihrem Arm.

Sie tippte die Verletzung an. »Was uns im Endeffekt geholfen hat. Mit dem versuchten Mord an einer Polizistin haben wir den Sack endgültig zugemacht. Vor allem hat dadurch keiner von den beiden einen Punkt in ihrem Wettbewerb gemacht. Am Ende ging es unentschieden aus, was meiner Meinung nach, auch wenn das vielleicht seltsam klingt, von Anfang an ihr Ziel war. Nur hätte dieser Wettstreit deutlich länger dauern sollen. Weißt du, was der Sieger kriegen sollte? Weißt du, wie hoch das Preisgeld dieses teuflischen Turniers war?«

»Das weiß ich nicht, aber ich sehe, dass du es herausbekommen hast.«

»Am Ende hat Moriarity es mir erzählt. Ein Dollar. Ein verdammter Dollar, Roarke. Für diese beiden war das alles nur ein Riesenwitz. Das macht mich krank.«

Zu ihrem Entsetzen füllten ihre Augen sich mit Tränen, doch sie kämpfte heldenhaft dagegen an und stellte abermals mit rauer Stimme fest: »Das macht mich einfach krank. Alle diese Toten, all diese zerstörten Leben, und dann macht mich so was krank? Keine Ahnung, warum gerade der eine Dollar mir derart auf den Magen schlägt. Ich habe schon viel Schlimmeres erlebt. Das heißt, wir beide haben schon viel Schlimmeres erlebt.«

»Aber kaum etwas, was so sinnlos ist.« Auch er stand wieder auf, trat auf sie zu und rieb ihr sanft die Arme. »Es gab keinen Grund, all diese Menschen umzubringen. Keine Vendetta, keinen Traum, keinen Wunsch nach Rache, keine Habgier, keinen Zorn. Es war einfach ein Spiel. Ich kann gut verstehen, dass dir das auf den Magen schlägt. Denn das tut es mir auch.«

»Ich habe ihre nächsten Angehörigen verständigt«, fing sie an. »Auch die der Opfer, die die beiden ermordet haben, bevor sie nach New York gekommen sind. Deshalb war ich so lange unterwegs. Ich dachte, dass ich die Familien informieren müsste und mich besser fühlen würde, wenn der Fall vollkommen abgeschlossen ist. Einige der Leute waren mir dankbar, andere waren wütend oder sind in Tränen ausgebrochen, aber alle haben mich nach dem Grund dafür gefragt, dass Tochter, Mutter oder Ehemann ermordet worden sind.«

»Was hast du ihnen gesagt?«

»Dass es manchmal keinen Grund für solche Taten gibt oder keinen, den man nachvollziehen kann.« Erneut kniff sie die Augen zu. »Ich möchte wütend sein.«

»Das bist du auch, obwohl bisher die Trauer überwiegt. Neben all der Wut und Trauer weißt du, du hast einen guten Job gemacht. Und bist am Leben, liebste Eve.« Er zog sie sanft an seine Brust und presste ihr die Lippen auf die Braue. »Was bedeutet, dass die zwei am Schluss die Verlierer sind.«

»Wahrscheinlich hast du recht. Ich nehme an, dass mir das reichen muss.«

Sie rahmte sein Gesicht mit den Händen ein und stellte mit einem leisen Lächeln fest: »Vor allem hassen uns die beiden. Was meiner Meinung nach eine zusätzliche Genugtuung ist.«

»Ich wüsste niemanden, von dem ich lieber gehasst würde, und es ist mir eine Ehre, wenn jemand, der dich hasst, seinen Hass auf mich erstreckt.«

Jetzt dehnte sich ihr Lächeln bis in die Augen aus. »Genauso geht’s mir auch. Wenn ich mich statt auf den Dollar auf den Hass der beiden konzentriere, könnte ich durchaus in Feierlaune kommen. Am besten gehen wir also langsam runter und nehmen unsere Gäste in Empfang.«

»Aber vorher ziehst du dich noch um. Ohne dicke Stiefel und vor allem ohne Waffe wirst du sicherlich noch mehr in Feierlaune sein.«

Bis sie in einer dünnen Baumwollhose und in Leinenturnschuhen nach unten kam, waren ihre Partnerin und deren Freund schon da. Peabody trug ein geblümtes, weich schwingendes Sommerkleid zu ihrem wild wippenden, kurzen dunklen Pferdeschwanz, und Ian McNab, der ein genialer elektronischer Ermittler war, trug Flipflops unter leuchtend pinkfarbenen Schlabbershorts und einem eng sitzenden ärmellosen T-Shirt, dessen Zickzackmuster Eve an einen atomaren Regenbogen denken ließ.

Das halbe Dutzend Silberringe, die sein linkes Ohr verzierten, klimperte, als er den Kopf drehte und fröhlich rief: »He, Dallas. Wir haben Ihnen etwas mitgebracht.«

»Den selbst gemachten Wein von meiner Oma«, klärte Peabody sie auf und hielt ihr eine Flasche hin. »Ich weiß, Sie haben einen Weinkeller, der mindestens so groß wie Kalifornien ist, aber wir dachten, dass das mal was anderes ist. Das Zeug ist wirklich gut.«

»Genau das kann ich jetzt gebrauchen. Also gehen wir am besten raus und sehen, ob die Brühe hält, was sie verspricht.«

Peabody sah sie forschend an. »Sind Sie okay?«

»Der Staatsanwalt vollführt bestimmt noch immer seinen Freudentanz. Der Fall ist abgeschlossen«, sagte sie, ging aber nicht genauer darauf ein. Es hätte keinen Sinn, der Partnerin jetzt die Einzelheiten zu erzählen, die ihr nicht weniger zu schaffen machen würden als ihr selbst.

»Dann stoßen wir am besten erst mal auf die Mord- und selbstverständlich auch die elektronischen Ermittler an«, schlug Roarke mit einem Augenzwinkern zu McNab vor.

Auf der großen Steinterrasse waren bereits Tische voller Essen, Sonnenschirme und der Monstergrill, den Roarke inzwischen annähernd beherrschte, aufgebaut. Die Gäste wurden in die Farben und den Duft der Blumen aus dem Garten eingehüllt und tranken von dem selbst gemachten Wein, der wirklich mehr als lecker war.

Eine halbe Stunde später war die Luft vom Duft gebratenen Fleischs erfüllt, und Garten und Terrasse füllten sich mit all den Leuten, die zu Eves Verblüffen Teil von ihrem Leben waren.

Das Team, mit dessen Hilfe ihr die Aufklärung des Dudley-Moriarity-Falls gelungen war, Staatsanwältin Reo und das frisch vermählte Ehepaar Dr. Louise Dimatto und Charles Monroe, Ex-Callboy und heute Therapeut, saßen an einem großen Tisch und machten sich begeistert über die Salate her.

Chefpathologe Morris, dessen Trauer um seine ermordete Geliebte den Impuls zu diesem Fest gegeben hatte, trank ein Bier mit Pater Lopez, der ihm in den letzten Monaten zu einem guten Freund geworden war.

Ein bisschen seltsam, dass ein Priester – auch wenn sie ihn mochte und vor allem respektierte – hier bei ihr zu Gast war, doch zumindest war er in Zivil.

Nadine Furst, die Starreporterin und Bestsellerautorin, unterhielt sich angeregt mit der Psychologin Dr. Mira und mit deren liebenswertem Ehemann.

