Nur der Tod findet dich - Sandra Brown - E-Book

Nur der Tod findet dich E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Manchmal findet dich nur der Tod – der neue Pageturner von SPIEGEL-Bestsellerautorin Sandra Brown!

Jeder Cop kennt ihn: den einen ungeklärten Fall, der einen Gesetzeshüter noch Jahre später verfolgt. Für Detective John Bowie ist dieser Fall das Verschwinden von Crissy Mellin. Die Teenagerin tauchte nie wieder auf, und Bowie quält noch immer der Gedanke, wie schlampig die Ermittlungen damals waren. Als die verstörend schöne Beth Collins aufkreuzt und behauptet, Crissy wäre das Opfer eines Serienkillers, wirft es Bowie gehörig aus der Bahn. Sein Instinkt warnt ihn davor, sich auf Beth und ihre Theorie einzulassen – doch falls sie recht hat, wird in vier Tagen das nächste Mädchen sterben ...

Sandra Brown ist die ungeschlagene Thriller-Queen! Lesen Sie auch »Vertrau ihm nicht« und »Dein Tod ist nah«!

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 546

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Jeder Cop kennt ihn: den einen ungeklärten Fall, der einen Gesetzeshüter noch Jahre später verfolgt. Für Detective John Bowie ist dieser Fall das Verschwinden von Crissy Mellin. Die Teenagerin tauchte nie wieder auf, und Bowie quält noch immer der Gedanke, wie schlampig die Ermittlungen damals waren. Als die verstörend schöne Beth Collins aufkreuzt und behauptet, Crissy wäre das Opfer eines Serienkillers, wirft es Bowie gehörig aus der Bahn. Sein Instinkt warnt ihn davor, sich auf Beth und ihre Theorie einzulassen – doch falls sie recht hat, wird in vier Tagen das nächste Mädchen sterben …

Autorin

Sandra Brown arbeitete als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman Trügerischer Spiegel auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der New York Times-Bestsellerliste erreicht! Ihr endgültiger Durchbruch als Thrillerautorin gelang Sandra Brown mit dem Roman Die Zeugin, der auch in Deutschland zum Bestseller wurde. Seither konnte sie mit vielen weiteren Romanen ihre Leser und Leserinnen weltweit begeistern. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Von Sandra Brown bereits erschienen (Auswahl)

Sicher bist du nie · Ihr zweiter Tod · Vertrau ihm nicht · Dein Tod ist nah · Sein eisiges Herz · Verhängnisvolle Nähe

Sandra Brown

Nur der Tod findet dich

Thriller

Deutsch von Christoph Göhler

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Blood Moon« bei Grand Central Publishing, New York.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2025 by Sandra Brown Management Limited.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

BSt · Herstellung: CS

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-32177-2V001

www.blanvalet.de

Kapitel 1

Samstag, 8.März

Die elegischen Lyrics des Songs Desperado sickerten durch das Spitzengewebe aus Spinnweben vor dem knisternden Lautsprecher an der Decke.

Die Ballade lieferte den passenden Soundtrack zu seinem Auftritt.

Nach zwei Schritten blieb er stehen, eine Silhouette in einem Keil gleißender Mittagssonne, der sich zusehends verengte, je weiter die ledergepolsterte Tür hinter ihm zuschwang, bis die Bar zuletzt wieder in jenem schummrigen Licht versank, die allen Spelunken auf der Welt gemein war.

Diese Pinte hier lag an der Grenzlinie zwischen dem Larouche Parish und Terrebonne. Keines der beiden Countys wäre besonders stolz auf die Bar gewesen, doch letztendlich hatte Terrebonne die Bürde zu tragen. Die Hütte lag zu weit im Sumpf, als dass jemand sie mit einem Ort in Verbindung gebracht hätte, aber der Postleitzahl nach gehörte sie zu Auclair.

Er setzte seine Sonnenbrille ab, klappte die Bügel zusammen und hakte die Brille über dem dritten Druckknopf seines Cowboyhemds ein.

Der Barkeeper sah von seiner zerfledderten Zeitschrift auf und nahm seinen Gast in Augenschein. »Regnet es schon?«

»Noch nicht, aber ziemlich sicher heute Abend.« Er ging an die Bar und stieg auf einen Hocker.

»Ein Bier?«

»Cola, bitte. Mit viel Eis.«

»Kommt sofort.«

Dann, aus den Tiefen des Raumes: »Kommt ein Dude in eine Bar und bestellt eine Cola. Wieso geht er nicht gleich in ein Dairy Queen?« Die Bemerkung löste kehliges Gelächter aus.

Der Neuankömmling an der Bar blickte über die Schulter in Richtung der Billardtische. Es wurde nur an einem gespielt. Eine trübe Neonröhre hing tief über dem Filz und beleuchtete vier schmierige Gestalten.

Der vorlaute Komiker lehnte mit dem Rücken an der Wand, hatte die Arme verschränkt und den angewinkelten linken Fuß auf Kniehöhe gegen die Betonziegel gestemmt. Er zermalmte ein Streichholz zwischen den Zähnen. Einer seiner Mitspieler kreidete gemächlich die Penunze seines Billardqueues. Die beiden anderen lehnten am Tisch und tranken Flaschenbier.

Alle musterten den »Dude« provozierend.

Doch als sich der Sprecher des Quartetts einem langen, schweigenden Blick ausgesetzt sah, verankerte er stumm das Streichholz im Mundwinkel unter seinem Hängeschnauzer, setzte den Fuß auf den Boden, stieß sich von der Wand ab und sagte zu dem Mann mit dem Queue: »Stößt du jetzt mal, oder was?« Leise murmelnd und lachend nahmen die vier ihr Spiel wieder auf.

Der Barkeeper hatte den Vorgang interessiert verfolgt, öffnete jetzt eine Dose Cola und leerte sie in ein mit Eis gefülltes Glas. »Bitte sehr.«

»Danke.«

»Das geht auf meine Rechnung.«

Sie saß in einer schummrigen Nische, die sie ausgesucht hatte, weil sie aus dieser Ecke den Eingang im Blick hatte und ihn bei seiner Ankunft beobachten konnte. Sie war früher gekommen; er pünktlich auf die Minute.

Unbemerkt hatte sie das gesamte Geschehen verfolgt. Die Geste mit der Sonnenbrille hatte beiläufig gewirkt, wie eine natürliche Reaktion, wenn jemand aus der Sonne in einen dunklen Raum trat. Aber sie vermutete, dass er sich damit Zeit verschafft hatte, während der sich seine Augen anpassen konnten, um die Situation zu analysieren und sich ein Bild von dem Grundriss der Bar zu machen und davon, was ihn hier erwartete. Er hatte sie nur nicht bemerkt, weil ihr Tisch weiter hinten stand, wo es besonders düster war.

Als er an die Bar getreten war, waren ihr sein lockerer Gang und seine gleichgültige Ausstrahlung aufgefallen. Sein Wortwechsel mit dem Barkeeper war zwar nicht besonders ausgiebig, aber durchaus freundlich gewesen. Trotzdem hatte er den frotzelnden Billardspieler und seine Kumpane mit einem einzigen Blick zum Schweigen gebracht.

Dabei hatte er ihr den Rücken zugewandt. Doch ihr war klar, dass er die Männer mit demselben kalkulierenden Blick fixiert haben musste, der sich jetzt auf sie richtete, während er mit seinem Getränk auf ihren Tisch zusteuerte.

Als er sie erreicht hatte, nickte er zu der freien Sitzbank hin. »Ist hier noch frei?«

Sie nickte.

Er rutschte in die Nische. Sie sahen sich gegenseitig mit offenem Interesse, aber wortlos an, bis er meinte: »Danke für die Cola.«

»Gern geschehen.«

Sie musterte ihn stumm und tunkte gleichzeitig immer wieder den Strohhalm in ihr Wasserglas. Er hatte sich keine Mühe gegeben, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Unrasiert und unfrisiert, war sein Hemd zerknittert und hing ihm aus der Hose.

Seine Jeans waren sauber, aber abgetragen und an den Knien schon fast durchgewetzt. Sie hatten ein Loch über der linken Vordertasche, und die Hosensäume waren ausgefranst. Das Kleidungsstück war wie mit ihm verwachsen, seinem Körper und schlendernden Gang zu gut angepasst, als dass er es so gekauft haben konnte. Der Look zeugte von tatsächlichem Gebrauch. Jahrelangem Gebrauch.

»Sie sind nicht das, was ich erwartet hätte«, sagte sie.

»Ach nein? Abgesehen von der Verkleidung sind Sie genau das, was ich erwartet habe.«

»Und worauf beruht Ihre Erwartung?«

»Auf Ihrer Stimme am Telefon.«

»Wieso?«

»In Ihrem Mund würde keine Butter schmelzen.«

Sie ließ von ihrem Strohhalm ab. Stattdessen lehnte sie sich zurück, verschränkte die Arme und unterzog ihn einer ausgiebigen Musterung, die sie mit einem unnachgiebigen Blick in seine unversöhnlichen Augen beendete. »Was meinen Sie mit ›abgesehen von der Verkleidung‹?«

»Die LSU-Baseballkappe? Die haben Sie noch nie getragen. Sie sitzt nicht, sie ist zu neu, und sie passt nicht zu Ihrem Schickimicki-Accessoire.« Er sah auf die Handtasche, die neben ihr auf der Bank lag. »Ich würde wetten, dass die Louis Vuitton Ihnen eher entspricht.«

Sie ging nicht darauf ein. »Sie tragen keine Marke.«

Er kommentierte das nicht.

»Haben Sie eine Marke?«, fragte sie.

