Raghi der Schatten - Die Treppen der Ewigkeit - Band 3 - Isa Day - E-Book

Raghi der Schatten - Die Treppen der Ewigkeit - Band 3 E-Book

Isa Day

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Beschreibung

Wenn der Mut der Verzweiflung mit einer magischen Chance belohnt wird

Der Meister von Eternas Mördergilde herrscht mit sadistischer Grausamkeit über seine gewaltsam versklavten Lehrlinge. Einzig Raghi hat sich ihm nie unterworfen — und bitter dafür bezahlt. Seine neuste Provokation zwingt ihn zur Flucht.

Raghi schleicht sich die Treppen der Ewigkeit in die Vergangenheit hinab und findet Zuflucht bei einem geheimnisvollen Clan von Fahrenden, dessen positive Philosophie schmerzhaft mit seinem selbstmörderischen Leichtsinn kollidiert. Das uralte magische Volk führt ihn in den Zauber des Lebens und der Freundschaft ein und ahnt nichts von den tödlichen Gefahren, die Raghi mit sich trägt.

Gewissenlose Mächte nehmen jedoch sofort Notiz. Raghi muss sich schnellstens seinem Schicksal stellen, sonst verdammt er seine neue Familie und die gesamte Schöpfung zu ewiger Dunkelheit — und vergibt sich alle Chancen auf eine einzigartige Liebe direkt aus den Legenden der Vorzeit.

__

In Isa Days berührender Zeitreise-Fantasy-Reihe Die Treppen der Ewigkeit erhalten scheinbar verlorene (erwachsene) Protagonisten eine zweite Chance. Dafür müssen sie sich in fremde Zeiten und vergessene Welten begeben und große Gefahren überwinden. Als Lohn für ihren Mut finden sie Liebe und eine Gemeinschaft, die sie aufnimmt.

Die spannenden und zugleich warmherzigen Geschichten laden zum Träumen ein. Sie bieten intelligente, märchenhafte und magische High Fantasy für Erwachsene mit vielschichtigen Protagonisten und detailliert ausgearbeiteten Welten. Als weitere Zutaten finden sich Zeitreisen, eine mysteriöse Mörderzunft mit einem finsteren Meister, Romantik, Humor und -- wie stets bei Isa Day -- liebenswerte (magische) Tiere.

Alle Bände der Reihe sind als Ein- oder Zweiteiler in sich abgeschlossen, haben eigene Protagonisten und können für sich allein gelesen werden. Wer der Serie treu bleibt, wird über die verschiedenen Bände hinweg größere Zusammenhänge erkennen und liebgewonnenen Charakteren wiederbegegnen.

"Raghi der Schatten" ist der erste Band einer Dilogie. Sie erzählt von der Suche nach dem Sinn des Lebens und dem Mut, sich einem außergewöhnlichen Schicksal zu stellen.

Der zweite Band der Dilogie erscheint am 17. Januar 2025.

Bisher erschienen:

Faya Namenlos (Novelle)
Wolf des Südens
Raghi der Schatten
Raghi der Unsterbliche

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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BISHER ERSCHIENEN

Dancing Coons

Stürmische Verzauberung

Wintermärchen

Sommernachtsmagie

Urban-Fantasy-Serie «Sternenmagie»

Sternenstaubkind

Abschied

Verbannung

Wandelstern

Kollisionskurs

Isolation

Augenstern

Herzensband

Fantasyserie «Die Treppen der Ewigkeit»

Faya Namenlos (Prequel)

Wolf des Südens

Raghi der Schatten

Raghi der Unsterbliche

Fantasyserie «Der Weg des Heilers»

Der verletzte Himmel

In den Tiefen der Ewigkeit

Bis das Eis bricht (Tantans Geschichte)

Die Nacht des Vergessens (Tantans Geschichte)

RAGHI DER SCHATTEN

DIE TREPPEN DER EWIGKEIT — BAND 3

ISA DAY

PONGÜ

1. Auflage 2019

© 2019 und 2024 Isa Day und Pongü Text & Design GmbH, Meilen, Schweiz

Kontakt: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG («Text und Data Mining») zu gewinnen, ist untersagt.

Umschlaggestaltung: Isa Day, mit Bildmaterial von menschlichen Kunstschaffenden

ISBN 978-3-906868158 (eBook)

ISBN 978-3-743181489 (Taschenbuch BoD)

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Über meine Arbeit & Eine wichtige Bitte

Lizenzerklärung

Isas Bücher

Bisher erschienen

1

«Bist du hier, um mich zu töten?», fragte Raghi und lehnte sich an den Sarkophag, als kümmerte ihn nichts auf der Welt.

«Ja», sagte Faya.

Wütende Befriedigung raste durch seine Adern. Der Moment war endlich gekommen.

«Na los! Worauf wartest du? Komm her und bring es zu Ende!», forderte er sie zum Kampf heraus.

Er hatte schon lange gewusst, dass sie sich eines Tages so gegenüberstehen würden — Faya als Castelaltos Mörderin für spezielle Aufgaben und er, der eigensinnige Lehrling.

Es war nach Mitternacht — die perfekte Zeit für Meuchelmorde. Der Ort war unerwartet, aber passend. Sie hatte ihn in einem abgelegenen Teil der Katakomben von Eterna aufgespürt, wohin sich selbst die Bedürftigen, die unter den Toten lebten, selten wagten. Es war eine Steinkammer voller Spinnweben und Schatten, die sich von selbst bewegten. Zwei Sarkophage standen parallel zueinander, zwischen ihnen ein Abstand von eineinhalb Schritten, den Gedenktafeln nach Ruhestätten für Vater und Sohn. Die Fackeln in ihren Wandhalterungen tanzten im ewigen Luftzug, der die meisten Tunnel und Kammern belüftete und die wohlhabenden Toten der Stadt zu Mumien trocknete. Ab und zu zischten die Flammen wie wütende Schlangen.

Es war ein angenehmes Versteck. Der Geruch von Staub und alten Knochen war beruhigend und weder die glühende Wüstensonne noch die eisige Kälte der Nächte reichten so tief in den Untergrund. Die Temperatur blieb das ganze Jahr über gleich, kühl und erfrischend wie an einem Frühlingstag in seiner Heimat. Raghi, der von den sturmumtosten Inseln des Eismeeres stammte, hatte sich nie an das brutale Wüstenklima Eternas gewöhnt.

Faya stemmte sich hoch, um sich im Schneidersitz auf den nicht von Raghi beanspruchten Sarkophag der Krypta zu setzen. In die ebene Steinplatte waren die Umrisse des Verstorbenen als flache Linien eingeritzt. Diese Gräber waren uralt, ihr einfacher Stil vor Jahrhunderten aus der Mode gekommen.

«Manchmal bist du so ein Idiot!», sagte Faya und rollte die Augen. Ihr Gesicht schien zu schweben, weil ihre schwarze Kleidung mit den Schatten verschmolz.

«Danke, dass du meine besseren Eigenschaften zu schätzen weißt», erwiderte Raghi, kletterte auf den Sarkophag hinter ihm und imitierte ihre Haltung. Im Vergleich zu Faya wirkte er zerlumpt. Die wilden Strähnen seines Haares hatten schon lange keine Schere mehr gesehen und er hatte sich nicht die Zeit genommen, sein verblasstes Mördergewand — bestehend aus einer langärmeligen Tunika, einer bequemen Hose und einem Umhang — neu einzufärben und die Löcher im Stoff zu stopfen.

Sie starrten sich an. Die Entfernung zwischen ihnen betrug etwa zwei lange Schritte, kurz genug, dass sie ihn sofort erreichen und töten konnte. Niemand hatte eine Chance gegen diese kleine Mörderin, außer …

«Wie geht es Emilio dem Wunderkind?», fragte Raghi.

Ihr Gesichtsausdruck wurde zu einem Lächeln. «Er ist wunschlos glücklich und fitter denn je.»

«Immer der Streber.» Er schnaubte. Ein Teil seines Spottes entsprang der Eifersucht. Die beiden teilten eine tiefe Verbundenheit, durch die er sich als Beobachter jeweils noch einsamer gefühlt hatte. Zudem war Emilio der Hölle entkommen, in der er und Faya immer noch lebten.

«Wozu das Vorspiel?», provozierte er sie.

