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Wenn in tiefster Dunkelheit ein magischer Funken Hoffnung aufleuchtet
Emilio, der Wolf des Südens, gilt als Eternas gefährlichster Auftragsmörder. In Wahrheit ist er der Sklave eines sadistischen Herrn, gefangen in einer hoffnungslosen, von Misshandlungen geprägten Existenz, aus der es kein Entkommen gibt.
Völlig überraschend erhält er eine unglaubliche Chance — sich in der Vergangenheit ein neues Leben zu schaffen. Emilio nimmt an und findet sich in einem eisig kalten, kriegszerrissenen Königreich der Vorzeit wieder. Es ist ein furchtbarer Ort mit schrecklichen Bewohnern, und Morayn, ihre junge, rotzfreche und jähzornige Königin, scheint die Schlimmste von allen.
Widerwillig schließt Emilio sich Morayns verzweifeltem Kampf um ihr Königreich an, und erkennt bald, dass die Erfüllung seiner geheimsten Träume zum Greifen nah ist. Aber reichen die Intelligenz und Fähigkeiten eines Mörders aus, um das Land, seine neue Familie und die Frau, die er liebt, zu retten?
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In Isa Days berührender Zeitreise-Fantasy-Reihe Die Treppen der Ewigkeit erhalten scheinbar verlorene (erwachsene) Protagonisten eine zweite Chance. Dafür müssen sie sich in fremde Zeiten und vergessene Welten begeben und große Gefahren überwinden. Als Lohn für ihren Mut finden sie Liebe und eine Gemeinschaft, die sie aufnimmt.
Die spannenden und zugleich warmherzigen Geschichten laden zum Träumen ein. Sie bieten intelligente, märchenhafte und magische High Fantasy für Erwachsene mit vielschichtigen Protagonisten und detailliert ausgearbeiteten Welten. Als weitere Zutaten finden sich Zeitreisen, eine mysteriöse Mörderzunft mit einem finsteren Meister, Romantik, Humor und -- wie stets bei Isa Day -- liebenswerte (magische) Tiere.
Alle Bände der Reihe sind als Ein- oder Zweiteiler in sich abgeschlossen, haben eigene Protagonisten und können für sich allein gelesen werden. Wer der Serie treu bleibt, wird über die verschiedenen Bände hinweg größere Zusammenhänge erkennen und liebgewonnenen Charakteren wiederbegegnen.
Der Band "Wolf des Südens" ist in sich abgeschlossen. Er spielt in einer nordisch geprägten Fantasy-Welt und erzählt von Schuld und Sühne und dem Mut, für das Wohl der Gemeinschaft scheinbar unüberwindbare Gefahren auf sich zu nehmen.
Bisher erschienen:
Faya Namenlos (Novelle)
Wolf des Südens
Raghi der Schatten
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Dancing Coons
Stürmische Verzauberung
Wintermärchen
Sommernachtsmagie
Urban-Fantasy-Serie «Sternenmagie»
Sternenstaubkind
Abschied
Verbannung
Wandelstern
Kollisionskurs
Isolation
Augenstern
Herzensband
Fantasyserie «Die Treppen der Ewigkeit»
Faya Namenlos (Prequel)
Wolf des Südens
Raghi der Schatten
Fantasyserie «Der Weg des Heilers»
Der verletzte Himmel
In den Tiefen der Ewigkeit
Bis das Eis bricht (Tantans Geschichte)
Die Nacht des Vergessens (Tantans Geschichte)
1. Auflage 2018
© 2018 Isa Day und Pongü Text & Design GmbH, Meilen, Schweiz
Kontakt: [email protected]
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Umschlaggestaltung: Isa Day
Bildquellen Depositphotos: Aquedar18, Croisy, Ellerslie, WarmTail, yyanng
ISBN 978-3-906868-09-7 (eBook)
ISBN 978-3-748116912 (Print BoD)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Sneak Peek in den Folgeroman
Eine Bitte
Lizenzerklärung
Über Isa Day
Isas Bücher
Bisher erschienen
Er hatte eine Frau getötet — kein außergewöhnliches Ereignis. Er war ein Auftragsmörder und das seit vielen Jahren.
Aber bei diesem Tod handelte es sich um einen Unfall.
Etwas erschreckte sein Pferd Reina am Markttag in einer der belebtesten Straßen Eternas. Sie ging nur ganz kurz durch, vielleicht ein Dutzend Schritte weit, bevor die starke Bindung zu ihm über ihre Panik siegte und sie sich seiner Kontrolle unterwarf.
Dann begann das Wehklagen.
Als er über seine Schulter schaute, sah er eine Frau auf den schmutzigen Pflastersteinen liegen. Ein Mädchen kniete weinend an ihrer Seite. Neben dem Kopf der Frau hatte sich bereits eine kleine Blutlache gebildet, und ihre Augen starrten in die Leere des Todes.
Und Hunderte von Blicken richteten sich in stiller Anklage auf ihn.
In diesem Augenblick wusste er, dass seine Existenz zu Ende ging. Denn im Königreich Eterna war der Preis für ein Leben ein Leben — sein eigenes.
Das alles war erst gestern passiert. Seitdem saß er in diesem Kerker und wartete darauf, dass die Richter kamen und ihm sagten, wann und wo. Vielleicht durfte er sogar wählen.
Er schnaubte.
Als ob! Auch wenn sie es nicht sicher wussten, vermuteten sie, dass er einer der Mörder des Meisters war. Nein, sie würden ihn so öffentlich wie möglich hinrichten, damit alle zuschauen konnten und begriffen, dass das Böse nicht für immer siegte.
Er erhob sich vom Bett, das aus groben Brettern bestand, und durchquerte den Raum zum vergitterten Fenster.