»In meiner Brieftasche.«

»Einen Ausweis?«

»In meiner Brieftasche.«

»Auch dabei?«

»Ja.«

»Würden Sie mir bitte beides zeigen?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Also …« Er verschränkte die Arme auf dem Tisch, beugte sich vor und erklärte leise: »Zuerst einmal haben Sie mich gebeten – nein, mich angewiesen –, hier nicht als Bulle aufzukreuzen. Eine Marke wäre da kontraproduktiv. Außerdem trage ich meine Marke nie sichtbar. Zum Zweiten: Sehen Sie die Seuchenvögel da drüben am Pooltisch? Ich weiß, dass der Staatsanwalt hinter ihnen her ist. Wenn sie mitbekommen würden, dass ich Ihnen eine Marke und einen Ausweis zeige, wäre ich als Bulle enttarnt, und dann würden wir höchstwahrscheinlich Ärger bekommen. Ich weiß genau, dass diese Typen Waffen tragen, aber ich weiß nicht, welche, und das herauszufinden, könnte ein Blutbad nach sich ziehen. Drittens hat der Barkeeper inzwischen seine MotorTrend weggelegt und poliert ausgiebig ein Schnapsglas. Das passt nicht zu einem Laden wie diesem, es ist sogar entschieden zu pingelig. Er tut so, als würde er uns nicht beachten, aber ihm entgeht keine Bewegung. Ich weiß nicht, für wen er Partei ergreifen würde, falls es zu einer Schießerei kommen würde. Und falls das passiert – was für mich mehr oder weniger gesetzt ist –, könnten Sie verletzt werden, und das will ich vermeiden.«

»Weil Ihr Gewissen darunter leiden würde?«

»Nein, meine Karriere. Mein Vorgesetzter sucht schon länger nach einem Vorwand, mich zu feuern. Falls Sie als Unbeteiligte bei einem von mir ausgelösten Schusswechsel verletzt oder getötet würden, hätte er einen guten Grund, mir den Laufpass zu geben. Deshalb werde ich meinen Ausweis in der Brieftasche lassen, die Waffe unter dem Hemd und weiterhin cool bleiben, und nachdem wir hiermit fertig sind – was immer das auch werden soll –, besorge ich mir das Kennzeichen von der Redneck-Karre, die draußen parkt und die ganz sicher nicht Ihnen, sondern diesen Fentanyl-Dealern gehört. Anschließend werde ich dem Staatsanwalt Bescheid geben, wo diese Typen zu finden sind. Also lassen Sie uns, um die Sicherheit und das Wohlergehen aller Beteiligten zu wahren, weiterhin so tun, als wären wir uns rein zufällig begegnet und Sie eine enttäuschte Hausfrau, die hier auf der Suche nach einem Nachmittagsrodeo reinspaziert ist. Ich bin zufällig hereingeschneit, Sie haben mich inspiziert und entschieden, dass ich ein ganz passabler Kandidat sein könnte.«

Als er fertig war, kochte sie innerlich, dennoch bemühte sie sich, unbeeindruckt zu wirken. »Sie sitzen mit dem Rücken zum Barkeeper. Woher wissen Sie, was er gerade macht?«

»Ich sehe sein Spiegelbild in dem geschwärzten Fenster hinter Ihrer rechten Schulter. Nein, drehen Sie sich nicht um. Vertrauen Sie mir.« Er griff nach seinem Glas, nahm einen tiefen Schluck und verkniff sich nur knapp ein Rülpsen.

Sie kämpfte ihre aufsteigende Wut nieder, denn die würde sie nicht weiterbringen. Trotzdem konnte sie sich eine Bemerkung nicht verkneifen. »Ich bin unvoreingenommen hierhergekommen und war bereit, mich vom Gegenteil überzeugen zu lassen, aber Sie sind tatsächlich ein arroganter Arsch, stimmt’s?«

»Hey«, er sah sie empört an, »falls Sie wirklich ein kleines Rodeo reiten wollen …«

»Ganz bestimmt nicht.«

»Also, wer hat hier wen herbestellt? Wobei ich immer noch nicht weiß, warum.« Sein Blick tastete sie kurz ab. »Ich spreche doch mit der richtigen Frau? Falls Sie nicht Beth Collins heißen, sollte ich lieber …«

»Doch.«

»Puh. Das hätte peinlich werden können.« Er bemühte sich nicht, sein Grinsen zu unterdrücken, und sackte gegen die Rückbank.

Egal, ob ihre Wut sie weiterbringen würde oder nicht. Sie würde sie nicht länger unterdrücken. »Amüsieren Sie sich?«

»Schon, ja.«

»Das hier ist kein Spaß, glauben Sie mir.«

»Nein?« Er zuckte mit den Achseln. »Okay. Also, wann kommen wir zu dem, worüber Sie mit mir reden wollen? Ich muss zugeben, dass ich neugierig bin. Vor allem jetzt, wo ich Sie gesehen habe.«

Diesen Köder würde sie nicht schlucken. »Sie sind also nur aus Neugier hergekommen?«

»Ganz ehrlich? Nein. Ich dachte, ich wäre Ihnen was schuldig, nachdem Sie meinen Namen richtig ausgesprochen haben. Nicht ›Bo-wie‹ wie den Rockstar. Sondern ›Buu-ie‹ wie das Kampfmesser.«

»Also, Mr.Bowie wie das Kampfmesser, ich bin Ihnen ehrlich dankbar, dass Sie sich so kurzfristig und ohne jede Erklärung mit mir treffen. Fangen wir noch mal von vorn an, in Ordnung?« Sie verstummte. Er gab ihr ein Zeichen fortzufahren. »Die Sache ist wichtig, und sie ist dringend.«

Sein Schmunzeln erlosch, und er studierte sie kurz. Offensichtlich hatte ihr ernsthafter Tonfall Eindruck gemacht und sein Interesse geweckt. Jedenfalls sah er nicht mehr so aus, als müsste er sich zusammenreißen, um sie nicht auszulachen.

»Also gut, Ms.Collins, ich bin hier. Ich bin hergekommen, wie Sie es gewünscht und wie ich es versprochen habe. Worum geht es?«

Sie lockerte mühsam die verkrampften Schultermuskeln, vor allem, weil der Barkeeper, der in ihrem Blickfeld stand, sie tatsächlich beobachtete, während er ein Schnapsglas polierte. Sie zwang sich, den zerzausten Mann an ihrem Tisch anzulächeln, und senkte dann kokett den Blick, als würde sie mit ihm flirten. Halblaut sagte sie: »Haben Sie jemandem im Police Department erzählt, dass Sie mit mir gesprochen haben?«

»Nein.«

»Oder dass wir uns heute treffen?«

»Nein.«

»Als sie vom Revier hergefahren sind …«

»Ich habe heute meinen freien Tag. Ich komme direkt von zu Hause.« Nach einer halben Sekunde fügte er hinzu: »Direkt aus dem Bett.«

Sie wusste, dass er das nur angefügt hatte, um ihre Reaktion zu testen, darum zeigte sie keine. »Haben Sie irgendwem erzählt, dass Sie sich mit mir treffen? Ihrer Frau vielleicht?«

»Ich habe keine.«

»Oh.« Sie konnte ihre Überraschung nicht verhehlen. »Aber Sie hatten eine.«

»Nicht mehr.« Seine Brauen zogen sich zusammen und bildeten eine tiefe Kerbe. »Wie zur Hölle …«

»Man hat mir Informationen zukommen lassen.«

»Sie hatten einen Informant?«

Einen Informanten, dachte sie, aber sie korrigierte ihn nicht und antwortete auch nicht. »Außerdem habe ich selbst recherchiert.«

Sein Blick nagelte sie an ihrer Bank fest, und ohne ihn abzuwenden, griff er nach seiner Cola und trank. Nachdem er das Glas wieder abgesetzt hatte, fragte er: »Was wollen Sie hier? Wir sind ein mittelmäßiges Department in einem unbedeutenden Ort. Und das ist noch schmeichelhaft ausgedrückt. Warum haben Sie ausgerechnet uns angerufen, wenn Sie Ärger haben?«

»Sie. Ich habe Sie angerufen.«

»Und wieso ausgerechnet mich?«

Sie befeuchtete ihre Lippen und senkte die Stimme: »Wegen der jungen Frau, die entführt und dann umgebracht wurde. Im November 2022.«

Er biss die Zähne zusammen. Seine grauen Augen verhärteten sich zu Schiefer, und seine Haltung hatte etwas von einer Kobra kurz vor dem Biss.

Sie hatte zwar mit Ablehnung gerechnet, doch er reagierte so schnell und so feindselig, dass sie einen Moment aus dem Konzept kam. »Sie hieß …«

»Ich weiß, wie sie hieß.«

Sie lugte kurz zum Barkeeper, der immer noch dasselbe verfluchte Glas polierte. Im nächsten Moment sah sie wieder John Bowie an und säuselte mit aufgesetztem Lächeln: »Unser Zuschauer hört vielleicht nicht, was Sie sagen, aber er bemerkt bestimmt Ihren zornigen Tonfall und Ihre Körpersprache, und beides wirkt nicht so, als würden Sie auf ein Techtelmechtel hoffen.«

Er blinzelte, als müsste er den Polizisten in sich aufwecken. »Dieses Theaterspiel ist wichtig?«

»Ja. Vorerst.«

Er nahm sie beim Wort, entspannte sich merklich und beugte sich wieder vor. »Dann sollte ich unbedingt mitspielen.« Er nahm ihre Hand und strich mit seinem Daumen über ihre Handfläche. »Wie ist das? Besser?«

Sie unterdrückte den Impuls, die Hand aus seiner zu reißen, und ignorierte die unterschwellige Bedeutung seiner Geste wie auch das leise Flattern, das sie unterhalb ihres Nabels spürte. Stattdessen lächelte sie schüchtern und zog scheinbar widerwillig ihre Hand aus seiner.

