Pluto - Lukas Wolfgang Börner - E-Book

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Lukas Wolfgang Börner

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Beschreibung

Gefleckte Hyäne, ein junger Eiszeitjäger, trifft nach Jahren der Trennung seine Jugendliebe Wilder Schwan wieder, die abgeschieden von ihrem Stamm als Jägerin und Höhlenmalerin lebt. Seine Versuche, sie zu erobern, scheitern, denn Wilder Schwan hat sich einzig und allein dem Gott der Künste, Elian mit dem Löwenkopf, verschrieben. In der Verkleidung eines Löwen gelingt es dem Verliebten aber doch, ihr näherzukommen, und das Glück ist zum Greifen nahe. Wäre da nicht der gewaltbereite Nebenbuhler – ganz zu schweigen von dem Seelenklauber Gilmors, dem Gott der Unterwelt, der Gefleckte Hyäne ebenfalls mit dem Löwengott verwechselt … Erster Teil der ALTERA-ALA-ANIMAE-Ennealogie.

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Seitenzahl: 204

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© 2023 Lukas Wolfgang Börner

Coverdesign von: Sabrina Börner (https://www.boerner-kunst.de/)

ISBN Hardcover: 978-3-384-03309-3

ISBN E-Book: 978-3-384-03308-6

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Ad Venerem.

Marmorleichenteile. Den Rest vom Saale

trug dein Volk ins Inland zur Kathedrale

und zum Bade locken seither die Aale –

nicht mehr Adonis.

Sieh die Welt, die jenen und dich entzweit hat,

dass die Schönheit nimmermehr ein Geleit hat.

An der Menschheit, Göttin! bist du gescheitert,

letztlich gescheitert.

Schönheitsliebe? Lesertotalvernichtung!

Nur vom Klempner wünscht man sich heute Dichtung,

für den Künstler gibt es nur eine Richtung:

Plätschernde Prosa.

Unpraktisch sind rhythmische Wörterfetzen:

Schwer zu lesen, schwerer zu übersetzen

und indes – mitnichten zu unterschätzen –

schwerstens verfilmbar.

Manchmal – Das Parfum fällt mir etwa ein –

kann auch Plätscher-Prosa was Großes sein

oder auch ein lyrisches Drama klein.

Jedermann weiß das.

Doch veracht’ ich jeden, der seine Kunst

für den gellen Menschenapplaus verhunzt,

und ersehne fortan nur eine Gunst:

Deine, Geliebte!

Sieh die Menschheit, die sich von dir befreit hat,

die sich nun mit hässlichen Hur’n erheitert.

An der Menschheit, Göttin! bin ich gescheitert,

kläglich gescheitert.

Wie betörst du Burgfräulein meine Sinne!

Nenn mich Wolfram, nenn meine Dichtung Minne,

die ich hiermit einzig für dich beginne –

wie ich dich liebe!

Lass mich dich zuletzt wie in alten Zeiten

durch den Venusberg meiner Kunst geleiten.

Mit Beschluss der letzten Kapitelseiten

werde ich sterben.

***

Lukas Wolfgang Börner

Pluto

Inhalt

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

I.

II.

III.

ALTERA ALA ANIMAE

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

I.

III.

ALTERA ALA ANIMAE

Cover

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I.

Sagte ich es nicht? Ich wusste doch, dass ihr mich kennt!

Die Geschichte vom Zauberamulett, mit dem ein Jäger, wann immer er möchte, Tiergestalt annehmen kann, ist ja bereits bis zum Land der grün tanzenden Lichter vorgedrungen. Das wurde mir zumindest so erzählt.

Es ist die Geschichte, die am besten bei den Leuten ankommt, aber Elian, der Mächtige, weiß, dass es durchaus nicht meine beste Geschichte ist. Denn die beste Geschichte ist jene, die von meinem eigenen Leben handelt und die ich euch, sofern ihr Lust darauf habt, erzählen will. Und ja, ihr dürft euch freuen, denn ihr werdet die Einzigen sein, die sie je von der Zunge des Geschichtenerzählers zu hören bekommen. Denn im Anschluss an meine Erzählung werde ich mein Herz zum Stillstand bringen.

Doch, so wird es passieren. Nein, nein, nein, ich will jetzt keine Widerworte hören!