Der Kerker befand sich in einem der kleineren Türme des alten Magistratspalastes. Durch die Eisenstangen konnte er die unzähligen Türme und Turmspitzen von Eterna sehen. Die Stadt galt als eine der schönsten der Welt und war immer sehr geschäftig. Sogar jetzt, mitten in der Nacht, erfüllte das Geräusch vieler, vieler Füße die Straßen. Es glich dem sanften Summen eines Bienenstocks.
Er konnte die schmale Form des Mädchens nicht vergessen. Ihr Rücken war vor Kummer gebeugt, ihre Schultern zitterten. Und als sie ihn ansah, schien ihr Blick so alt wie diese ewige Stadt. Sie gehörte zu den Massen von Eternas Mittellosen — Legionen von Männern und Frauen und Kindern, deren Leben in der Dämmerung der Katakomben unter den Palästen und Villen stattfand, oder aber sie hausten in schäbigen Hütten entlang der mächtigen Wehrmauern, die die Stadt vor Eindringlingen schützten.
Er kannte das Niemandsland gut, das sich hinter eisernen Toren und hohen Steinmauern versteckte. Besucher, die auf den Boulevards spazieren gingen, dachten immer, dass diese Absperrungen schöne Gärten verbargen oder Zugang zu den Quartieren von Sklaven und Dienern ermöglichten.
Er wusste es besser.
In Eterna begann die Unterwelt auf der versteckten Seite der Schönheit, und der Tod wartete in jeder Ritze und jedem Schatten.
Falls sie ihm erlaubten, eine Nachricht zu schreiben und über seinen Besitz zu verfügen, plante er einen Vormund für das Kind zu ernennen oder ihr zumindest etwas Geld zu schicken. Beide Gesten nützten wahrscheinlich nicht viel, aber er hätte wenigstens versucht, das von ihm verursachte Unrecht wiedergutzumachen.
Er verstand immer noch nicht, was passiert war.
Reina, sein wertvollster Besitz, war ein voll ausgebildetes Mörderpferd und die sanfteste Seele, die er kannte — es sei denn, jemand griff ihren Meister an. Sie hatten sich unzählige Male gegenseitig beschützt.
Und er wusste eines mit absoluter Sicherheit: Sie erschreckte sich nicht — niemals.
Selbst als sie die Schlachtfelder der grauen Vorzeit überquert hatten und um sie herum Geister zu Tausenden aus der Erde aufstiegen, behielt sie ihr Ziel im Auge und zögerte nie.
Jemand hatte ihn reingelegt.
Und so endete seine Geschichte hier in diesem Moment — mit sechsundzwanzig Jahren. Er brauchte nicht mehr zu hoffen, eines Tages seine Freiheit zu erkaufen oder in seine Heimat im Süden zurückzukehren.
«Emilio?», wisperte der Wind seinen Namen.
Er wandte sich um und ließ den Blick über die Steinmauern der keilförmigen Gefängniszelle huschen.
Ein Schatten bewegte sich in der hintersten Ecke, da, wo das Licht der Fackel nicht hinreichte.
Nur wenige Leute konnten sich an ihn heranschleichen, aber sie konnte es.
«Namenlos», flüsterte er.
Als sie zu ihm rannte und sich ihm in die Arme warf, fing er sie und hielt sie lange fest.
«Es tut mir so leid!»
Sie lehnte sich zurück, um in seine Augen zu schauen. In vielerlei Hinsicht erinnerte sie ihn an das Mädchen, dem er heute die Mutter geraubt hatte, obwohl das Kind unter all dem Dreck hellhäutig und blond war. Fayas Haut schimmerte olivbraun wie die aller wahren Südländer. Ihre Haare und Augen glänzten schwarz wie die Nacht. Aber ihre Augen … ihr Ausdruck war noch älter als der des Mädchens. Dennoch war sie erst neunzehn Jahre alt.
Er musste es wissen. «Wurde ich reingelegt?»
«Ja. Ich habe versucht das Kind zu finden, weil ich wusste, dass du das Geschehene wiedergutmachen willst. Ich fand sie nicht. Da wurde ich misstrauisch. In Eterna gibt es immer einen Zeugen, der bereit ist für Geld zu reden.»
Emilio nickte.
«Nach langem Suchen fand ich sie auf den Feldern des Todes, wo ihre Haut auf einem brennenden Scheiterhaufen schmolz. Ihre Kehle war aufgeschlitzt, und ihre Augenhöhlen leer. Jemand verwendete sie als Opfer in seinem Spiel.»
«Der Meister?»
«Sie war nicht menschlich, Emilio. Ein mächtiger Hexer erschuf sie aus rotem Ton, Fett und Blut. Gemäß meinen Recherchen könnten sogar du und ich diese Imitationen heraufbeschwören, doch ist wahre Macht nötig, um sie wieder verschwinden zu lassen. Schaffst du es nicht, folgen sie dir und treiben dich in den Wahnsinn.»
Emilio schauderte. «Also kann es nicht der Meister gewesen sein.»
«Er hätte dafür bezahlen können. Aber ich habe seine Bücher überprüft. Darin fand sich kein Beweis, dass in diesem Zusammenhang Geld floss, Gefälligkeiten erbracht oder Dienstleistungen versprochen wurden.»
«Du hast was getan?»
Sie sah ihn mit ihren riesigen furchtlosen Augen an und legte ihre Fingerspitzen auf seine Lippen. «Du musst mir zuhören, Emilio. Es bleibt nicht viel Zeit, bis sie dich holen. Ich glaube, dass sie dir die Wahl der Treppen der Ewigkeit anbieten werden. Sollten sie das tun, bitte nimm an.»
