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Manchmal, wenn der Mond die einsamen, windumspielten Strände von Kap Passero erhellt und das Donnern tosender Brandung alle anderen Geräusche übertönt, kann man weit draußen in dunkler Ferne etwas Unheimliches beobachten.
Da steigen fahle Masten und Segel aus den Wellen, Positionslampen flackern, und man sieht das unregelmäßige Aufblitzen von Kanonenfeuer.
Es sind Geisterschiffe mit ruhelosen Seelen an Bord, die 1718 hier vor der Südspitze Siziliens auf den Meeresgrund geschickt worden waren.
Nur ein Schiff entkam dem Höllenfeuer der Royal Navy.
Doch der Hölle selbst entkam es nicht ...
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Das Wispern im Efeu
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Anastasios Kandris/Dmitrijs Bindemann/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9407-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Das Wispern im Efeu
von Stephanie Seidel
Manchmal, wenn der Mond die einsamen, windumspielten Strände von Kap Passero erhellt und das Donnern tosender Brandung alle anderen Geräusche übertönt, kann man weit draußen in dunkler Ferne etwas Unheimliches beobachten.
Da steigen fahle Masten und Segel aus den Wellen, Positionslampen flackern, und man sieht das unregelmäßige Aufblitzen von Kanonenfeuer.
Es sind Geisterschiffe mit ruhelosen Seelen an Bord, die 1718 hier vor der Südspitze Siziliens auf den Meeresgrund geschickt worden waren.
Nur ein Schiff entkam dem Höllenfeuer der Royal Navy.
Doch der Hölle selbst entkam es nicht …
Andalusien, Gegenwart
»Bei der nächsten Gelegenheit bitte wenden!«, ordnete die Unbekannte an, was Alonso Hierros mürrischen Blick noch verdüsterte.
Er hatte die Straße nach Punta Rica vorsätzlich verlassen, das war weder ein Irrtum gewesen noch eine Unachtsamkeit. Trotzdem beharrte das Weibsbild auf einer Korrektur, wobei in der fremden Stimme eine gewisse Resignation mitzuschwingen schien. Als ob sie den IQ des Fahrers im unteren zweistelligen Bereich vermutete und daher selbst nicht an einen Erfolg ihrer Bemühungen glaubte.
So zumindest kam es Hierro vor, und es ärgerte ihn. Der 50-jährige duldete keine Zweifel an seinen Entscheidungen, und was er seiner Ehefrau nicht erlaubte, das durfte ein Navi erst recht nicht.
»Bitte wenden!«
Hierro tat, als habe er nichts gehört. Das Lenkrad beidhändig haltend und den Blick auf das Haus gerichtet, das einsam auf den fernen Hügeln thronte, steuerte er seinen SUV immer tiefer hinein in die unberührte Graslandschaft am Rand des Korkeichenwaldes.
Gnadenlos walzte der Geländewagen dabei alles platt, was ihm unter die Räder kam. Hierros unfreiwillige Kopfbewegungen während des Gerumpels erinnerten an einen Wackeldackel, und auch das war der Laune des Spaniers nicht zuträglich.
»Die Route wird neu berechnet«, verkündete seine elektronische Begleiterin störrisch. Hierro hatte sie Luisa getauft, das war der Name seiner Angetrauten und sehr praktisch, denn so konnte er an die Adresse der Gemahlin ab und zu etwas sagen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.
»Träum weiter, blöde Kuh!«, sagte er und schaltete das Navi aus.
Tief in Hierros Inneren jedoch formierte sich die zaghafte Frage, ob er Luisas Anweisungen nicht doch besser folgen sollte. Ausnahmsweise. Denn von Westen her zog eine dunkle Wolkenfront auf, die nichts Gutes verhieß, und Hierro hatte beim Blick in den Rückspiegel bemerkt, dass sie ziemlich schnell herankam. Noch war es möglich, dem Unwetter zu entgehen. Aber nur, wenn er jetzt wendete und kräftig Gas gab.
Die Versuchung war groß, zumal Alonso Hierro die morgendliche Fahrt ins Landesinnere nicht zum Vergnügen unternahm: Der Abrissunternehmer aus Tarifa hatte ein riesengroßes Problem … mit einem Spukhaus!
»Gespenster! Huuu!«, höhnte er.