Sie sollte vielleicht öfter mal auf diese Art im Kreise ihrer Freunde Dampf ablassen, dachte Eve, auch wenn sie darin bisher noch ein wenig unerfahren war. Denn es war schön zu sehen, wie Feeney ihrem Gatten Nachhilfe im Grillen gab und dass der junge Trueheart in Begleitung seiner hübschen, scheuen Freundin auf dem Fest erschienen war.

Verdammt, am besten tränke sie noch ein Glas von dem feinen Wein, den Peabody …

Bevor sie nach der Flasche greifen konnte, drang das helle Lachen ihrer besten Freundin an ihr Ohr.

Mavis Freestone kam in silbernen Sandalen, deren Schnüre bis unter den Saum eines lavendelfarbenen, geschlitzten Minirocks zu reichen schienen, und mit aufgetürmten, ebenfalls lavendelfarbenen Haaren auf sie zugestürzt. In ihren Armen hielt sie Baby Bella, und der stolze Vater Leonardo strahlte seine beiden Mädchen an.

»Dallas!«

»Seid ihr nicht in London?«, fragte Eve und wurde in ein Meer aus Farbe, Duft und Freude eingehüllt.

»Wir wollten dieses Fest auf keinen Fall verpassen! Also sind wir kurz nach New York gekommen und fliegen morgen wieder zurück. Trina ist im Haus und spricht noch kurz mit Summerset.«

Eve wurde schreckensstarr. »Trina …«

»Keine Angst, sie ist zum Feiern hier, nicht, weil sie dir die Haare machen will. Aber sie hat Bellas Haar gemacht – sieht es nicht einfach super aus?«

Das strahlende Gesicht des Babys wurde von Milliarden sonnenheller Löckchen vollständig mit kleinen pinkfarbenen Schleifen eingerahmt.

»Okay, es sieht …«

Bevor sie ihren Satz beenden konnte, stieß die Freundin juchzend aus: »Es sind tatsächlich alle hier, die ich schon ewig wieder einmal treffen wollte! Ich muss schnell los und alle drücken. Halt du bitte kurz mein Bellamisa-Schätzchen fest.«

»Dann hole ich uns erst mal was zu trinken.« Leonardo tätschelte Eve aufmunternd den Arm und glitt in seiner wadenlangen roten Hose Richtung Bar.

»Ich …« Eve rang erstickt nach Luft, denn plötzlich hatte sie die Arme voll mit einem wippenden und sabbernden Geschöpf, das Furcht einflößender als jeder Mörder war.

»Du hast inzwischen ganz schön zugelegt«, stieß sie mit rauer Stimme aus und sah sich suchend um. Bevor sie aber jemanden entdeckte, der die Kleine vielleicht gerne übernähme, packte Bella juchzend eine Strähne ihrer Haare, riss daran herum und …

… drückte ihrer Patentante ihre feuchten Lippen ins Gesicht.

»Matzer!«

»Gott oh Gott. Was soll das heißen?«

»Schmatzer«, rief ihr Mavis zu und winkte mit einem pinkfarbenen Drink. »Sie möchte, dass du ihr ein Küsschen gibst.«

»Oh Mann. Aber in Ordnung, meinetwegen. Warum nicht?« Sie spitzte vorsichtig die Lippen, presste sie auf Bellas Wange, und als die genau so hell wie ihre Mutter lachte, schlug sie grinsend vor: »Jetzt gehen wir los und suchen jemand anderen, den du vollsabbern kannst.«

2

Niemand aß wie Cops. Auch Ärztinnen und Priester machten ihre Sache durchaus gut, fand Eve, als sie den Pater, Mira, Morris und Louise in ihre Burger beißen sah. Doch gegen eine Horde Polizisten käme nicht einmal ein Rudel ausgehungerter Hyänen an.

Vielleicht lag’s an der Vielzahl von verpassten Mahlzeiten und den klischeebeladenen Donuts, die sie ständig im Vorbeigehen aßen. Aus welchem Grund auch immer, wenn Polizisten irgendwo zum Essen eingeladen waren, schaufelten sie die gebotenen Speisen bergeweise in sich rein.

»Das ist echt schön.« Nadine gesellte sich zu Eve und stieß deren Bierflasche mit ihrem Weinglas an. »Ein schöner Tag mit jeder Menge netter Leute, mit denen man abhängen und wunderbar entspannen kann. Zum Dank werde ich bis Montag warten, um darauf zu drängen, dass Sie in meine Sendung kommen und von Dudley und Moriarity erzählen.«

»Der Fall ist abgeschlossen.«

»Ich weiß, ich habe schließlich meine Quellen. Wenn ich nicht unterwegs gewesen wäre, um in ein paar anderen Städten für mein Buch zu werben, hätte ich Sie deshalb schon viel eher aufgesucht.«

Die Journalistin lächelte. Zu ihrem etwas längeren, offenen, sonnengesträhnten Haar trug sie ein ärmelloses T-Shirt über einer abgeschnittenen Jeans und einem Fußkettchen, doch selbst in diesem wenig eleganten Aufzug hätte sie sich vor einer Kamera gut gemacht.

»Heute werde ich Sie mit der Angelegenheit in Ruhe lassen«, fügte sie hinzu und trank den nächsten Schluck Wein. »Wissen Sie, was ich an Ihren Grillfesten besonders mag?«

»Das Essen und den Alkohol?«

»Die sind zwar erste Sahne, aber nein. Ich liebe es, dass man immer jede Menge interessante Leute trifft. Egal, mit wem ich mich hier unterhalte, es wird niemals langweilig. Sie haben die besondere Fähigkeit, verschiedene, interessante Typen um sich zu versammeln, die trotz aller Unterschiede bestens miteinander harmonieren. Wo sonst trifft man auf jemanden wie Crack«, bezog sie sich auf den zwei Meter großen, tätowierten Eigner eines Striplokals, »und gleichzeitig auf biedere und eher zurückhaltende Leute wie den strammen Trueheart und die hübsche junge Frau, die ihn hierher begleitet hat.«

»Cassie aus dem Archiv.«

»Cassie aus dem Archiv«, bestätigte Nadine. »Ich würde gerne rausfinden, was zwischen ihnen läuft.«

Sie wandte sich den beiden zu, und Eve schlenderte langsam Richtung Grill, wo Feeney das Kommando übernommen hatte und sich gut gelaunt mit Dennis Mira unterhielt. Wie Crack und Trueheart konnten auch der Cop in dem abgetragenen Anzug und mit den wirren grau melierten, roten Haaren und der schlaksige Professor mit dem träumerischen Blick verschiedener nicht sein.

»Na, wie stehen die Aktien?«, fragte sie.

»Wir haben noch ein paar Bestellungen für Burger und für diese Fleischstücke.« Feeney drehte eine der halb garen Frikadellen um.

»Ich frage mich, wo sie das ganze Essen lassen.« Dennis schüttelte verständnislos den Kopf.

»Polizistenmägen.« Feeney zwinkerte Eve zu. »In die passt doppelt so viel wie in andere Mägen rein.«

»Trotzdem lasst ihr besser noch ein bisschen Platz, weil es Erdbeerkuchen und Zitronenbaiser-Torte zum Nachtisch gibt.«

Feeney hatte gerade eine weitere Frikadelle drehen wollen, ließ sie aber einfach erst mal auf dem Wender liegen und sah Eve mit großen Augen an. »Es gibt Zitronen-Baiser-Torte und Erdbeerkuchen?«

»So sieht’s aus.«

»Und wo stehen diese Köstlichkeiten?«

»Keine Ahnung. Frag am besten Summerset.«

»Das lass ich mir nicht zwei Mal sagen.« Er wendete die Frikadelle und drückte den Wender Dennis Mira in die Hand. »Machen Sie kurz weiter. Ich besorge mir schnell meinen Teil vom Kuchen, bevor diese Geier Wind davon bekommen und nichts mehr übrig ist.«

Als Feeney losmarschierte, wandte Dennis sich in hoffnungsvollem Ton an Eve. »Gibt es auch Schlagsahne dazu?«

»Ich gehe davon aus.«

»Ah.« Entschlossen hielt er ihr den Wender hin. »Wären Sie wohl so nett?«, bat er und tätschelte ihr väterlich den Kopf. »Erdbeerkuchen mit Sahne. Da kann ich unmöglich widerstehen.«

»Oh …« Bevor sie widersprechen konnte, hatte sich auch Dennis Mira auf den Weg in Richtung Haus gemacht.