Ich habe den Entschluss nicht eben jetzt und aus einer Laune heraus gefasst, sondern tatsächlich schon vor vielen Monden. Jeden Morgen bin ich aufgewacht und habe mich gefragt, was mich wohl am glücklichsten machen würde. Ob ich Lust hätte, jagen zu gehen oder Fischfallen zu basteln, ob ich Lust hätte, mich in der Herbstsonne zu erquicken oder mich umzubringen. Oder ob ich nicht lieber mein Flötenspiel verbessern wollte. Diese Nacht werde ich nun endlich ein Leben beenden, das schon lange keinen Wert mehr besitzt. Ich werde ein Leben beenden, das ich schon damals hätte beenden sollen. Damals, als Wilder Schwan geopfert wurde. Das wäre ein stimmiger Tod gewesen und ich hätte gemeinsam mit meiner Liebsten den Weg ins Innere des gewaltigen Eispanzers antreten können. Ja, das wäre der rechte Zeitpunkt gewesen. Und eines Geschichtenerzählers würdig. Nun aber habe ich ihn versäumt.

Deshalb bitte ich euch: Versagt mir nicht diesen letzten Funken Frohsinn. Die Geschichte von Wilder Schwan und mir – diese wundersame Geschichte von heiß züngelnder Liebe, rauchspeiender Auslöschung und eisiger Unterwelt – zu erzählen, ist die letzte Tat, die meinem glücklosen Leben noch einen Sinn zu geben vermag. Also beerdigt eure falsche Menschlichkeit und lasst nicht zu, dass mich die Enttäuschung auch im Sterben noch heimsucht. Im Übrigen sind die Kochsteine schon lange heiß und die Suppe wartet.

Mein Name ist Gefleckte Hyäne. Meine Mutter hatte den Wunsch, mich so zu nennen, aufgrund meiner hyänenhaften ersten Laute und der Sommersprossen, die ich offenbar bereits als Säugling besessen habe. Mein Vater – der Anführer und beste Speerwerfer unseres Stammes – war zufrieden. Er hatte Wölfe und Hyänen zeit seines Lebens für Wiedergeburten des Menschen gehalten, gewiss aufgrund ihrer Art, sich wie Menschen zusammenzurotten, strategisch zu jagen und Gräser als Nahrung zu verschmähen.

Meine Heimat liegt unzählige Tagesreisen entfernt in Richtung der aufgehenden Sonne. Wälder, wie ihr sie besitzt, kennt man dort nur aus Erzählungen. Euer Feuer ernährt sich, wie ich sehe, ausschließlich von Holz – bei uns wurde das kostbare und äußerst seltene Birkenholz im Bestfall zum Anfeuern verwendet. Danach mussten die Flammen mit getrockneten Tierknochen am Leben erhalten werden.

Und doch will ich nicht jammern. Verglichen mit dem Leben unserer Ahnen war unser Alltag geradezu beschaulich. Die Sommer wurden von Jahr zu Jahr länger, die Flüsse schmolzen immer früher im Jahr und zuweilen regnete es sogar. Wir besaßen nicht weniger als neun tüchtige Jagdhunde und litten keinen Hunger.

Unser Stamm war immer in Bewegung. Immerfort zogen wir den Mammuts hinterher, verloren den riesigen Eispanzer jedoch niemals aus den Augen. Ich nehme an, dass auch ihr ihn schon gesehen habt, gleichwohl er von hier aus relativ weit entfernt liegt. Hm? Die Jüngeren nicht?

Seid unbesorgt. Ihr werdet ihn auf euren ersten größeren Wanderungen erblicken. Und es wird euch die Sprache verschlagen und Tränen der Gottesfurcht werden euch in die Augen steigen. Stellt euch einen riesigen weißen Hang vor, höher als alle Berge, die ihr je gesehen habt, ausufernder als jede Steppe und jedes Grasland, das ihr jemals betreten werdet, und gleißender noch als das Winterfell des Fuchses.

Das aber ist das Reich Gilmors, des Totengottes, der die Seelen der Menschen wie Pferde in einem Talkessel zusammentreibt. Ich bin schon einmal dort gewesen und habe Dinge gesehen, die mir kein lebender Mensch jemals glauben wird und bei deren Vorstellung allein die Organe meines Leibes zu vereisen beginnen.

