Professor Zamorra 1028 - Thilo Schwichtenberg - E-Book

Professor Zamorra 1028 E-Book

Thilo Schwichtenberg

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Beschreibung

Arme und Beine klebten und drückten an ihrem Körper. Ihre Magie konnte die Handflächen nicht mehr verlassen. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht mehr bewegen! Dunkelheit hielt sie umklammert, wie der Nachtmahr seine Opfer. Die Stimme umhüllte sie wie ein grobes Gewand. "Dieses Mal habe ich einen Weg gefunden, dich ein für allemal aus deiner ach so geliebten Welt zu verbannen. Spürst du es? Dein ist nicht mehr die Weite Sibiriens, dein ist nur noch dieser Kern. Du bist mein! Gefangen in dieser kleinen Enge, aus der es kein Entrinnen mehr gibt! Nicht heute, nicht morgen und nicht in Äonen. Und selbst das Vergehen des Multiversums wirst du wohl hier erleben müssen." Schweißgebadet erwachte die Baba Yaga. Sie schrie, wieder und immer wieder. Selbst dann noch, als sie Professor Saranow wie ein Kind fest in seine Arme nahm ...

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Seitenzahl: 150

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Inhalt

Cover

Impressum

Boreas' Gier

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Jürgen Speh

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-8387-4963-1

www.bastei-entertainment.de

Boreas’ Gier

von Thilo Schwichtenberg

Arme und Beine klebten und drückten an ihrem Körper. Ihre Magie konnte die Handflächen nicht mehr verlassen. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht mehr bewegen!

Dunkelheit hielt sie umklammert, wie der Nachtmahr seine Opfer.

Die Stimme umhüllte sie wie ein grobes Gewand. »Dieses Mal habe ich einen Weg gefunden, dich für immer aus deiner ach so geliebten Welt zu verbannen. Spürst du es? Dein ist nicht mehr die Weite Sibiriens, dein ist nur noch dieser Kern. Du bist mein! Gefangen in dieser kleinen Enge, aus der es kein Entrinnen mehr gibt! Nicht heute, nicht morgen und nicht in Äonen. Und selbst das Vergehen des Multiversums wirst du wohl hier erleben müssen.«

Schweißgebadet erwachte die Baba Yaga.

Sie schrie, wieder und immer wieder. Selbst dann noch, als sie Professor Saranow wie ein Kind fest in seine Arme nahm …

PROLOG

Wales, unweit des Dorfes Cwm Duad

Noch ein paar Schritte und die Anhöhe war erklommen. Fast im Schlendergang umrundete der schlaksige Bursche die Langgrasinseln, dann hatte er es geschafft.

Der Wanderer blieb stehen und betrachtete die Bergwelt. Der Wind fuhr ihm dabei leicht durch sein halblanges, mittelblondes Haar.

Was seine ausdrucksstarken dunklen Augen sahen, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Was für ein herrlich grünes Land, das wohl gut tausend Schattierungen dieser Farbe hervorbrachte! Die hellen saftigen Wiesen, die etwas dunkleren Inseln darin, die Büsche und Bäume vom silbrigen Grün bis zum Dunkelgrün, ja, selbst die Flechten auf den Steinen und Berghängen leuchteten in einer eigenen Nuance dieser wohltuenden Farbe.

Unter ihm glitzerte ein kleiner See, an dessen rechtem Ende ein bräunlich grüner Bergrücken begann. Die Ferne verschwamm in einem Hauch von Dunst.

Es war wunderschön.

Doch nun, wo er hier stand und sich umsah, schien etwas zu fehlen. War er wirklich nur wegen der schönen Aussicht hier heraufgekommen? Er war plötzlich sicher, dass er eine andere Absicht gehabt hatte, als er den Aufstieg begonnen hatte. Als habe ihn etwas gerufen.

Doch nun war der Gedanke fort, als habe er sich in der klaren Luft verflüchtigt.