Eigentlich waren ja nur Hierros Angestellte das Problem. Die Männer hatten gestern schweres Gerät zu der Baustelle auf den Wildwiesen gebracht und Hierro nach ihrer Rückkehr eröffnet, dass sie den verwaisten Besitz der Grafen Marín de Corraluz unter keinen Umständen ein zweites Mal betreten würden. Ein uralter Fluch sei dort aktiv, hatten sie behauptet und ihm etwas vorgeplappert von unheimlichen Geräuschen, von Geisterprozessionen und spurlos verschwundenen Menschen.
Hierro hatte ihnen daraufhin etwas mehr als den Mindestlohn angeboten, den er sonst immer zahlte. Doch die Kerle waren stur geblieben. La casa sobre la colina1) abreißen? No, Señor! Lieber würden sie eine Kündigung in Kauf nehmen.
Und wie gerne hätte Hierro genau die ausgesprochen! Doch er brauchte seine Leute. Denn der Vertrag, den er mit den andalusischen Behörden abgeschlossen hatte, ließ nur zwei Möglichkeiten zu: Entweder gab es später lukrative Folgeverträge, oder Hierro kam wegen Nichteinhaltung der laufenden Vereinbarung in Teufels Küche.
Dort wollte er nicht hin. Deshalb war er nach dem Frühstück losgefahren, um das zum Abriss anstehende Objekt noch einmal gründlich in Augenschein zu nehmen. Hierro glaubte nicht an Geister und war fest entschlossen, den angeblichen Fluch, der seine Männer von der Arbeit abhielt, zu vertreiben. Und zwar rápido, auch gern mit dem Spaten!
Denn wahrscheinlich, so vermutete er, hielten sich Marder in dem alten Gemäuer auf. Das kam öfter vor bei leerstehenden Bauten, und es würde die unheimlichen Geräusche erklären, die man dort angeblich gehört hatte. Etwas Größeres als ein Marder konnte es nicht sein, wegen der fehlenden Zugänge. Da war sich Hierro sicher.
Als die Ausschreibung für den Abriss veröffentlicht wurde, hatte er sofort ein Gebot eingereicht, das auch ohne großes Wenn und Aber akzeptiert worden war. Warum seine Firma trotz der nicht gerade knappen Kalkulation den Zuschlag erhielt, war Hierro erst klar geworden bei der Ortsbegehung mit Behördenvertretern aus Càdiz und anderen Offiziellen.
Denn da hatte sich das als »freistehendes, sehr altes Haus mit Grünbewuchs«, avisierte Objekt als ein ehemaliges Gesindehaus entpuppt, das ganze dreihundert Jahre lang nicht genutzt worden war. Genauso lange hatte der wilde Efeu Zeit gehabt, Dach und Außenwände zu überwuchern, bis nichts, aber auch gar nichts, mehr zu sehen war. Kein Fenster, keine Tür, kein Mauervorsprung. Nur noch sacht im Wind flappendes Blattwerk.
Ein derart zugewachsenes Gemäuer ließ sich nicht mit der Abrissbirne umlegen, und auch der schwere CAT-Kettenbagger, den Hierros Männer bereits per Tieflader vorgefahren hatten, konnte da nichts ausrichten. Zuerst würde die enorme Menge verholzter Ranken entfernt werden müssen, was eigentlich eine Aufgabe für einen Gartenbaubetrieb war. Ihn zu beauftragen, hätte allerdings Hierros Gewinn geschmälert.
So weit kommt’s noch, dachte er wütend. Nur weil die Kerle zu faul sind, ein bisschen Grünzeug abzureißen! Denen werde ich Beine machen!
Hierro hatte das Haus fast erreicht. Ein Stück weiter östlich schlängelte ein Feldweg durch die Wildwiesen. Er verband das kleine, in einer Senke hinter dem Hügel liegende Dorf Punta Rica mit dem Korkeichenwald.
Das Dorf war der einzige Zielort auf dem Anwesen der Grafen von Marín, den ein Navigationsgerät akzeptierte, obwohl sich die Landstraße von der Hafenstadt Tarifa über Punta Rica bis zum Schloss Corraluz fortsetzte. Doch Letzteres war in keiner Suchmaschine gespeichert. Ein Zeichen vielleicht, dass man – por favor! – lieber unter sich bleiben wollte.
Aber das hatte sich jetzt erledigt. Vor einiger Zeit war die Condesa Sofía Dolores Marín de Corraluz im ungemein gesegneten Alter von 104 Jahren verstorben. Mit ihrem Tod war das Adelsgeschlecht der Maríns erloschen und der gesamte gräfliche Besitz an Spanien zurückgefallen. Genauer gesagt, an die autonome Region Andalusien, was im Rathaus von Cádiz neben respektvoll unter dem Deckel gehaltener Freude eine Welle untypischer Betriebsamkeit ausgelöst hatte.
