Professor Zamorra 1235 - Stephanie Seidel - E-Book

Professor Zamorra 1235 E-Book

Stephanie Seidel

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Beschreibung

Staub der Jahrhunderte bedeckte das Reich der Geister, und wo einst dämonisches Leben gewesen war, herrschten Schweigen und Dunkelheit. Reglose Körper lagen am Boden, die satanischen Feuer waren zu bizarren Säulen erstarrt.
Oben im Sonnenschein liefen Menschen durch den Sand und über die alten Steine, ahnungslos, wie schon tausende Male zuvor. Und doch war heute etwas anders. Heute kratzte jemand an der Felsenplatte herum, deren magische Zeichen den Weg in die Unterwelt versperrten.
Mehrfach war ihnen der Unbekannte schon so nahe gekommen, dass ein Zittern die versiegelte Erde durchlief. Es trug den Hauch neuer Hoffnung hinunter zum Höllengrund.
Und irgendwo in der Stille öffnete sich ein glühendes Augenpaar ...


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Seitenzahl: 136

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Am Höllengrund

Epilog

Leserseite

Vorschau

Impressum

Am Höllengrund

von Stephanie Seidel

Staub der Jahrhunderte bedeckte das Reich der Geister, und wo einst dämonisches Leben gewesen war, herrschten Schweigen und Dunkelheit. Reglose Körper lagen am Boden, die satanischen Feuer waren zu bizarren Säulen er‍starrt.

Oben im Sonnenschein liefen Menschen durch den Sand und über die alten Steine, ahnungslos, wie schon Tausende Male zuvor. Und doch war heute etwas anders. Heute kratzte jemand an der Felsenplatte herum, deren magische Zeichen das Tor zur Unterwelt verschlossen hielten.

Mehrfach war ihnen der Unbekannte schon so nahe gekommen, dass ein Zittern die versiegelte Erde durchlief. Es trug den Hauch neuer Hoffnung hinunter zum Höllengrund.

Und irgendwo in der Stille öffnete sich ein glühendes Au‍gen‍paar ...

30. August 2015, Syrien

Man erwartet nichts Besonderes anzutreffen in der einsamen Weite des Hochlands von Aleppo, wo die syrische Wüste den Schattenwurf zweier mächtiger Bergketten passiert. Das Gelände ist karg; ein Flickenteppich aus Sand, Geröll und magerem Grün. Ab und an begegnet man Nomaden mit ihren Schafherden oder Ziegen, manchmal kreist in lichter Höhe ein Raubvogel.

Doch der unspektakuläre Ausblick täuscht.

Es ist altes Land, geheimnisvoll, von Mythen und Legenden durchtränkt. Archäologen stoßen hier bisweilen auf Funde, die sich nicht zuordnen lassen – keiner Gottheit, keinem Herrscher, keiner Zeit –, und man hört Berichte über rätselhafte Phänomene.

Was nicht ganz abwegig ist, denn durch die Wüste zieht sich, verborgen unter jüngeren Erdschichten, eine sagenumwobene Handelsroute aus der Blütezeit des Orients: Die westliche Seidenstraße.

Auf halber Strecke zwischen Damaskus und dem Euphrat führte sie an einer Karawanenstadt vorbei. Kaufleute aus vieler Herren Länder trafen dort ein. Nicht alle kehrten zurück, und dennoch war die schöne Oase ein Sehnsuchtsort, dessen Name bis heute zum Träumen anregt.

Palmyra.

Ein Kleinod in der Wüste, reich an monumentalen Bauten, an Tempeln, Prachtstraßen und Triumphbögen inmitten von Palmengärten und sprudelnden Quellen.

Längst sind die Bewohner verschwunden, ihre Häuser zerfallen. Doch der Geist aus Tausendundeiner Nacht ist noch immer gegenwärtig.