«Glaubst du wirklich, ich würde dich töten?», feuerte sie zurück.

«Nun ja, deine Handlungen waren gelegentlich verdächtig.»

Etwas veränderte sich in ihrer Aura. Ein Schauer lief ihm über die Wirbelsäule. Faya war eine zierliche junge Frau — klein und schmächtig wie ein halb verhungertes Kätzchen. Mit ihrem langen rabenschwarzen Haar, ihren riesigen schwarzen Augen und ihrer olivfarbenen Haut hätte sie unschuldig wirken sollen.

Aber ein Feuer war in den Tiefen dieser Augen entfacht. Ihr Blick schien seine Seele zu durchdringen.

«Raghi, bitte streif die Kapuze runter.»

Er gehorchte mit einem verärgerten Seufzen.

«Du hast dich wieder ausgehungert.»

«Erstens geht dich das nichts an und zweitens wird Essen überbewertet.»

Er wandte das Gesicht ab, damit er sich nicht ihrer Musterung stellen musste. Im Gegensatz zu Emilio dem Wunderkind, dessen dunkles südländisches Aussehen den Frauen den Kopf verdrehte, wirkte er blass und schlicht. Sein Gesicht glich dem der kalten Marmorstatuen in den Tempeln: perfekte Haut, eine gerade Nase, volle Lippen, blass, ausdruckslos, eiskalt. Allein die dunklen Ringe unter seinen langweilig braunen Augen sorgten neben seinen mausbraunen Haaren für einen Hauch von Farbe.

«Raghi …» Plötzlich stand sie vor ihm und nahm sanft seine Hände.

Er zuckte überrascht zusammen. Warum hatte er nicht wahrgenommen, wie sie sich bewegte?

«Versuchst du es auf die sanfte Tour, bevor du mir die Kehle durchschneidest?»

Sie ignorierte seine Provokation und wartete still, bis er sich zwang ihren Blick zu erwidern.

«Dieser Selbstmissbrauch muss endlich aufhören. Du glaubst es vielleicht nicht, aber du bist etwas Besonderes.»

«Weil ich der einzige Prinz bin, den der Meister nicht stehlen musste, weil meine Eltern mich verkauften? Ja, ich Glückspilz!» Er schnaubte.

Mitgefühl erfüllte ihre Miene. «Wenigstens weißt du, wo deine Wurzeln sind, egal wie furchtbar oder verdorben.»

Dagegen konnte er nicht argumentieren. Ihre Herkunft war unbekannt, obwohl die dunkle Färbung von Haut und Haar den Süden, wo die meisten dunkelhäutigen Menschen lebten, vermuten ließ. Es musste die Hölle sein, überhaupt nichts über seine Abstammung zu wissen und keinen Ort zu haben, von dem man träumen konnte. Zumindest das war ihm geblieben. Während er seinen Vater und seine Mutter hasste, erinnerte er sich gern an die atemberaubende Schönheit ihres wilden Inselreiches.

«Warum denkst du, dass ich etwas Besonderes bin, Namenlos?», fragte er.

Sie legte ihre Handfläche über sein Herz. «Wegen deiner Energie. Du bist wie ein Tornado — eine Naturgewalt, die alles wegfegt. Ich kenne niemanden wie dich.»

Ihre Worte erinnerten ihn an einige seiner verrückteren Eskapaden. Er grinste schief. «Ich glaube nicht, dass die Wirte der Gasse des Vergessens mich mit so freundlichen Worten beschreiben würden.»

«Du hast ihre Straße abgefackelt, nachdem du alle ihre Kunden dazu verleitet hattest, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken.»

«Und bescherte ihnen so die lukrativste Nacht ihres Lebens. Aus meiner Sicht habe ich ihnen einen Gefallen getan. Sie wurden dadurch steinreich und mussten ihre von Ratten befallenen Absteigen nicht selbst niederreißen. Kein Reinigungsaufwand hätte den angesammelten Schmutz der Jahrhunderte entfernen können. Jetzt sieht alles schön und neu aus.»

Faya sandte ihm einen strengen Blick. «Vergessen wir nicht den Aufruhr, als du den Prostituierten in Eternas teuerstem Bordell gezeigt hast, wie man verführerischer denn je tanzt — auf dem Balkon über dem Magistratsplatz. Die Stadtwache musste eingreifen.»

Raghi grinste böse. «Dieser Schelmenstreich generierte eine große Anzahl von schmeichelhaften Angeboten. Zu schade, dass Castelalto mir nicht erlauben wollte Tänzer zu werden.»

Etwas regte sich in ihm, etwas, das nicht erwachen durfte, solange Faya bei ihm war. Er musste seine Witze mit mehr Sorgfalt auswählen und die Erinnerungen begraben, die seine schwelende Wut auflodern ließen. Aber die junge Frau machte es leicht, ihr zu vertrauen. Sie wusste das meiste von dem, was ihm passiert war, und kannte die Konsequenzen für sein Selbstwertgefühl, da sie ihre eigene Art der Grausamkeit durch die Hand des Meisters erlitten hatte.

«Wenn du deine Karriere geändert hättest, dann hättest du vielleicht nicht dein neuestes Unheil angerichtet.»

Eisige Wut raste durch Raghis Adern. «Ich verstehe nicht, warum dies das Fass zum Überlaufen brachte.»

Faya seufzte, während er sich erinnerte. Castelalto hatte ihm vor fast drei Jahren das Schlimmste angetan. Heutzutage bestrafte ihn der Meister, indem er ihn reichen Sadisten als Sex-Sklave gab. Als ob er damit nicht umgehen könnte! Als ob der Schmerz für ihn von Bedeutung wäre!

«Du hast einen hohen Beamten terrorisiert. Er wollte sich an deiner Unterwerfung aufgeilen, aber du hast den Spieß umgedreht und ihn zu Tode erschreckt. Damit verlor der Meister seine Macht über den Mann. Misstrauen zerstörte ihre Gemeinschaft des Bösen und kostete den Meister einen beträchtlichen Teil seines Einflusses.»

Raghi grinste. «Dann hat es sich gelohnt. Worauf wartest du noch? Töte mich!» Und alles würde endlich, endlich vorbei sein!

«Das werde ich ganz sicher nicht. Ich will, dass du mich niederstreckst und dann fliehst.»

«Wohin?» Er öffnete die Arme weit. «Castelalto terrorisiert den gesamten Kontinent und die abgelegenen Inseln. Es gibt kein Versteck!»

«Doch. Die Vergangenheit.»

Er starrte in ihre Augen, seine Tirade vergessen. «Das ist der Weg, den Emilio nahm. Aber er steht nur verurteilten Verbrechern offen, denen eine zweite Chance gewährt wird!»

Sie grinste. «Das denkst du.»

Er wurde nachdenklich. War das eine Falle? «Was hast du davon?»

Plötzlich wirkte sie blass und müde. «Das Wissen, dass ein weiterer meiner Freunde die Chance hat, dieser Hölle zu entkommen und sein Glück zu finden.»

«Da Glück keine Option ist, konzentrieren wir uns auf die Flucht. Wie soll die vonstattengehen?»

«Indem du die Treppen hinunterschleichst und dich irgendwo und irgendwann in der Vergangenheit versteckst. Du wirst aufhören zu altern, aber zumindest …» Sie brach ab.

Ihr Gesichtsausdruck gab ihm zu denken. «Du verheimlichst mir etwas. Etwas Großes. Was ist es?» Er rutschte vom Sarkophag und packte ihre Schultern, viel zu grob vor Aufregung. Als sie zusammenzuckte, verringerte er sogleich den Druck seiner Finger. Er mochte ihr nicht vertrauen, aber sie war seine Freundin und zerbrechlich, nur Vogelknochen und samtige Haut.

«Nach allem, was ich über dich weiß, gibt es auf der ganzen Welt eine Person, die du liebst. Die Nachricht erreichte mich sehr spät. Deshalb kann ich nicht sicher sein, aber möglicherweise kannst du ihr noch das Leben retten.»

Das Blut sackte ihm in die Füße und er schwankte. «Nana! Was haben diese Teufel, die sich meine Eltern nennen, mit ihr gemacht?»

«Mir wurde berichtet, dass deine Mutter ein Mädchen wie dich zur Welt gebracht hat. Sie warfen das Neugeborene in den Kerker, wo es verhungern sollte. Als deine Amme sich für die Kleine einsetzte, landete auch sie im Verlies.»