Sie starrte auf die Frikadellen und die Fleischstücke auf dem Grill. Sie waren nicht ganz so Furcht einflößend wie ein Baby auf dem Arm, aber … Woher zum Teufel wusste man, wann diese Sachen fertig waren? Ertönte vielleicht irgendein Signal? Sollte sie sie regelmäßig wenden, oder war es besser, wenn sie sie in Ruhe ließ?

Es brutzelte und rauchte, und der Anblick all der Anzeigen und Schalter machte sie nervös. Vorsichtig hob sie den Deckel über einem zweiten Grillrost an, betrachtete die fetten Würstchen, die dort brieten und wie heiße, aufgequollene Penisse aussahen, klappte den Deckel wieder zu und atmete erleichtert auf, als Roarke an ihrer Seite Position bezog.

»Die beiden haben mich mit der Aussicht auf Zitronenbaiser und Erdbeerkuchen einfach hier im Stich gelassen. Gut, dass du jetzt wieder übernehmen kannst.« Sie drückte ihm den Wender in die Hand. »Ich lass das hier lieber bleiben, sonst muss Louise am Ende noch den Arztkoffer aus ihrem Wagen holen und sich an die Arbeit machen.«

Er blickte auf den Grill, und sie sah das herausfordernde Blitzen, das in seine Augen trat.

»Tatsächlich ist grillen eine ungemein befriedigende Angelegenheit«, stellte er fest und bot ihr an: »Ich könnte es dir beibringen, wenn du willst.«

»Nein danke. Ich empfinde es schon als befriedigend genug, wenn ich die Sachen essen kann.«

Er schob die Frikadellen vom Rost auf einen Teller, bevor er mit einer Zange nach einem Fleischstück griff.

»Das hätte ich wahrscheinlich auch noch hingekriegt. Aber woher weißt du, dass die Sachen fertig sind?«

»Du hast eben andere Fähigkeiten.« Lächelnd beugte er sich über den mit Fleisch beladenen Teller und presste ihr sanft die Lippen auf den Mund.

Ein schöner Augenblick, sagte sich Eve und sog den Duft des Fleischs, den Klang der Stimmen ihrer Freunde und die sommerliche Hitze in sich auf, als Pater Lopez wie der Boxer, der er mal gewesen war, mit leicht tänzelnden Schritten auf sie zugelaufen kam.

»Bereit für einen Nachschlag, Chale?«, erkundigte sich Roarke.

»Es passt leider nichts mehr rein. Ich wollte mich bei Ihnen für die Einladung bedanken. Sie haben ein wunderschönes Heim und wunderbare Freunde.«

»Sie wollen doch wohl nicht schon wieder gehen?«

»Ich hätte diesen Nachmittag auf keine schönere Art verbringen können, aber ich leite die Abendmesse in St. Cristóbal. Da wir heute Abend auch noch eine Taufe haben, muss ich ein paar Dinge vorbereiten und mache mich besser langsam auf den Weg.«

»Ich fahre Sie«, erbot sich Eve.

»Das ist nett von Ihnen.« Er blickte sie aus warmen braunen Augen an, in denen immer eine Spur von Traurigkeit und Wehmut lag. »Aber ich kann Sie doch nicht einfach Ihren Gästen wegnehmen.«

»Die sind alle noch beim Essen, bevor sie mit dem Nachtisch fertig sind, bin ich auf jeden Fall zurück.«

Noch immer schaute er sie an, und ihr war klar, dass er etwas in ihren Augen sah, denn plötzlich nickte er und sagte. »Vielen Dank, das wäre nett.«

»Hier, stell den zu den Salaten«, sagte Roarke und drückte Eve den Teller mit den Frikadellen und den Fleischstücken in die Hand. »Wenn Chale keine Zeit mehr für den Nachtisch hat, packt Summerset ihm einfach welchen ein.«

»Dann wäre ich der Held des Pfarrhauses. Jetzt verabschiede ich mich noch von den anderen.«

»Danke«, sagte Eve zu Roarke, als Lopez wieder bei anderen Gästen stand. »Es gibt da einfach ein paar Dinge, über die ich gerne mit ihm sprechen würde, es wird ganz bestimmt nicht lange dauern.«

»Kein Problem. Ich lasse deinen Wagen gleich aus der Garage holen.«

Sie wusste nicht genau, wie sie beginnen sollte oder woher das Bedürfnis rührte, sich mit einem Priester auszutauschen, aber wie von ihm nicht anders zu erwarten, machte Lopez es ihr leicht.

»Es geht um Li«, setzte er an, während sie aus der Einfahrt auf die Straße bog.

»Unter anderem. Ich sehe Morris meist im Leichenschauhaus, habe aber trotzdem ein Gefühl dafür entwickelt, wie’s ihm geht. Das sehe ich zum Beispiel seiner Kleidung an. Ich weiß, dass er das Schlimmste überwunden hat, aber …«

»Es ist hart, die Trauer eines Freundes mitzuerleben. Die Dinge, über die wir sprechen, sind allerdings vertraulich, also kann ich Ihnen keine Einzelheiten nennen, aber Li ist ein starker und spiritueller Mann, und er hat genau wie Sie fast täglich mit dem Tod zu tun.«

»Die Arbeit tut ihm gut. Das kann ich sehen«, gab Eve zurück, »das hat er auch selbst gesagt.«

»Ja. Es hilft ihm, dass er sich um Menschen kümmern kann, die wie seine Amaryllis einen grausamen, sinnlosen Tod gestorben sind. Sie fehlt ihm, und er trauert um die Chance, sich mit ihr zusammen etwas aufzubauen. Aber der Großteil seines Ärgers ist verraucht. Was immerhin ein Anfang ist.«

»Ich weiß nicht, wie ein Mensch es schafft, den Zorn zu überwinden. Ich an seiner Stelle hätte ihn wahrscheinlich gar nicht überwinden wollen.«

»Sie haben ihm irdische Gerechtigkeit verschafft. Danach hat er versucht zu akzeptieren, was geschehen ist, und in dem Glauben Kraft zu finden, dass sie jetzt in Gottes Händen, oder wenn auch nicht in Gottes Händen, so auf jeden Fall in eine andere Welt übergetreten ist.«

»Wenn diese andere Welt so toll ist, warum rackern wir uns dann ab, um möglichst lange hier in dieser Welt zu bleiben?«, fragte Eve. »Warum kommt uns dann der Tod so sinnlos vor, und warum tut er derart weh? All diese Menschen, die ihr Leben leben, bis jemand beschließt, es zu beenden. Das sollte uns sauer machen. Vor allem die Toten selber sollten deshalb sauer sein. Vielleicht sind sie das ja auch, denn manchmal lassen sie einfach nicht los.«

»Mörder übertreten die Gesetze Gottes und der Menschen. Das verlangt nach einer Strafe.«