Endlich konnte man damit beginnen, die längst fertigen Baupläne für eine Ost-Erweiterung der Windparks von Barbate in die Tat umzusetzen! Wirklich nötig war der Ausbau nicht, denn in Andalusien wurde schon jetzt mehr Strom produziert, als tatsächlich gebraucht wurde. Doch der Überschuss würde Geld in die klammen Kassen spülen, und das allein zählte.
Hierro brachte seinen Wagen zum Stehen und schaltete den Motor aus. Er blieb noch eine Weile hinter dem Lenkrad sitzen, um den Anblick des Gebäudes auf sich wirken zu lassen, in der verqueren Hoffnung, tatsächlich etwas Unheimliches zu entdecken. Doch da war nichts.
Kopfschüttelnd öffnete er die Tür und stieg aus.
Gespenster! So ein Quatsch! Wahrscheinlich haben die Typen aus Punta Rica meinen Männern den Floh ins Ohr gesetzt, überlegte er, während er auf das Haus zustapfte.
Die meisten Familien des 280-Seelen-Dorfes lebten von der Korkmacherei. Seit Generationen verarbeitete man in Punta Rica die geschälte Rinde marínscher Eichen zu hochwertigen Naturkorken, einem Produkt, das sich bei Winzern großer Beliebtheit erfreute. Da die geplante Windkraftanlage quer über die Wildwiesen verlaufen sollte, parallel zum Waldrand, fürchteten die Dorfbewohner nun um den freien Zugang zu den Bäumen, um ihre Arbeitsplätze und Einnahmen.
Bekloppte Hinterwäldler! Die können doch auch Tomaten züchten! Wo ist das Problem?
Hierro warf einen Blick in die Höhe. Der Himmel über Andalusien hatte sein schönes Blau inzwischen abgelegt und sich farblich der Wolkenfront angepasst, die dick und dunkel heranwallte. Hin und wieder zuckte ein Wetterleuchten auf, und in der Ferne rumpelte es bereits vernehmlich.
Der Kettenbagger stand im Weg. Hierro tätschelte ihn beim Umrunden flüchtig. Das orangefarbene Ungetüm vermittelte dem Stadtmenschen ein Gefühl von Sicherheit in jener unangetasteten weiten Landschaft, in der alles lebte und doch nichts Lebendes zu entdecken war. Kein Reh, kein Hase, kein Vogel.
Nicht einmal ein Schmetterling.
Alonso Hierro erkannte die Warnung nicht. Sein Bezug zur Natur endete bei den wilden Tauben, die das Dächermeer von Tarifa umgurrten. Wären die plötzlich verschwunden, hätte er vielleicht aufgehorcht, doch die Stille hier draußen war für ihn bedeutungslos.
Hinter dem Bagger, nahe am Haus, wartete ein XXL-Container darauf, mit der ersten Ladung Grünzeug befüllt zu werden. Auch er war per Tieflader hergebracht worden, dessen Räder tiefe Zwillingsspuren ins Erdreich gepflügt hatten. Grasfetzen und zerrissene Wildblumen welkten darin. Hierro mied die Furchen auf dem Weg zum Haus.
Einige Schritte von der Fassade entfernt blieb er stehen. Sein prüfender Blick wanderte den Efeuteppich empor, der sie verhüllte – so komplett und in so vielen Schichten, dass man nur raten konnte, in welchem Zustand sich das darunterliegende Mauerwerk befand. Unheimlich fand der Abrissunternehmer das nicht, aber ungewöhnlich war es allemal. Kletterpflanzen rankten dem Licht entgegen, das war der einzige Plan, den sie verfolgten. Deshalb entkamen normalerweise vereinzelte Stellen dem Bewuchs, egal, wie viel Zeit man ihm einräumte. Hier war es anders.
»Hätte ich mir die Bude vor dem Bieten nur gründlicher angesehen!«, murmelte Hierro verärgert. Er bevorzugte Hauswände nackt und morsch, weil man sie mit wenig Aufwand zerstören konnte. Dieses Gebäude jedoch versprach, ein richtiger Knochenjob zu werden, der viele Arbeitsstunden verschlang. Viele Arbeitsstunden wiederum bedeuteten viel Lohn für seine Männer, also weniger Gewinn für ihn.