Er trank seine Cola aus, schüttelte abschließend einen kieselgroßen Eiswürfel in seinen Mund und zermalmte ihn, wobei sie ihn ebenso eindringlich wie argwöhnisch mit dem Blick fixierte. »Wieso interessieren Sie sich für Crissy Mellin?«

»Der Fall machte damals landesweit Schlagzeilen.«

Er schnaubte verbittert. »Erzählen Sie mir was, was ich nicht weiß.«

»Sie waren mit den Ermittlungen befasst.«

»Auch das weiß ich schon.«

»Ihr Name wurde immer wieder in den Zeitungen genannt.«

»Und noch etwas, was ich schon weiß.«

»Aber Sie haben jedes Interview verweigert.«

»Obwohl diese Blutsauger alles versucht haben.«

Sie zögerte und holte dann Luft. »Sie waren zwar nie vor einer Kamera zu sehen, aber sie wurden oft erwähnt und zitiert. Ein kurzer Kommentar hier, ein Halbsatz dort, und schon bald war offensichtlich, dass Sie unzufrieden damit waren, wie Ihr Department die Ermittlungen führte.« Sie verstummte kurz. »Will Ihr Vorgesetzter Sie feuern, weil Sie ihn zu offen kritisiert haben?«

»Das ist mit ein Grund.«

»Es gibt noch einen?«

»Mein Schwanz ist größer als seiner, und das erträgt er nicht. Nicht, dass wir sie tatsächlich verglichen hätten, aber Sie können es sich vorstellen.«

Ihre amüsierte Miene war aufgesetzt. »Aha, jetzt versuchen Sie es mit Obszönität. In der Hoffnung, dass ich empört nach meiner Edel-Handtasche greife und aus der Bar stürme.«

»Lassen Sie sich nicht aufhalten, Ms.Collins.«

»Tut mir leid, Mr.Bowie. Da müssen Sie schon mehr aufbieten.«

Die Stirn immer noch von einer tiefen Falte zerfurcht, beugte er sich mit finsterem Blick weiter vor und senkte die Stimme zu einem tiefen Knurren. »Hören wir auf mit dem Geplänkel. Warum haben Sie mich in diese Spelunke hier draußen in der Wildnis bestellt? Am helllichten Tag, wenn ich frei habe? Als hätte ich nichts Besseres zu tun, als mir etwas in Erinnerung zu rufen, was ich nur zu gern aus meinem Gedächtnis radieren würde.«

Seine Augen wurden schmal und tasteten gemächlich ihren Körper ab. Als sich ihre Blicke wieder trafen, lächelte er lasziv. »Es sei denn, Sie sind wirklich auf ein kleines Rodeo aus. Vielleicht mit einem Mann, der Handschellen, eine Marke und eine Pistole hat? Ist es das? Manche Frauen stehen auf so was. Sie wären überrascht, wie viele.«

»Ich wäre ganz und gar nicht überrascht.«

»Wenn die Sache so liegt«, erklärte er gedehnt, »dann sollten wir einen Gang zulegen.«

Ihre Wangen glühten. Sie verkniff sich eine wütende Entgegnung, griff nach ihrem Glas und sog am Strohhalm. Dann setzte sie das Glas energisch wieder ab. »Ich habe Sie angerufen, weil ich als Produzentin für den True-Crime-Sender Crisis Point arbeite und dort bald eine Folge über Crissy Mellin gesendet wird.«

Seine Augen erkalteten wieder zu diesem beängstigenden Schiefergrau, und er zischte: »Verfluchte Scheiße. Es gab einen Riesenaufruhr, als Ihre Crew hier unten gefilmt hat. Aber das ist eine ganze Weile her. Ich hatte gehofft, die Sache wäre beerdigt und begraben.«

»Ist sie nicht.«

»Und Sie sind mit im Team?«

Sie zögerte und nickte dann.

»Bye-bye.«

Ehe er aus der Bank rutschen konnte, schoss ihre Hand vor, krallte sich um seinen Unterarm und presste ihn auf die Tischplatte. »Sie waren die einzige wichtige Person in diesem Fall, die sich standhaft weigerte, mit unserem Team zusammenzuarbeiten. Sie haben keinen einzigen Anruf entgegengenommen, und falls doch mal jemand zu Ihnen durchdringen konnte, haben Sie aufgelegt, sobald sich der Anrufer vorgestellt hatte. Sie haben sich nicht einmal von unserem Moderator erweichen lassen, und der ist berühmt für seine Hartnäckigkeit und Überredungskunst. Sie wollten sich nicht von ihm interviewen lassen, Sie haben sich nicht einmal privat mit ihm unterhalten. Von ihm habe ich gehört, dass Sie ein arroganter Arsch seien.« Ihr Herz pochte. Sie holte wieder Luft. »Ich habe in der verzweifelten Hoffnung angerufen, dass Sie trotzdem mit mir sprechen würden.«

Er sah auf die Hand, die seinen Unterarm knapp unter dem hochgekrempelten Ärmel festhielt. »Ich will hier kein Armdrücken veranstalten. Schon gar nicht vor Publikum. Lassen Sie los.«

»Hören Sie mich an.«

»Lassen. Sie. Los.«

»Bitte, Mr.Bowie. Es wäre ein schrecklicher Fehler, nicht mit mir …«

»Den schrecklichen Fehler habe ich begangen, als ich mich von einer beschwörenden, sexy Frauenstimme herlocken ließ. Das muss ich Ihnen lassen. Sie haben Ihre Falle gut präpariert.«

»Geben Sie mir nur zwei Minuten.«

»Noch einmal vielen Dank für die Cola.«

Er wollte aufstehen. Sie packte seinen Arm fester. »Zwei Minuten.«

Ein energisches Kopfschütteln. »Ich bin raus.«

»Dreißig Sekunden. Bitte. Dreißig Sekunden, und Sie haben die Fahrt hierher nicht umsonst gemacht.« Als sie sein Zögern spürte, drückte sie noch einmal zu. »Nur eine halbe Minute. Bitte.«

Er kaute nachdenklich auf seiner Wange. »Okay, aber dann erzählen Sie mir gefälligst was, was ich noch nicht weiß.«

Sie atmete aus und flüsterte: »Es wird wieder passieren.«

Kapitel 2

»Noch eine Cola?«

Der Barkeeper war hinter der Bar hervorgekommen und auf dem Weg zu ihrem Tisch, wie John an seinem Spiegelbild im geschwärzten Fenster erkannte. Beth Collins war so konzentriert gewesen, dass sie ihn offensichtlich erst bemerkte, als er sie ansprach, und daraufhin erschrocken zusammenzuckte.

John richtete sich auf, lächelte den Barkeeper an und griff nach dem Getränk. »Danke, Mann. Woher haben Sie das gewusst?«

»Na, so wie es aussieht, ist es mit einer nicht getan.« In seinem Fassbauch rumpelte ein tiefes Lachen. »Was ist mit Ihnen, Süße? Vielleicht was Stärkeres?«

Sie spannte sich bei seinem »Süße« merklich an, reagierte aber mit einem Lächeln und einem coolen: »Nein danke.« Als würde in ihrem Mund nicht mal Butter schmelzen. »Aber wenn Sie schon mal hier sind …« Sie öffnete ihre sündteure Tasche und zog einen Zwanziger heraus, als hätte sie ihn von Anfang an griffbereit gehabt, weil sie nicht mit Kreditkarte bezahlen wollte. »Das sollte für die Drinks reichen. Den Rest können Sie behalten.«

»Danke sehr.« Der Barkeeper nahm den Schein, schlug John im Weggehen auf die Schulter und murmelte leise: »Viel Glück, Alter.«

Als er außer Hörweite war, fragte sie: »Glauben Sie, er wird sich an mich erinnern?«

Machte sie Witze? Sie hätte in diesem abgeratzten Schuppen nicht noch mehr auffallen können, wenn sie sich statt der Baseball-Cap eine Tiara aufgesetzt hätte. Trotz der Kappe und des weißen T-Shirts strahlte alles an ihr Klasse aus.

Okay, er hatte sie bisher nur von der Taille aufwärts gesehen, aber das T-Shirt war aus irgendeinem Stretch-Stoff, und wenn ihre untere Hälfte auch nur annähernd so gut aussah wie die obere, wäre ein Rodeo über ein, zwei Stunden in einem schäbigen Motel nicht die schlechteste Nachmittagsunterhaltung.

Solange sie dabei nicht reden mussten.

»Ja, das glaube ich«, beantwortete er ihre Frage. »Ist das ein Problem? Könnte das Ihren Sabotage-Plan sabotieren?«

»Das ist kein Sabotage-Plan.«

Er sah sie vielsagend an.

Sie legte beide Hände flach auf die Tischplatte und beugte sich ihrerseits vor. »Haben Sie nicht verstanden, was ich gesagt habe?«

»Ich habe jedes Wort verstanden. Und ich habe auch kapiert, dass Sie mich überrumpelt haben. Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich darauf reingefallen bin, aber jetzt gehe ich.«

Er drehte sich kurz zu den vier Männern am Pooltisch um und durchschaute dabei sofort das aufgesetzte Desinteresse, das sie zur Schau stellten. Vor allem ihr gegenüber. Er knurrte einen Fluch und sah sie wieder an. »Klemmen Sie die verfluchte Handtasche unter ihren Arm. Fest. Sehen Sie niemanden an. Kapiert? Einfach niemanden. Und keine Widerrede, verstanden?«

Er rutschte aus der Bank, nahm sie beim Ellbogen und lenkte sie, sobald sie aufgestanden war, in Richtung Ausgang. Der Barkeeper verabschiedete ihn mit einem Zwinkern und einem erhobenen Daumen.