Der junge Wanderer drehte sich und betrachtete den Berg. War er wegen ihm gekommen? Ihm? … Das schien eine Saite in ihm zum Klingen zu bringen, aber wieder war der Gedanke fort, bevor er ihn festhalten konnte.

Und dann vergaß er sogar seinen eigenen Namen.

Sein Lächeln gefror und seine Augen glommen noch düsterer, als sie es ohnehin taten.

Die Sonne war fort, als habe es sie nie gegeben. Die Welt war dunkel.

Der Berg, auf dem er stand, war nicht mehr leer. Der schlaksige Bursche wusste es besser.

Seine Augen nahmen nun die Farbe von schwarzem leicht schillerndem Öl an.

Vor ihm, auf dem lang gestreckten Bergrücken, in einiger Entfernung also, entstand jetzt eine Wolke. Grau schien sie, nein, dunkler, schwärzer! In der düsteren Umgebung kaum zu sehen, war sie doch da. Die Wolke drehte sich langsam, wuchs sich zu einer fetten öligen Säule aus und senkte sich herab.

Das gesamte Schauspiel ging völlig lautlos vonstatten.

Da! Jetzt verschwand die sich immer schneller drehende Säule, kurz bevor sie den Bergrücken berührte. Es war, als würde sie von einer bestimmten Stelle des Bodens aufgesaugt.

Plötzlich mischte sich in die geisterhafte Stille ein Schrei. Ein langanhaltender, schmerzhafter Schrei, der von Hilflosigkeit und Ohnmacht sprach.

Als der Schrei abbrach, explodierten die Reste der sich rasend schnell drehenden Säule.

Die öligen Batzen verklebten dem Wanderer die Augen, verschmierten seinen Geist.

Und trotz der Müdigkeit, die ihn plötzlich überfiel, breitete sich auf dem jugendlichen Gesicht des blonden Wanderers ein Lächeln aus. Ein Lächeln, das die Düsternis vertrieb und die Sonne wieder scheinen ließ. Was hier passierte, war gut. Es war richtig.

Und doch hatte ihn der Vorgang angestrengt (hatte er ihn inszeniert? Ihn … geträumt? Es schien so).

Müde wischte er sich die Überreste der Explosion aus dem Gesicht, aus dem Geist.

Als sein Geist sich klärte und er langsam die Augen wieder öffnete, war die Landschaft wieder so sonnig wie zuvor, so grün, so frisch wie ein Traum.

Wie ein Traum.

Der Wanderer warf noch einen Blick auf das Ende des Bergrückens, auf dem er stand. Es war schwarz, besudelt. Verbrannt, als habe ein schreckliches Feuer darauf gewütet.

Wieder lächelte er.

Doch dieses Lächeln war kein Gutes. Es sprach von Grausamkeit und Zorn.

Immer noch das schreckliche Lächeln auf dem Gesicht wandte Julian Peters sich ab und trat den Abstieg an.

***

Westsibirisches TieflandIn den borealen Nadelwäldern nördlich der Industriestadt Surgut am Mittellauf des Ob

Es erwachte.

Es konnte sich nicht daran erinnern, wie es hierher gekommen war oder wer es an diesen Ort gebracht hatte. Das war seltsam, denn sonst erhielten es und seinesgleichen die Aufträge direkt von der Herrin, ohne, dass sie ihnen die Erinnerung nahm.

Aber da es nun einmal hier war, konnte es auch beobachten.

Es zog sich aus dem Laub und streckte seine Fasern. Ein zufälliger Beobachter hätte nur einen unterarmlangen, kräftigen Wurzelstrang gesehen. Aber dieser Wurzelstrang lebte, sondierte gerade die Umgebung und wurde in nächster Nähe fündig.

Es besaß keine Augen und dennoch konnte es sehen.