»Blödes Mistzeug!«, knurrte Hierro und packte in das Efeu, dem kindischen Impuls folgend, seine Überlegenheit beweisen zu müssen. Er bekam eine einzelne Ranke zu fassen. Sie war noch jung und grün und biegsam, sollte sich also mühelos herunterreißen lassen. So dachte Hierro, doch er irrte sich. Mehr als ein paar Blätter lösten sich nicht, da konnte er ziehen und zerren, so viel er wollte.
Das Unwetter war kurz vor dem Ausbruch. Düstere Wolken stauten sich über den Wildwiesen, hüllten das Land in rätselhaftes Zwielicht. Sekundenlang herrschte völlige Stille, als hielte die Welt den Atem an. Dann knallte es, und ein gleißender Blitz entlud sich.
Hierro hätte aufgeben sollen. Was er tat, war ohnehin sinnlos. Doch Aufgeben, selbst wenn es nur um eine störrische Efeuranke ging, kam für ihn nicht in Frage.
Verbissen kratzte er ein paar der seitlichen, zarten Haftwurzeln weg, um den Stängel endlich abreißen zu können. Dabei stutzte er einmal, weil er glaubte, im anschwellenden Wind etwas gehört zu haben: ein Klingeln, wie von Silberglöckchen.
Lautes Donnern erscholl. Gleich darauf fielen die ersten Regentropfen.
Noch einmal zerrte Hierro an der Ranke. Gedanklich war er dabei schon auf dem Rückweg zu seinem Wagen, in dem er das Gewitter würde aussitzen können.
Da schnellte der lange, dünne Trieb urplötzlich von der Hauswand. Hierro traf ein Schlag wie von einer Reitpeitsche, quer durchs Gesicht und so knapp an den Augen vorbei, dass sie zu tränen begannen.
»Verflucht!«, brüllte er.
Wütend holte er aus, verpasste dem Efeu einen Tritt – und blieb stecken.
»Was … was?«, stammelte Hierro entgeistert.
Er hatte etwa sechzig Zentimeter über dem Boden auf zwei verschlungene, dicke Muttertriebe gezielt. Mit mäßigem Elan, schließlich wollte er sich nicht verletzen. Doch noch während des Zutretens waren die verholzten Triebe wie von Geisterhand bewegt auseinandergedriftet. An der frei gewordenen Stelle hätte sich solides Mauerwerk befinden müssen. Hierro aber war an eine weiche Dunkelheit gestoßen, die nachgab.
Ehe er reagieren konnte, zog sich das Holz wieder zusammen. Hierro steckte fest, bis über die Wade. Es tat weh, und er zerknirschte eine Verwünschung, während er auf einem Fuß balancierend mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht zu halten.
Erneut war da das feine Klingeln, wie von Silberglöckchen. Es schien aus dem Haus zu kommen, was natürlich nicht sein konnte.
Und genauso wenig konnte da etwas an seinem Schuh herumfummeln!
Alles Einbildung, versuchte er sich zu beruhigen. Alles nur dem Gedanken geschuldet, er könne stürzen und sich womöglich das Bein brechen, hier in der Einöde und mit dem Handy unerreichbar auf dem Sitz des SUV.
Hierro begann zu schwitzen. Bilder durchhuschten seinen Verstand, von einem Landstreicher, der in dem zugewucherten Haus lebte und nun Hierros Schuh klauen wollte. Völlig bescheuert! Was sollte er denn damit anfangen? Trotzdem hörte das seltsame Betasten nicht auf. Der Schuh war aus weichem Leder, Hierro konnte genau spüren, dass sich etwas daran zu schaffen machte. Etwas … – oder jemand.
»Nimm die Flossen weg, verdammt noch mal, aber ein bisschen plötzlich!«, brüllte er zornrot, während er sich so weit wie möglich vorbeugte. Hierro versuchte, die harten Ranken auseinanderzuzerren, die sein Bein wie Schraubstöcke umklammerten. Vergeblich.
Der Wind nahm zu, verwandelte die Wildwiesen in ein aufgebracht wogendes, grünes Meer. Regentropfen, eben noch vereinzelt fallend, begannen zu pladdern, immer lauter, immer heftiger. Quer über den Himmel krachten Donnerschläge, die den Boden erbeben ließen. Dann brach das Unwetter los.