Mordlust erfüllte sein Bewusstsein und behinderte sein Denken. Mit eiserner Entschlossenheit zwang Raghi sie nieder. Aber etwas regte sich in ihm, jener fremde Teil, den er nicht kontrollieren konnte. Als sich der Schatten von seinem Körper löste, schloss er die Augen. «Es tut mir leid, Faya.»

Er hörte sie schlucken.

«Was tut es?» Raghi konnte nicht hinsehen. Wenn es Faya angriff und sie tötete, dann war diese Jauchegrube, die er sein Leben nannte, wirklich vorbei.

«Es starrt mich an und scheint zuzuhören.»

Raghi öffnete die Augen und schaute über seine Schulter. Ja, da stand es und sie hatte recht. Es sah wütend aus. Seine schrecklichen Augen brannten wie Höllenfeuer, aber die Wut war nicht auf Faya gerichtet.

«Gib mir die nötigen Informationen! Was müssen wir tun?», verlangte er zu wissen.

«Du hast mir einmal ein Medaillon mit einer Haarlocke deiner Nana gezeigt. Trägst du es jetzt?»

«Ja.»

«Dann hast du alles, was du brauchst. Die Zeit steht still, wenn du die Treppen der Ewigkeit betrittst. Wenn deine Nana dann noch am Leben ist, wird sie nicht sterben. Hast du verstanden? Auf den Treppen kannst du dir alle Zeit der Welt nehmen, um einen Platz zu finden, der zu dir passt.»

«Die Zeit steht still. Ich kann mir so viel Zeit nehmen, wie ich brauche», wiederholte er als Beweis, dass er zuhörte. Da er die Worte anderer oft aus Spaß ignorierte, war es wichtig, dass Faya ihm glaubte.

Ihr Blick wurde stechend. Ihre schwarzen Augen schienen zu brennen. «Wenn du in diese Zeit und an diesen Ort zurückkehrst, beginnt deine ursprüngliche Zeitlinie wieder genau in dem Moment, als du sie verlassen hast, und deine Nana blickt erneut dem Tod ins Auge. Wenn du gehst, darfst du nicht hierher zurückkehren — niemals. Verstanden?»

Sie schien die Wahrheit zu sprechen, aber er vermutete, dass sie die Fakten auf ihre Absichten zuschnitt. War das wichtig?

Lodernde Wut beantwortete seine Frage. In seiner schrecklichen Jugend war seine Nana das Leuchtfeuer aus Licht und Liebe gewesen. Nur sie war wichtig.

«Ja, ich verstehe, dass ich nie wieder zurückkehren kann!», zischte er. Das Ding hinter ihm knurrte.

«Alles an deinem Körper wird mit dir in die Vergangenheit reisen. Ein einzelnes Haar kann ausreichen. Sobald du in eine Zeitlinie eintauchst, wird das, was du bei dir trägst, an deiner Seite erscheinen und zwar in dem Zustand, den es hatte, als du die Treppen betratst.»

Sein Herz stockte. «Dann finde ich mich vielleicht neben der Leiche meiner Nana wieder?»

Sie nickte ernst. «Diese Möglichkeit besteht leider.»

«Was ist mit meiner Chimäre? Ich trage ihre Federn bei mir, um Pfeile zu machen.» Er öffnete seinen Beutel, um sie Faya zu zeigen.

«Sie ist größer als ein Pferd, für das man zehn Haare von der Mähne des Tieres braucht, damit die Reise problemlos funktioniert. Mit dieser Anzahl von Federn wird sie dir folgen.»

Er traf seine Entscheidung. «Dann werde ich jetzt gehen. Zeig uns den Eingang zu den Treppen.»

Sie blickte über seine Schulter und verengte die Augen. «Dir ist klar, dass du gerade ‹uns› gesagt hast?»

Er grinste sie verwegen an. «Es gibt so viel von mir, dass ich als mehr als eine Person zähle.»

Sie schnaubte. «Was dein Ego betrifft? Bestimmt!»

2

Raghi hatte die Stadt der Toten schon immer jener der Lebenden vorgezogen. Über der Erde war Eterna hektisch, laut und verwirrend. In der Halbwelt der Katakomben wurden die Massen weniger.

Die künstlichen Höhlen boten guten Schutz, aber dort zu leben bedeutete auch, dass man die unterste Stufe der Gesellschaft erreicht und alle Hoffnungen aufgegeben hatte.

Die Armen, die sich noch an einen Schatten der Hoffnung klammerten, drängten sich in den überfüllten Hütten, die gegen die Stadtmauern lehnten. Diese Hütten stanken, wurden nachts eisig kalt und verwandelten sich unter der unerbittlichen Wüstensonne in Öfen. Aber sie lagen oberirdisch und gehörten damit zur respektablen Welt.

Faya führte ihn durch einen weiteren ihm unbekannten Tunnel. Wie waren sie hierher gekommen? In den Monaten und Jahren nach seiner Ankunft in Eterna hatte Raghi aus Langeweile und weil er eines Tages würde verschwinden müssen, die Katakomben sorgfältig katalogisiert.

Noch nie zuvor hatte er einen Fuß in diese Gänge gesetzt. Sein Verdacht wuchs. Führte Faya ihn in den Tod? Das war in Ordnung, aber wenn ja, wollte er es wissen.

«Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?», fragte er und griff nach dem Messer an seinem Gürtel.

Sie fuhr herum und bemerkte seine Kampfbereitschaft. «Ernsthaft? Du hast das Ding da an deiner Seite und fürchtest dich vor mir?» Sie zeigte auf seinen Schatten, der ihnen folgte.

Raghi starrte sie an. «Von allen Mördern bist du der gefährlichste. Sogar Emilio das Wunderkind hatte Angriffspunkte und ein Gewissen. Bei dir bin ich mir nicht so sicher.»

Sie seufzte vor Ärger. «Wir sind fast unter dem Magistratspalast. Dies sind die ältesten Katakomben und vom Rest abgeschottet, um Unterminierungen zu verhindern. In deiner Geistesabwesenheit hast du es nicht bemerkt, aber vor einiger Zeit sind wir durch eine Geheimtür getreten und eine Treppe hinuntergegangen. Frag dein Ding, wenn du mir nicht glaubst. Es hat aufgepasst.»

Unbehaglich schaute Raghi zu seinem Schatten. Dessen abgrundtiefe, brennende Augen fokussierten sich auf ihn.

«Ist das wahr?» Er hasste es, mit dem Ding zu sprechen, aber er musste es wissen.

Es blinzelte, was Ja bedeutete.

Raghi knurrte. «Dieser Ort ist ekelhaft», beschwerte er sich beim Universum.

Ansammlungen von Schmutz und Staub bedeckten jede Oberfläche dieser Höhlen und Tunnel und verhedderte Vorhänge aus Spinnweben hingen von der unregelmäßigen steinernen Decke. Die Luft war muffig, bewegungslos und roch nach Moder. Und dann die Leichen! In der Antike wurden die Toten offenbar Seite an Seite an die Wände gehängt. In ihre Nacken getriebene Haken hielten sie aufrecht und ließen sie wie ausgetrocknete Stoffpuppen wirken. Die meisten ihrer Kiefer hingen offen.

«Warum fallen sie nicht runter?», fragte er und stupste gegen eine skelettierte Brust.

Die Mumie fiel auf den Steinboden und verwandelte sich in ein Bündel aus Knochen und lederiger Haut. «Äh …»

Faya rollte die Augen und eilte weiter.

Sie öffnete eine kleine Tür und ging hindurch. Raghi folgte ihr, ohne zu denken, und erstarrte.

«Ich wusste es. Du versuchst mich zu töten», schrie er, seine Augen weit aufgerissen vor Schreck. Er stand auf leerer Luft über einem bodenlosen schwarzen Abgrund. Hoch über seinem Kopf wirbelte grauer Nebel. Und in der Mitte des höhlenartigen Raumes, in dem sie sich befanden …

Faya packte seinen Arm und zog ihn mit sich. «Sei kein Baby! Komm schon. Du kannst so viel starren, wie du willst, sobald wir auf den Treppen stehen und die Zeit anhält.»