Und doch gibt es keinen Weg zurück. Noch bevor Pafal, der Kraftspender, seinen Rundgang beginnt, werde ich Gilmors Reich betreten.

Wilder Schwan fiel mir das erste Mal in unserer Kindergruppe auf. Ich weiß nicht, ob es das hier auch gibt oder irgendetwas Vergleichbares. In unserem Stamm war es auf jeden Fall üblich, die vier bis sechs, manchmal auch sieben Kinder immer morgens für einige Zeit in einem eigens hierfür aufgestellten Tipi spielen und malen zu lassen. Das hatte den Vorteil, dass nur eine Mutter aufpassen musste und die anderen derweil auf Nahrungssuche gehen konnten. Das Tipi war groß und breit, aber keine Schönheit. Die uralten Fetzen von Bären- und Rinderleder, aus denen es bestand, waren nur notdürftig zusammengeflickt und die Fellisolation der Wände fehlte vollends. Der Sinn daran war, die Kinder spielerisch an die Kälte der Welt zu gewöhnen – und tatsächlich tobten wir stets so ausgelassen herum, dass uns die Kälte kaum störte.

Diese alltäglichen Vormittage gehören zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens. Ich mag wohl erst zwei oder drei Sommer gezählt haben, aber ich weiß noch genau, wie ich bereits beim Morgengebet vorfreudige Blicke mit den anderen Kindern tauschte, ohne mich vom Gejodel und Gerassel des Druiden weiter beeindrucken zu lassen. Mein Vater hatte mir, nebenbei bemerkt, früh schon den Unterschied zwischen der Lobpreisung Berimas im gemeinschaftlichen Rundzelt und der inneren Einkehr erklärt. „Berima“, sagte er einmal und zeichnete mir eigenhändig die drei Beschützerlinien auf die Stirn, „ist die Heiligste und Gewaltigste aller Gottheiten. Alles Lebende ist in ihrem Inneren entstanden und alles Leblose kehrt in ihr Inneres zurück. Das ist der Grund, warum man auch nur im Inneren zu ihr sprechen kann. Der Druide leiert seine Lobrede in die Lüfte und erreicht damit durchaus das Bewusstsein und im Bestfall auch die Eintracht des Stammes – Berima aber, unsere gute Mutter Erde, erreicht er damit nicht.“

Aber ich schweife ab.

In unserem Kindertipi gab es alles, was man sich nur wünschen konnte: Einen Ball aus Schweinedarm zum Hin- und Herwerfen, Stöcke, Kugeln, Strohpuppen, schwarze Rußstifte, mit denen man die Wände oder sich selbst bemalen durfte und – das Tollste – Spielfiguren! Da gab es Pferde, Hirsche, Bisons, Mammuts, Nashörner und sogar einen aus Stoßzahn geschnitzten Löwen, mit dem jeder von uns spielen wollte und dessentwegen mich Wilder Schwan an einem meiner ersten Kindergruppentage bereits blutig schlug.

Ja, wirklich!

Ich glaube, es war eine Steinkugel, die sie mir auf die rechte Augenbraue knallte, bevor sie von Fliegender Stern, unserer Betreuerin, mit einem derben Kniff ins Genick zurechtgewiesen wurde. Das war die übliche Strafe für Vergehen dieser Art. Bei schlimmeren Vergehen wurde man mitunter vom Mittagessen ausgeschlossen, das je nach Jahreszeit aus Beeren, Schlehen, Nüssen oder Pilzen bestand – und natürlich einem großen Schluck aus der Brust der jeweiligen Betreuerin.

Ich weiß noch, dass ich Wilder Schwan lange Zeit für einen Jungen hielt, weil sie nicht wie Gelbes Fünfblatt und Nasenantilope, die die Tochter von Fliegender Stern war – und ihren Namen tatsächlich ihrer großen Nase verdankte -, mit Puppen spielte, sondern immerzu jagen wollte. Und wenn es mit dem beliebten Löwen nicht ging, dann ergriff sie einen Stecken und rief: „Hey, Kleiner!“

Ich blickte mich um, weil ich dachte, sie meinte jemand anderen – aber hinter mir stand niemand.

„Ich bin doch größer als du“, gab ich zur Antwort.