Während sie an der finsteren Vierergruppe vorbeigingen, zeigte ihm der schnauzbärtige, Streichholz kauende Wortführer den Stinkefinger. John ignorierte ihn, zog die schwere Tür auf und geleitete die Frau ins Freie.

Dunkle Wolken zogen auf, und die Luft schmeckte, auch wenn es der Jahreszeit entsprechend kühl war, nach Regen.

Sie wand ihren Ellbogen aus seinem Griff und deutete auf eine schwarze Limousine.

»Hab ich mir gedacht«, sagte er.

Außer seinem SUV und ihrer Limousine stand nur ein Pick-up mit verbeultem Kühlergrill und zwei Einschusslöchern in der hinteren Stoßstange auf dem Schotterparkplatz. Er begleitete Beth Collins zu ihrem Wagen.

Sie entriegelte die Limousine mit der Fernbedienung, er beugte sich an ihr vorbei und öffnete ihr die Fahrertür. »Nette Karre. Mit allen Extras.«

»Bei der Hälfte weiß ich nicht mal, wozu sie gut sein sollen. Es ist ein Mietwagen, ich habe ihn vom Flughafen abgeholt.«

»Wann?«

»Gestern.«

»Sie sind aus New York hergeflogen?« Das war die logische Schlussfolgerung. Der Sender, für den sie arbeitete, hatte dort seinen Sitz.

»Ja.«

»Sie klingen gar nicht nach New York.«

»Ich bin hier im Süden aufgewachsen. Und direkt nach der LSU in den Norden gezogen.«

»Wo man Ihnen beigebracht hat, Menschen zu heimlichen Treffen zu überlisten. Oder mussten Sie das nicht lernen? Hat man Ihnen im Sender gezeigt, wie Sie so was am effektivsten anstellen, oder sind Sie ein Naturtalent?«

Offensichtlich verunsichert wandte sie das Gesicht ab und schaute einem Sattelschlepper nach, der auf dem Highway vorbeidonnerte. Dann sah sie ihn wieder an. »Mr.Bowie – oder sollte ich Sie lieber mit Detective Bowie ansprechen?«

»Wie wär’s mit John?«

Ohne ihn irgendwie anzusprechen, sagte sie: »Ich bin extra hergeflogen, um mit Ihnen zu reden.«

»Tja, schade um die Zeit. Denn ich werde nicht mit Ihnen reden. Sagen Sie Ihrem aalglatten Moderator, der mich als arroganten Arsch bezeichnet hat, dass das eine Beleidigung für alle Ärsche dieser Welt ist. Erklären Sie Ihren Bossen, dass ich unhöflich, anzüglich, sexistisch bin. Sie können mir jedes noch so hässliche Adjektiv anhängen. Die Meinung Ihrer Bosse interessiert mich einen feuchten Dreck. Im Gegenteil, je schlechter sie ist, desto besser für mich.«

Er musste ihr zugutehalten, dass sie cool blieb. »Sind Sie überhaupt nicht neugierig, warum ich der Ansicht bin, dass das, was Crissy Mellin passiert ist, bald wieder passieren wird? Warum es bald ein weiteres Opfer geben könnte?«

»Natürlich wird das wieder passieren. Hundertmal. Tausendmal. Bedauerlicherweise. Traurigerweise. Tragischerweise. Gewalt gegen Frauen ist wie ein Krebsgeschwür, das im Gewebe der meisten sogenannten zivilisierten Gesellschaften wuchert. Aber mit diesen Verbrechen müssen sich andere herumschlagen. Nicht ich.«

»Oh doch, Sie werden sich damit herumschlagen müssen. Das will ich Ihnen die ganze Zeit erklären.«

Wenn sie der Barkeeper nicht unterbrochen hätte, hätte er sie vielleicht wirklich gebeten, das genauer zu erklären, oder wenigstens gefragt, von was zum Teufel sie da spreche. Aber dazu hatte er keine Gelegenheit bekommen, und inzwischen war er froh darüber, denn er war nicht auf den Kopf gefallen.

Seit dem Mellin-Fall vor dreieinhalb Jahren balancierte er auf einem Drahtseil und tat alles, um jeden Fehltritt zu vermeiden. Falls er dem, was Beth Collins gesagt hatte, auch nur einen Funken Glauben schenkte und einen winzigen Schritt auf sie zuging, würde er dadurch womöglich den Balanceakt, den er mit Thomas P. Barker aufführte – sein Boss und gleichzeitig seine Nemesis –, zum Kippen bringen.

Ihre Feindschaft ging sie nichts an, außerdem würde es wahrscheinlich längere Gespräche nach sich ziehen, falls er sie darüber aufklärte, und da fing er sich noch lieber Lepra ein. Doch entgegen seiner Behauptung, dass ihm die Meinung anderer Menschen am Allerwertesten vorbeiging, wollte er nicht, dass sie John Bowie als komplettes und absolutes Arschloch in Erinnerung behielt.

Er verlagerte sein Gewicht und brachte dabei den Kies unter seinen Stiefeln zum Knirschen. »Hören Sie, Ms.Collins …«

Statt ihm zuzuhören, fiel sie ihm ins Wort. »In der Episode über Crissy Mellin wird behauptet, dass ihr Entführer tot ist.«

»Das ist er, verfluchte Scheiße. Ich habe ihn persönlich heruntergeschnitten.«

»Und wenn der junge Mann gar nicht der Täter war?«

»Ach so. Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Wir haben den Falschen eingebuchtet.« Er schnaubte. »Und der hat sich daraufhin in seiner Zelle erhängt.«

»Ja, genau.«

»Während sich der wahre Täter immer noch da draußen herumtreibt?«

»Das wäre möglich.«

»Oje.«

Hitzig fragte sie: »Wie können Sie nur so sein?«

»Wie denn?«

»So abgebrüht. Ich habe Ihnen gerade etwas erzählt, das Sie eigentlich tief erschüttern müsste. Aber Sie tun es einfach ab, als wäre das nichts Besonderes. Als würde Ihnen so was jeden Tag passieren.«

»Das tut es auch. Wir und jede Polizeibehörde auf der Welt werden Tag für Tag von Dutzenden Verrückten angerufen. Fantasten, die mit Verschwörungstheorien oder Behauptungen …«

»Vergessen Sie’s.« Sie drehte ihm den Rücken zu und setzte sich ins Auto. »Ich habe Sie nur angerufen, weil Sie in einem Artikel mit der Bemerkung zitiert wurden, die Ermittlungen seien ›verfrüht‹ abgeschlossen worden. Offenbar haben Sie inzwischen Ihre Meinung geändert. Entschuldigen Sie, dass ich Sie belästigt habe.« Sie wollte die Tür zuziehen.

»Nicht so schnell, nicht so schnell.« Ihm war klar, dass er sich später dafür ohrfeigen würde, trotzdem hielt er die Tür fest. Sie zogen beide daran, doch er war stärker und hielt die Tür weiter geöffnet, während sie wütend vom Fahrersitz zu ihm aufsah.

Sie legte den Handballen auf das Hupensymbol im Lenkrad. »Lassen Sie die Tür los, oder ich hupe.«

Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Gebäude in seinem Rücken. »Die Typen da drin kommen Ihnen zu Hilfe, sie verscheuchen mich und dann? Dann vertrauen Sie denen Ihr weiteres Schicksal an? Das glaube ich kaum.«

Sie atmete tief aus. »Bitte lassen Sie los.«

»Wozu die Lügen?« Die Frage kam aus heiterem Himmel und brachte sie aus dem Konzept.

»Was?«

»Warum haben Sie nicht schon gestern bei Ihrem Anruf gesagt, dass Sie für Crisis Point arbeiten?«

»Dann hätten Sie sofort aufgelegt.«

Korrekt. Aber während sie das sagte, senkte sich ihr Blick auf seinen dritten Hemdknopf. Er ahnte eine Lüge. Oder wenigstens eine Halbwahrheit. »Und?«

Sie schwieg.

Er senkte die Stimme in Höhe und Lautstärke. »Und?«

Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihre Schultern sackten nach unten, ihr Kopf kippte nach vorn. Die Baseball-Cap fiel ihr vom Kopf, und ein Schwall blonder Haare kam zum Vorschein. Ärgerlich warf sie die Kappe auf den Beifahrersitz und kämmte mit allen zehn Fingern die Haare zurück.

»Ich vertrete hier weder meinen Sender noch die Sendung«, gestand sie. »Ich bin auf eigene Verantwortung und auf eigene Kosten hergeflogen.« Sie sah ihn an und lachte leise und wehmütig. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihre Zeit vergeudet habe. Genießen Sie Ihren freien Restnachmittag.« Sie zog erneut an der Fahrertür.

Im ersten Moment wollte er loslassen, ihr den Rücken zudrehen, nach Hause fahren, dort den Fernseher einschalten, ein Bier aufmachen und genau das tun, was sie ihm vorgeschlagen hatte: seinen freien Restnachmittag genießen.

Aber in einem Sekundenbruchteil von bemerkenswerter Urteilsschwäche änderte er seine Meinung und hielt die Tür weiter fest. »Was bringt Sie auf den Gedanken, dass er noch da draußen ist und bald wieder zuschlagen könnte?«

Jetzt sah sie ihm direkt ins Gesicht. »Der Blutmond.« Sie hielt seinen Blick ein, zwei Sekunden gefangen und zog dann endgültig die Tür zu.

***

Verwundert und verärgert verfolgte John, wie die Limousine zurücksetzte und dann über den mit Schlaglöchern übersäten Parkplatz auf den zweispurigen Highway zuhielt. Sie musste mehrere Fahrzeuge vorbeilassen, bevor sie links in Richtung Osten abbiegen konnte. Während sie auf die Lücke wartete, zückte er sein Handy und machte ein Foto von ihrem Kennzeichen.