»Also bringe ich sie hinter Gitter, und von da aus geht es weiter in die Hölle? Könnte durchaus sein. Ich weiß es nicht. Doch was ist mit den Opfern selbst? Einige sind unschuldig und haben keiner Menschenseele je auch nur ein Haar gekrümmt, aber andere sind genauso oder fast so schlecht wie die, von denen sie ermordet worden sind. Hier auf Erden muss ich alle gleich behandeln, meine Arbeit machen und herausfinden, wer sie getötet hat. Das kann und muss ich tun. Aber manchmal frage ich mich, ob das für die unschuldigen Opfer und die Hinterbliebenen wie Morris reicht.«

»Sie haben eine schwere Woche hinter sich.«

»Auf jeden Fall.«

»Wenn es Ihnen einzig darum ginge, einen Fall zu lösen, hätten Sie nie vorgeschlagen, dass Ihr Freund sich mit mir trifft, würden jetzt nicht diese Unterhaltung mit mir führen und Ihrer Arbeit, für die Sie aus meiner Sicht geboren sind, nicht seit Jahren mit der Leidenschaft nachgehen, die Sie zu einer derart guten Polizistin macht.«

»Manchmal wünschte ich, ich könnte sehen oder fühlen … nein, ich wünschte mir, ich hätte irgendwann mal die Gewissheit, dass es reicht.«

Der Pater streckte einen Arm aus und berührte flüchtig ihre Hand. »Wir haben unterschiedliche Berufe, aber einige der Fragen, die wir uns bei unserer Arbeit stellen, sind gleich.«

Sie sah ihn an und nahm eine Bewegung durch das Fenster wahr. Für einen Augenblick waren die Straßen und die Bürgersteige menschenleer. Mit Ausnahme der alten Frau, die schwankend auf sie zugelaufen kam und sich mit einer blutverschmierten Hand ans Herz griff, bevor sie direkt vor ihrem Wagen auf die Straße fiel.

Eve trat auf die Bremse, schaltete die Warnblinklichter ein und riss ihr Handy aus der Tasche, noch bevor sie aus dem Wagen sprang. »Zentrale? Hier Lieutenant Eve Dallas. Ich brauche einen Arzt und einen Krankenwagen in der Hundertzwanzigsten. Der Erste-Hilfe-Kasten ist im Kofferraum«, rief sie dem Pater zu. »Code zwo-fünf-sechs-null-Baker-Zulu. Weibliches Opfer«, fuhr sie fort, während sie sich neben der Frau auf ihre Fersen fallen ließ. »Multiple Stichverletzungen. Halten Sie durch«, murmelte sie. »Halten Sie durch.« Sie ließ das Handy fallen und presste ihre Hände auf die Wunde in der Brust der Frau. »Hilfe ist unterwegs.«

»Beata.« Flackernd schlug die Frau die Lider auf und starrte Eve aus derart dunklen Augen an, dass die Pupillen fast nicht zu erkennen waren. »Gefangen. Hinter der roten Tür. Helfen Sie ihr.«

»Hilfe ist unterwegs. Sagen Sie mir Ihren Namen«, bat Eve, als Lopez das Verbandszeug aus dem Kasten zog. »Wie heißen Sie?«

»Sie heißt Beata. Meine Schöne. Sie kann dort nicht raus.«

»Wer hat Ihnen das angetan?«

»Er ist der Teufel«, sagte sie mit einem Akzent, der dicker als die feuchte Sommerhitze war, und ihre schwarzen Augen bohrten sich in Eve hinein.

Osteuropäisch, dachte Eve und speicherte die Info ab.

»Sie … Sie sind die Kriegerin. Finden Sie Beata. Retten Sie Beata.«

»Sicher. Keine Angst.« Eve wandte sich an Lopez, doch der schüttelte den Kopf, bekreuzigte sich kurz, murmelte dann etwas auf Lateinisch und machte das Kreuzzeichen auch auf der Stirn der Frau.

»Der Teufel hat mich umgebracht. Ich kann nicht kämpfen und kann sie nicht finden. Kann sie nicht befreien. Sie müssen sie befreien. Wir sprechen beide mit den Toten, und Sie sind die Einzige, die ihr noch helfen kann.«

Eve hörte die Sirenen, aber ihr war klar, es war zu spät. Der Mullverband, die Straße und auch ihre eigenen Hände waren blutgetränkt. »In Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Beata finden. Sagen Sie mir Ihren Namen.«

»Ich bin Gizi. Ich bin das Versprechen. Lassen Sie mich ein, und halten Sie Ihr Versprechen.«

»Ja, in Ordnung. Keine Angst. Ich kümmere mich drum.« Beeilt euch, schrie sie in Gedanken die Sirenen an. Um Gottes willen, macht schnell.

»Mein Blut, Ihr Blut.« Die Frau packte die Hand, die Eve ihr auf die Brust drückte, und bohrte ihr die Fingernägel in die Haut. »Mein Herz, Ihr Herz. Meine Seele, Ihre Seele. Lassen Sie mich ein.«

Eve ignorierte den stechenden Schmerz der kleinen Schnittwunden in ihrer Hand. »Sicher. Alles klar. Da kommt Hilfe.« Sie blickte auf den Krankenwagen, der mit kreischenden Sirenen um die Ecke bog, und sah dann wieder in die bodenlosen schwarzen Augen der verletzten, alten Frau.

Ein Brennen zog aus ihrer Hand durch ihren Arm in die Brust und wurde derart heftig, dass es ihr den Atem nahm. Dann wurde sie von einem grellen Blitz geblendet und versank in vollkommener Dunkelheit.

Sie hörte Stimmen, sah noch dunklere Schatten und die hellen Konturen einer jungen Frau – schlank, mit samtig braunen Augen und mit einem Wasserfall aus schwarzem Haar.

Sie ist Beata, und ich selbst bin eins, das Sie in sich tragen, denn Sie sind die Kriegerin und halten mich. Wir sind zusammen, bis das Versprechen eingelöst und dieser Kampf vorüber ist.

»Eve! Lieutenant Dallas! Eve!«

Sie fuhr zusammen, rang nach Luft und starrte Lopez ins Gesicht. »Was ist passiert?«

»Gott sei Dank. Sind Sie okay?«

»Ja.« Mit einer ihrer blutverschmierten Hände schob sie sich die Haare aus der Stirn. »Verdammt, was war denn das?«

»Ich weiß es nicht.« Er blickte zu der alten Frau, mit der zwei Sanitäter beschäftigt waren. »Sie ist jetzt in einer anderen Welt. Da war ein Licht, ein helles Licht. So etwas habe ich noch nie gesehen … Dann war sie tot und Sie waren … nicht bewusstlos, aber weggetreten. Waren kurzfristig völlig abgetaucht. Ich musste Sie zur Seite ziehen, damit sich die Sanitäter um die Frau kümmern konnten. Sie haben das Licht gesehen?«

»Ich habe irgendetwas gesehen.« Genauso hatte sie etwas gefühlt und gehört.