„Her mit der Klinge!“, befahl Wilder Schwan und ich sah, dass ihre gletscherblauen Augen gefährlich glitzerten. Schnell ergriff ich einen Knochensplitter auf dem Boden und reichte ihn rüber.

„Und Klebepech!“, donnerte sie und streckte ihre schwarzen Finger aus. Ohne darüber nachzudenken, beugte ich mich über ihre Hand und spuckte hinein.

„Uääh!“, machte sie und wir beide lachten.

Wilder Schwans Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater und ihre Großmutter, die sich die Erziehung des Mädchens seither teilten, waren ihre einzigen Verwandten. Als die Großmutter starb, waren die heiteren Tage der Kindergruppe vorbei – die Zeit der Nahrungssuche mit den Müttern hatte begonnen.

Noch drei oder vier Monde nach der Beerdigung ihrer Großmutter trottete Wilder Schwan mürrisch hinter Fliegender Stern und ihrer Tochter her, zupfte absichtlich unreife Beeren von den Sträuchern und blieb, wann immer sie an den Grabhügeln vorüberkam, stehen, wo sie sich die Lippen blutig biss und nicht bereit war weiterzugehen.

In jener Zeit hörte ich viele Erwachsene über Wilder Schwan und ihren Vater sprechen, teils aufrichtig mitleidig, in den meisten Fällen aber Mitleid heuchelnd oder geradezu abfällig. Ich verstand ja nicht, was da geredet wurde, aber ich spürte, dass da … nun, wie soll ich es sagen? … eine unsichtbare Linie zwischen jenen beiden und dem Rest des Stammes gezogen wurde. Und ich spürte, dass die Aura dieses Mädchens, das ich nach wie vor für einen Jungen hielt, der dunkelvioletten Distel entsprach. So nannte ich sie denn auch, wann immer ich die Freundschaftsbande zu anderen Kindern stärken wollte.

Entschuldigt, dass ich unterbreche – aber sagt mal, ist das Riesenhirsch in der Suppe? Echt?! Das gibt’s doch nicht! Wie im Namen der Götter habt ihr den erwischt? Nur ein einziges Mal ist es einem Jäger unseres Stammes gelungen, einen Riesenhirsch zu töten, und auch nur deshalb, weil der im Eis eingebrochen war.

Ihr … treibt die Hirsche in die Wälder? Ha, und dort bleiben sie mit ihren Geweihen in den Ästen hängen! Respekt!

Aber zurück zur Geschichte.

Sicherlich fragt ihr euch, warum Wilder Schwan und ihr Vater mehr und mehr in Verruf gerieten. Ich hatte mir diese Frage nie gestellt, da ich zu jener Zeit ja kaum sieben Sommer zählte – aber ich sollte dennoch dahinterkommen.

Ich war nun schon ein kleiner Jäger. Mein Haar war braun und borstig und reichte mir bis über die Brust. Die Milchzähne hatten scharfen Fleischzähnen Platz gemacht und meine Körpergröße entsprach bereits der meiner Mutter. Meine Tage verbrachte ich nun an der Seite meines Vaters oder in der Schule mit den anderen Jungen, wo man uns beibrachte, Klingen anzufertigen, Feuer zu machen, Birkenpech zu gewinnen und Hunde abzurichten.

Aber ich war, wie ich schmerzlich erkennen musste, von Berima nicht gerade mit Talent gesegnet worden. Scharfe Speerspitzen oder Harpunenklingen gingen mir erst nach etlichen Fehlversuchen von der Hand und der Gebrauch von Speerschleudern ist mir, offen gestanden, noch heute ein Mysterium. Das Feuermachen fiel mir indes leichter, wenngleich es mir nur in den seltensten Fällen gelang, den mühsam hergestellten Zunderlappen beim Aufflammen des Grases vor dem vollständigen Verkohlen zu retten. Das war bitter – besonders, wenn ich die anderen Jagdlehrlinge zuvor aufgrund ihrer Langsamkeit beim Feuermachen verspottet hatte.

Der Tag der Jägerprüfung war ein schwüler Sommertag. Jeder von uns Jungen – vier waren wir an der Zahl – sollte losziehen und mit so viel Fleisch zurückkehren, dass er außer seinem eigenen Magen auch noch zwei weitere würde füllen können. Denn wer das nicht vermag, der wird bekanntlich niemals als Mann bezeichnet, geschweige denn vollends respektiert werden.