Instinktiv wollte er ihr hinterherfahren, doch in seinem Kopf plärrte es: Hast du den verfluchten Verstand verloren?

Er sah ihrem Wagen nach, bis er hinter einer Biegung verschwand, und ging dann langsam zu seinem SUV. Nachdem er die Fahrertür geöffnet hatte, blieb er noch eine Weile stehen und ließ sich einen Moment Zeit, um alles zu verarbeiten, was geschehen war, seit er in die Bar getreten war.

Nein, schon davor. Das gestrige Telefongespräch hatte sich vom ersten Moment an verschwörerisch angefühlt, so als dürfte sie nur flüstern, als hätte sie etwas zu verbergen. Als wäre sie irgendwie … verunsichert? Verängstigt? Schuldbewusst? Keine Ahnung. Trotzdem hatte er sich das gefragt.

Das Gefühl hatte ihm keine Ruhe gelassen, und so war er heute Nachmittag tatsächlich wie verabredet aufgetaucht. Er war neugierig, aber mit leicht zynischem Misstrauen an diesem so ungewöhnlichen Treffpunkt erschienen. Die ersten fünf Minuten hatte er sich tatsächlich amüsiert, genau wie sie ihm unterstellt hatte.

Aber inzwischen hatte er den festen Eindruck, dass sie, auch wenn sie sich irrte, davon überzeugt war: »Es wird wieder passieren.«

Irritiert schlug er auf ein paar Moskitos ein, die die Frechheit hatten, sich auf ihm niederzulassen, obwohl er so sauer war. Zuerst einmal ärgerte es ihn, dass sie sich in sein Leben eingemischt hatte. Dass jemand die Gäule scheu machte, die den klapprigen Karren seines gegenwärtigen und zukünftigen Lebens zogen, hatte ihm gerade noch gefehlt.

Gleichzeitig war er wütend auf sich selbst, denn immerhin war er wie ein Vollpfosten losgerast, nur um die Frau mit der sexy Telefonstimme kennenzulernen. Jetzt stand er im tiefsten Nirgendwo, wo ihn die Moskitos aussaugen wollten, während er sich den Kopf darüber zerbrach, warum sie so überzeugt war, dass der Fall Crissy Mellin nicht korrekt aufgeklärt worden war.

Er würde sich so gern mit dem offiziellen Ergebnis der Ermittlungen abfinden. Er hatte dieses Ergebnis damals akzeptieren, tief vergraben und anschließend aus seinem Gehirn löschen, hatte ein für alle Mal damit abschließen wollen. Finis.

Nach über drei Jahren hatte er das beinahe geschafft. Und jetzt … diese Frau. Diese Frau mit der Bettfrisur. Aus dem Nichts hatte sie alte Erinnerungen wachgerufen, Zweifel zu neuem Leben erweckt, eine Obsession wiederauferstehen lassen, die das Potenzial hatte, ein weiteres Mal sein ganzes Leben zu ruinieren und sein erbärmliches Dasein noch erbärmlicher zu machen.

Kommt nicht in die Tüte, Lady. Auch wenn deine Lippen zum Anbeißen aussehen.

Während sein Groll auf Beth Collins gewachsen war, hatte er ununterbrochen auf den Eingang der Bar gestarrt. »Scheiß drauf«, sagte er jetzt und unterstrich seine Worte, indem er die Tür seines SUVs zuschlug. Er stakste zur gepolsterten Eingangstür, zog sie auf und trat ein.

Der Barkeeper sah von seiner Zeitschrift auf und begrüßte ihn mit einem Wolfslächeln. »Abserviert?«

Ohne ihm zu antworten oder seine Schritte zu verlangsamen, marschierte John zu dem Streichholzkauer, der ihm vorhin den Stinkefinger gezeigt hatte, und versenkte die Faust in dessen Magengrube.

***

»Sie hat das bestimmt metaphorisch gemeint.«

Den Kopf auf die Armlehne gebettet, lag John auf dem Sofa, vollständig angezogen bis auf die auf dem Boden liegenden Stiefel. Mit der rechten Hand hielt er eine Bierflasche auf seinem Bauch fest, mit der Linken drückte er einen provisorischen Eisbeutel gegen seine Wange.

»Blutmond könnte eine Metapher für alles Mögliche sein, habe ich recht? Für den Weltuntergang. Für die große Abrechnung. Das Jüngste Gericht. Für Zaubersprüche und Endzeit-Prophezeiungen oder allen möglichen kranken Scheiß. Ich glaube nicht, dass sie das wörtlich gemeint hat.«

Er hatte das Deckenlicht ausgeschaltet, weil es sein zugeschwollenes Auge zum Tränen brachte. Der Fernseher lief, ohne dass er ihn beachtete, außerdem hatte er ihn stumm gestellt, weil der Ton ihm und seinen Kopfschmerzen noch mehr zusetzte. Ein paar Ibuprofen hatten weder sein Schädelbrummen noch die anderen Schmerzen gelindert, wegen derer er keine halbwegs annehmbare Position auf seiner Couch finden konnte.

Das Bier – sein zweites – war runtergegangen wie Öl, von seinem Take-away-Burger hatte er allerdings nur die Hälfte gegessen. Der Rest lag noch in Alufolie auf dem Couchtisch. John zeigte mit dem Hals der Bierflasche darauf. »Bedien dich.«

Er hatte den Hund »Mutt« getauft, denn das Tier war das Sinnbild eines »Mutts« – eines Straßenköters. Eines Morgens hatte John, als er zur Arbeit fahren wollte, unter seinem Auto etwas bemerkt, das wie ein zerfledderter Jutesack aussah, den jemand zusammengeknüllt und weggeworfen hatte. Bei näherer Inspektion hatte sich herausgestellt, dass es sich um ein flohverseuchtes Fell rund um ein winselndes Skelett handelte.

Er hatte damals den Fehler begangen, ein Pizzastück aus seinem Küchenabfall zu bergen und es dem Gerippe hinzuwerfen, bevor er weggefahren war. Als er abends heimgekommen war, hatte der Köter zusammengerollt auf seiner Veranda gelegen. Ein weiteres angetrocknetes Pizzastück hatte den Deal besiegelt. Seither besaß John einen Hund.

Er hatte dem vernachlässigten Tier mühsam abgewöhnt, überall nach Fressalien zu wühlen, und Mutt irgendwann überzeugt, dass er nicht mehr verzweifelt nach jedem Bissen schnappen und ihn auf einen Satz hinunterschlingen musste. Trotzdem machte Mutt jetzt, da er das Okay bekommen hatte, kurzen Prozess mit dem Burger, bevor er sich in der schmalen Lücke zwischen Couchtisch und Sofa niederließ. Er gähnte herzhaft und ließ den Kopf auf einen von Johns Stiefeln sinken.

»Gern geschehen.« John hievte sich hoch, schwang die Beine vom Sofa, stieg über den Hund hinweg und sammelte den Müll vom Couchtisch. Auf dem Weg in die winzige Küche trank er den letzten Schluck Bier, entsorgte die leere Flasche und den Müll im Abfalleimer und ließ den halb aufgetauten Eisbeutel in die Spüle fallen.

Als er ins Wohnzimmer zurückkam, erklärte er: »Das Äußere kann auch täuschen, weißt du?« Mutt hob zwar nicht den Kopf, öffnete aber immerhin die Augen und sah zu seinem Herrchen auf. »Schön, sie war heiß. Diese Haare. Und diese braunen Augen – aber nicht schokoladenbraun. Heller. Wie wirklich guter Whisky. Dazu ein netter Vorbau. Nicht gerade überladen, einfach … nett.« Er verlor sich in der Erinnerung an das schlichte weiße T-Shirt, das so verblüffend verführerisch ausgesehen hatte, und riss sich dann von dem Bild los.

»Wie gesagt, sie sah ganz normal aus, trotzdem ist sie garantiert übergeschnappt. Geht nicht anders. Und falls sie nicht geisteskrank ist, dann zu Tode gelangweilt. Vielleicht wollte sie Aufmerksamkeit und einen langweiligen Nachmittag in ein Abenteuer verwandeln? Nur dass es Quatsch wäre, für ein kurzes Abenteuer aus New York hierherzufliegen.« Er massierte seinen Nacken. »Sie hat sich über Jahre meinen Namen gemerkt, aber das lässt sich leicht erklären. Bowie wie das Messer. Also will sie … ist sie …«

Mutt zog fragend die Brauen hoch.

John schnitt fluchend mit der Hand durch die Luft. »Vergiss es. Wir streichen den ganzen verdammten Tag aus unserem Gedächtnis. Sprich mich nie wieder darauf an. Okay?« Mutt schloss die Augen. »In Ordnung.«

Er ging durch den kurzen Flur ins Bad und schaltete die Lampe über dem Waschbecken an. Dann stemmte er die Hände auf den Beckenrand, beugte sich vor und betrachtete im Spiegel sein zerschlagenes Gesicht.

Es würden keine dauerhaften Schäden zurückbleiben, aber er fragte sich, wie er Barker erklären sollte, dass er ganz offensichtlich eine Tracht Prügel bezogen hatte.

Ich wurde überfallen. Ist das zu glauben? Als ich mit einem Sixpack und einer Tüte Chips aus einem 7-Eleven kam.

Ich bin über den verfluchten Hund gestolpert und gegen die Kante der Schranktür gefallen. Hätte mir fast den Hals gebrochen, und höllisch wehgetan hat es auch.

Oder aber er versuchte, sich der Begegnung zu entziehen, und meldete sich krank. Ich fühle mich Scheiße, wie gequirlte Scheiße, darum habe ich einen Covid-Test gemacht. Positiv – wer hätte das gedacht?