Jetzt aber sah sie nur noch eine alte Frau, die in einer Lache ihres eigenen Blutes auf der Straße lag. »Ich muss den Vorfall melden. Ich fürchte, dass Sie doch nicht rechtzeitig zu Ihrer Messe kommen werden, weil ich erst noch Ihre Aussage aufnehmen muss.«

Sie rappelte sich auf, und einer von den beiden Sanitätern stellte fest: »Wir können nichts mehr für sie tun. Sie ist schon kalt. Wahrscheinlich liegt sie schon seit Stunden hier, bis Sie sie gefunden haben. Manchmal hasse ich New York. Die Leute müssen einfach an der alten Frau vorbeigegangen sein, ohne dass irgendjemand ihr geholfen hat.«

»Nein.« Inzwischen war der Gehweg wieder voller Menschen, die gleich einem Klagechor an ihr vorüberzogen, aber vorher …

»Nein«, erklärte Eve noch einmal. »Wir haben sie fallen sehen.«

»Wie gesagt, die Leiche ist schon kalt. Sie muss mindestens neunzig sein, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es mit derart vielen Stichverletzungen geschafft hat, überhaupt noch einen Schritt zu tun.«

»Dann finden wir am besten heraus, wie so etwas möglich ist.« Sie hob ihr Handy auf und rief zum zweiten Mal an diesem Nachmittag in der Zentrale an.

3

Sie machte ihre Hände sauber, sicherte den Fundort, zog das Untersuchungsset aus dem Kofferraum und nahm die Fingerabdrücke des Opfers, als der erste Streifenwagen in der Nähe hielt.

»Sie ist nicht in der Datenbank.« Frustriert richtete Eve sich wieder auf und wandte sich ihren Kollegen zu. »Wir haben eine Blutspur, die auf keinen Fall zertrampelt werden darf. Halten Sie also die Schaulustigen fern und fragen Sie, ob irgendwer das Opfer kennt oder irgendwas gesehen hat.«

Als sie die Frau gefunden hatten, war nicht eine Menschenseele auf der Straße und den Bürgersteigen unterwegs gewesen. Wo zum Teufel hatten all die Leute in dem Augenblick gesteckt, als die alte Frau mit den unzähligen Stichwunden im Leib einen der Gehwege hinabgestolpert war?

»Was kann ich tun?«, erkundigte sich Lopez.

»Peabody ist unterwegs – es ist echt Glück, dass gleich ein Haufen Leute meines Dezernats ganz in der Nähe sind. Erzählen Sie ihr bitte ganz genau, was Sie gehört und gesehen haben, wenn sie Ihre Aussage aufnimmt.«

»Sie hatte einen sehr starken Akzent. Polnisch, ungarisch oder vielleicht rumänisch.«

»Richtig. Sagen Sie das Peabody. Wenn Sie fertig sind, kann einer der Kollegen Sie nach Hause fahren.«

»Falls ich noch bleiben soll …«

»Hier können Sie nichts mehr tun. Ich melde mich bei Ihnen.«

»Ich würde ihr noch gern die Sterbesakramente geben. Ich hatte damit schon begonnen, aber … haben Sie die Kette mit dem Kruzifix an ihrem Hals gesehen?«

Eve zögerte, aber Lopez hatte die Tote bereits angefasst, und seine Kleider waren wie ihre eigenen mit dem Blut der Frau befleckt. »In Ordnung. Tun Sie das, aber versuchen Sie, sie möglichst wenig zu berühren.«

»Sie bluten an der Hand.«

»Das sind nur ein paar Kratzer«, antwortete Eve. »Sie hat mir ihre Fingernägel in den Handballen gebohrt, als sie nach meiner Hand gegriffen hat.«

Der Priester kniete sich neben den Kopf der toten Frau. Eve zog ein paar Instrumente aus dem Untersuchungsbeutel und sah sich das Opfer noch einmal aus der Nähe an.

»Weiblich, weiß oder vielleicht gemischtrassig, circa neunzig Jahre alt. Vor ihrem Tod hat sie gesagt, sie würde Gizi heißen. Todesursache sind multiple Stichverletzungen an den Armen und im Oberkörper. Außerdem weisen die Arme und die Hände mehrere Abwehrverletzungen auf. Sie hat also nicht einfach dagestanden, als der Täter auf sie eingestochen hat.«

»Sie hätte daheim im Bett im Kreise der Familie sterben sollen. Tut mir leid«, erklärte Lopez, als sie aufblickte. »Jetzt habe ich die Aufnahme gestört.«

»Nicht schlimm. Außerdem haben Sie recht.«

»Das ist der Unterschied zwischen einem normalen Tod und einem Mord.«

»Und dieser Unterschied macht sehr viel aus. Sieht es für Sie so aus, als wären ihre Kleider selbst genäht?« Eve befingerte den Saum des langen, aus verschiedenen Streifen bunten Stoffs zusammengefügten Rocks. »Auf mich wirkt das wie eine wirklich schöne Handarbeit. Und die Sandalen sehen robust, aber ein bisschen abgelaufen aus. Auf der Innenseite ihres linken Knöchels hat sie eine Tätowierung. Pfauenfedern? Sieht nach Pfauenfedern aus.«

»Sie trägt einen Ehering. Tut mir leid«, entschuldigte der Pater sich für die erneute Unterbrechung.

»Richtig, einen Ehering, zumindest einen schlichten goldenen Ring. Dazu die Kette mit dem Kruzifix und einem Strahlenkranz mit einem blassblauen Stein und goldene Ohrringe. Sie hat keine Tasche oder Handtasche dabei, im Falle eines Raubmords hätte es der Täter doch bestimmt auf alles abgesehen, was auch nur ansatzweise wertvoll ist.«

Sie schob ihre eingesprühten Hände in die Rocktasche des Opfers und zog einen kleinen weißen Stoffbeutel daraus hervor. Er fühlte sich wie Seide an, als Verschluss fungierte eine Silberkordel, die mit drei präzisen Knoten zugebunden war.

Eve wusste schon, was sie da in der Hand hielt, ehe sie den Beutel aufzog, um hineinzuschauen. Sie hatte solche Beutel schon des Öfteren gesehen. »Voodoo«, sagte sie zu Lopez.

»Bitte?«

»Hexerei. Sie hat in diesem Beutel Kräuter und kleine Kristalle aufbewahrt. Zusammen mit dem Amulett und mit dem Kruzifix wollte sie offenbar auf Nummer sicher gehen. Aber es hat ihr nichts genützt.«

Sie war beim Tod der Frau dabei gewesen, trotzdem nutzte sie das Messgerät, um den genauen Todeszeitpunkt festzustellen. »Verdammt, das Ding ist offenbar kaputt. Die Frau hat hier um kurz vor fünf direkt vor unseren Augen den letzten Atemzug getan, nicht schon um kurz nach eins.«

»Was ist dann der Grund für ihre kalte Haut?«, warf Lopez ein.

»Wir haben gesehen, wie sie gestorben ist.« Eve richtete sich auf, als Peabody gefolgt von Morris angelaufen kam.

»So etwas war für heute nicht geplant«, erklärte Peabody, als sie die Tote sah.

»Ich schätze, unser Opfer hatte auch was anderes vor.«

Auf Eves Bitte hatte die Partnerin ihr eine dünne Jacke und ihr Waffenhalfter mitgebracht, eilig zog sie beides an, setzte sich an den Straßenrand und tauschte die Turnschuhe gegen ihre robusten Stiefel aus.

»Sie müssen die Aussage von Pater Lopez aufnehmen, damit er endlich gehen kann. Einer der Kollegen soll ihn heimfahren, wenn Sie mit ihm fertig sind. Sie hätten nicht extra kommen müssen«, wandte Eve sich Morris zu. »Ich habe Ihre Leute einbestellt.«

»Ich habe sie wieder abbestellt, nachdem ich sowieso schon in der Nähe war.«

»Tatsächlich bin ich froh, dass Sie persönlich hier sind, um sich unser Opfer anzusehen. Mein Messgerät ist offenbar kaputt. Ich weiß genau, wann sie gestorben ist, denn schließlich war ich selbst dabei. Aber meinem blöden Messgerät zufolge ist sie schon seit fast vier Stunden tot. Die Todesursache ist klar, aber vielleicht finden Sie ja noch was anderes, was mir bisher nicht aufgefallen ist. Wenn Sie sie übernehmen, folge ich erst mal der Blutspur und versuche rauszufinden, wo genau sie angegriffen worden ist.«

»Okay.«

Sie lief in Richtung Westen, obwohl die Gegend überraschend ruhig war – vielleicht weil die Leute vor der Hitze in die Häuser, in die Sky Mall oder an den Strand geflüchtet waren –, waren die Straßen und die Bürgersteige doch nicht völlig menschenleer.