Also zogen wir los, jeder mit seinem Speer und seinem Faustkeil bewaffnet. Der Gruppenstreber trug obendrein einige wuchtige Wurfhölzer im Gepäck – und ich weiß noch, wie ich ihn dafür verachtete. Einerseits, weil ich fand, dass es unnötig war, sich derart zu plagen – größeren Jagderfolg würde man auf diese Weise auch nicht haben. Andererseits, weil ich vermutete … dass man auf diese Weise größeren Jagderfolg haben würde.

Meine Mutter drückte mich an jenem Morgen zärtlicher an sich als sonst. Es machte ihr Angst, mich so allein in der Wildnis zu wissen. Sie hielt von der Jägerprüfung ohnehin wenig, weil sie fand, dass es darauf ankäme, gemeinsam zu jagen und nicht alleine. Ihr lacht – aber das ist Frauenlogik. Frauen werden nie begreifen, dass die Jagd auf eigene Faust die Basis der strategischen Gruppenjagd bildet. Und überhaupt: Sollen denn alle Frauen und Kinder verhungern, wenn durch gewisse Unglücksfälle nur mehr ein Jäger zur Verfügung steht?

Dennoch genoss ich ihre Zärtlichkeiten, denn auch ich fürchtete mich. Nicht vor Löwen, Wölfen und Hyänen – in wildreichen Zeiten geht von denen bekanntlich keine Gefahr aus und es waren wildreiche Zeiten -, nein, ich fürchtete mich davor, die Prüfung zu vermasseln. Ich fürchtete mich davor, mich vor meinen Lehrern, meinen Kameraden und meinem Vater zu blamieren.

„Wenn du heute Nacht da draußen schlafen musst,“ – ihre Hände hielten mein Gesicht umfasst und ich sah, wie eine Träne die braune Mückensalbe aus ihrem Gesicht wusch – „dann vergiss nicht, Pollum zu bitten, dass sie dir ihr Licht schenkt. Und vergiss nicht, dass die Welt nicht untergeht, auch wenn du keinen Erfolg haben solltest.“

Ich liebte meine Mutter für diese Worte. Aber sie stimmten nicht. Denn die Welt würde untergehen, wenn ich mit leeren Händen zurückkäme. Es war einer der besten Sommer, den unser Stamm je erlebt hatte. Überall sah man das Wild in schäbig zerschlissenen Sommergewändern über das grüne Tupfenkleid der Steppe ziehen und sich die Bäuche vollschlagen, Vögel sangen in den krummen Ästen der Büsche und zahlreiche Bäche sprudelten eisfrei durch das weite Land. Wer in dieser Fülle des Sommers kein Tier zu erlegen vermag, ist ein Scharlatan und verdient, für alle Zeit aus der Gemeinschaft verstoßen zu werden.

Meine Kameraden suchten die Nähe der Bisons oder Schafsochsen, obwohl es – wie ihr wisst – beinahe unmöglich ist, denen ohne Strategie nahe genug zu kommen, um seine Waffen sinnvoll einsetzen zu können. Und tatsächlich sah ich auch bald meinen Freund, Mondenfleck, in einiger Entfernung seinen Speer nach einem ockerfarbenen Bisonkalb schleudern. Er verfehlte es um Längen, sorgte mit dieser Ungeschicktheit aber dafür, dass die Herde in Panik geriet und schließlich unter lautem Dröhnen hinter dem Horizont verschwand. Das würde Ärger geben.

Es war Makrulu, das Böse selbst, dessen Fratze nun aus meinem Gesicht grinste. Ja, es gab noch Hoffnung. Ich war nicht der Einzige, der ungeschickt war. Und vielleicht würde ich sogar der sein, der sie alle an der Nase herumführte. Eben weil ich klein beginnen wollte, und meine Augen nach Hasen, Füchsen und Hühnern zucken ließ.

Um möglichst alles anders zu machen als meine Kameraden, lenkte ich meine Schritte nicht über die Weiten der Steppe, sondern suchte die Nähe des Eispanzers, an dessen Seite ich der aufgehenden Sonne entgegenwanderte.