Verdammt, der kleine Teufel hatte Kraft! Raghi war von mittlerer Größe, groß genug, dass er zu wenigen Männern aufschauen musste. Sie sollte ihn nicht so mühelos mit sich ziehen können, wo er nicht hinwollte.

Die Treppen der Ewigkeit zeigten sich als Wendeltreppe, die unbefestigt in der Leere rotierte. Sie wirkten, als wären sie einst von einem unglaublich hohen Turm umhüllt gewesen und einfach stehen geblieben, während die schützende Gebäudehülle um sie herum verfiel.

Faya schubste Raghi auf die Treppen, dort wo die geisterhaften, orange leuchtenden Stufen sich in grauen Stein verwandelten.

«Jetzt kannst du Fragen stellen. Wir haben den Fluss der Zeit verlassen.»

Raghi sah nach unten. Die Stufe unter ihren Füßen schien die gleiche zu bleiben, während sich die transparent-orangen Stufen von oben herabwanden und unter ihnen als scheinbar normale Steinstufen in der Dunkelheit verschwanden. Auf einmal fand er seine Fragen irrelevant. «Sie sind wunderschön», sagte er voller Ehrfurcht.

«Ja, das sind sie. Legenden erzählen, dass ein magiebegabter König sie erbaute, damit er durch die Zeit wandern und sicherstellen konnte, dass sein Volk immer glücklich und gesund blieb. Nach seinem Tod erkannten seine Nachfolger, dass die Treppen zum Guten wie auch zum Bösen dienen konnten, und verbargen ihre Existenz, indem sie einen Palast darum herum erstellten. Da Städte auf Städten erbaut sind, versanken die Treppen über Äonen hinweg im Untergrund, vergessen von den Menschen von Eterna, während der Magistratspalast immer höher in den Himmel wuchs. Heute wissen nur noch die Wächter der Ewigkeit von ihrer Existenz. Alle anderen halten sie für einen Mythos.»

«Glaubst du, dass an dieser Geschichte etwas Wahres dran ist?»

Sie zuckte die Schultern. «Spielt das eine Rolle? Träume können wichtiger sein als die Wahrheit.»

Raghi nahm ihre Hand. Sie war kühl, die dunkle Haut auf ihrem Rücken weich und die Fläche rau von Schwielen. «Ich verspreche zu tun, was du sagst, Faya, aber jetzt ist es an der Zeit, mir die Wahrheit zu sagen. Ist meine Nana in Gefahr und hast du den Befehl des Meisters erhalten, mich zu töten?»

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Schockiert packte er ihre Hand härter. «Faya?»

«Deine Nana ist in Lebensgefahr und die Möglichkeit besteht, dass sie bereits an den erlittenen Misshandlungen gestorben ist. Was den Befehl dich zu töten betrifft, so wurde er gegeben, aber nicht mir. Der Meister beauftragte einen der Altvorderen.»

Raghis Herz stoppte schier. «Hoppla! Mir war nicht klar, dass ich es wieder einmal geschafft habe, ihm so auf die Nerven zu gehen!»

«Mach keine Witze darüber, Raghi.»

Wenn er keine Witze machte, drehte er durch. Die Geschichte der Mördergilde von Eterna war vage. Sie hatte schon immer in der einen oder anderen Form existiert. Dann, vor etwa vier Jahrzehnten, hatte Castelalto die Macht an sich gerissen und sich mit Hilfe einer Gruppe von Anhängern zum Zunftmeister gemacht. Diese Mörder, die man «die Altvorderen» nannte, waren jetzt zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt.

Und im Gegensatz zu den jüngeren Generationen, die sich als Spezialisten oder Auftragnehmer betrachteten und keine Freude am Töten fanden, schienen die Altvorderen für das Blutvergießen und Morden zu leben.

Raghi war ihnen allen begegnet und die Erinnerungen machten ihm das Atmen schwer. Ein wütendes Knurren seines Schattens beruhigte ihn.

«Wie dem auch sei. Wenn meine Nana tot ist, werde ich zurückkehren und mich an meinen Eltern rächen. Sie haben es schon lange verdient», schwor er.

Faya hob die Hand, um ihm eine Träne von der Wange zu wischen. Ihre Berührung war sanft.

«Hör auf, sonst ertrinkst du in meinen Tränen», warnte er sie.

Sie lächelte. «Ich werde dich jetzt verlassen, mein Freund, denn du musst dein Schicksal ohne meine Hilfe schmieden. Geh die Treppen hinunter in die Vergangenheit. Jeder Ausgang führt in eine andere Zeit und Welt. Warte, bis du die Tür erreichst, die sich richtig anfühlt. Du wirst es wissen, wenn das passiert. Und bitte versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst. Kein Aushungern mehr und keine Selbstmisshandlung.»

«Kein Tanz auf dem Vulkan mehr?», scherzte er. Seine Tränen begannen zu fließen.

«Darum kann ich dich nicht bitten. Du wirst immer der sein, der du bist, und jede mögliche Katastrophe heraufbeschwören. Erinnere dich einfach ab und zu daran, dass du es wert bist, geliebt zu werden. Und dass, selbst wenn du sonst niemanden finden kannst — was ich bezweifle —, ich dich immer lieben werde.»

«Oh, Faya, hör auf damit!» Er zog sie in die Arme und schaute instinktiv über ihre Schulter, um Emilios Zustimmung zu prüfen. Aber Emilio war nicht mehr da. Raghi wurde etwas bewusst. «Wer wird dich jetzt beschützen? Mit Emilios Fortgang und meinem Verschwinden wirst du verletzlicher sein denn je. Warum kommst du nicht mit mir?»

Ihre Umarmung wurde fester. «Ich kann nicht, Raghi. Jeder von uns hat ein anderes Schicksal zu erfüllen. Geht jetzt!» Sie löste sich von ihm und wandte sich ab, um zu verbergen, dass sie weinte. «Kein Außenstehender kann nachvollziehen, wie es war, in der Gilde aufzuwachsen. Die Bande, die wir während unserer Ausbildung knüpften, sind stärker als die Bande einer liebenden Familie. Niemand von uns wird jemals wirklich allein sein.»

Sie trat von der Treppe auf die Leere über dem Abgrund.

«Wenn du das glaubst, bist du eine Närrin!», schrie er ihr nach. «In all dem sind wir ganz allein und waren es immer schon.»

Sie entfernte sich bereits. «Wie auch immer!», schrie sie zurück und winkte, ohne sich umzudrehen.

Als ihr Umriss mit den Schatten um die Treppen verschmolz, rief Raghi: «Ich liebe dich, Namenlos!»

Er hörte sie lachen. Dann war sie weg. «Ich weiß», driftete ihre schöne Stimme zu ihm.

Allein mit seinem Schatten versuchte Raghi, seine Umgebung zu analysieren, während er über die nächsten Schritte nachdachte.

«Dieser Ort macht mir eine Scheißangst!», sagte er schaudernd. Als er erkannte, was er gerade getan hatte, spottete er. «Was ich gerade bewiesen habe, indem ich mit dir sprach!»

Das Ding knurrte ihn an.

«Oh, halt die Klappe!», schimpfte er. «Faya hat uns — mir! — gesagt, dass ich nach unten gehen soll. Also gehen wir nach oben.»

Er setzte den Fuß auf die erste transparente Stufe, die in die Zukunft hinaufführte. Auf einmal verschwand ihr sanftes orangefarbenes Leuchten. Grobe Mauern verfestigten sich um ihn herum und die Sohle seines Stiefels traf auf eine gewöhnliche Steinstufe.

Raghi fuhr herum. Eine kleine, offen stehende Holztür markierte die Stelle, an der er die Treppen der Ewigkeit betreten hatte. Durch sie hindurch sah er den bodenlosen Abgrund, den er überquert hatte.

Er schauderte erneut. «Rauch und Schatten. Als ob wir davon in der Gilde nicht genug hätten! Und was ist real? Das?» Er hieb mit der Faust gegen die Wand — und zuckte zusammen, als die rauen Steine seine Haut aufschürften. «Oder was wir vorher sahen? Und jetzt höre ich auf zu reden, bevor ich völlig verrückt werde!»

Ein seltsames Gefühl drückte ihm auf die Brust. Es nahm mit jeder weiteren Stufe zu, die er erklomm. So viel zu unheilvollen Vorahnungen! Was er tat fühlte sich falsch an. Seine Entschlossenheit nahm zu und seine Neugier auf das, was ihn erwartete, wuchs.