Hatte wirklich niemand die alte Frau mit Stichwunden in Bauch und Armen durch die Gegend stolpern sehen und ihr helfen wollen? So kaltherzig konnten doch nicht einmal New Yorker sein. Trotzdem führte sie die Spur zwei Häuserblöcke westwärts und über zwei Zebrastreifen, als hätte sich die Frau sogar im Sterben noch an alle Regeln halten wollen, und bog dann Richtung Norden ab.

Hier waren die Gebäude älter und erheblich weniger gepflegt, bemerkte Eve beim Anblick der Apartmentblocks, billigen Absteigen, winzigen Supermärkte, Bäckereien, Coffeeshops und Kneipen. Es waren auch hier jede Menge Leute unterwegs.

Sie ging noch drei Häuserblocks weiter, bis die Spur in eine schmale Gasse zwischen zwei Gebäuden führte …

… die eindeutig der Tatort war.

Weit hinten in dem schmalen Durchgang, der im Schatten mehrerer Balkone sowie anderer Überbauten lag, war Blut gegen die pockennarbigen Betonmauern gespritzt und bildete eine große Pfütze auf dem schmutzstarrenden Untergrund.

Es stank bestialisch nach dem Müll aus einem überquellenden Recycler, und mit angehaltenem Atem zog Eve eine Taschenlampe aus dem Untersuchungsbeutel und lenkte den Strahl über die Wände und den Weg, bis er auf einen verschlossenen Müllbeutel neben der Tonne fiel.

»Hast du den Beutel zugebunden, Gizi? Wolltest du den Müll rausbringen? Hast du hier gearbeitet oder gewohnt? Was hättest du sonst in dieser dunklen Gasse machen sollen? Wie zum Teufel hast du es geschafft, mehr als sechs Häuserblocks zu laufen, nachdem jemand ein ums andere Mal mit einem Messer auf dich eingestochen hat? Warum hast du das gemacht? Hilfe hättest du doch auch gleich um die Ecke holen können.«

Sie ging in die Hocke, zog den Müllbeutel zu sich heran und knotete ihn auf. Obst- und Gemüseschalen, die Verpackung eines kleinen Brots, eine leere Packung Milchpulver und eine lange, schlanke Flasche, in der vielleicht Wein gewesen war …

Sie knotete den Beutel wieder zu, hob ihn hoch und fand den Schlüssel, der darunter lag.

Er war alt und schwer, aber die Häuser in der Gegend waren ebenfalls schon alt, vielleicht wiesen ihre Türen noch altmodische Schlösser auf. Sie trat vor eine Tür und sah einen modernen Kartenleser an der Wand. Dann war der Eingang also digital gesichert, aber wie sah es im Inneren des Hauses aus?

Das würde sie ja sehen.

Sie tütete den Schlüssel ein, trat noch einmal vor die Tür und versuchte, sich den Ablauf des Geschehens bildlich vorzustellen.

Sie will den Müll rausbringen, kommt mit ihrem kleinen Beutel aus dem Haus und läuft zur Tonne.

Hat er ihr dort aufgelauert? Wenn ja, warum? Oder ist sie einfach zufällig dazugekommen, als dort irgendjemand Drogen oder sonst was verticken wollte?

Sie lässt den Beutel fallen, als sie angegriffen wird, und dreht sich den Blutspritzern zufolge um. Das heißt, dass der Kerl sie von hinten angegriffen hat und entweder aus Richtung Straße oder durch die Tür in ihrem Rücken auf sie zugekommen ist.

Eve nahm die Position des Opfers ein, machte eine halbe Drehung und …

… flog krachend gegen den Container, als eine Klinge ihre rechte Schulter traf. Sie wirbelte herum und zerrte ihre Waffe aus dem Halfter, doch bevor sie die Gelegenheit bekam zu schießen, drang das Messer schon in ihren Rücken ein. Sie dachte noch »der Schlüssel«, als der Gegenstand mit einem leisen Klirren auf den Boden fiel, dann glitt sie selber an der Wand herab. Sofort wurde sie von irgendwelchen Händen wieder hochgezerrt und mit vor Schock und Schmerz glasigen Augen starrte sie in das Gesicht des Teufels, das so rot wie Höllenfeuer und von schmutzig goldenen und schwarzen Streifen überzogen war. Aus seiner Stirn ragten zwei Hörner, er bleckte seine spitzen Zähne, als das Messer ihr die Brust aufriss.

Als sie versuchte, sich zu wehren, schnitt er ihr auch in die Hände, doch als sie den Mund aufmachte, um ihn zu verwünschen und zu schreien, bekam sie keinen Ton heraus.

Beata, war das Einzige, was sie noch denken konnte, während sie zusammenbrach.

Sie war schweißgebadet, als sie wieder zu sich kam. Sie zitterte am ganzen Leib und war sich sicher, dass sie am Verbluten war.

Dann aber stand sie auf und war genauso unversehrt wie vor dem ersten Stich.

»Was zum Teufel war das?« Benommen beugte sie sich vor und steckte ihren Kopf zwischen die Knie, bis sie wieder zu Atem kam.

»Dallas? He! Sind Sie okay?«, rief Peabody und stürzte auf sie zu.

»Es geht mir gut.«

Die Partnerin bedachte sie mit einem argwöhnischen Blick. »Warum sind Sie dann so bleich wie ein Gespenst?«

»Es geht mir gut«, erklärte Eve erneut. »Das ist nur die Hitze.«

Um es zu beweisen und sich selber zu beruhigen, fuhr sie sich mit einem Handrücken über die schweißbedeckte Stirn. »Wer ist jetzt am Fundort unserer Leiche?«

»Fünf Kollegen von der Trachtengruppe, Morris und die SpuSi. Als ich losgegangen bin, kamen sie gerade an.« Peabody sah sich in der Gasse um. »Das ist verdammt viel Blut da auf dem Boden. Wie zum Teufel hat sie es geschafft, nach einem solchen Blutverlust noch derart weit zu laufen?«

»Gute Frage. Es sieht aus, als wollte sie den Müll rausbringen. Der Inhalt von dem Beutel da deutet auf einen Single-Haushalt hin. Außerdem lag noch ein Schlüssel zwischen diesem Beutel und der Tonne auf dem Boden. Könnte ihr gehören, weil er im Gegensatz zu allen anderen Sachen hier vollkommen sauber ist. Kontaktieren Sie die Spurensicherung. Sie sollen sich hier umsehen. Passen Sie solange auf den Beutel auf. Ich klappere erst mal die Umgebung ab. Falls das tatsächlich ihr Müll ist, muss sie aus einem der zwei Häuser hier gekommen sein.«

Erst vorne an der Straße atmete sie wieder auf – kaum aber lag die Gasse hinter ihr, hörten das Zittern und der Schwindel auf, als wäre nichts geschehen.

Zuerst ging sie in den kleinen Supermarkt im Erdgeschoss. Vor dem Eingang wurden Obst und Blumen angeboten, und im Inneren des Ladens war es herrlich kühl.