Die junge Frau lag auf dem Waldboden. Ihre Kleidung war größtenteils zerrissen. Über ihr gebärdete sich ein Mann mittleren Alters. Seine Arme hielten die ihrigen wie Stahlklammern auf dem Boden fest. Sie schrie und spuckte und versuchte mit den Beinen zu strampeln, doch sein schwerer Körper ließ nur wenig Bewegung zu.

Der Blick des Mannes war glasig. Er keuchte und sein Becken bewegte sich auf und ab.

Das Wurzelwesen streckte sich vor Entsetzen. Es war fündig geworden und musste schnellstmöglich die Beschützerin alles Weiblichen herholen. Sie musste eingreifen, musste retten!

Es spannte seine Fasern, dann schoss der Wurzelstrang zwischen dem Laub davon.

Immer wieder sendete es magische Impulse aus, um die Herrin schon vorab zu alarmieren.

Zielsicher fand es seinen Weg.

Das Ssmejakor wurde bereits vor der Hütte erwartet.

Von seiner Herrin – der Baba Yaga.

***

Am Tatort

Er schlug zu. Immer und immer wieder. Sie sollte endlich ihr verdammtes Maul halten! Sollte endlich aufhören zu schreien. Diese Hysterie! Das war auch der Grund, weshalb er seine Schäferstündchen weitab auf kleinen Lichtungen mitten in der Taiga abhielt.

Seine Faust traf nochmals ihren Mund. Der war längst nicht mehr nur vom Lippenstift rot.

Der Körper der jungen Frau erschlaffte. Sie bewegte sich nicht mehr. Gut so. Endlich war sie still.

Plötzlich verengte sich seine Kehle.

Er bekam keine Luft mehr! Er röchelte, atmete wie eine schwergängige Fahrradpumpe. Jemand schien einen Keil in sein Gehirn zu schlagen. Er schrie, hämmerte mit seinen Fäusten gegen seine Schläfen – und konnte einen Augenblick wieder klar denken.

Was tat er hier? Er saß doch auf etwas. Und warum war es dunkel? Er sah sich um und erkannte, dass er sich auf einer nächtlichen Waldlichtung befand.

Fassungslos sah Dimitrij auf den leblosen Körper herab, auf dem er – seltsamerweise – saß.

Unter ihm lag eine junge, rothaarige Frau. Ihr Gesicht war blutverschmiert. Entsetzt kroch Dimitrij von ihr fort und stolperte dabei über seine eigenen Glieder.

»Nein! Nein!«

Entsetzt starrte er auf die junge Frau herab, die offenbar bewusstlos – vielleicht sogar tot? – vor ihm lag. Man hatte sie geschlagen – und ihr noch Schlimmeres angetan, so wie ihre Kleidung zerrissen war.

War er das gewesen? Er betrachtete seine Hände. Neben Dreck und Laub vom Waldboden waren die Knöchel seiner Finger mit Blut verschmiert. Es sah ganz so aus, hatte er doch in eindeutiger Pose auf ihr gesessen, als er zu sich gekommen war.

Dimitrij wimmerte auf. Das konnte doch nicht sein! So etwas tat er nicht! Er war glücklich mit Olga verheiratet und Vater von zwei Söhnen.

Einige Sekunden saß er wie erstarrt da. Was sollte er tun?

Sein erster Gedanke war: Flucht!

Er musste fliehen! Irgendwohin, wo er in Ruhe nachdenken konnte.

Doch dann regte sich Furcht in ihm, die Furcht vor Entdeckung. Er konnte nicht weglaufen, er musste hierbleiben und alle Spuren beseitigen, so wie er es in unzähligen Krimis gesehen hatte. Er würde eine Grube ausheben, die Leiche – war es eine? Er wagte nicht, sie zu berühren, um sicherzugehen – hinein rollen und das Ganze wieder zuschütten. Ein paar Blätter drauf schaufeln, sich die Hände waschen – fertig. Niemand würde erfahren, dass er hier gewesen war.