Er erwacht mit der aufgehenden Sonne, die das ganze breite Panorama der antiken Stadt in goldene Dunstschleier hüllt. Der Anblick hat etwas Magisches; er täuscht Bewegung auf den verlassenen Straßen vor und lässt die Ruinen auf rätselhafte Weise unversehrt erscheinen. Bisweilen ist da auch ein Wispern im Wind, wie Stimmen aus der Vergangenheit, und es duftet schwach nach bunten Gewürzen.

Wer Palmyra besucht, der geht mit leichtem Herzen nach Hause, berauscht vom Zauber des Orients. Und er wird nie erfahren, wie knapp er dem Tod entkam. Denn das Geheimnis der uralten Pforte unter dem Wüstensand kennen nur wenige sehr verschwiegene Auserwählte: die Jäger des Bösen  ...

30. August 2015, Palmyra

»Bilal! Schramm die Kiste nicht so über den Stein! Das Gequietsche macht mich wahnsinnig!«

»Die Dinger sind schwer, Mustafa«, maulte der Junge.

Mustafas bärtiges Gesicht verfinsterte sich. Er war gerade dabei, eine Zündschnur zu verlegen; ohne sie loszulassen, wandte er kurz den Kopf.

»Brauchst du Schläge wie ein Weib, oder gehorchst du mir auch so?«

Leises Lachen geisterte durch den antiken Tempel, und Bilal errötete vor Scham. Ihn mit einem Weib zu vergleichen war eine Beleidigung, die der 14-jährige Syrer normalerweise von niemandem hingenommen hätte. Bei Mustafa jedoch blieb ihm keine andere Wahl.

Bilal gehörte zu der Miliztruppe des IS, die vor wenigen Monaten Tadmor erobert hatte, eine nahegelegene Kleinstadt. Mustafa war ihr Anführer. Wer ihm widersprach, wurde brutal bestraft, und wer die Hand gegen ihn erhob, war des Todes. Diese eiserne Regel würde Mustafa auch nicht für seinen jüngeren Bruder brechen, das wusste Bilal. Also presste er die Lippen zusammen und arbeitete weiter. Gedemütigt und schweigend.

Es ging auf Mittag zu. Gnadenlos brannte die Sonne vom Himmel herab, brachte das staubige Land zum Flimmern und verwandelte Palmyras Ruinen in Glutöfen. Aus den Grasnarben erscholl das unablässige monotone Zirpen der Zikaden. Wüstenwind zog durch die verlassene Oasenstadt. Er fachte die Hitze noch an.

Südöstlich des Zentrums, nahe der versiegten Efqa-Quelle, die den einstmals üppigen Palmenbestand genährt hatte, ragte ein imposantes Heiligtum auf: der Baal-Tempel, zweitausend Jahre alt und erstaunlich gut erhalten. Elf Meter hohe Säulen umgaben ihn an allen vier Seiten. Wie stumme Wächter, die dem Flugsand trotzten, der glühenden Sonne, dem Zahn der Zeit. Immerfort und klaglos, zu Ehren eines freundlichen Gottes.

Unweit des Baal-Tempels parkten mehrere Geländewagen. Auf der Ladefläche des einen standen mit Sprengstoff gefüllte Metallkisten, deren Aufdruck sie als Eigentum der syrischen Armee auswies. Was nicht mehr stimmte, denn nach dem Angriff auf Tadmor hatten sie den Besitzer gewechselt. Sie gehörten jetzt dem IS, wie auch die 50.000 Einwohner zählende Stadt. Oder was noch von ihr übrig war.

Bilal und ein weiterer Junge hatten den Befehl erhalten, den Sprengstoff in den Tempel zu bringen. Mustafa wollte es so. Jeder aus seiner Truppe musste bereit sein, dem Tod ohne Furcht ins Auge zu sehen. Alter oder Verwandtschaftsgrad spielten keine Rolle.

»Ich hätte lieber Ali geholfen!«, murrte Bilal.