Er starrte sie sprachlos an. Ihre Bitte warf tausend Fragen auf. Er versuchte, sich für die wichtigste zu entscheiden. «Ich dachte, die Treppen sind ein Mythos.»
«Sie sind echt. Ich bin sie mehrmals hinauf- und hinabgestiegen.»
Und die tausend Fragen explodierten zu einer Million.
Seine Ausbildung siegte über die Neugier. Konzentrier dich auf die Mission. «Welche Wahl habe ich?»
Faya nahm seine Hände, führte ihn zur Pritsche, die sein Bett war, und setzte sich mit ihm. «Ich benutze die Treppen für die Missionen unseres Meisters. Deshalb kann ich dir nur sagen, was ich von den Wächtern gelernt habe. Zeigt ein Bösewicht Reue, kann das Gericht der Ältesten ihm eine Alternative zur Hinrichtung anbieten — sich den Treppen der Ewigkeit für eine zweite Chance anzuvertrauen. Dazu musst du alles hinter dir lassen und deinen Wert beweisen. Schaffst du es, darfst du dein neues Leben weiterleben. Versagst du, vernichten sie deine Seele, als hättest du nie gelebt.»
Emilio schnaubte. «Klingt einfach. Warum sollte ich es versuchen? In vielerlei Hinsicht habe ich nie gelebt. Besser, sie töten mich sofort.»
«Lass den Meister nicht gewinnen. Bitte! Wir durften unser erstes Leben nicht aussuchen. Vergib nicht die Chance, dein zweites selbst zu gestalten.»
Er seufzte und löste sich aus ihrem hypnotischen Blick.
Sie kannte ihn zu gut, um ihn zu drängen. Stattdessen legte sie ihren Kopf auf seine Schulter. «Für eine Zelle ist diese nicht übel.»
Er musste grinsen. «Es gibt gute Gesellschaft. Bisher habe ich sieben Ratten gezählt. Das Wasser ist frisch, die Pritsche sauber, und sie gaben mir sogar einen Eimer.»
«Ein Paradies», seufzte Faya dramatisch.
Sie lachten leise.
«Natürlich könntest du auch mit mir fliehen auf dem Weg, den ich gekommen bin. Da hinten ist eine versteckte Tür. Und die Wände sind durchzogen von Tunneln.»
«Der Tag, an dem ich meine Ehre opfere, ist der Tag, an dem ich sterbe!»
Unbeeindruckt von seiner harten Antwort lächelte Faya und stand auf. «Geh die Treppen runter, Emilio. Versprichst du es mir?»
«Ich werde darüber nachdenken.»
Sie sahen sich für lange Momente an. Er wollte aufstehen und sie umarmen. Wenn er es tat, ließ er sie nie mehr gehen. «Wir sehen uns in der Hölle», flüsterte er schließlich den traditionellen Abschiedsgruß der Mördergilde.
«Wir sehen uns in einem neuen und glücklicheren Leben», antwortete Faya.
Sie verschwand wie ein Schatten. Er war wieder allein mit den Ratten.
Er wartete einen ganzen Tag lang, und dann noch einen. Die Wachen kamen, gaben ihm Nahrung und Wasser und leerten den Eimer.
Er hätte dankbar sein sollen. Viele Bewohner von Eterna verbrachten ihr Leben in bitterer Armut — fünf bis zwölf Menschen in einem einzigen schmutzigen und zugigen Raum, der kleiner als seine Zelle war, und ohne regelmäßige Mahlzeiten. Nur Wasser war nie ein Problem. Die Stadt war stolz auf ihre Aquädukte und vielen Brunnen. Und das Wasser zu verschmutzen — egal ob aus Versehen oder mit Absicht — wurde mit dem sofortigen Tod bestraft.
Er hätte dankbar sein sollen, denn er erhielt zwei weitere Tage in einem Leben, das offiziell zu Ende war. Doch das Warten quälte. Sekunden vergingen wie Jahre, Minuten wie Jahrtausende.
Warum brauchten sie so lange? Es gab nur ein Urteil.
Emilio setzte sich im Schneidersitz auf die Pritsche, und lehnte sich mit dem Rücken gegen die raue Steinmauer. Draußen schien die Frühlingssonne. Vögel sangen ihre schönsten Lieder. Und ihm war angenehm warm, was ein Segen war. Als Südländer hatte er sich nie an die Kälte gewöhnt, trotz des grausamen Trainings, dem sein Meister ihn unterworfen hatte.
Also warum jetzt? War die Falle schon lange geplant gewesen? Oder hatte er in letzter Zeit etwas getan, das seine schnelle Entsorgung erforderlich machte?
Unter den letzten Missionen fand sich nichts Besonderes. Ein Diener, der zu viel wusste. Ein dämlicher junger Prinz, der aus der Blutlinie entfernt werden musste, bevor er sie verunreinigen konnte. Ein paar Geschäftsleute, die ihre Konkurrenten hintergangen hatten.
Die Mörder des Meisters lernten früh in ihrer Karriere, seine Befehle nicht in Frage zu stellen. Emilio versuchte normalerweise, überhaupt nicht über sie nachzudenken. Wer das zu intensiv tat, dem drohte der Wahnsinn.
Er schlief ein paar Stunden lang. Bei Einbruch der Dunkelheit war er wieder hellwach.
Kurz nach Mitternacht kamen sie schließlich — drei Richter in schwarzen Kapuzenumhängen, die ihre Körper bis zu den Zehenspitzen verhüllten: einer groß und jung, erkennbar an seinen schnellen Schritten und seiner arroganten Haltung, einer korpulent und alt, und ein kleinerer von unbestimmtem Geschlecht, der sich mit geisterhafter Stille bewegte und sich leicht abseits der anderen hielt. Ihre Kapuzen waren so voluminös, dass kein Lichtstrahl ihre Gesichter erreichte. Selbst Emilio mit seiner hervorragenden Nachtsicht erkannte nur ein leichtes Schimmern, wenn ihre Augen das flackernde Licht der Fackel reflektierten.