Barker würde all diese Lügen aus einer Meile Entfernung riechen. John beschloss, darüber zu schlafen, morgen früh noch einen Blick in den Spiegel zu werfen und dann zu entscheiden, wie er sein verbeultes Gesicht erklären sollte.

Er stellte sich unter die Dusche. Das heiße Wasser linderte seine Schmerzen, und er blieb unter dem Strahl, bis es aufgebraucht war. Dann trocknete er sich ab, zog lockere Shorts an und war gerade auf dem Rückweg ins Wohnzimmer, als jemand in den Flur trat und ihn mit einer bedrohlichen Silhouette ausfüllte.

»Hey, Arschloch.«

Es war der Streichholzkauer.

Kapitel 3

»Du Idiot«, sagte John. »Du kannst von Glück reden, dass meine Waffe im Schlafzimmer liegt. Sonst hättest du dir eine Kugel eingefangen.«

Sein Gegenüber verzog den struppigen Schnauzer zu einem Grinsen. »Ich hab angeklopft.«

»Ich war unter der Dusche.«

»Kein Licht im ganzen Haus. Die Haustür unverriegelt. Und ein nutzloser Hund. Jeder hätte hier reinspazieren können.«

»Ich hatte andere Dinge im Sinn, als ich heimgekommen bin. Zum Beispiel Schmerzmittel in meine Adern zu pumpen.«

»Hey, du hast zuerst zugeschlagen.« Er betrachtete Johns Wange genauer und verzog das Gesicht. »Sieht hässlich aus. Wie fühlt es sich an?«

»Pocht wie die Hölle.«

»Es musste authentisch aussehen.«

»Das hat es definitiv«, knurrte John. »Was sollte das mit dem Streichholz?«

»Ich musste wie ein streitsüchtiges Arschloch rüberkommen.«

John schnaubte und musterte sein Gegenüber missbilligend. »Das hast du geschafft. Vielleicht hast du sogar übertrieben. Wie gehts deinem Bauch?«

Der Mann zog sein schmutziges T-Shirt hoch. Unter seinem Brustkorb leuchtete ein Bluterguss in der Größe von Johns Faust. John pfiff leise. »Ist genau im Ziel gelandet. Schon gehts mir besser.« Er setzte ein seliges Lächeln auf. Dann lachten sie beide, gaben sich einen High five und fielen in eine Männer-Umarmung, bei der sie sich gegenseitig auf den Rücken klopften.

Mitch Haskell und John waren Partner gewesen, bis die Drogenbehörde DEA Mitch als Undercover-Agent abgeworben hatte. Er war zuvor Marinesoldat gewesen und hatte einen Einsatz im Irak und drei in Afghanistan absolviert. Dünn wie eine Reitgerte und zäh wie Stiefelleder gehörte er nicht zu jenen Menschen, mit denen man sich anlegen wollte. Aber in seiner Brust schlug ein Riesenherz. John hatte miterlebt, wie er ohne Scham um gefallene Kameraden oder Polizisten unterschiedlichster Ränge geweint hatte.

John sah auf Mitchs zerlumpte Jeans. Sie waren bis zu den Knien durchnässt, und seine Stiefel waren schlammverkrustet. »Du legst Dreckspuren.«

»Selbst schuld. Was lebst du auch mitten im Sumpf? Schlammige Böden sind der Preis, den du für einen Hausbesuch bezahlen musst.«

»Kann mich nicht erinnern, dass ich dich eingeladen hätte.«

Mitch grinste nur. »Ich bin froh, dass ich es überhaupt hergeschafft habe, ohne dass mich ein Alligator erwischt oder eine Wassermokassinotter gebissen hat.«

»Du bist mit dem Boot hergekommen?«

»Weniger wahrscheinlich, dass mir jemand folgt. Wäre peinlich, wenn jemand sieht, wie ich einem Bullen einen Besuch abstatte, auch wenn es mir hier draußen jedes Mal aufs Neue finsterer vorkommt.«

»Genau deswegen gefällt es mir hier.« Das Wohnzimmer wurde nur von dem stumm gestellten Fernseher erhellt, und John änderte nichts daran. Er deutete zur Küche. »Im Kühlschrank steht Bier.«

»Auch eins für dich?«

»Nein danke. Ich habe mein heutiges Limit erreicht.«

Mitch sah ihn vielsagend an, aber John musste nicht an die Zeiten erinnert werden, in denen dieses Limit gefährlich hoch gewesen war. »Pass auf, dass die Kühlschranktür richtig schließt. Du musst sie gut zudrücken.« Er stieg über Mutt hinweg und ließ sich auf das mittlere Polster des Sofas fallen.

»Ich bin auch weit über meinem Limit«, hörte er Mitch aus der Küche sagen. »Ich musste den ganzen Tag an irgendwelchen Bierflaschen nuckeln.« Er kehrte mit einer Wasserflasche zurück, drehte den Verschluss ab und leerte sie in einem Zug bis auf einen kleinen Rest. Dann machte er es sich in einem Fernsehsessel gemütlich. »Gott, fühlt sich das gut an. Ich musste Pool spielen, bis ich mich auf meinem Queue aufspießen wollte. Der Höhepunkt meines Tages war, als du reinspaziert kamst. Mir wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen.«

»Ich wäre auch fast aus den Latschen gekippt, als ich mich umgedreht und erkannt habe, dass du dieses Großmaul bist. Nicht, dass du keines wärst. Du bist nur nicht die Art von Großmaul, die ich dort erwartet hätte.«

Sein Freund prostete John mit der Wasserflasche zu. »Du hast genial mitgespielt. Keine Reaktion bis auf diesen eiskalten Blick. Nach zehn Sekunden hab ich zu schlottern angefangen. Ich dachte nur: ›Scheiße, hoffentlich erkennt er mich.‹ Hätte mir fast in die Hose gemacht, als du wieder reingestürmt kamst und mir einen Magenschwinger verpasst hast.«

John lachte. »Immerhin hattest du mir den Stinkefinger gezeigt. Ich habe das als Einladung aufgefasst.«

»So war es auch gemeint, aber ich war nicht sicher, ob du sie verstehen würdest. Sorry wegen des blauen Auges und dem Kiefer, aber dass ich dich so bearbeitet habe, hat mir bei diesen Typen Punkte eingebracht.«

»Nur einer ist dir zu Hilfe gekommen.«

»Mein neuer Partner. Er kennt dich nicht und hat dir die Nummer sofort abgekauft.«

»Hast du ihn später aufgeklärt?«

»Nein. Ich dachte, wir sollten diesen Drecksäcken mal vorführen, wie wir uns in einem Kampf schlagen.«

»Das ist euch gelungen.« John schob vorsichtig seinen Unterkiefer hin und her.

»Damit ist die Mission erfüllt. Danke für deinen Einsatz. Ich bin dir was schuldig.«

»Danke, dass du nicht das Messer gezogen hast.« John wusste, dass Mitch eines in seinem Knöchelholster stecken hatte. »Und kannst du sie festnageln?«

»Demnächst, tippe ich.«

»Pass auf dich auf, Mitch.«

»Immer.« Er leerte die Flasche und stellte sie dann auf den Boden. »Was zur Hölle wolltest du dort?«

»Eine Cola trinken.«

John ahnte, dass er seinen scharfsinnigen Freund mit dieser flapsigen Antwort nicht zufriedenstellen würde, und er sollte recht behalten. Mitch kniff ein Auge zusammen und sah ihn stumm an.

John lehnte sich zurück, verschränkte die Finger auf dem Kopf und gab sich alle Mühe, locker und lässig auszusehen. »Mir war langweilig. Darum habe ich eine Samstagstour durchs Hinterland unternommen. Eigentlich wollte ich angeln gehen, aber dann war ich zu faul, das Angelzeug rauszuholen. Schließlich habe ich Durst bekommen und bei der nächsten Gelegenheit gehalten, und das war zufällig diese Bar.« Er zuckte mit den Achseln.

»M-hm.« Mitch sah ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen an.

John verdrehte die Augen. »Und dann war da diese Frau.«

»Ist mir auch aufgefallen. Ich habe einen ziemlich scharfen Blick.«

John spielte kurz mit dem Gedanken, das Thema zu wechseln, doch die Neugier ließ ihm keine Ruhe. »Wie lange saß sie schon da, als ich reinkam?«

»Eine Viertelstunde. In etwa.«

»Hat sie mit sonst jemandem gesprochen?«

»Nur als sie was bestellt hat. Ansonsten hat sie ganz einsam in ihrer Bank gesessen, bis du aufgekreuzt bist. Ist sie jemand Besonderes?«

»Besonderes? Mitch, ich habe sie heute zum ersten Mal gesehen. Das war reiner Zufall. Du hast es selbst beobachtet. Sie hat meine Cola bezahlt, ich habe mich bei ihr bedankt, wir haben geplaudert. Sie hat gesagt, dass sie wieder losmüsste. Ich habe sie an euch verkommenen Subjekten vorbeigelotst und zu ihrem Auto gebracht.«

»Wie ein perfekter Gentleman.«

»In diesem Fall ja.«

Mitch grinste. »Aber landen konntest du nicht bei ihr. Entweder das, oder es war ein Quickie in Rekordzeit.«

»Sie hat mir einen Korb gegeben. Nicht weiter wild.« Er zuckte wieder gleichgültig mit den Achseln. »Wie gehts Angela? Was sagt sie zu deinem Fu-Manchu?«

Mitch strich über den Schnauzer, der ihm links und rechts bis übers Kinn hing. »Sie hasst ihn.« Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und starrte auf den Boden. »Der kommt weg, sobald ich genug in der Hand habe, um diese Schweine vor Gericht zu bringen.« Er hob den Kopf und sah John an. »Und dann höre ich auf.«

John nahm die Hände von seinem Scheitel. »Du verlässt die Truppe?«

»Exakt.«

»Ernsthaft?«

»Angela ist schwanger.«

John lachte leise. »Glückwunsch, Mann.«

Sein Freund lächelte verlegen. »Danke. Es wird ein Junge«, ergänzte er mit unüberhörbarem Stolz.