Hinter dem Verkaufstresen saß eine Frau auf einem Hocker und nahm sie mit einem breiten Lächeln in Empfang. »Guten Tag. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Eve zückte ihre Marke. »Polizei. Kennen Sie eine Frau von circa neunzig Jahren, mit langen grauen Haaren, die sie wahrscheinlich meist in einem Knoten trägt, dunklen Augen, einem olivfarbenen Teint, eins fünfundsechzig groß und 55 kg schwer? Runzliges Gesicht, osteuropäischer Akzent, Kette mit einem Kruzifix und einem Amulett mit einem blauen Stein.«

»Das klingt nach Madam Szabo«, gab die Frau zurück, ihre Miene wurde ernst. »Geht es ihr gut? Sie war noch heute Morgen hier.«

»Wissen Sie, wo sie wohnt?«

»In einem der Apartments hier im Haus. Im vierten Stock.«

»Kennen Sie auch ihren vollständigen Namen?«

»Ah, Gizi. Gizi Szabo. Sie ist Ungarin. Ist sie in Schwierigkeiten?«

»Sie wurde heute Nachmittag ermordet.«

»Oh mein Gott. Oh nein. Moment.« Sie sprang von ihrem Hocker auf und öffnete die Tür eines Büros oder vielleicht auch Lagerraums. »Zach. Zach, komm her. Jemand hat Madam Szabo umgebracht.«

»Was redest du denn da?« Der Mann, der aus dem Lager kam, trug Shorts zu einem kurzärmligen Hemd und sah verärgert aus. »Es geht ihr gut. Wir haben sie doch heute Morgen noch gesehen.«

»Die Frau ist von der Polizei.«

»Lieutenant Dallas, Mordkommission.«

Statt verärgert wirkte er mit einem Mal zutiefst besorgt. »Verdammt, was ist passiert? Ist jemand in ihre Wohnung eingebrochen?«

»Falls Sie die Nummer des Apartments kennen, würde ich mich dort gern umsehen. Und ich brauche Ihre Namen.«

»Karrie und Zach Morgenstern«, erklärte ihr die Frau. »Das hier ist unser Laden«, fügte sie hinzu und wandte sich an ihren Mann. »Oh, Zach. Sie kam fast jeden Tag vorbei, seit sie hier eingezogen war.«

»Und wann war das?«

»Ungefähr vor einem Monat. Sie hat nach ihrer Urenkelin gesucht. Das ist einfach schrecklich und vor allem völlig unbegreiflich. Sie war eine wirklich nette Frau, konnte wunderbar erzählen, und sie hat mir einmal aus der Hand gelesen. Sie war … was war sie noch mal?«, wandte sie sich erneut an ihren Mann.

»Sie war eine Roma. Oder wie es früher hieß, eine Zigeunerin. Eine echte Zigeunerin. Ich habe manchmal Sachen für sie raufgetragen, denn in ihrem Alter hätte sie die schweren Tüten nicht mehr selber schleppen sollen. Was für ein Mist. Was für ein Riesenmist. Sie war ein herzensguter Mensch. Soll ich Sie nach oben bringen?«

»Danke, nein, ich finde die Wohnung sicher auch allein. Die Gasse zwischen den Gebäuden. Nutzen die Bewohner dieses Hauses den Recycler, der dort steht?«

»Ja. Obwohl das blöde Ding jetzt schon seit beinah einer Woche nicht mehr funktioniert, bisher hat sich niemand …«, Zach brach ab. »Wurde sie dort ermordet? In der Gasse neben unserem Haus? Sie meinen, wir waren hier im Laden, als jemand …«

»Sie hätten ihr nicht helfen können. Wissen Sie, ob sie mit irgendjemandem hier Ärger hatte? Ob irgendjemand ihr etwas antun wollte?«

»Ganz sicher nicht«, erklärte Zach, und Karrie schüttelte den Kopf. »Sie war eine nette, interessante Frau. Sie hat sich ab und zu als Wahrsagerin hier in ihrer Wohnung was dazuverdient, aber ich glaube nicht, dass irgendwer ihr deshalb böse war.«

»Sie haben gesagt, sie hätte nach ihrer Urenkelin gesucht.«

Karrie nickte und blinzelte schniefend die in ihren Augen aufsteigenden Tränen fort. »Oh Gott, das wird mir jetzt erst klar. Die Enkelin lebt ungefähr seit einem Jahr in New York. Sie hat nicht weit von hier entfernt gewohnt und kam manchmal zu uns in den Laden. Das war auch der Grund, aus dem Madam die Wohnung im Haus gemietet hat. Aber wie dem auch sei, die Enkelin hat hier gearbeitet und nebenher eine Ausbildung als Tänzerin gemacht. Sie wollte an den Broadway, aber das wollen diese jungen Frauen alle, wissen Sie? Und dann, vor vielleicht einem Vierteljahr, brach plötzlich der Kontakt nach Hause ab, ihre Familie konnte sie nicht mehr erreichen, und das Restaurant, in dem sie tätig war, behauptete, sie wäre plötzlich einfach nicht mehr aufgetaucht. Natürlich haben sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben, aber offenbar haben die Cops nichts weiter unternommen … tut mir leid.«

»Das braucht es nicht. Kennen Sie den Namen dieser Enkelin?«

»Ja, sicher. Madam Szabo hat die ganze Zeit von ihr geredet und dazu noch überall Flyer verteilt«, fuhr Karrie fort, während sie eine Hand unter den Tresen schob. »Sie hat im Gulasch gearbeitet – das ist ein ungarisches Restaurant einen Block westlich. Wir teilen diese Flyer übrigens auch hier im Laden aus. Sie ist sehr hübsch, nicht wahr? Das heißt, der Name passt.«

»Beata«, sagte Eve und hatte das Gefühl, als bräche ihr das Herz. Die aufsteigende Trauer zwang sie beinah auf die Knie, als sie auf das Foto auf dem Flyer sah.

Genau dieses Gesicht hatte sie in der Dunkelheit gesehen.

»Ma’am? Uhu, Lieutenant? Geht es Ihnen gut?«

Eve nickte knapp. »Sie haben mir sehr geholfen. Vielen Dank. Es könnte sein, dass ich noch mal mit Ihnen sprechen muss.«

»Falls wir nicht hier sind – wir wohnen im sechsten Stock. In der 6A, die geht nach vorne raus«, erklärte Karrie. »Falls wir noch etwas tun können, brauchen Sie es nur zu sagen.«

»Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.« Eve zog eine Visitenkarte aus dem Untersuchungsbeutel und hielt sie ihr hin. »Egal, wie unwichtig es Ihrer Meinung nach vielleicht auch ist.«

Als Eve den Supermarkt wieder verließ, wartete Peabody schon vor der Tür. »Die Spurensicherung ist da.«

»Das Opfer war eine gewisse Gizi Szabo. Sie hatte eine Wohnung hier im vierten Stock, kam angeblich aus Ungarn und war offenbar eine Zigeunerin.«

»Wahnsinn. Eine richtige Zigeunerin?«

»Es würde wohl kaum jemand von sich behaupten, dass er vorgibt, was zu sein, was er nicht ist«, gab Eve zurück und stellte fest, dass sie inzwischen wieder ganz die Alte war. »Sie kam vor einem Vierteljahr hier an und hat ihre verschwundene Urenkelin gesucht.« Sie nutzte ihren Generalschlüssel und schloss die Haustür auf. »In ihrer Wohnung hat sie Leuten die Zukunft vorausgesagt.«