Der Alte sprach ihn an. «Höre unser Urteil, Mörder. Du wirst zum Tod verurteilt, weil du aus Versehen eine Frau umgebracht hast, aber wir geben dir eine Wahl. Du kannst dich für den Tod durch Enthauptung entscheiden. Oder du versuchst dein Glück auf den Treppen der Ewigkeit. Und täusche nicht Unwissenheit vor. Wir wissen, dass deine kleine Freundin dir davon erzählt hat.»
Emilio wartete schweigend.
Wie erwartet, wurde einer der Richter — der arrogante junge Mann — bald ungeduldig. «Was sagst du, Mörder?»
«Was macht dich so sicher, dass ich nicht auf der Treppe umkehre und Jagd auf dich mache?», fragte Emilio nonchalant.
Der junge Mann zischte.
Der korpulente Richter lachte. «Friede, Emilio — Wolf des Südens. Die Wahl der Treppen zu erhalten ist eine Ehre. Was willst du wirklich wissen?»
«Warum ich?»
Der Mann zeigte keine sichtbare Reaktion. Interessant. Seine Ausbildung befähigte Emilio dazu, die meisten Menschen zu durchschauen oder ihre Motive zu erahnen. Dieser Mann gab nichts preis. In vielerlei Hinsicht erinnerte er ihn an den Meister. Aber er war es nicht. Keiner von ihnen war es.
«Du bist ein Mann mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, Wolf des Südens. Und wenn der Meister dich deiner Familie nicht weggestohlen hätte, hättest du ein großer Mann werden können. Deine Fähigkeiten sind gefragt. Das ist der Grund.»
Schweigen erfüllte die Zelle.
Mal sehen, wie sie auf einen Verhandlungsversuch reagieren.
«Ich wäre möglicherweise dazu bereit, wenn Reina, meiner Stute, nichts passiert. Wenn ihr sie einem neuen verständnisvollen Besitzer gebt, der sie für den Rest ihres Lebens liebevoll umsorgt.»
Dieses Mal reagierten alle Richter. Der kleinste von ihnen gluckste. Der hitzköpfige stampfte vor Ärger mit dem Fuß. Ihr Sprecher wiederum zuckte überrascht zurück.
«Du glaubst, dass du in deiner Situation verhandeln kannst?»
Emilio starrte in die Schwärze unter der Kapuze. «Wer weiß?»
«Dann gebe ich dir mein Ehrenwort, dass deine Stute gut umsorgt und an den bestmöglichen Besitzer gehen wird. Und bevor du fragst: Ich werde nicht von der Formulierung meines Versprechens abweichen. Du musst damit leben, wie es ist. Und nun sag mir! Was soll es sein? Enthauptung oder die Treppen?»
Emilio traf seine Entscheidung. «Ich wähle die Treppen.» Seltsam. Das schien sie zu freuen.
«Dann höre nun genau zu», sagte der korpulente Richter. «Um die Treppen hinunterzugehen, musst du alles zurücklassen und so nackt sein wie am Tag deiner Geburt. Du entscheidest, welchen Ausgang du nimmst. Du wirst das Leben leben, das du dort findest. Schließlich wird es ein zweites Gericht geben. Du weißt nicht, wann und wo. Wenn du dich würdig erwiesen hast, darfst du bleiben, wenn nicht, wird deine Existenz ausgelöscht.»
Mit dem Ende dieser Erklärung wandten ihm die drei Richter den Rücken zu und schritten hintereinander aus der Zelle.
An ihrer Stelle traten zwei Wachen ein. Sie trugen einen Hocker, einen Eimer Wasser, ein Stück Seife und eines der gebogenen Messer, die in Eterna als Rasiermesser dienten.
«Ausziehen!», befahl ein Wachmann.
Emilio fixierte ihn mit seinem Blick. Wurde er wieder reingelegt? Sie konnten ihm mit dem Messer die Kehle durchschneiden.
«Ausziehen!», wiederholte der Wachmann, diesmal weniger hart. «Wir müssen deinen Kopf rasieren, und dann musst du dich waschen.»
Emilio gehorchte. Am Ende spielte es keine Rolle.
«Hinsetzen!»
Sie spritzten Wasser auf seinen Kopf. Er biss die Zähne zusammen, weil es nur eiskalt sein konnte. Überraschenderweise erwies es sich als angenehm warm. Der Wächter rieb ihm Seife ins Haar und arbeitete effizient, ohne dabei grob zu sein.
«Nicht bewegen. Ich fange über der Stirn an.»
Emilio spürte das Schaben des Messers, und seine Haarsträhnen fielen. Sie waren schulterlang, ihre Farbe blauschwarz wie Rabenflügel. Nun wellten sie sich auf dem Steinboden.
Als das Messer seinen Hinterkopf erreichte, hörte er einen scharfen Atemzug.
Sie hatten das Zeichen des Meisters gefunden. Im Gegensatz zu anderen Gildemeistern markierte er seine Schützlinge nicht mit einem Brandeisen. Seine Besitzerklärung war eine einfache Tätowierung — viel weniger schmerzhaft, aber nicht weniger verdammend. Diejenigen, die wussten, wonach sie suchen mussten, konnten sie finden. Und wenn sich die Haare eines Mörders lichteten, war er so gut wie tot. Denn das Zeichen war überall bekannt und gefürchtet.
«Rasier dir den Bart ab und wasch dich dann. Zieh den Lendenschurz da drüben an.»
Sie ließen ihn allein.