Doch kaum hatte er seine Hände in der Erde neben der Leiche vergraben, hielt er inne. Was tat er da? Er war doch gar nicht der Täter. Er konnte sich nicht daran erinnern, diese junge Frau geschlagen und misshandelt zu haben!

Aber warum war er dann verdammt noch mal über der Leiche zu sich gekommen?

Oh Gott! Mussten dann nicht die richtigen Täter noch in der Nähe sein?

War die schrecklich zugerichtete junge Frau vor ihm überhaupt schon eine Leiche? Vielleicht lebte sie ja noch, doch woher sollte er das wissen? Er war Holzfäller und kein Arzt. Wenn sie noch lebte, dann war alles sicher nur halb so schlimm.

Es knackte im Wald. Dimitrij fuhr herum.

Das Knacken schien aus der Ferne zu kommen. Andererseits, kam es nicht doch langsam näher? Das musste etwas Großes, Gewaltiges sein. Ein Bulldozer vielleicht? Jetzt hörte Dimitrij ganz deutlich ein Stampfen heraus. Etwas schien sich seinen Weg durch die Taiga zu bahnen.

Waren sie etwa schon auf der Suche nach ihm?

Der Russe sah sich hektisch um. Wo war er überhaupt? Egal, denn dort vorn, nicht weit weg, stand sein Auto. Der silberne allradbetriebene Lada Niva befand sich am Rand der kleinen Lichtung. Dimitrij spurtete los. Vergessen war die rothaarige junge Frau und das Verwischen der Spuren. Jetzt zählte allein die Flucht.

Das Stampfen erklang schon bedrohlich nahe. Jetzt schnell die Hand in die Tasche, den Schlüssel hervorgezogen und die Verriegelung aufgehoben. Die Türen klickten. Dimitrij enterte das Fahrzeug. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Würde der Motor anspringen? War es in den Kriminalfilmen nicht immer so, dass das Auto gerade in solchen Momenten seinen Dienst versagte, damit der Täter seiner gerechten Strafe nicht entging? Nein, das war andersherum. Das Opfer kam nicht vom Fleck, damit die Zuschauer, die sich auf ihren Sofas und Sesseln sicher wähnten, mit wohliger Gänsehaut etwas zu gaffen bekamen.

Der Motor sprang an und im Rückspiegel erschien …

Es war absurd! Das, was Dimitrij nun sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Er war sicher aus diesem Albtraum – es konnte ja gar nichts anderes sein! – noch gar nicht aufgewacht, denn das, was er hinter sich sah, das konnte es gar nicht geben. Gut, in den Kinderfilmen und Märchenbüchern aus seiner Kindheit schon, aber doch nicht in der Realität.

Fahr!, schrie eine Stimme in ihm.

Das ist faszinierend, eine andere.

Aus dem Wald, auf die Lichtung, ritt gerade eine ältere Frau auf ihrem Ofen!

Sie trug ein dunkelbraunes Kopftuch, unter dem schwarze, strähnige Haare hervorquollen. Im Gesicht bog sich eine Adlernase, und ihre Gestalt schien in zahlreiche Fellstücke gehüllt zu sein. Die Alte ritt barfuß auf ihrem Ofen, aus dem links und rechts je ein Hühnerbein wuchs. Doch damit nicht genug, bahnte sich nun auch eine Holzhütte auf ebensolchen Hühnerbeinen ihren Weg durch das Dickicht und kam hinter ihr her.

Nein, das war alles nicht real, Dimitrij war jetzt sicher. Und es war schon gar nicht diese Märchenhexe, die er da sah. Er musste unwillkürlich auflachen. Das war ja verrückt!

Er wurde von der Baba Yaga gejagt – das glaubte ihm doch kein Mensch.

Doch was auch immer da hinter ihm her war, war ihm plötzlich egal. Der Russe drückte das Gaspedal durch und jagte von dannen.

Dass er nicht mehr allein im Wagen saß, bekam er gar nicht mit.