Nach einem kurzen Blick auf den uralten Fahrstuhl wählte Eve die Treppe und hielt Peabody den Flyer hin. »Überprüfen Sie die beiden Frauen. Hat Morris übrigens den Todeszeitpunkt rausgefunden, bevor Sie dort aufgebrochen sind?«

»Bei seiner Messung kam dasselbe wie bei Ihrer Messung raus. Heute Mittag gegen eins.«

»Das ist totaler Schwachsinn«, fauchte Eve sie zornig an. »Ich weiß, verdammt noch mal, wenn jemand stirbt, während meine Hand auf seinem Herzen liegt. Vor allem habe ich noch mit der Frau geredet.«

»Mit einer wahrsagenden ungarischen Zigeunerin«, rief Peabody ihr in Erinnerung. »Vielleicht …«

»Kommen Sie mir bitte nicht mit Voodoo oder irgendwelchem Hippiekram. Ich weiß genau, dass diese Frau vor einer Stunde noch gelebt, geblutet und mit mir geredet hat.«

Inzwischen hatten sie den vierten Stock erreicht. Eve schob den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür 4 D, drehte ihn um und schob die Tür vorsichtig auf.

4

In genauso einer kleinen, alten Wohnung hatte auch sie selbst einmal gewohnt. Bestimmt kam es ihr deshalb vor, als wäre sie schon einmal hier gewesen, dachte Eve.

Die Möbel in dem einen Raum – die Schlafcouch mit der hauchdünnen Matratze, zwei billige Stühle und die bunt gestrichene Kommode, die zugleich als Tisch diente – gehörten offenbar zum Inventar. Erst der bunt bedruckte Vorhang vor dem Fenster und die farbenfrohen Tücher, die über den wackeligen Stühlen und der schmalen Liege ausgebreitet waren, verliehen dem Zimmer eine Atmosphäre hoffnungsvoller Fröhlichkeit.

In einer Ecke stand ein schmaler Schrank, es gab eine Spüle, einen kleinen AutoChef und einen kleinen Kühlschrank, daneben stand ein zweiter, leuchtend roter Tisch, auf dem ein Tuch mit Fransen lag.

Eve konnte deutlich sehen, wie die alte Frau auf einem der zwei an den Tisch gestellten Hocker saß und für die Menschen, die Interesse daran hatten, in die Zukunft sah.

»Sie hat sich hier gemütlich eingerichtet«, meinte Peabody. »Sie hat sich’s mit bescheidenen Mitteln hübsch gemacht.«

Eve zog die Schranktür auf und sah sich Szabos ordentlich auf Bügeln aufgehängte Kleider an. Auf dem Boden standen neben einem Paar robuster Halbschuhe zwei Pappkartons, und während Eve sie aus dem Schrank zog, wogte ein Gefühl der Trauer in ihr auf.

»Beatas Sachen. Kleider, Schuhe und Ballettzeug, etwas Schmuck, ein bisschen Schminkzeug, Haargummis. Bestimmt hat ihr Vermieter diese Sachen eingepackt, als sie nicht mehr aufgetaucht ist.«

Es tat ihr weh, die Dinge durchzugehen, die hübschen Blusen und die abgetragenen Ballettschläppchen zu sehen und zu berühren und Beatas Geist zu spüren.

Sie durfte diese Sache nicht persönlich nehmen, ermahnte Eve sich streng. Vor allem, da ihr Opfer nicht direkt Beata Varga, sondern deren Urgroßmutter war.

Ich bin das Versprechen, das Sie in sich tragen.

… rief die Stimme, die in ihrem Herz und ihrem Kopf erklang, ihr in Erinnerung.

»Tüten Sie die Sachen ein«, befahl sie der Partnerin und richtete sich wieder auf. Sie trat vor die Kommode und betrachtete das Foto von Beata, das zwischen drei Kerzen, einem kleinen Teller, in dem eine Handvoll bunter Steine lag, einem Silberhandspiegel und einer reich verzierten Silberglocke stand.

»Was wissen wir über die Enkelin?«, erkundigte sie sich bei Peabody.

»Beata Varga, zweiundzwanzig Jahre alt, mit einem Arbeitsvisum hier und bis zu ihrem Verschwinden vor drei Monaten im Gulasch angestellt. Keine Vorstrafen. Ein Detective Lloyd vom 163. Revier hat die Vermisstenanzeige bearbeitet, die die Familie erstattet hat.«

»Kontaktieren Sie ihn«, bat Eve, »sagen Sie ihm, wir wären in einer halben Stunde in dem Restaurant und würden ihn dort gerne sehen.«

Sie öffnete die erste Lade der Kommode, in der neben ordentlich zusammengelegten Nachthemden und Unterwäsche eine Holzschatulle mit geschnitztem Deckel lag. Sie hob den Deckel an und blickte auf einen Satz Tarotkarten, eine Pfauenfeder und eine Kristallkugel in ihrer Halterung, die Gizis Handwerkszeug gewesen waren. Statt den Deckel einfach wieder zuzuklappen, zog sie mit den Daumen die in die Innenseiten eingravierten Blumen nach, und plötzlich öffnete sich noch ein Schubfach, das bis dahin nicht zu sehen gewesen war.

»Wow«, entfuhr es Peabody, die ihr über die Schulter sah. »Ein Geheimfach. Cool. Wie haben Sie das aufgekriegt?«

»Einfach mit … Glück«, erklärte Eve, obwohl sich ihre Nackenhaare sträubten, weil sie ganz genau gewusst hatte, wie dieses Fach zu öffnen war.

In dem Geheimfach lagen eine Strähne dunkler Haare, die mit einer Goldkordel zusammengebunden war, ein Herz aus weißem Stein und ein Kristallstab, der an einer kleinen Silberkette hing.

»Die gehören ihr«, stieß Eve mit rauer Stimme aus. »Beata. Eine Strähne ihres Haars, etwas, was sie berührt und etwas, was sie getragen hat.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht. Bestimmt hat Szabo sie zusammen mit den Karten und Kristallen, der Glocke und dem Spiegel eingesetzt, um herauszufinden, wo die Enkeltochter steckt. Ich behaupte nicht, dass so was funktioniert«, beeilte Peabody sich zu erklären, als sie die Miene des Lieutenant sah. »Aber vielleicht hat sie das ja geglaubt. Wie dem auch sei, kommt Lloyd in einer halben Stunde in das Restaurant.«

»Dann lassen Sie uns vorher sehen, ob es hier noch irgendwas zu finden gibt.«

Die alte Frau hatte sehr einfach, aber ordentlich und vorsichtig gelebt. In einem Kleiderbeutel in der unteren Lade der Kommode hatte sie ein bisschen Bargeld, eine weitere Tüte mit Kristallen und Kräutern, einen Stadtplan, eine U-Bahn-Wochenkarte, ihren Reisepass und einen Stapel Flyer mit Beatas Foto und den Personalien ihrer Enkeltochter aufbewahrt, unter dem Kühlschrankboden aber klebte noch ein Umschlag, auf dem eine Pfauenfeder befestigt und der zusätzlich versiegelt war.

Eve brach das Siegel auf und hielt der Partnerin ein Bündel Scheine hin.

»Das dürften gut zehntausend Dollar sein«, mutmaßte Peabody. »Sie hätte ihre Miete also auch bezahlen können, ohne wahrzusagen.«

»Sie hat wahrgesagt, weil das ihre Berufung war«, gab Eve zurück. »Tüten Sie die Sachen ein, und kleben Sie ein Siegel an die Wohnungstür. Wir müssen langsam los.«