Emilio rasierte sich vorsichtig, um seine Haut nicht zu verletzten. Er trat eine Reise ins Unbekannte an, und es wäre dämlich, eine Infektion zu riskieren. Als er mit den Fingern prüfend über die Kopfhaut strich, erkannte er, dass der Wachmann auch vorsichtig gewesen war. Die Haut fühlte sich weich und unversehrt an.
Er rieb sich sein glattes Kinn. Er trug seinen Bart nie länger als die Breite eines kleinen Fingers. Ihn nicht mehr zu haben fühlte sich trotzdem seltsam an.
Er hüllte sich in den Lendenschurz, einen einfachen Streifen aus weißem Tuch.
Die Wachen kehrten zurück. «Gehen wir.» Sie versuchten ihn an den Oberarmen zu fassen.
Er wich ihrem Griff aus. «Eine Frage.»
Sie sahen ihn an.
«Lebt meine Stute — Reina — noch?»
«Ja, sie ist im Stall des Palastes und wird versorgt.»
«Was wird mit ihr geschehen?»
«Das hat dich nicht mehr zu kümmern, Mörder, aber—», der harsche Blick des Wachmanns wurde weicher, «da sie ein Vermögen wert ist, musst du dir keine Sorgen um sie machen. Ihr wird nichts passieren.»
Weitere Zugeständnisse als diese vage Bestätigung konnte er in seiner Lage nicht erwarten. Wenigstens schien es, als hätte der alte Richter die Wahrheit gesagt. Er nickte dankend.
Die Wachen nahmen seine Arme und führten ihn in den Korridor und durch die Gänge des Kerkers. Sie passierten unzählige dunkle, stille Zellen. Entweder ruhten die Gefangenen darin tot und von der Welt vergessen, oder sie waren einfach leer.
Emilio versuchte sich den Weg, den sie nahmen, zu merken, fand es aber außerordentlich schwierig. Der alte Magistratspalast von Eterna war ein gigantischer, über Jahrtausende erbauter Steinhaufen mit unzähligen Türmen, Gebäuden und Gängen. In einigen Bereichen gaben Schilder Auskunft darüber, wo man sich befand. Frühere Missionen hatten ihn dorthin geführt, und er wusste sich zu orientieren.
Dieser Teil des Gebäudes war jedoch nicht markiert. Als sie einen Bereich ohne Fenster erreichten, gab selbst Emilios fast perfekter Orientierungssinn auf. Unmöglich, dass sich die Wachen all diese Gänge und Abzweigungen merken konnten.
Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln und stellte fest, dass beide Männer mit den Fingern ihrer freien Hand gegen das Bein klopften. Sie folgten einem Rhythmus, vielleicht einem Lied. Für einen kurzen Moment überlegte er, sie zu verwirren, damit sie sich verzählten und von vorne anfangen mussten. Vielleicht gelang es ihm dann, ihren Code zu knacken.
Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich an seine Lage. Ob er ihren Code kannte oder nicht spielte keine Rolle mehr.
Sie hielten in der Mitte eines kahlen Korridors. Der Stein sah hier älter aus. In seiner Zelle wirkte er gelblich und etwas staubig — derselbe gelbe Sandstein, aus dem die meisten Häuser von Eterna bestanden. Im Sonnenlicht des Frühlings schimmerte er golden, ein falsches Versprechen für naive Besucher. Im Lauf des Sommers verdunkelte sich das Gelb zu einem schmutzigen Ocker und enthüllte so die verdorbene Seele der Stadt. Dann kam der Herbstregen, wusch Sünde und Schlimmeres weg und ließ Eterna wieder in falschem Glanz erstrahlen.
Die Mauern um ihn herum waren zwar golden, aber die Steine glänzten, als hätte ein Riese sie verdichtet und poliert. Was war das für ein Ort? Sie hatten schon lange keine Kreuzung oder Tür mehr passiert, und vor ihnen erstreckte sich der schlichte Korridor.
«Wir müssen dir jetzt die Augen verbinden.»
Das konnte interessant werden. Die meisten Leute machten es falsch, und er kannte Tricks, die er anwenden konnte.
Sie streiften ihm einen Sack aus dichtem schwarzem Stoff über den Kopf und bedeckten seine Augen mit einem zusätzlichen Stoffstreifen, den sie am Hinterkopf verknoteten. Offenbar kannten sie seine Tricks auch.
Ihr Griff wurde fester, als sie ihn weiterführten.
«Wir dürfen dich nicht stolpern, gegen eine Wand laufen oder den Kopf anschlagen lassen. Also beweg dich! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.»
Sie bogen noch ein paar Mal ab. Nach mehreren hundert Schritten schienen sie endlich da zu sein.
Die Augenbinde wurde entfernt.
Emilio sah sich um und fand sich — in einer Höhle wieder?
«Erblicke die Treppen der Ewigkeit», intonierten die Wachen und ließen seine Arme los.
Emilio drehte sich im Kreis.
Wie waren sie hier reingekommen? Die sie umgebenden rauen Wände zeigten keine Öffnungen. Weit über seinem Kopf verbanden sie sich zu einer gewölbten Decke, die einsturzgefährdet wirkte. Und in der Mitte des offenen Raumes …
«Die Zukunft ist ungewiss. So sind die Stufen nach oben durchscheinend und hängen an einem Faden aus dem Nebel der Möglichkeiten. Mit jedem vergehenden Augenblick wird die Gegenwart zur Vergangenheit und versteinert gemäß den Launen des Schicksals. So besteht die Treppe, die nach unten führt, aus unregelmäßigem Stein.»
Hatten sie ihn betäubt? Das alles konnte nicht echt sein. Und da war ein Fehler in der Erklärung.
«Wenn wir in der Gegenwart leben, warum ist der Boden unter unseren Füßen aus Stein?»