***

Endlich hatte sie ihn erwischt, diesen Schänder der Weiblichkeit. Auf ihre Ssmejakore war eben stets Verlass. Sie sahen alles, sie berichteten ihr alles – und das in Windeseile. So konnte Yaga stets zügig handeln.

Zusätzlich hatte sie diesmal Gevatter Saranow den Auftrag erteilt, sich um die Geschändete zu kümmern. Sie selbst konnte jetzt endlich einmal ganz in Ruhe den Täter zur Strecke bringen. Obwohl es Saranow in keinster Weise gut hieß, was sie mit dem Mann vorhatte.

Natürlich genoss sie seine Anwesenheit durchaus. Die Gespräche mit dem russischen Professor für Parapsychologie waren alles andere als langweilig, zumal Saranow nicht nur seine Standpunkte hervorragend zu vertreten wusste, sondern auch kurzweilig erzählen konnte. Allein, er blieb ein Mensch, gefangen in seinem Denken. Im Gegenzug zu ihr, der Baba Yaga, die einzig und allein sich selbst verpflichtet war. Sie war Kläger, Verteidiger, Richter und Henker in einer Person. Und aus diesem Grund hatte sie den Russen, der dieser jungen Frau Gewalt angetan hatte, bereits angeklagt (ihn durchaus auch verteidigt!), ein Urteil gesprochen und nun würde die gerechte Strafe folgen: Die Hinrichtung.

»Los, mein Ofen, zeig, was du drauf hast!«, feuerte sie ihr »Reittier« an, das sie einst aus der magischen Rüstung des Heiligen und Fürsten Wladimir geschmiedet hatte. Der getreue Ofen galoppierte los. Er rannte über die Lichtung wieder in den Wald hinein und folgte dem Flüchtigen. Geschickt wich er dabei den Büschen und Bäumen aus.

Das war ein Rucken und Rasen, ganz nach ihrem Geschmack! Seit so vielen Jahrhunderten verfolgte die Hexe die Menschen nun auf diese Art und Weise und hatte sich dadurch einen großen Namen erworben: Baba Yaga – die Unberechenbare. Sie allein entschied über Hilfe oder Strafe. Sie konnte gerecht und mitfühlend sein, helfend eingreifen, aber im Gegenzug auch verfolgen, jagen und richten. Zum Wohle des Waldes und der Weiblichkeit und manchmal auch des Mannes.

Sie erlaubte sich ein Grinsen. Oh, es gab Hunderte von Geschichten und Erzählungen über sie. In einigen kam sie natürlich nicht so gut weg, aber damit konnte sie leben. Man konnte es nicht jedem recht machen, besonders den Neidern nicht.

Und doch besaßen die meisten Volksdichtungen einen wahren Kern. Na, und wie viele wurden nicht aufgeschrieben und weitergegeben, weil es außer ihr und dem Gerichteten keine Zeugen gab …!

Yaga konzentrierte sich wieder auf die Jagd. Dieser Frauenschänder in seinem Auto war verdammt schnell. Vielleicht hätte sie doch den Besen oder gar den Mörser nehmen sollen.

Die Hexe grinste. Nun, sie wäre nicht die Baba Yaga, wenn sie nicht ein paar Asse in ihren Fellkleidern versteckt hätte.

Du bist dran, übermittelte sie einem ihrer Helfer, und die Hinrichtung nahm ihren Lauf.

***

Kam es Dimitrij nur so vor oder wurde die Baba Yaga tatsächlich langsamer?

Besaß er etwa eine reale Chance oder spielte sie nur mit ihm? Sollte er anhalten und sich stellen? Wenn er ihr alles erklären würde, vielleicht kam er dann mit seinem Leben davon.

Aber er wusste doch gar nicht, was er getan hatte! Es kam ihm vor, als sei er besessen gewesen – und wenn dem so war, dann konnte er doch nichts dafür, was mit dieser jungen Frau geschehen war. Er war unschuldig!