Aber mein Optimismus versank nach und nach in demselben Morast, in dem meine Füße versanken, denn das tauende Wasser des Gletschers hatte die Erde in ein schwarzes Moor verwandelt. Die Sonne war kaum eine halbe Strecke Richtung Himmelsmitte gewandert – als ich bereits einen meiner Schuhe verlor. Der Morast hatte mein rechtes Bein verschluckt und ich musste all meine Kräfte aufbringen, um ihm zu Hilfe zu eilen. Mit einem trotzigen Glup! gab das Monster es schließlich frei. Aber der Schuh war verloren und weder mit dem Arm noch mit dem Speer zu erreichen. Es war zum Heulen.

Nach unzähligen Versuchen, Verwünschungen und Tränen lief ich weiter, riss einige lange Gräser, Halme und Schilfblätter aus dem Boden, suchte mir einen Felsen und begann mit der Herstellung eines Ersatzschuhs. Aus je drei Halmen zwirbelte ich Schnüre, mit denen ich mir anschließend die langen Gräser und Schilfblätter um den Fuß band. Lange saß ich auf meinem Felsen, betrachtete mit einer Mischung aus Stolz und Trotz meinen Schuh und ließ meinen Blick endlich wieder nach etwas Essbarem schweifen.

Ich war in einen Hain von Sträuchern und dornenbesetzten, verkrüppelten Bäumchen geraten, in dem es unentwegt raschelte. Mein Magen knurrte. Ich dachte gar nicht mehr daran, möglichst bald ein großes Beutetier erlegen zu müssen, im Moment wollte ich nur rasch eine Kleinigkeit essen. Ich wand mich, ohne einen Laut zu machen, von meinem Felsen, legte mich flach auf den Bauch und blickte unter das Gesträuch. Zuerst sah ich nichts als welkes Laub, mit gelben und grauen Flechten verzierte Strauchwurzeln und einen kugelrunden Fliegenpilz, der sich kaum zwei Handlängen von meinem Gesicht entfernt durch das Moos schob. Dann huschte ein Lemming über die Erde, verschwand kurz in einem für meine Augen bis dahin unsichtbaren Bodenloch, tauchte wieder auf und verschwand wieder.

Ich fragte mich, ob es mir gelingen würde, ihn zu erwischen, ob ich etwa meinen Speer in das Bodenloch stoßen und ihn aufspießen könnte. Lange beobachtete ich das Treiben von zuletzt vier Lemmingen, wobei ich immer tiefer unter die Sträucher kroch, so langsam und geduldig, dass die Lemminge mir keine Beachtung schenkten. Gelb und grau waren sie, ganz wie die Flechten, mit denen sie ihren Lebensraum teilten.

Endlich war ich tief genug ins Unterholz geglitten, um meinen Plan in die Tat umzusetzen. Als die vier eben das Bodenloch passierten, ruckte ich merklich mit dem Kopf – und beobachtete mit Genugtuung, wie sich die furchtsamen Tiere allesamt in ein und denselben Eingang zwängten. Ich begab mich, so gut ich es eben vermochte, in die Hocke und stieß den Speer mit ganzer Kraft in den Lemmingbau hinein. Und tatsächlich glaubte ich, ein Quieken aus dem Leibe Berimas zu vernehmen – als ich den Speer jedoch herauszog, fand ich ihn leer vor. Nicht einmal Blut klebte an der Klinge. Ich beschloss, bis fünfmalzehn zu zählen und dann wieder zuzustechen. Aber mein Unterfangen blieb erfolglos. Noch ganze sieben Male wiederholte ich den Versuch – irgendwann mussten die Lemminge ja wieder Richtung Ausgang klettern.

Naja, sparen wir uns das – heute weiß ich, was ihr natürlich auch wisst. Dass die Lemminge ebenso wie die Mäuse mehrere Eingänge zu ihren Bauen haben und die vier mit Sicherheit längst das Weite gesucht hatten.

Ich wollte meiner Enttäuschung bereits Luft machen, als ich zwei Schuhe bemerkte, die sich durch das Dickicht tappend näherten. Es waren noch kleine Schuhe, auch die Waden unter den ledernen Hosenröhren waren noch dünn und kindlich. Das konnte nur Mondenfleck sein, denn der war der Schmächtigste von uns Schülern.