Raghi erreichte die erste Tür und schaute hindurch. Sein Atem stockte und ihm blieb fast das Herz stehen.

Er blickte auf Eterna hinab wie ein Wüstenfalke, der auf den Winden segelte. Der Magistratspalast und der weitläufige Platz davor waren unverwechselbar. Aber diese Vision der Stadt unterschied sich von allem, was er kannte. Die Flagge auf dem höchsten Turm des Palastes erklärte, warum. Sie trug das Wappen des Meisters.

Raghi starrte voller Entsetzen auf das Schreckensbild hinab. Das Eterna seiner Zeit war eine vergoldete Jauchegrube — ein gefährlicher, verdorbener Ort, der sein hässliches Gesicht hinter einer schönen Maske versteckte wie eine alte Hexe. Dennoch schafften es viele Menschen, innerhalb der Stadtmauern ihr Glück zu finden und ein gutes Leben zu führen. An der Universität florierten die Wissenschaften und führten jedes Jahr zu neuen Entdeckungen. Selbst diejenigen, die auf der Suche nach Musik und Heiterkeit waren, konnten die Nächte durchfeiern, ohne ausgeraubt zu werden, es sei denn, sie wurden unvorsichtig.

Aber dieses Eterna … Ein totes Schwarz überzog den einst goldenen Stein der Gebäude und Mauern. Ganze Viertel befanden sich in einem schrecklichen Zustand der Verwahrlosung, ihre Häuser einsturzgefährdet. Und auf den Wüstenebenen rund um die Stadt wuchs ein Wald aus Galgen und Kreuzen. Von jedem einzelnen hing etwas, das einst ein Mensch gewesen war.

«Ich glaube mich zu erinnern, dass deine Freundin dir befohlen hat, in die Vergangenheit zu gehen», bemerkte jemand milde an seiner Seite.

Raghi fuhr entsetzt zusammen.

«Ich würde es begrüßen, wenn du die Spitze deines Dolches von meiner Kehle entfernen würdest», fuhr die Stimme fort. «Ich habe nichts getan, um dich zu bedrohen, und du verletzt meine Haut.»

Raghi blinzelte. Es dauerte lange, bis er die Umrisse der Person neben sich erkannte. Allmählich wurde ihm klar, dass der alte Mann — dies schloss er aus der tiefen und ein wenig brüchigen Stimme — einen langen Kapuzenmantel trug. Dessen schwarze Farbe verschmolz mit den Schatten, welche die Treppe hinauf- und hinunterzuwandern schienen, erzeugt vom unregelmäßigen Licht der wenigen Fackeln.

«Wer zum Teufel bist du?», schimpfte Raghi und steckte den Dolch zurück in die Scheide. Er gab sich aggressiv, konnte sich aber nicht dazu durchringen, dem Mann mit seiner üblichen Respektlosigkeit zu begegnen.

«Manchmal ein Richter und manchmal ein Berater.»

«Und auch ein Wächter?»

«Über die Wächter der Treppen ist wenig bekannt. Sie existieren schon ewig, während ich einst ein junger Mann war wie du. Nur ein bisschen klüger.» Diese letzte Bemerkung enthielt keinen Vorwurf, nur unendliche Geduld.

«Dann kannst du mir nicht erklären, was das ist?» Raghi nickte zu der Abscheulichkeit hin, die sich unter ihnen erstreckte.

«Diese Zukunft entsteht, wenn du einen Fuß durch diese Tür setzt. Sie besteht aus allem, was du fürchtest, hasst und verachtest.»

Raghi schnaubte ungläubig. «Willst du damit sagen, dass ich dieses Grauen erschaffe?»

Die Kapuze bewegte sich, als der Mann nickte. «Ja. Jeder kann in die Vergangenheit gehen, aber nur wenige sind in der Lage, in die Zukunft zu gehen, ohne sie in einen Albtraum zu verwandeln. Fragte ich dich, ob deine Ängste oder Hoffnungen stärker sind, würdest du wahrscheinlich sagen, dass sie sich im Gleichgewicht befinden. Aber das ist nicht wahr. Der Mensch wird von seinen Ängsten geprägt. Sie halten unsere Seelen gefangen und sie sind auch der Grund, warum so wenige Menschen ihr Schicksal erfüllen. Angst macht unser vertrautes Elend zu einem Ort des Wohlbefindens.»

Raghi dachte über diese Behauptung nach. «Und wo passe ich da rein? Wo andere Leute sich abwenden, gehe ich bis zum Ende. Ich kann nie etwas sein lassen. Und bevor ich nicht ein komplettes Chaos angerichtet habe, bin ich nicht zufrieden.»

Der alte Mann gluckste. «Wenn du die Treppen hinuntersteigst, wirst du es vielleicht herausfinden.»

Was für ein kompletter Unsinn! «Du warnst mich davor, die Zukunft zu verändern, aber was ist, wenn ich die Vergangenheit umgestalte und die Gegenwart in das verwandle?» Raghi zeigte auf die einstigen Felder des Todes. Die Feuer brannten höher denn je, aber anstatt die Körper der ärmeren Toten zu verbrennen, warfen Dämonen lebende Menschen — Männer, Frauen und Kinder — in die Flammen. Der Wind trug ihre schrecklichen Schreie und den Gestank von brennendem Fleisch in den Himmel zu Raghi und seinem Gesprächspartner.

«Die Vergangenheit zu verändern ist nichts als ein Traum. Was wir als Geschichte kennen ist bereits geschehen. Sie wurde in Hunderten von Chroniken, Büchern und sogar in den Briefen, die wir über die alltäglichsten Themen schreiben, festgehalten. Aber wie bei jedem Wandteppich, an dem über eine lange Zeit hinweg gearbeitet wird, entstehen Fehler, Unvollkommenheiten oder Stellen, an denen das Gewebe verrottet. Zu diesen Orten reisen die Bittsteller, die ihr Schicksal den Treppen anvertrauen. Dort schaffen sie sich ihr neues Leben.»

Bosheit regte sich in Raghis Seele. «Zu schade, und ich hoffte, die Vergangenheit mit meinen Nachkommen zu überschwemmen, damit sie die Herrschaft über die bekannte Welt übernehmen können.»

«Tu dir keinen Zwang an.» Der Richter schob seine Hände in die gegenüberliegenden Ärmel seines Gewandes. Er schien überhaupt nicht beunruhigt zu sein.

Mit solchen Bemerkungen löste Raghi normalerweise eine hitzige Erwiderung aus. Er war enttäuscht, fühlte sich aber auch sicher in der Gegenwart des anderen Mannes. «Du weißt, dass ich kein Bittsteller bin. Ich bin dabei, mir wie ein Dieb ein neues Schicksal zu stehlen», gab er zu.

«Das ist richtig. Aber in ihrer langen Existenz haben die Menschen die Treppen aus verschiedenen Gründen benutzt. Es gab diejenigen, die wie du verschwinden mussten. Andere wurden wie dein Freund Emilio verurteilt.»

«Nun, ich würde ihn nicht als Freund bezeichnen», unterbrach Raghi. «Er war mehr wie ein nerviger großer Bruder.»

«Des Weiteren gab es diejenigen, die versuchten, die Treppen zur persönlichen Bereicherung zu missbrauchen, und miterleben mussten, wie sich das Schicksal gegen sie wandte», nahm der Richter die Kontrolle über das Gespräch wieder an sich. «Und dann die Schlimmsten von allen — diejenigen, die versuchten, geschehenes Unrecht wiedergutzumachen. Unsere Kultur wird ebenso sehr durch unsere Leistungen wie durch unsere Fehler geprägt. Ohne unsere Fehler sind wir nichts.»

Das erregte Raghis Aufmerksamkeit. Er drehte den Kopf, um den Richter zu betrachten. Im diffusen Licht sah er nur einen Umriss. «Würdest du die Kapuze für mich abnehmen?»

Der Mann kam dem Wunsch nach.

Raghi starrte ihn an. Er würde nie das Gesicht des Richters vergessen. Gleichzeitig konnte er nicht beschreiben, was er sah. Es wirkte zugleich alt und jung, weise und schelmisch, engelsgleich schön und hässlich wie die Hölle.