»Wie weit ist sie?«

»Im sechsten Monat.«

»Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?«

»Angela und ich wollten sicher sein, dass mit dem Kleinen alles okay ist, und dann wollten wir erst das Geschlecht wissen. Und irgendwie unser Geheimnis genießen.«

»Du bist immer noch total vernarrt in diese Frau.«

Mitch legte beide Hände auf sein Herz. »Ertappt.« Doch im nächsten Moment wurde er wieder ernst und sah zu Boden. »Du … du weißt doch, wie du dich nach dem Fall mit der kleinen Mellin gefühlt hast? Ausgebrannt? Desillusioniert?«

Johns Freude über Mitchs frohe Nachricht verpuffte. Er versteinerte innerlich und sagte kein Wort.

»Kurz, nachdem der Fall zu den Akten gelegt wurde, habe ich dich in meinem Boot zum Angeln mitgenommen. Erinnerst du dich? Du warst in übler Verfassung. So fertig, wie ich dich noch nie gesehen hatte. Ich dachte, ein Tag auf dem Wasser könnte helfen. Ich hatte ein Sixpack dabei. Du eine Flasche Tequila. Als die Flasche fast leer war – ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, du warst hackedicht –, als sie fast leer war, hast du mich gefragt: ›Warum tun wir uns das an, Mitch? Was bringt das überhaupt?‹ Du hast gesagt, wir würden uns sinnlos abrackern, wir würden uns in einem niemals endenden Krieg aufreiben, weil die bösen Buben immer böser würden. Du hast gesagt, das Justizsystem wäre ein Witz und unser Kampf um Gerechtigkeit ein Kampf gegen Windmühlen.«

»Der Tequila war mir zu Kopf gestiegen. Ich habe Blödsinn geredet. Nichts von dem, was ich gesagt habe, hatte das Geringste zu bedeuten.«

Mitch schüttelte den Kopf. »Vielleicht war es nur das Gerede eines Besoffenen, aber als Angela mir erzählte, dass sie schwanger ist, habe ich über alles nachgedacht, was du gesagt hast. Ich will meinen Sohn aufwachsen sehen. Ich will mit meiner Frau alt werden. Ich will mir keine 45er-Kugel im Hinterkopf einfangen und meinen Leichnam nicht von einem zugekoksten Punk, der mir eins auswischen will, im Sumpf versenkt wissen.«

»Du brauchst mir nichts zu erklären. Ich kann dich verstehen«, antwortete John ruhig. »Und was schwebt dir vor?«

»Ich habe mehrere Eisen im Feuer. In Florida gäbe es einen guten Job. Großzügig bezahlt, regelmäßige Arbeitszeiten. Dann müsste Angela nicht mehr jeden Abend alleine essen.«

»Du bist ein Adrenalinjunkie«, gab John zu bedenken. »Das High wird dir fehlen.«

»Mag sein. Dann fange ich eben mit Motocross oder Wildwasserrafting oder Paragliding an. Irgendwas, um meine Batterien aufzuladen. Fehlt es dir denn?«

»Das High? Auf keinen Fall.«

»Lügner. Womit beschäftigt dich dieses Arschloch Barker zurzeit?«

»Mal sehen. Im Moment versuche ich, einen Einbruch aufzuklären. Stell dir vor: Der Einbrecher hat einen Liegestuhl vom Rasen geklaut. Letzte Woche musste ich eine Anzeige wegen tollwütiger Stinktiere unter einem Haus überprüfen.«

»Oh Mann. Was für eine Verschwendung. Wer ist dein Partner?«

»Niemand. Ich brauche keinen Partner, um die schmutzigen Spray-Botschaften auf der Walmart-Toilette zu entziffern.«

»John.« Sein Freund seufzte.

»Nein, nein. Es war ein wirklich interessanter Fall. Jeder einzelne obszöne Begriff war falsch geschrieben.«

Mitch lächelte nicht. »Du hättest mit mir zusammen kündigen sollen.«

»Mich hat die DEA aber nicht abgeworben.«

»Wärst du denn gegangen?«

John sagte nichts.

Mitch seufzte erneut. »Warum bist du immer noch bei der Truppe, John? Was hält dich davon ab, Barker den Stinkefinger zu zeigen und abzuhauen?«

»Mein Gehaltsscheck.« Er sah sich in seinem Wohnzimmer um. Hier hatte es schon in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts bescheiden ausgesehen, aber inzwischen war es nur noch schäbig. »Dann könnte ich mir diesen Luxus nicht mehr leisten.«

»Stimmt, das Haus ist bombe, und der Bayou in deinem Hinterhof eine einzige Petrischale für alles, was beißt und sticht und giftig ist.« Mitch lächelte ihn mitfühlend an und schüttelte bedauernd den Kopf. »Du musst endlich mit damals abschließen, John. Wieder in die Stadt ziehen. Weiterziehen.«

»Irgendwann vielleicht.«

Mitch sah ihn weiter an und deutete schließlich auf Mutt. »Seit wann hast du den da?«

»Seit ein paar Monaten.«

»Als Wachhund ist er ein Totalausfall.«

John sah Mutt liebevoll an. »Ja, aber dafür hat er einen astreinen Stammbaum und sieht super aus.«

Mitch grunzte ein Lachen, klatschte mit einer Hand auf sein Knie und stand auf. »Ich muss nach Hause und Angela erklären, wieso mein Bauch von einem Bluterguss geziert wird.«

»Gib ihr einen Kuss von mir.«

»Träum weiter.« Er ging zur Tür. »Wirst du sie wiedersehen?«

John war klar, dass er nicht von Angela sprach, doch er stellte sich dumm. »Wen?«

Mitch drehte sich zu ihm um und lachte. »Hübsch war sie jedenfalls.«

»Stimmt. Nur nicht mein Typ.«

John lachte lauter.

»Außerdem war sie zu jung für mich.«

»Du protestierst viel zu energisch, mein Freund. Hat sie dir wenigstens ihre Nummer gegeben?«

»Sie hat mir nicht mal ihren Namen verraten. Und wenn doch, habe ich ihn vergessen«, log er. »Ich habe dir doch gesagt, die Begegnung war …«

»… reiner Zufall. Richtig, richtig«, vollendete Mitch, immer noch grinsend. »Mach kein Licht an, bis ich verschwunden bin. Ich will nicht dabei beobachtet werden, wie ich aus dem Haus eines Bullen schleiche. Pass auf dich auf.«

»Du auch.«

Sie verabschiedeten sich mit einem Faustgruß, dann huschte Mitch aus der Tür und verschmolz so nahtlos mit der dampfigen Dunkelheit, dass er nicht einmal die Moosstränge ins Schaukeln brachte, die von den tiefen Ästen hingen. John schloss die Tür und vergewisserte sich, dass sie auch verriegelt war. Dann ließ er Mutt durch die Hintertür aus dem Haus. »Du hast zwei Minuten. Aber mach dir keinen Druck.«

John kehrte ins Wohnzimmer zurück, um den Fernseher auszuschalten, und erstarrte, als er auf den Bildschirm schaute. Darauf war ein orangefarbener Vollmond zu sehen, der wie eine goldene Münze aus einem tiefvioletten Himmel leuchtete. Offenbar sprach der Wettermann gerade darüber. Unten auf dem Bildschirm war zu lesen: Kommender Blutmond.

***

Beths Anruf wurde mit einem widerwilligen Grunzen angenommen. »Hier ist es eine Stunde später, das ist dir hoffentlich klar.«

»Ach, entschuldige, Max. Daran hatte ich nicht gedacht.«

»Nicht weiter schlimm. Ich schlafe sowieso kaum noch.« Wieder war ein Grunzen zu hören, dann etwas, das wie raschelnde Bettwäsche klang, und schließlich das unverkennbare Klicken eines Feuerzeugs.

»Du rauchst? Du hattest es mir versprochen, Max!«

»Nur unter Zwang.«

Ihm ins Gewissen zu reden, würde nichts bringen, also thematisierte sie nicht weiter seine ungesunde Angewohnheit, sondern lieber seine Laune, denn er klang noch gereizter als gewöhnlich. »Schlimmen Tag gehabt?«

»Die schmeißen mir eine Abschiedsfeier.«

»Die? Der Sender?«

Er knurrte mehrere Flüche hintereinander. »Einen Gala-Abend. Im Waldorf Astoria. Wahrscheinlich laden sie jeden noch lebenden Präsidenten dazu ein, außerdem ein, zwei Angehörige des englischen Königshauses und ein paar Filmstars.«

Sie verzog das Gesicht, weil sie genau wusste, was er davon hielt, aber gleichzeitig sagte sie: »Wow. Wie nett.«

»Nett? Von wegen. Überflüssig. Ich wäre lieber tot als bei so was dabei.« Nach einem tiefen Ausatmen, bei dem er zweifellos eine gewaltige Rauchwolke ausstieß, sagte er: »Auch bei dir ist es spät. Was gibt’s denn?«

»Ich habe den Anruf bei dir immer wieder rausgezögert.«

»Warum?«

»Weil ich dein ›Ich hab’s dir gesagt‹ nicht hören wollte.«

»Aha. Du hast dich mit Bowie getroffen und eine Abfuhr kassiert.«

Max Longren war vier Jahrzehnte älter als sie und ihr Boss. Und gleichzeitig ihr bester Freund, wenn sie ehrlich war. Bis vor Kurzem war er Executive Producer von Crisis Point gewesen. Aber nachdem der Sender im vergangenen Jahr von einem internationalen Medienkonzern übernommen worden war, hatte ein Erdbeben das Unternehmen erschüttert, und auch Crisis Point war von dem Wechsel im Management erfasst worden. Man hatte Max durch ein deutlich jüngeres Konzerneigengewächs namens Winston Brady ersetzt.