Allem Anschein nach war er gerade nicht auf der Pirsch, denn er trat so unbedacht auf, dass das Knicksen und Knacksen der Zweige von den Felsen widerhallte. Ich beschloss, ihm eine Lektion zu erteilen und einen Löwen zu imitieren.

Ich wartete, bis er ganz nah war, dann machte ich mit den Händen eine Höhle, hielt sie vor die Lippen und gab ein tiefes, stimmloses Grollen von mir, wie man es zuweilen in der Schwärze der Wintertage oder beim Klingengebirge hört. Die Wirkung blieb nicht aus. Mondenfleck versteinerte. Ich musste meinen Mund fest mit der Hand versiegeln, um mich nicht durch ein schadenfreudiges Quietschen zu verraten. Dann aber zwickte mich ein Gedanke – und meine Freude verpuffte.

Was, wenn Mondenfleck sich mit seinem Speer verteidigen würde? Was, wenn er meinen Standort bereits herausgehört hatte und nur mehr auf ein Rascheln oder eine andere Bestätigung seiner Vermutung wartete, um mir vermeintlichen Löwen den Speer durchs Genick zu treiben? Das war, länger darüber nachgedacht, im Grunde sogar das Vernünftigste, was er machen konnte.

Eigentlich hatte ich aufspringen und meinen Freund mit einem lauten Bah! erschrecken wollen, nun aber war ich ebenso wie er versteinert.

Ich könnte etwas sagen, mich als Mensch bemerkbar machen, dachte ich. Das allerdings kann meinen Tod bedeuten, denn Mondenfleck wird bei der ersten Bestätigung meines Standorts zustechen, schneller noch, als er das Gehörte verarbeiten kann.

Ich entschied mich, keinen Laut von mir zu geben, sondern zu warten, bis er weiterziehen würde. Aber ach! ich hatte nicht mit meinem hungrigen Bauch gerechnet. Nach kaum zwölf Atemzügen, die ich so still und langsam tat, wie es mir eben möglich war, heulte mein Bauch so laut auf, dass ich instinktiv Augen und Zähne zusammenpresste und die Hände vor meinen Nacken hielt. Aber es war kein Speerhieb, den ich empfing. Es war eine Stimme, die ängstlich und feierlich zugleich klang.

„Großer Elian, bist du das?“

Mondenflecks Stimme war das nicht.

Ich fuhr hoch. Die Zweige des Gesträuchs kratzten mir das Gesicht blutig, aber ich spürte es gar nicht. Ich blickte nur mit offenem Mund auf Wilder Schwan, die mich ihrerseits mit offenem Mund betrachtete. Enttäuschung und Erleichterung wechselten sich in dem von Salbe gänzlich gebräunten Kindergesicht ab.

„Ach, Gefleckte Hyäne – ey!“, sagte sie endlich.

Ich konnte gar nichts sagen. Ich blickte nur auf das Fellsäckchen, das sie am Arm trug. Und auf die Fliegenpilze darin.

Wilder Schwan folgte meinem Blick. Rasch zog sie das Fellsäckchen zu, erkannte aber schon währenddessen die Sinnlosigkeit dieser Tat. Sie war verraten. Einen letzten kläglichen Versuch, ihre Lage zu verbessern, unternahm sie dennoch: „Weißt du, was das für Pilze sind? Kann man die essen?“

„Nein“, sagte ich. „Das weiß doch jedes Kind.“

„Ach so,“ erwiderte sie. „Dann kann ich sie ja wieder wegwerfen.“

Ich wartete. Sie rührte sich nicht.

„Dann wirf sie doch weg“, sagte ich.

„Mach ich nachher“, sagte sie.

„Warum nicht jetzt?“

„Weil ich’s nachher mache.“

Ich blickte in die eisigen Gletscher ihrer Augen. Wie oft hatten ich und meine Freunde doch schon über Wilder Schwan gelästert und wie oft hatten wir auf sie gedeutet, wenn sie mit den Frauen vorbeigetrottet war. Aber in diese Augen, in diese abgrundtief schönen Augen hatte ich lange nicht mehr geblickt.

Dann fragte ich etwas, was ich nicht fragen wollte: „Wieso gehst du nicht mit in die Schule?“

Ich erwartete eine verschämte oder aggressive Erwiderung, immerhin konnte der Grund ja ausschließlich ihre Familiensituation sein – doch das Gegenteil war der Fall.