Der Wächter winkte nachlässig mit der Hand, und Emilio wünschte, er hätte den Mund gehalten. Der Boden und die Wände verschwanden, und sie schwebten über einem gigantischen dunklen Abgrund. Ohne visuelle Orientierung dauerte es einen Moment, bis Emilio erkannte, was sich vor seinen Augen abspielte.
Wie der Zeiger einer Uhr drehte sich die Wendeltreppe langsam im Kreis. Die lichtdurchlässigen Stufen der Zukunft wurden zu Steinstufen und sanken in die Vergangenheit. Oder die Treppe bildete die Mittelachse, während er und die Wachen sich gegen den Uhrzeigersinn und nach oben um sie drehten. Beide Wahrnehmungen konnten wahr sein — oder keine.
«Das ist die Zeit», flüsterte Emilio und starrte in die Dunkelheit unter seinen Füßen, dann in den Nebel der Möglichkeiten.
«Los!» Die Wachen zeigten auf die Steinstufen, die nach unten führten.
Emilio fühlte Panik. In seinem Kopf drängten sich die Fragen, und er hatte Angst, mehr Angst als jemals zuvor in seinem Leben.
Konzentrier dich auf die Mission. Geh einfach. Was auch immer passiert, nichts ist mehr wichtig.
Das Überqueren der Leere schien ewig zu dauern. Die Blicke der Wachen bohrten sich in seinen Rücken. Er fühlte seine Zähne klappern. Aus Angst? Oder fror er?
Dann erreichte er die Treppe. Er zwang sich, nicht zurückzublicken, und trat auf die Steinstufe, die sich direkt vor ihm verfestigte und die Gegenwart in die Vergangenheit verwandelte. In dem Moment, als sein nackter Fuß die steinige Oberfläche berührte, gab es einen Ruck in seiner Wahrnehmung und er war vorübergehend blind.
Er wartete. War das der Tod?
Offenbar nicht. Sein Sehvermögen kehrte allmählich zurück, und er fand sich auf einer schmalen Wendeltreppe wieder, ähnlich der eines Turms. Das ganze mystische Drumherum war verschwunden. In der Wand hinter ihm befand sich eine verschlossene Tür.
Er musterte die hellen, regelmäßigen Stufen, die nach oben führten.
«HINAB!» Der Befehl schien sich wie ein Gewicht auf seine Schultern zu legen.
Diese Richtung sah nicht ansprechend aus. Die Fackeln, die einmal pro Umdrehung in Wandhalterungen steckten, warfen ein flackerndes, trügerisches Licht. Spinnweben hingen wie Vorhänge von den rissigen Wänden und der Decke, und Trümmer bedeckten die baufällig wirkenden Stufen.
Emilio zitterte im kalten Luftzug, der aus den Tiefen der Vergangenheit aufstieg.
Ich bin das gefährlichste Lebewesen hier drin, ermunterte er sich.
Er stieg vorsichtig eine Stufe hinab, dann eine weitere. Nach ein paar Runden fand er die erste Türöffnung. Wie weit musste er gehen?
Er überprüfte sorgfältig, was dahinter lag, und blieb dabei in Deckung wie jeder gut ausgebildete Mörder.
Er sah sanfte Hügel und Wiesen, auf die strahlendes Sonnenlicht fiel.
Der Luftzug umspielte ihn und flüsterte ihm ins Ohr. Geh weiter …
Also ging er weiter. Jedes Mal, wenn er eine neue Tür fand, hörte er das Flüstern wieder. Wie weit in der Vergangenheit lag sein Ziel?
Inzwischen war ihm eiskalt, und er fürchtete sich. Die Geister, denen er ab und zu begegnete, störten ihn nicht. Sie konzentrierten sich auf sich selbst und ihre zerbrochenen Träume und interessierten sich kaum für die Lebenden.
Aber er traf auch auf seltsame Wesen — einen alten Mönch mit einer Sanduhr in den Händen, eine hochgewachsene Gestalt in einem langen Umhang mit hochgezogener Kapuze, die eine Sense über den Rücken geschlungen trug, und einige andere Kreaturen, die nicht existieren sollten.
Ich fantasiere. Also haben sie mir doch heimlich Drogen gegeben.
Nichts anderes machte Sinn.
Plötzlich stolperte er und fing sich im letzten Moment auf. Verdammt! Seine Handflächen waren aufgerissen. Und er war zu müde, um weiter hinabzusteigen, und verlor dank seines rasierten Kopfes und seines nackten Körpers rasend schnell an Körperwärme. Ohne Wasser und Nahrung war es nur eine Frage der Zeit, bis ihm ein fataler Fehltritt unterlief.
Eine weitere Tür kam in Sicht. Sie zeigte ihm ein dunkles und trostloses Land, in dem sich ein Schneesturm austobte. Der Wind heulte wie ein Schwarm Todesfeen, während er an Hügeln und Bäumen riss.
Bitte nicht hier! Ich hasse Schnee. Und ich halte diese Kälte nicht aus …
Die Stufe unter seinen Füßen zerbrach. Emilio versuchte das Gleichgewicht zu halten, scheiterte und fiel durch die Tür. Er bereitete sich darauf vor, in einem eisigen Schneehaufen zu landen, und war überrascht, als seine Wahrnehmung sich plötzlich erneut verschob.
Der Effekt war nicht so schlimm wie beim Betreten der Treppe, aber dennoch verwirrend.
Ist das ein Teppich unter mir?
«Der Teufel soll diese verfluchten Treppen holen!», hörte er plötzlich eine schrille Stimme. «Ich ersuche sie um einen Prinzen, und sie schicken mir einen Mörder?»
Völlig erschöpft hob Emilio den Kopf.