»Ich auch«, bestätigte Ahmed, der zweite Junge. Er und Bilal stapften mit einer weiteren Metallkiste auf die Säulenreihe am Eingang zu. Rechts von ihnen, in sicherem Abstand von den Laufwegen der Milizgruppe, lag ein Geländeabschnitt, den niemand betrat. Die beiden grinsten wissend.

Dort ragte ein kurzer, dünner Zweig aus dem Sand. Einer von insgesamt acht, die Mustafas Stellvertreter Ali zum Abschluss seiner Arbeit mit äußerster Vorsicht angebracht hatte.

Bilal wusste, dass eine Sprengung antiker Gebäude Schockwellen auslöste in der Welt der Ungläubigen. Experten und Historiker eilten jedes Mal sofort herbei, um die Schäden zu begutachten, zu jammern und zu klagen. Da achtete niemand auf ein paar Zweige im Sand. Das Laub an ihren Stängeln erschlaffte bereits; ein paar Stunden noch, dann hatte die sengende Sonne alles ausgedörrt. Und der Abendwind würde die einzige Warnung vor den frisch vergrabenen Landminen verwehen ...

»Wie viele Kisten sind es noch?«, rief Mustafa, als die Jungen den Tempel betraten.

»Eine«, erwiderte Bilal.

»Gut. Holt sie her. Danach könnt ihr Halif helfen, die Kameras aufzubauen.« Der bärtige Syrer warf einen Blick auf seine Uhr. »Dann geht ihr zu den Wagen und bleibt dort! Wir sprengen in etwa einer Stunde.«

Bilals Gesicht verdüsterte sich vor Enttäuschung. Er hatte gehofft, Mustafa zu der felsigen Anhöhe am Oasenrand begleiten zu dürfen, von wo aus die Sprengung initiiert werden sollte. Die Fahrzeuge hingegen wurden vor der Aktion weit nach Westen zurückgesetzt, und das bedeutete für ihn, dass er nach seiner langweiligen Arbeit nicht einmal deren Ergebnis genießen durfte! Explosionen aus der Ferne zu beobachten war so spannend wie Haare waschen.

»Ich hab Durst!«, nörgelte der Junge, während Ahmed und er die Metallkiste auf dem Stein abstellten.

Der Stein, das war eine dicke, 2x3 Meter große, sandfarbene Bodenplatte. Sie befand sich in einem Raum des Tempels, der laut Mustafa Das Allerheiligste genannt wurde. Nur von den Ungläubigen, versteht sich.

»Warte kurz. Ich hol uns was zu trinken«, sagte Ahmed.

Bilal nickte. Jetzt wäre eigentlich ein guter Moment gewesen, um Mustafa auf etwas Merkwürdiges anzusprechen, das er beobachtet hatte. Unschlüssig blieb er stehen und sah sich um.

Überproportional hohe Wände ließen das Allerheiligste kleiner erscheinen, als es ohnehin schon war. Man fühlte sich seltsam geschrumpft an diesem Ort, beinahe unbedeutend, und dass man den Kopf in den Nacken legen musste, um zu den Fensterhöhlen hochzublicken, verstärkte den Eindruck noch.

Wenigstens gab es kein Dach. Auch die Sonne war freundlich. Sie stand östlich der Außenmauern, quälte also niemanden mit direkter Bestrahlung, verbreitete aber genug Helligkeit, dass jedes Raumdetail gut zu sehen war. Wie die Kultnischen und der in die Kopfwand gemeißelte Schrein mit dem düsteren Dekor.

Der 14-jährige konnte nicht nachempfinden, was an zweitausend Jahre alten Steinmetzarbeiten beeindruckend sein sollte, oder cool, wie die Kids der Ungläubigen es nannten mit ihren Sneakers und Hoodies und den gotteslästerlichen Postings auf Instagram. Auch die Bodenplatte wäre ihm egal gewesen, hätte das Ding einfach nur still dagelegen.