Strömender Regen rauschte herunter. Im Handumdrehen war Hierro durchnässt bis auf die Haut. Mit wachsender Verzweiflung zerrte er an den Holzranken. Sie gaben keinen Millimeter nach. Seine Fingernägel brachen beim Versuch, ihre Rinde aufzureißen, der Pflanze zu schaden, sie zu töten.
»Lass mich los, du Scheißbiest!«, presste er mit verzerrtem Gesicht zwischen den Zähnen hervor.
Der Griff nach seinem Schuh wurde forscher, und allmählich dämmerte es Hierro, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Blinzelnd schaute er hoch, in den Regen.
»Bitte, Gott!«, flüsterte er.
Aber Gott war wohl gerade anderweitig beschäftigt. Vom Himmel kam jedenfalls nur Wasser herunter, keine Hilfe. Hierro spürte, wie ihm jemand den Schuh auszog. Mitsamt der Socke. Im nächsten Moment sanken scharfe Zähne in sein Fleisch.
Namenloses Entsetzen übermannte den Spanier, als der unsichtbare Widersacher ihm die Zehen wegbiss. Erst die Zehen, dann den Mittelfuß. Hierro verlor das Gleichgewicht, fiel schreiend zu Boden. Sein Unterschenkel brach.
Gleich darauf geriet Hierros Körper in schaurige, fremdgesteuerte Bewegung. Ruckweise zog jemand das verletzte Bein durch den Efeu, mit übernatürlicher Kraft. Immer tiefer ins Haus hinein. Hierro schlug um sich, krallte im Vorbeigleiten die Finger um Disteln und Gräser, suchte verzweifelt nach Halt. Ohne Erfolg.
Schon hob sich sein Unterleib vom Boden. Hierro stemmte den freien Fuß gegen die Hauswand, versuchte mit aller Macht, das Hineinziehen zu stoppen. Peitschender Regen nahm ihm den Atem, die Sicht. Hierro wimmerte vor Angst.
Dann stieß sein Gesäß an die verholzten Muttertriebe. Die Aussparung zwischen ihnen war zu eng, ein Durchkommen unmöglich. Das Rucken und Ziehen hörte auf. Hierro hob den Kopf, wagte bereits, zu hoffen. Tränenblind suchte sein Blick nach der Öffnung im Efeu.
Da bewegte sich das starre Holz erneut, glitt auseinander wie ein gieriges, von unheimlichem Leben beseeltes Maul. Und was immer sich in seiner dunklen Tiefe verbarg, riss den Mann sofort weiter auf sich zu.
Hierros Schreie gellten durch die menschenleere Wildnis, zeugten von dem Grauen, das er durchlitt, und den Schmerzen. Ein Knochen nach dem anderen zersplitterte: Oberschenkel, Hüfte, Rippen. Während er durch die Wand gezerrt wurde, stauten sich im Sekundentakt immer neue Ringe aus blutiger Kleidung, Haut und Fleisch vor der Aussparung, ehe sie ruckartig darin verschwanden.
Bald schon war nur noch Hierros Kopf zu sehen. Er schwoll an, färbte sich dunkelrot und platzte schließlich. Blutige Rinnsale liefen den Efeu hinunter.
Der Regen spülte sie fort.
Zehn, fünfzehn Minuten später war das Unwetter vorbei. Stille kehrte zurück auf die Wildwiesen am Korkeichenwald. Hier und da rollten noch vereinzelte Tropfen an Blättern und Gräsern herunter, richteten sich vom Wolkenbruch niedergedrückte Blüten wieder auf. In der Ferne wanderte ein Schäfer mit seiner Herde durch die Vegetation. Einen Moment lang blieb er stehen und schaute hinüber zum Haus auf dem Hügel. Er sah sehr nachdenklich aus …
☆
Andalusien, Hafenstadt Tarifa, Gegenwart
Die Sonne stand schon tief im Westen, als Willem van Kamp das Ärztehaus Nr. 606 B in der Calle Aquamarina verließ. Sanft schnappte die Tür hinter ihm ins Schloss; ein vertrautes Geräusch, das den Notfallpsychologen aufatmen ließ.
»Wochenende!«, stöhnte er erleichtert.
»Allah sei Dank!«, fügte seine Frau hinzu.
Arm in Arm schlenderten sie davon.
Willem und Hayat führten eine Gemeinschaftspraxis: Er kümmerte sich um verwundete Seelen, sie war Allgemeinmedizinerin. Zudem arbeiteten beide ehrenamtlich für die spanische Seenotrettung.