Sein Beruf war sein Leben gewesen, und Max hatte sich alles andere als erfreut über seinen erzwungenen Abgang gezeigt. Er war eine lebende Legende und in der ganzen Branche berühmt für sein Talent, seinen Biss, seine Gerissenheit und seine oft tyrannischen Taktiken.

Als Beth erst zwei Jahre im Team gewesen war, hatte Max sie zu ihrer großen Freude und ihrem großen Erschrecken zu seiner Produktionsassistentin ernannt. Unter seinen Fittichen hatte sie die beste Ausbildung erhalten, die sie sich nur vorstellen konnte. Der Großmeister persönlich hatte ihr all seine Kniffe beigebracht und sie gelehrt, eine wahre Geschichte genauso spannend und bannend zu erzählen wie einen Thriller. Seine Innovationen waren damals von praktisch jeder anderen erfolgreichen Doku-Serie übernommen worden.

Natürlich hatte es in all den Jahren ihrer Zusammenarbeit Meinungsverschiedenheiten gegeben, doch keine davon war mit ihrem explosiven Streit zu vergleichen gewesen, nachdem sie ihn auf ihre Bedenken wegen der in Kürze eingeplanten Crissy-Mellin-Episode angesprochen hatte. Er hatte die Stirn in Falten gezogen und ihr ins Gedächtnis gerufen, dass die Folge abgedreht war und Brady sie durchgewunken hatte.

»Das weiß ich, Max. Aber mir ist vor Kurzem etwas aufgefallen. Vielleicht haben wir ein wesentliches Element in der Story übersehen. Es könnte entscheidend sein, und wir wären fahrlässig, wenn wir es ignorieren würden.«

»Willst du damit sagen, dass wir die Folge noch mal überarbeiten sollen?«

»Lass es mich erklären und entscheide dann.«

Er hatte ihr zugehört, aber als sie zum Ende kam, kochte er sichtbar.

»Ein Blutmond?«, fragte er fassungslos. »Das ist dein entscheidendes Element? Was zum Teufel ist das überhaupt? Bist du durchgeknallt? Isst du jetzt auch diese lustigen Gummibärchen?«

»Max, bitte hör mir …«

»Wir beide werden hier als Einheit betrachtet, Beth. Jeder im Sender betrachtet mich als deinen Merlin. Wenn du anfängst, diesen Mondzyklus-Mist zu verbreiten, dann werden alle denken, ich hätte dir diesen Schwachsinn eingeimpft. Alle werden denken, ich hätte mir was absolut Abwegiges ausgedacht, nur um Brady zu ärgern.«

»Du glaubst also nicht, dass wir der Sache nachgehen sollten?«

»Es interessiert keinen mehr, was ich glaube. Man hat mich beruflich kastriert. Es überrascht mich, dass sie mir nicht den Schlüssel zur Management-Toilette abgenommen haben. Also vergiss die Sache, die Folge wird so gesendet wie abgenommen.«

Sie hatte das Thema fallen lassen, aber tags darauf hatte sie ihm erklärt, dass sie ein paar Tage Urlaub nehmen würde. Er hatte sie mit jenem messerscharfen Blick fixiert, den ein Kolumnist der New York Times treffend als »vernichtend« beschrieben hatte.

»Lass mich raten«, sagte er. »In Louisiana.«

»Nicht mal du darfst über meine Urlaubspläne bestimmen, Max.«

»Urlaub, von wegen. Wann fliegst du?«

»Morgen früh. Die Zeit drängt.«

Er war aus seinem schweren Sessel aufgesprungen und hatte den Zeigefinger auf die Schreibtischplatte niedergestoßen. »Du hast keinerlei Berechtigung, da unten im Police Department rumzuschnüffeln. Das ist Louisiana, verflucht noch eins! Wer dort Ärger macht, wird an die Alligatoren verfüttert. Die haben in Nullkommanix eine Voodoo-Puppe von dir gebastelt. Aber egal, dass du dich selbst damit in Gefahr bringst.« Jetzt war er wirklich explodiert. »Ich habe Crisis Point erschaffen. Ich habe das Konzept an meiner Brust genährt, es selbst in der Pubertät ertragen und schließlich in die Top Five der erfolgreichsten Sendungen geführt, wo es sich jahrelang gehalten hat. Mit deinen Amateur-Schnüffeleien bringst du diese Show, mein persönliches Baby, in Verruf. Nicht genug, dass du damit meinen schwer erarbeiteten Ruf schädigst, noch dazu wird der Egomane, der inzwischen auf meinem Sessel sitzt, im Dreieck springen, wenn du hinter seinem Rücken recherchierst. Diese Schnapsidee könnte dich den Job kosten.«

Sie hatte ganz ruhig erwidert: »Nicht, wenn ich eine Story mit Emmy-Potenzial in den Händen halte, an der wir beide kurz vor deiner Pensionierung arbeiten können.«

Trotz seiner großartigen Karriere war ihm dieser berühmteste aller Fernsehpreise nicht vergönnt gewesen. Sie wusste, wie enttäuscht er war, dass er in den Ruhestand gezwungen wurde, ohne ihn bekommen zu haben.

»Eine Story mit Emmy-Potenzial?«, höhnte er. »Aufgrund dieser geisteskranken Idee? Das glaube ich kaum. Was ich glaube: Du wirst dich bis auf die Knochen blamieren und bist danach für die Branche gestorben.«

»Durchaus möglich. Trotzdem ist es ein lohnenswertes Risiko.«

»Dann fahr doch!«, hatte er sie angeschrien und aus seinem Büro gescheucht. »Aber du kannst mit meinem ›Ich hab’s dir gesagt‹ rechnen, wenn du da unten im Sumpf versinkst.«

Seine Reaktion hatte sie tief getroffen, doch sie war auch ohne seinen Segen geflogen. Mit Winston Brady hatte sie gar nicht erst gesprochen, was sie möglicherweise den Job kosten würde, vor allem, falls Detective John Bowie sich bei ihm beschwerte, dass ihm jemand aus dem Sender aufgelauert und ihn belästigt hatte.

»Wie arschig hat sich Bowie aufgeführt?«, sagte Max in diesem Moment, als hätte er ihre Gedanken belauscht, und holte sie damit ins Jetzt zurück.

»So arschig wie allgemein bekannt.«

»Hat nicht besonders erfreut auf deinen Besuch reagiert, wie?«

»Im Gegenteil, feindselig. Er war absolut nicht daran interessiert oder auch nur bereit, über Crissy Mellin zu sprechen. Meine Überredungsversuche haben ihn komplett ungerührt gelassen. Warum sagst du nicht endlich ›Ich hab’s dir gesagt‹, und wir legen die Sache zu den Akten?«

»Vergiss es. So leicht kommst du mir nicht davon. Ich will Details.«

Sie schilderte ihm knapp ihr unorthodoxes Treffen mit dem Detective. Max’ einziger Kommentar war ab und zu ein leises Pfeifen, wenn er den ihm untersagten Tabakrauch ein- oder ausatmete. 

Erst als sie fertig war, fragte er: »Hast du ihm einen Tritt in die Eier versetzt?«

»Womit denn?«

»Mit deiner Bemerkung über den Blutmond. Wie hat er darauf reagiert?«

»Gar nicht. Er hat mich nur angesehen.«

»Er konnte also nichts damit anfangen?«

»Nein. Ich bin fast sicher.«

Endlich meinte er: »Ich hab’s dir gesagt.«

»Muss ich zugeben, wenn auch ungern.« Sie wartete eine Sekunde und startete dann einen letzten Versuch. »Weißt du, es ist nicht so, als hätte ich mir diese mystischen Deutungen rund um den Blutmond ausgedacht. Die Menschen betrachten ihn seit Jahrtausenden als Omen, für Gutes wie für Schlechtes.«

»Alberner Aberglaube. Du dichtest da zu viel hinein.«

»Möglich.« Sie massierte ihre Stirn. Sie fühlte sich nicht mehr in die Enge gedrängt, sondern endgültig geschlagen. »Vielleicht sollte ich die ganze Sache vergessen. Was den Detective angeht, hast du jedenfalls recht behalten. Das Treffen lief von Anfang an nicht gut. Wir haben uns gegenseitig auf dem falschen Fuß erwischt, und es wurde nicht besser.«

»Auf welchem Fuß? Inwiefern auf dem falschen Fuß?«

Sie würde ihm nicht von der unterschwelligen erotischen Spannung in den ersten Minuten ihrer Begegnung erzählen. »Ist auch egal. Sobald der Name des Mädchens fiel, hat er die Schotten dichtgemacht. Woher wusstest du das?«

»Aus fünfzig Jahren Berichterstattung im Nachrichtensektor. Polizisten haben einen strengen Ehrenkodex. Wie Blutsbrüder. Die blaue Mauer des Schweigens. Du kennst das.«

»Aber während der Ermittlungen hat er durchaus die Klappe aufgemacht«, wandte sie ein. »Er wurde mit der Bemerkung zitiert, die Ermittlungen wären schlampig geführt worden. Überhastet. Du hast es selbst gelesen.«

»Schon, schon. Die Menschen meckern und beschweren sich gern spontan. Aber wenn es ernst wird und alles schriftlich festgehalten werden soll, sieht die Sache ganz anders aus.«

»Ich glaube nicht, dass das nur spontanes Genöle war. Ich glaube, die Öffentlichkeit sollte hören, sollte wissen, dass die Ermittlungen einseitig geführt worden waren. Ich glaube, er hatte recht.«