Doch das tat es nicht.

Schon beim Absetzen der ersten Munitionskiste hatte Bilal die geisterhafte Kälte bemerkt, die dem Stein entströmte. Da war der Tag noch jung gewesen, und nicht alles, was die Sonne beschien, erwärmte sich gleich schnell. Inzwischen aber ächzte das ganze Land unter der Mittagshitze, in der Tempelruine führte die bloße Anwesenheit zu Schweißausbrüchen – doch der Stein war noch immer kalt.

Bilal hätte Mustafa gern darauf hingewiesen. Er traute sich nur nicht, denn sein Bruder reagierte mit Spott auf alles, was unerklärlich und geheimnisvoll schien.

In der Mitte der Sandsteinplatte mit ihren versenkten Reliefs prangte ein großes Sonnensymbol auf einem Schriftkranz. Zusammen erinnerte das an einen Türklopfer, ähnlich wie der, den der Bürgermeister von Tadmor an seinem Hauseingang gehabt hatte. Allerdings war dessen Ring aus Eisen und beweglich gewesen, und er war laut ans Holz geknallt, als Mustafa die Tür eintrat.

Der Ring im Baal-Tempel bestand aus gemeißelten Zeichen, konnte sich also gar nicht bewegen. Und dennoch regte sich etwas, seit Bilal und Ahmed vor ein paar Stunden die zweiten Munitionskiste ins Allerheiligste gebracht hatten. Da war Mustafa gerade Richtung Eingang unterwegs gewesen. Sie hatten ihm hastig ausweichen müssen und die Kiste steiler abgestellt als geplant, sodass eine ihrer scharfkantigen Ecken über den Ring schrammte. Es hinterließ eine Lücke, und genau dort war für einen Moment etwas aufgeflammt. Schwach und feuerfarben.

Bilal hatte zuerst an eine optische Täuschung geglaubt. Ein verirrter Sonnenstrahl vielleicht. Doch dann hatte das Licht zu wandern begonnen, war mal hier, mal da in einem der Schriftzeichen erschienen. Als würde sich aus lichtlosen Tiefen etwas an die Oberfläche arbeiten. Wie ein züngelndes Feuer.

Lesen konnte die Zeichen keiner. Mustafa hatte abfällig gemeint, sie seien nur der dilettantische Versuch altertümlicher Steineklopfer, etwas halbwegs Schönes herzustellen. Und schön war an ihnen tatsächlich nichts. Sie bestanden in der Hauptsache aus gezackten, schrägen Strichen.

Doch sie alle waren sehr akkurat herausgearbeitet, und der Ring verlief so rund wie mit dem Zirkel gezogen. Wer immer ihn erschaffen hatte, musste gewusst haben, was er tat.

»Hier!«, sagte Ahmed in Bilals Gedanken hinein und drückte ihm eine Wasserflasche in die Hand. Dann nickte er Richtung Eingang.

»Bringen wir's hinter uns!«

Ahmed ging los, und Bilal folgte ihm nach einem letzten Blick auf die Steinplatte. Der feuerfarbene Reflex tauchte noch immer in den Schriftzeichen auf, aber außer ihm schien das niemand zu bemerken. Selbst Mustafa nicht, der hinzugetreten war und gerade die vorletzte Ladung Semtex aus der Kiste nahm.

»Worauf wartest du?«, fragte er unwirsch.

Bilal setzte sich hastig in Bewegung. Die Chance, mit seinem Bruder zu sprechen, war vertan. Doch der Countdown zur Katastrophe wäre ohnehin nicht mehr abzuwenden gewesen.

Er lief bereits ...

13.44 Uhr. Noch 60 Sekunden bis zur Sprengung. Die Männer der Miliztruppe waren abgezogen und warteten in sicherer Entfernung am äußeren Palmengürtel.