Wie der letzte Trottel war er zwei jungen Frauen vor die Füße geplumpst. Sie trugen die zweckmäßige Kleidung von Waldleuten —Lederhosen, lange seidene Tuniken, Wollumhänge und hohe Stiefel, deren Schäfte bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichten.
Eine der jungen Frauen war hübsch, braunhaarig und etwas rundlich. Ihre großen grünen Augen musterten ihn besorgt.
Die andere drohte vor Ärger zu platzen und glich eher einem Dämon als dem dünnen Mädchen, das sie wahrscheinlich unter normalen Umständen war. Ihr feuerrotes Haar hatte sich vor Empörung gesträubt, und der glühende Blick ihrer grünen Augen brannte wie die Feuer der Hölle.
«Runter vom Teppich, Strolch! Du bist nutzlos für mich, ganz egal, was diese verdammten Treppen erreichen wollten. Hätte ich doch nie auf meine dämlichen Berater gehört!»
Mit einem wütenden Grollen warf sie sich herum und stürmte fort von wo auch immer sie sich befanden.
Die Flügel der schweren Holztür schlugen mit einem Knall hinter der Rothaarigen zu. Emilio verlor fast das Bewusstsein. Er unterdrückte ein Stöhnen. Egal welche Droge sie ihm verabreicht hatten, sein Körper vertrug sie nicht. Oder war er vergiftet worden und dieser Albtraum Teil seines Todeskampfes?
«Bist du verletzt?» Das braunhaarige Mädchen kniete sich neben ihn hin und half ihm ins Sitzen. «Gerade noch waren wir allein in unserer Kirche. Dann plötzlich bist du über uns aus dem Nichts aufgetaucht und wie ein Stein gefallen. Dem Himmel sei Dank hatten wir den Boden mit Stroh bedeckt und einen Teppich gegen die Kälte darüber geworfen.»
In dem Moment, als sie die Kälte erwähnte, wurde er sich der eisigen Temperaturen bewusst, und seine Zähne begannen zu klappern.
Sie streifte ihm eine weiche Mütze über den Kopf und wickelte ihm eine Wolldecke um die Schultern.
«Die Wächter der Treppen warnten uns, dass du nackt kommen würdest. Da wir nicht wussten, wie groß du bist, konnte ich keine richtige Kleidung mitbringen, aber ich habe Socken und einfache Schuhe aus einem Stück Leder, die man umbindet. Damit kannst du den Hof überqueren, ohne dir die Zehen abzufrieren.»
Er starrte sie immer noch stumm an — unfähig, das Geschehene zu verarbeiten.
Sie steckte seine Füße in dicke Wollsocken und band Lederstücke darum. «Mein Name ist übrigens Maira. Die Rothaarige war meine Schwester Morayn. Wie ist dein Name?»
«Emilio.» Seine Lippen waren so kalt, dass sein Mund über jede Silbe des Wortes stolperte.
«In diesem Fall heiße ich dich willkommen auf Burg Icefjell im Königreich des Nordens, Emilio.»
Konnte seine Situation noch schlimmer werden? «Welches Jahr haben wir?»
«In Eternamzeit zählen wir das Jahr 256.»
Das durfte nicht wahr sein! Diese verdammten Treppen hatten ihn in prähistorische Zeiten geschickt!
Das Mädchen zog ihn ohne Anstrengung hoch ins Stehen. Sein Nacken kribbelte warnend. Waren alle ihres Volkes so stark? Er mochte schlank sein, aber das machte ihn nicht leicht.
«Komm. Lass uns in die Burg gehen.»
Emilio musterte seine Umgebung, während sie zur Tür gingen. Was sie eine Kirche nannte war ein großer Saal im typisch nordischen Stil, das Holz der Wände und Decke geschwärzt durch Ruß und Alter. Die Balken hoch oben wurden von einer Mittelsäule getragen und zeigten eindrucksvolle Schnitzereien. Der Boden bestand aus Steinplatten. Einige trugen Inschriften.
Sie gingen über die Gräber von Menschen. Was für eine Ironie des Schicksals!
Als Maira einen Flügel der Tür aufwarf und der eisige Schneesturm nach ihnen griff, war Emilio bereit zu sterben. Er hatte nicht gewusst, dass die Temperaturen so tief fallen konnten.
«Wie kalt ist es?», presste er durch seine klappernden Zähne hervor.
Maira lachte. «Oh, kalt genug, um dir die Brüste oder Eier abzufrieren, je nachdem ob du ein Mädchen oder ein Junge bist.» Sie schien zu begreifen, was sie gerade gesagt hatte. «Uuh, du bist wahrscheinlich nicht an diese Art von Humor gewöhnt. Wir Nordländer scherzen ständig über die Kälte. Hier, halt dich an dem Pfeiler fest.»
Die Holzsäule zeigte grausige geschnitzte Jagdszenen mit wilden Tieren und Jägern. Beide Seiten schienen den Kampf gleichermaßen zu verlieren. Er sah, wie Männer gefressen und Bestien zerstückelt wurden.
«Die Darstellungen repräsentieren den Krieg zwischen Gut und Böse», erklärte Maira, die seinen Ekel bemerkte. «Ich persönlich glaube, der Künstler liebte einfach Blut und Gewalt. Sei froh, dass die Säule so alt und unser Klima so hart ist. Vater erzählte uns, dass die Schnitzereien einst in grellen Farben bemalt waren. Zumindest erfüllt der Pfeiler die Aufgabe, das Vordach trotz des ganzen Schnees oben zu halten. Sein Zwilling dort zeigt übrigens Frömmigkeit, die gegen Lust kämpft. Jene Bilder möchte ich dir lieber nicht erklären.»
Sie schloss die Doppeltür und verriegelte sie mit einem komplizierten Mechanismus, der für ein so kleines Gebäude übertrieben wirkte.