Wenn das Universum ein Gesicht hätte, dann wäre es dieses hier.

«Wie alt bist du?», fragte Raghi.

«Älter als jeder Mensch, den du kennst. Wie alt bist du?»

«Einundzwanzig. Fast zweiundzwanzig. Du musst mich für einen Idioten halten.»

«Ich weiß es nicht. Bist du einer?», spielte der Richter seine Bemerkung direkt zurück.

«Manchmal fühle ich mich wie einer», gestand Raghi seine tiefste Angst. «Faya erzählte mir, wie Emilio sich ein neues Schicksal erkämpfte. Ich bin nicht überrascht. Obwohl er als Auftragsmörder arbeitete, erschien er mir eher wie ein perfekter Märchenprinz. Er hatte immer einen Plan, wusste, was richtig und falsch war. Mir fehlt sein moralischer Kompass. Ich kann mein Temperament nicht kontrollieren. Anstatt ein Problem zu lösen, laufe ich lieber weg. Was ist, wenn ich die Vergangenheit kaputt mache?»

Sein Begleiter lächelte. Es war ein wohlwollendes, liebevolles Lächeln — die Art von Lächeln, das sich Raghi von seinen Eltern immer gewünscht hatte. «Ich verstehe deine Sorgen, aber deine Ängste sind unbegründet. Wie ich bereits erklärte, kann die Vergangenheit nicht kaputt gemacht werden. Und was deine Gefühle betrifft nicht dazuzugehören: Hast du jemals in Betracht gezogen, dass es eine Zeit und einen Ort geben könnte, die besser zu dir und deinen einzigartigen Fähigkeiten passen als die Gegenwart, die du bald hinter dir lässt?»

Das war ein interessanter Gedanke!

Der Richter sandte Raghi ein weiteres Lächeln und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. Wärme erfüllte Raghis Brust.

«Tu, was deine Freundin dir gesagt hat, und steig hinab in die Vergangenheit, junger Mörder. Hier gibt es nichts zu gewinnen für dich, dafür umso mehr dort, wo du hingehst. Und zweifle nicht an dir. Du wirst wissen, welches die richtige Tür ist. Du wirst es in deinem Herzen spüren.»

Raghi nickte gehorsam und versuchte sich zu bewegen. Seine Füße rührten sich nicht.

«Ich lasse dich jetzt allein. Sonst gehst du nie. Hab Vertrauen und gib nicht auf — niemals.» Die Gestalt des Mannes verblasste und war verschwunden.

Raghi blinzelte und schüttelte den Kopf. Hatte er halluziniert? Und wo war sein Schatten?

Er sah sich um, begegnete aber keinen brennenden Augen. Unbehaglich hob er den Halsausschnitt seiner Tunika an und versuchte seinen Rücken hinabzuschauen. Da sein Hals nicht flexibel genug war, sah er nur einen kleinen Teil seines Schulterblattes und auf der Innenseite seiner Kleidung einen orangen Schimmer.

Also war das Ding wieder mit ihm verschmolzen. Er atmete erleichtert auf.

«Dann werde ich jetzt gehen. Ich werde nie bereiter sein», nahm er seinen Mut zusammen. «Emilio das Wunderkind hat es geschafft. Ich kann das auch. Einen Schritt nach dem anderen.»

Er erreichte die Tür, durch die er die Treppen betreten hatte. Ihr massives Schloss war nun verriegelt. Vor seinen Füßen gähnte der Schacht der Wendeltreppe als schwarzer Abgrund, der ihn zu verschlingen drohte.

«Kein Grund zur Panik!», munterte sich Raghi auf. Mit seinem breiten und falschen Grinsen musste er für einen versteckten Beobachter wie ein Wahnsinniger aussehen.

Nachdem er ein paar Stufen in die Vergangenheit hinabgestiegen war, erschien unter seinen Füßen eine Spur aus Lichtern. Zuerst dachte er, dass er sich täuschte. Dann wurde das Schimmern zu einem Leuchten und er erkannte, dass jede Stufe mittig eine Lampe enthielt. Als er sich bückte, um sie zu berühren, fühlte sich der helle Teil jedoch gleich an wie seine dunkle Umgebung. Der Stein selbst schien zu leuchten.

«Meinen Dank an den Verantwortlichen dieses Wunders», sagte er laut genug, damit seine Stimme über mehrere Windungen der Wendeltreppe nach oben und unten trug. Dämmerung und Schatten waren kein Problem. Dunkelheit verursachte ihm Todesangst.

Die Zeit verging, während er hinabstieg. Er schien der einzige Reisende auf den Treppen zu sein. Irgendwie hatte er erwartet, dass sie geschäftiger wären.

Die Spur der Lichter führte immer weiter hinab. Seine Oberschenkelmuskeln begannen zu protestieren.

Zweifel erfüllten seinen Verstand. Was, wenn er seinen Ausgang verpasst hatte? Weil er sich auf die Lichter konzentrierte, hatte er nicht jede einzelne Türöffnung untersucht.

Die Spur aus Licht lockte, ihr Funkeln warm und einladend.

Raghi stieg tiefer, einmal im Kreis, und erstarrte.

Die Lichter stoppten vor einem kunstvoll verzierten Portal, hinter dem heftiger Regen auf eine Winterwiese niederprasselte. Schwarze Wolken hingen tief am Himmel und er konnte nur wenige Schritte weit sehen. Dahinter erhob sich eine Wand aus Finsternis.

Er rückte näher und versuchte, die Steinschnitzereien am Türrahmen zu verstehen. Sie sahen aus wie das Gekritzel von Alchemisten — geheimnisvoll wirkende Symbole, die leichtgläubige Opfer beeindrucken sollten.

Egal!

Er spähte durch das Portal. Ein kalter Windstoß traf sein Gesicht. Er kannte und liebte dieses Wetter von den Inseln seiner Geburt. Der heftige Regen erfüllte seine Ohren mit einem Brüllen und die Luft roch frisch und grün.

Eine Wahl war so gut wie die andere.

Raghi atmete tief durch und stellte sich seinem Schicksal.

3

Raghi trat durch das Portal auf das Gras. Der abrupte Wechsel fühlte sich an, als ob ihm jemand eine ganze Welt ins Gesicht geworfen hätte. Innerhalb weniger Augenblicke durchtränkte ihn der starke Regen bis auf die Haut.

Er blickte über die Schulter. Das Portal zu den Treppen verblasste.

Ein schwerer Klumpen formte sich in seinem Magen.

Ein erster Hinweis, dass Faya die Wahrheit gesprochen hatte: Neben ihm nahm eine vertraute Form Gestalt an.

Desert Rose schüttelte sich mit einem Schrei, dann starrte sie empört um sich, wobei ihre beiden Köpfe auf ihren langen, getrennten Hälsen in verschiedene Richtungen gingen. Ein Kopf sah aus wie der eines Drachens, der andere wie der eines Adlers. Sie schlug mit ihrem langen Drachenschwanz, schüttelte ihren bernsteinfarbenen Löwenkörper und schlug mit ihren weiß gefiederten Schwingen. Die Chimäre hasste es, nass zu werden.

«Oh, sei nicht so ein Baby», schimpfte Raghi und war erleichtert, sie an seiner Seite zu wissen. «Au! Hör auf damit!»

Ihr Drachenkopf hatte einen Feuerstoß in seine Richtung gespuckt.

Fast hätte er sie zu einem Scheinkampf herausgefordert, ihre persönliche Methode, um Anspannung abzubauen. Da bemerkte er, dass zu seinen Füßen ein weiterer Körper Gestalt annahm — der einer Frau.

Raghi wartete, während sein Herzschlag sich beschleunigte, bis er kaum noch atmen konnte.

Sie lag auf der Seite, einen Arm eng vor der Brust, den anderen ausgestreckt. Ein schmutziger Kapuzenumhang bedeckte ihren Kopf und den größten Teil ihres Körpers. So sahen Leichen aus.

Raghi kniete neben ihr nieder. «Nana?»

Sanft streifte er die Kapuze von ihrer Wange, um ihr Gesicht zu sehen. Sie war ausgemergelt. Ihre Miene wirkte gequält und ihre Augen waren geschlossen. Als er seine Hand zu ihrer Nase bewegte, streichelte Wärme seine Haut. Sie atmete noch.