Bilal hatte es geschafft, seinen Bruder zu überreden, ihn mitzunehmen auf die felsige Anhöhe jenseits der versiegten Efqa-Quelle, die Deckung bot und zugleich einen freien Blick auf den Tempel. Jetzt hockte er neben Mustafa zwischen hohen Gesteinsblöcken, während der IS-Anführer seine letzten Vorbereitungen traf. Die Sprengsätze wurden digital gezündet; ein einziger finaler Tastendruck würde genügen, um zweitausend Jahre Geschichte auszulöschen.

Weiter rechts hatte Halif seine Kameras in Position gebracht. Die Aktion sollte wie immer ins Internet gestellt werden, denn der Feind sollte alles mitansehen, weltweit, auf allen Social Media-Kanälen. Und erkennen, wie machtlos er war.

Nichts rührte sich in Palmyra. Still und verlassen träumte die alte Karawanenstadt vor sich hin. Goldener Sonnenschein wärmte ihre betagten Gemäuer, gab ihnen etwas vom Glanz vergangener Zeiten zurück.

Bilal spürte heiße Erregung in sich aufsteigen. Er biss sich auf die Lippe beim Anblick des Tempels, der gleich – jeden Moment – auseinanderfliegen würde.

Warum das Ding den Ungläubigen so wichtig war, konnte sich der Junge nicht erklären. Es gab keine Schätze darin, die Mauern waren stark beschädigt, und den falschen Gott, der früher dort verehrt wurde, kannte man heutzutage nicht einmal mehr. Baal. Wer sollte das gewesen sein?

Noch fünf Sekunden.

Spatzen landeten auf dem Tempelvordach. Tschilpend, ahnungslos.

»Fang an zu filmen!«, befahl Mustafa.

Dann zählte er rückwärts.

»Drei. Zwei. Eins.«

Der Knall war ohrenbetäubend. Bilal sah, wie sich die Tempelfront vom Boden hob, scheinbar in Zeitlupe. Wie sie auseinanderplatzte, während Staubfontänen aus den Fugen schossen. Sie vermehrten sich, stiegen auf. Wurden zu einer riesigen Wolke, die den gesamten Komplex verhüllte.

Zeitgleich durchliefen Schockwellen den Untergrund, vom Tempel bis hinauf zur Anhöhe. Bilal hörte, wie ein Kamerastativ umfiel. Wie Halif fluchte und Mustafa ihm zurief, er solle sich auf die zweite Kamera konzentrieren.

Der Junge hatte nur Augen für die Sprengung. Überall flogen Gesteinsbrocken aus der Wolke. Wie Feuerwerksraketen. Ihre Flugbahn verwirbelte den wogenden Staub, sodass man hier und da für einen kurzen Moment die noch stehenden Mauerstümpfe erkennen konnte.

Bilal runzelte die Stirn: zwischen den Tempelresten ragte etwas Dunkles auf! Ziemlich groß; undefinierbar im grauen Dunst. Bilal hielt die amorphe Form zuerst für ein Stück Wand des Allerheiligsten. Doch diesem Raum hatte Mustafa eine Extra-Ladung Semtex verpasst – unmöglich, dass da noch ein Stein auf dem anderen lag.

Außerdem stimmte die Höhe nicht. Bilal versuchte sich zu erinnern, wie das Allerheiligste vor der Sprengung ausgesehen hatte. Dann wurde ihm klar, dass die dunkle Erscheinung zu hoch stand. Sie musste sich über dem ehemaligen Raum befinden. Frei in der Luft.

»Mustafa!«, flüsterte Bilal beunruhigt, während er nach dem Bruder tastete. Aber der Platz an seiner Seite war leer. Mustafa war hinüber zu Halif gespurtet, der Probleme mit der unversehrt gebliebenen Kamera hatte.

Allmählich verebbte das Prasseln der herabstürzenden Trümmer, und die große Staubwolke begann sich zu lichten. Vom Oasenrand her erscholl ein Hupkonzert. IS-Fahnen wurden geschwenkt. Jubelrufe erschalten.