Und doch wusste er in einem Winkel seines Hirns, dass dies wie die Ausrede eines Schuldigen klang – so wahr es für ihn selbst sein mochte. Er selbst hätte sie wahrscheinlich bis vor wenigen Stunden nicht gelten lassen. Zudem verringerte diese Ausrede sein Schuldgefühl nicht – ob er die Tat nun selbst begangen hatte oder nicht.

Das ist die Märchenhexe!, rief eine Stimme in ihm, die ist immer grausam! Sie wird die Entschuldigung, nein, Erklärung nicht gelten lassen! Genauso wenig wie du selbst sie gelten lässt.

Das ist ein Albtraum! Es gibt keine Hexen, und du würdest auch niemandem Gewalt antun. Also – wach endlich auf!, schrie die andere Stimme.

Dimitrij nahm seinen Fuß nicht vom Gaspedal. Er wusste zwar nicht, wo er sich befand, aber das hier schien ein Weg zu sein. Und dieser Weg musste irgendwohin führen, an einen Ort, in die Zivilisation. Das musste einfach so sein.

Etwas berührte seine Schulter. Im Reflex schlug er danach. Sicher eine dieser verdammten Mücken oder gar Pferdebremsen, die es hier zuhauf gab. Nein, eher, eher ein Ast oder eine Wurzel. Doch bevor er nachgreifen konnte, glitt das Etwas in seinen Hemdausschnitt, schabte an Brust und Bauch vorbei – Dimitrij schrie auf. Was war das? Eine Schlange? Er riss sich das Hemd auf, aber dieses Etwas glitt weiter.

Das Ding drückte zu. Dimitrij schrie, versuchte sich mit beiden Händen, die Hose auf- und dieses Ding fortzureißen und verlor dabei die Kontrolle über sein Fahrzeug. Es kam vom Weg ab, prallte auf der Beifahrerseite an einen Baum, sprang und drehte sich mit dem Heck nach Links und kam abrupt zum Stehen. Dimitrij, der nicht angeschnallt war, flog ungeschützt durch die Windschutzscheibe.

Dann wurde es dunkel um ihn.

***

Wer war er?

Wo war er?

War das heute nicht schon das zweite Mal, dass er erwachte?

Was war mit ihm? Stirn, Wangen, Schulter und Arme schienen in Flammen zu stehen. Dimitrij schlug unter Mühen die Augen auf. Sofort verschwamm die Umgebung. Er musste blinzeln, sodass sich die Tränen lösten und ihm über die Wangen rannen.

Vor ihm stand eine Gestalt. Nein, eher waren es zwei Gestalten. Ein Ofen auf Hühnerbeinen und eine ältere Frau. Die Baba Yaga!

Der Russe stöhnte. Bei all den Schmerzen musste er doch endlich aus diesem Traum aufwachen.

Die Märchenhexe sprang von ihrem »Reittier« herab und kam langsam näher.

Etwas Fremdes hatte sich um seine Beine geschlungen, doch plötzlich spürte er gar nicht mehr, dass es ihn drückte. War das nicht dieser seltsame Wurzelast gewesen? Die Alte bückte sich leicht, als schon das Etwas auf ihre Hand sprang und sich an den Fellärmeln langsam nach oben schlängelte. Dann saß es auf der Schulter der Baba und sah Dimitrij an, obwohl er gar keine Augen sehen konnte.

»Hilfe«, stammelte der Russe. »Es … es tut so weh. Bitte, helfen Sie mir …«

***

»Ich soll dir helfen?«

Das erstaunte Yaga. Sie verstand die Menschen noch immer nicht so recht.

»Es tut so weh«, wimmerte der Russe.

»Nun, das ist noch gar nichts im Vergleich mit dem, was dir gleich bevorsteht.« Sie trat einen weiteren Schritt auf den Verunglückten zu.