«Nana? Bitte wach auf.» Er beugte sich über sie, sodass sein Oberkörper sie vor dem Regen schützte und drehte sie auf den Rücken. Seine Hand traf auf hervorstehende Knochen und sie fühlte sich viel zu leicht an. Faya hatte die Wahrheit gesagt. Seine Eltern hatten sie ausgehungert.

Was war das für eine Beule auf ihrer Brust?

Als Raghi den Stoff zur Seite strich, erklang ein Jammern. Wütende dunkle Augen erwiderten seinen Blick.

Verblüfft starrte er das Baby an.

«Raghi? Bist du es wirklich?», hörte er die Stimme, die er auf der Welt am meisten liebte. Sie klang so schrecklich schwach und wie im Delirium. Etwas berührte seine Finger.

«Nana!» Er nahm ihre Hand zwischen seine beiden.

Ihre Lavendelaugen flossen mit Tränen über, als ihr Blick ihn fand. «Du musst es sein. Du bist jetzt ein erwachsener Mann, aber du hast immer noch die Augen des Jungen, den ich liebte. Ich betete, dass das Schicksal mir erlauben würde, dich vor meinem Tod ein letztes Mal zu sehen, obwohl ich mir nie vorstellen konnte, wie das möglich sein könnte. Ich träume nicht? Du bist hier? Warte! Das bedeutet …» Sie blickte verzweifelt umher und schnappte heftig nach Luft.

«Du befindest dich nicht mehr im Verlies meiner Eltern, Nana. Ich habe dich befreit. Das ist alles, was du im Moment wissen musst.» Er streckte die Hand aus, um ihre Wange zu streicheln, und weinte schier. Nur Knochen und pergamentartige Haut. Sie war einmal so schön gewesen.

«Wir haben nur wenig Zeit, Kind. Der Tod streckt die Hand nach mir aus.»

«Nein, tut er nicht!», zischte Raghi. «Wir werden ihm in den Arsch treten und ihn vertreiben!»

Sie lächelte, versuchte, sich auf sein Gesicht zu konzentrieren, und scheiterte. «Hier bei dir zu sein, wo immer wir sind, nimmt mir eine große Last vom Herzen. Das ist Mallika, deine kleine Schwester. Ich vertraue sie deiner Obhut an. Versprich mir, sie zu beschützen.» Mit jedem neuen Wort wurde ihre Stimme schwächer.

Entsetzt sah Raghi auf das Baby. «Hör auf zu reden, Nana. Du wirst nicht sterben. Ich werde es nicht zulassen. Und auch Mallika nicht. Jetzt sei still und lass mich nachdenken. Wir müssen Zuflucht und die Hilfe eines Heilers finden.»

Obwohl er keine Ahnung hatte, wie er das bewerkstelligen sollte. Er wusste nicht, wo sie waren — welches Zeitalter, Jahrhundert, Land, was auch immer! Er hatte keine Ahnung, wo er einen Heiler finden konnte. Er wusste nicht, welches Ende eines Babys oben war. Das Wohlergehen anderer Menschen konnte ihm nicht anvertraut werden. Er …

Die Finger seiner Nana pressten stärker. «Raghi, du musst dich auf deine Atmung konzentrieren, sonst erleidest du einen Erstickungsanfall. Lass mich nicht sterben, während du an meiner Seite nach Atem ringst.»

«Hör auf, so zu reden. Du wirst nicht sterben!», schrie er sie an und fühlte sich schrecklich.

Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen.

Glücklicherweise ergriff Rose Maßnahmen, bevor er etwas noch Dümmeres sagen oder tun konnte. Sie kauerte sich neben ihn und öffnete ihre Flügel, um ein Zelt über ihnen allen zu bilden. Dann atmete sie zärtliches Feuer auf Nana und das Baby. Dieses Feuer fühlte sich warm an, nicht heiß, und verlieh dem Empfänger eine Illusion von neuer Kraft.

Raghi wusste plötzlich, was zu tun war. «Du und Mallika, ihr bleibt hier bei Rose. Sie wird euch beschützen, Nana. Ich werde nach Hilfe suchen.»

«Bitte nicht. Bitte bleib bei mir, damit ich nicht allein sterben muss», bettelte sie schwach.

«Ich kann nicht, Nana. Du warst immer so tapfer. Bitte sei auch jetzt tapfer!»

Mit Tränen in den Augen wich Raghi zurück. Desert Rose hob einen Flügel, damit er aufstehen konnte.

Der Regen war nicht mehr so stark wie zuvor und die Dunkelheit hob sich. Raghi schaute sich nach Orientierungspunkten um — und erstarrte.

Was er sah machte wenig Sinn. Er schien sich mitten in einem kreisrunden und aus Fragmenten bestehenden Mondbogen zu befinden. Wie sonst sollte er die diffusen Kleckse aus fröhlichen Farben erklären, die ihn umgaben?

Momente vergingen. Das Licht wurde stärker und er erkannte, dass die Treppen einen seltsamen Sinn für Humor hatten.

Sie hatten ihn auf einer Winterwiese mitten in einem Lager von Fahrenden ausgespuckt. Ihre kunstvoll bemalten Wagen formten eine weitläufige Wagenburg um ihn herum und alle Anwesenden waren in ihren Aktivitäten erstarrt, um ihn zu beobachten.

Vielleicht zehn Schritte entfernt standen zwei Personen. Eine davon war ein rehgleicher junger Mann mit dunkler Haut und schulterlangem schwarzem Haar, extravagant gekleidet in Schattierungen von Smaragdgrün. Bei der zweiten handelte es sich um eine würdevolle ältere Frau mit langen grauen Haaren, die einen schönen Kontrast zu ihrem fließenden türkisfarbenen Gewand bildeten. Beide trugen viel Goldschmuck und wirkten sehr attraktiv.

Das Seltsamste war, dass ihre Kleidung und ihr Haar trocken zu sein schienen, während er und Rose durchnässt waren und vom Regen tropften.

«Wir haben dich und deine Familie die Treppen der Ewigkeit hinabsteigen sehen und sind hier, um dir unsere Hilfe anzubieten», sagte die majestätische Frau in der alten Sprache, die Raghi fließend sprach. Ihre Stimme war kräftig und trug weit, wahrscheinlich bis zu den Wagen.

«Lügnerin! Bei diesem heftigen Regen kannst du unmöglich etwas gesehen haben!», fuhr er sie an. Wie immer reagierten sein Verfolgungswahn und Mund schneller als sein Hirn.

Der junge Mann zeigte sich überrascht von der Anschuldigung. Die Frau verengte die Augen.

«Es gibt verschiedene Arten zu sehen, Kind. Einige davon brauchen die Augen nicht.» Ihre Stimme klang jetzt härter, aber immer noch freundlich.

Raghis Temperament beruhigte sich. Er hatte keine Wahl. «Wenn ihr einen Heiler habt, bitte lass ihn meiner Nana und meiner kleinen Schwester helfen», bat er. «Sie sind halb verhungert und ich konnte sie gerade befreien.»

Die Frau hob ihren Arm und gab jemandem bei der Wagenburg ein Zeichen. «Ich möchte die beiden untersuchen. Kannst du deine Chimäre bitten, dass sie mich lässt?»

Raghi sah Rose an. Sie reckte den Adlerkopf, um die Vorgänge zu beobachten. Unter ihren Flügeln hörte er das leise Zischen von zärtlichem Feuer.

Mit einem stechenden Blick zu ihm hob die Chimäre die Flügel. Ihr Drachenkopf befand sich Nase an Nase mit Nana und versuchte ihr Lebenskraft einzuhauchen. Da eine Chimäre nur einen kleinen Anteil an Drachenblut besaß, verfügte sie nicht über die Magie dieser Tiere, aber manchmal reichte die bloße Absicht.

«Rose wird dir nichts tun», versprach Raghi.

Die Frau ging zu Nana und kniete sich ohne Rücksicht auf ihr schönes Kleid ins nasse Gras. «Mach weiter mit dem, was du tust», sagte sie zu Rose und berührte deren Drachenschnauze.

Raghi konnte nur starren. Jeder fürchtete sich vor Desert Rose, egal wie oft er den Menschen sagte, dass sie freundlich war, solange auch sie sich freundlich verhielten. Er kniete an der Seite der Frau.

Sie nahm die Hand seiner Nana. «Wie ist dein Name, Liebes?»