Doch Bilal war nicht nach Feiern zumute. Wie gebannt hing sein Blick an dem schemenhaften Wesen, das im Schleiertanz des sinkenden Staubes immer mehr Gestalt annahm. Schon drangen einzelne Sonnenstrahlen zu ihm vor, trafen auf etwas Schuppiges, Glänzendes.

Es begann sich zu bewegen. Breitete zwei überlange Gliedmaßen aus, die eine Art Segel zu tragen schienen. Fließend ruderten sie vor und zurück, mit einem Geräusch, das an flappendes Leder erinnerte und die letzten Dunstwolken zerfächerte. Bis kein Staubkorn mehr den Blick versperrte.

Der Junge merkte nicht, dass er schrie. Panik war das einzige, allumfassende Gefühl, das er verspürte, während er etwas anstarrte, das nicht existieren konnte und trotzdem da war: Über den Trümmern des Tempels schwebte ein riesiger, schwarzer Drache!

Mordlust brannte in seinen feuerfarbenen Augen, als er den massigen Kopf senkte und zu suchen begann. Doch es gab nichts zu finden außer Staub und Steinen und ein paar Spatzenfedern, die er schnaubend aufwirbelte. Am Ende fauchte er verärgert, dann wandte er sich um. Und verschwand ...

Oktober 2015, Aleppo

Sie kamen in der Nacht. Wieder einmal. Jahrelang hatte Aleppo dem despotischen Herrscher getrotzt, und genauso lange schon machten syrische Regierungstruppen Jagd auf das eigene Volk. Egal ob Aufständische oder Zivilisten, Aleppo musste fallen, so lautete der Befehl. Nichts anderes zählte.

Abermals lag der Osten der Stadt unter Beschuss. Unentwegt heulten Mörsergranaten heran, explodierten mit furchtbarer Wucht in den Straßen, auf Plätzen, an Fassaden. Russische Kampfjets brausten im Tiefflug über die Dächer hinweg, unsichtbar vor dem mondlosen Himmel, und sie warfen eine Bombenlast auf Krankenhäuser, Schulen und Wohngebäude, die ohnehin nur noch graue Gerippe waren. Doch es lebten nach wie vor Menschen darin. Hunderte, vielleicht Tausende. Sie waren das Ziel.

Wummernde Detonationen ließen die Erde erbeben, brachten bereits schwankende Fassadentrümmer zu Fall. Steine platzten beim Aufprall ab und sprangen in alle Richtungen davon, Fenster wurden zum tödlichen Scherbenregen. Der Lärm war ohrenbetäubend.

Überall strömten Flüchtende ins Freie. Bewaffnete Einheiten sicherten die Ausfallstraßen, winkten LKW heran. Doch die Fahrzeuge reichten nicht für alle. Im Handumdrehen waren sie umringt von einer verzweifelten, schreienden Menge. Alte Leute wurden beiseite gedrängt, Kinder liefen Gefahr, erdrückt zu werden. Wer hinfiel, stand nicht mehr auf.

Nahe der Straßenkreuzung mit ihren zerknickten Ampelbögen lief ein einzelner Mann den Gehweg entlang. Mahmoud Ziad war noch in der Backstube gewesen, als der Angriff begann, um alles für den morgigen Tag vorzubereiten. Morgen würde es kein Brot mehr geben – ein Volltreffer hatte das Nachbarhaus eingedrückt und Teile der berstenden Seitenwand in die Backstube katapultiert. Dass sie Mahmoud verfehlt hatten, grenzte an ein Wunder.

Blutige Schrammen, ein verquollenes Auge und Phantomgeräusche in den Ohren, mehr trug der junge Familienvater nicht davon. In Sicherheit war er deshalb noch lange nicht. Oben im Haus saß seine Frau mit den drei Kindern, die musste er holen.