«Violet. Raghi nennt mich Nana. Ich war seine Amme.» Das Sprechen schien sie ihre letzte Kraft zu kosten. Ihre zögernden Worte wurden undeutlich.

«Mein Name ist Kaea. Ich bin die Königin der Ghitains. Der junge Mann bei mir ist Naveen, mein Sohn. Unsere Heilerin wird dir helfen, aber dafür musst du noch ein wenig länger stark sein. Kannst du das?»

«… so müde.»

Eine Klammer legte sich um Raghis Herz.

«Ich weiß, Violet. Aber als Frauen müssen wir bis zum letzten Atemzug stark sein für diejenigen, die wir lieben. Du würdest alles für Raghi und die Kleine tun, auch wenn du sie nicht geboren hast.»

Violets Augen öffneten sich und ihr Blick wurde klar. «Ja.»

«Dann klammere dich mit aller Kraft ans Leben. Gib denen, die dir das angetan haben, nicht die Genugtuung des Sieges. Erlaube ihnen nicht, dich von denen zu trennen, die du liebst.»

Neue Entschlossenheit schien in den ausgemergelten Körper zu fahren. «Werde ich nicht.»

Eine junge Frau mit langen braunen Haaren und leuchtend blauen Augen schloss sich ihnen an. Ihr schönes Gesicht schien mit einem inneren Licht zu leuchten. Sie trug ein rosafarbenes Kleid, das kühner geschnitten war als Kaeas, einen bunten Schal und viel Silberschmuck.

Ihre Hände hielten einen silbernen Kelch, der mit Edelsteinen besetzt war. Wie die Königin zögerte sie nicht, sich in das nasse Gras zu knien. «Ich bin Chandana, die Heilerin dieses Clans. Ich bringe dir diesen Trank, um deine Schmerzen zu lindern. Darf ich ihn dir geben?»

Violets Nicken war kaum mehr als ein Blinzeln.

«Würdest du Violets Kopf heben?», wandte sich Kaea an Raghi. «Dabei musst du sehr vorsichtig sein. Hast du verstanden?»

Raghi nickte und schluckte hörbar. Seine Hände zitterten, als er sie ausstreckte. Das Haar seiner Nana fühlte sich trocken und brüchig an. Er erinnerte sich, wie weich und glänzend es einst gewesen war.

«Ich liebe dich, Nana», sagte er. Wen kümmerte es, dass Tränen über sein Gesicht liefen! Es war ihm egal, wenn sie ihn für schwach hielten.

Die junge Heilerin war sehr geschickt. Nach ein paar Minuten hatte Violet den Kelch geleert, einen kleinen Schluck nach dem anderen. Ihre Augen schlossen und ihr Atem vertiefte sich.

Die Ghitains um Raghi atmeten erleichtert auf.

«Du darfst jetzt hoffen, junger Mann», sagte die Königin. «Ihre Seele war bereits mit der Ewigkeit eins geworden. Nur ein letzter, dünner Faden verband sie noch mit ihrem Körper. Durch den Trank ist der Faden zu einem Seil geworden. Mit viel Fürsorge und etwas Glück wird ihre Seele zurückkehren.»

«Ich danke dir!», sagte Raghi. Die Worte fühlten sich schrecklich unzureichend an.

Die Frau erhob sich und die Wasser- und Grasflecken auf ihrem Kleid verschwanden. Wer waren diese Leute?

«Du wirst eine Weile bei uns bleiben müssen. Was auch immer deine Pläne waren, sie müssen warten, bis Violet sich erholt hat. Wie geht es der Kleinen, Chandana?»

Die Heilerin hatte Mallika aus Violets Umklammerung befreit und sie untersucht. «Sie ist wütend und hungrig, aber es geht ihr überraschend gut. Violet muss ihr das letzte bisschen Kraft gegeben haben.» Unerwartet zuckte sie zusammen. «Die Kleine ist ein Tiger. Sie beißt und kämpft. Mal sehen, ob sie kitzlig ist.» Ihr Finger ging in eine winzige Achselhöhle.

Das Baby quietschte. Desert Roses Augen, alle vier, weiteten sich bei dem Klang.

«Sieh nur, wie sie mich wütend anstarrt», sagte die Heilerin, ihr Gesicht erfüllt von Liebe. «Nichts wird sie jemals brechen. Ihr Geist ist frei wie ein Vogel.»

Kaea wandte sich an Raghi. «Folge mir. Wir müssen Vorkehrungen für deinen Aufenthalt bei uns treffen.»

«Ich werde meine Nana nicht verlassen», fauchte er.

Die Königin fesselte ihn mit der Kraft ihres Blicks. Raghi hatte noch nie Augen wie die ihren gesehen. Um die Pupillen herum strahlten Sterne in Blau und Grün, die in Braun übergingen und durch einen schwarzen Rand vom Weiß getrennt waren. Er hatte den Eindruck, dass sie gleichzeitig in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen konnte.

«Die Treppen hinunterzugehen ist keine leichte Aufgabe, junger Mann. Es gibt viele Lektionen und deine erste ist zu lernen, wie man vertraut. Jetzt folge mir. Ich werde mich nicht wiederholen.»

Raghi zögerte.

«Bitte vertrau Mama. Bei uns bist du sicher», sagte der Sohn der Königin — Naveen. Er versuchte seine Hand auf Raghis Schulter zu legen.

Raghi schreckte vor seiner Berührung zurück. «Hände weg!», knurrte er. Eine Welle von Energie lief über seinen Rücken.

Nicht jetzt! Mit eiserner Entschlossenheit zwang er sich zur Entspannung.

Er folgte der Königin der Ghitains zu einem lavendelfarbenen, mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Wagen.

Zwei Zugpferde mit goldenem Fell und weißen Mähnen grasten in der Nähe. Mandala-ähnliche dunkle Muster bedeckten ihre Kuppen. Entweder verbrachte jemand viel Zeit beim Scheren, oder diese Tiere besaßen die ungewöhnlichsten Zeichnungen, die Raghi je gesehen hatte.

«Das ist Baz, mein Ehemann und Naveens Vater», stellte Kaea den Mann vor, der eines der Pferde am Striegeln war.

Er nickte Raghi zu. Vater und Sohn waren sich sehr ähnlich. Beide hatten leuchtend braune Augen, attraktive Gesichter und federiges schwarzes Haar, wobei Baz seins kurz trug und seine Schläfen mit dem Alter grau geworden waren.

«Wie bist du an eine Chimäre gekommen?», fragte er, seine Augen auf Rose gerichtet, die Raghi auf den Fersen folgte.

«Indem ich sie in der Wüste fand, als sie noch ein Jungtier war, und sie aufzog. Ihr Name ist Desert Rose.»

Baz legte den Striegel auf einen Hocker und trat neben Raghi. Langsam streckte er eine Hand aus, die Handfläche nach oben. Nach einem Moment des Zögerns berührte Rose sie mit ihrer Drachenschnauze, während ihr Adlerkopf die Situation überwachte.

Baz hob die andere Hand, um die Schuppen ihrer Stirn und Wangen zu streicheln. Rose schloss die Augen und genoss seine Berührung. «Du hast großes Glück. Sie ist außergewöhnlich.»

So wie dieser Mann. Er und Kaea behandelten die Chimäre, als wäre sie ein Haustier.

«Was passiert jetzt, Liebste?», fragte Baz seine Frau.

«Raghi, seine Amme Violet und seine kleine Schwester Mallika werden für eine Weile bei uns bleiben. Chandana wird Violet und Mallika aufnehmen. Damit bleibt die Frage, wo wir Raghi unterbringen.»

«Es gibt keine Frage», protestierte Raghi. «Ich brauche deine Almosen nicht. Ich kann im Gras neben dem Feuer oder bei schlechtem Wetter unter einem Wagen schlafen — es sei denn, du verbietest mir das. Aber ich will meine Nana und meine Schwester besuchen. Du kannst mich nicht fernhalten. Wie kannst du es wagen, sie mir wegzunehmen …!»

Eine Hand legte sich über seinen Mund, bevor er den vollen Wutanfall ausleben konnte. «Hör auf damit, Junge», sagte Baz freundlich. «Es besteht kein Grund, dein eigenes Grab zu schaufeln.

---ENDE DER LESEPROBE---