«Die erste Überlebensregel in unserem Land — verriegele jedes Gebäude immer entweder von außen oder von innen. Es gibt Wölfe und andere listige Dinge im Wald. Sich ihnen über eine Schwelle zu stellen kann böse enden.»
Sie überquerten den Innenhof der Burg. Sein Grundriss war im tobenden Sturm und dem Schneegestöber unmöglich zu erkennen. Emilio war auch zu müde und erschöpft, um sich darum zu kümmern.
Sie schien ihn ein paar Steintreppen hochzuziehen. Dann stand eine Matratze vor ihm. Danach — Dunkelheit.
* * *
Emilio erwachte mit pochenden Kopfschmerzen. Sein Gehirn schien in einer Trommel gefangen. Das Klopfen war schlimmer als alles, was er je zuvor erlebt hatte.
Als er die Augen öffnete, beugte sich ein riesiger Krieger mit langen, ungepflegten Haaren und einem noch wilderen Bart über sein Bett.
Mit einem Schrei stieß Emilio ihn weg.
«Du bist ja vielleicht ein Morgenmuffel», beklagte sich der Krieger, nachdem er seinen drohenden Sturz geschickt abgefangen hatte. Wegen des andauernden Lärms musste er brüllen.
«Bin ich nicht, es sei denn, jemand steckt mir seine hässliche Visage ins Gesicht!», schrie Emilio zurück. «Was zum Teufel tust du da?» Er schnellte nach vorn und riss dem Mann das Gerät aus der Hand, erkannte das sich drehende Element, das den Lärm verursachte, und stoppte es. Das höllische Trommeln hörte auf. «Was ist das für ein Folterinstrument?» Seine Stimme klang unnatürlich laut in seinen Ohren.
Der Mann schniefte beleidigt. «Ein Hilfsmittel zur Disziplinierung von Rekruten, die nicht aufwachen. Da du wie ein Toter geschlafen hast, dachte ich, es würde sich als nützlich erweisen.»
«Und du bist?» Emilio untersuchte das Gerät flüchtig, erkannte, wie es funktionierte, und löste die Spannung der Feder im Inneren.
«Mein Name ist Almbart. Ich bin verantwortlich für die Ausrüstung der Rekruten auf Burg Icefjell. Du sollst dich beim Prinzregenten melden. Dort drüben findest du einige Kleidungsstücke aus unserem Lager. Erwarte nicht, dass sie passen. Wir sind nicht ausgerüstet, um dürre Zwerge auszustaffieren. Ich nehme an, du kannst dich selbst anziehen?» Der Riese musterte ihn verächtlich.
«Wo ist das Treffen und wann?», fragte Emilio.
«Sobald du bereit bist. Melde dich beim Wachmann vor deiner Tür. Er wird dich zum Treffen bringen. Oh, und es gibt Wasser und Seife, falls du weißt, wie man sie benutzt.»
Emilio stieg aus dem Bett. «Raus!», sagte er in seiner monotonen und fast tonlosen Mörderstimme.
Das Gesicht des Riesen wurde weiß und seine Augen weiteten sich. Vor lauter Eile, den Raum zu verlassen, stolperte er fast über die eigenen Füße.
Genugtuung erfüllte Emilio, vermischt mit einem Hauch Ärger. Sein kleiner Sieg fühlte sich gut an, aber er hätte sich von diesem Idioten nicht provozieren lassen sollen. Jetzt wussten sie, dass sein Temperament nicht das ruhigste war.
Auf dem Weg zum Waschbecken ließ ihn ein plötzlicher heftiger Schwindel taumeln, und sein Magen knurrte. Er musste bald etwas zu essen finden, aber zuerst musste er wissen, worum es bei diesem Treffen ging.
Er trank ein paar Schlucke Wasser, wusch sich und trug bald mehr Schichten Kleidung als je zuvor. Alles war zu groß, aber die oberschenkelhohen Stiefel, die sie für ihn gefunden hatten, passten gut. Und sie stellten ihm sogar einen Dolch und ein kurzes Schwert zur Verfügung.
Ich frage mich, wer ihr Feind ist, denn ich — der Mörder — bin es eindeutig nicht.
Emilio streifte die zur Verfügung gestellte Mütze auf den rasierten Kopf, zog die Kapuze seines Umhangs hoch und öffnete die Tür. Der erwähnte Wachmann erwies sich als ein außergewöhnlich großer junger Mann. Er sah weniger wild aus als Almbart. Sein lockiges Haar und sein kurzer Bart waren sorgfältig gekämmt.
«Hier entlang», sagte er und ging voraus.
Emilio nutzte die Gelegenheit, um die Rüstung und Kleidung des Mannes zu analysieren. In der Art, wie ein Herrscher seine Krieger ausstatte, lag eine Fülle von Informationen. Diesem Königreich schien es gut zu gehen — falls die Annahme stimmte, dass es sich bei seinem Führer um einen gewöhnlichen Wachmann handelte.
Der Mann trug eine Untertunika aus weichem weißem Tuch, deren Säume an den Handgelenken sichtbar waren, und darüber eine braune Tunika aus dickem gebürstetem Stoff. Seine Hosen waren aus dem gleichen Material gefertigt, obwohl sie über den hohen gepanzerten Stiefeln kaum zu sehen waren. Ein langes Kettenhemd bildete die erste Schutzschicht für seinen Oberkörper. Die zweite bestand aus einem Mantel aus gepanzertem Leder, der sich auf Höhe des Schritts in vier Schöße teilte. Wärme spendete ein großzügiger Umhang, den der Wachmann um die Schultern geschlungen trug. Der Helm auf seinem Kopf wies keine Verzierungen auf, hatte aber, ausgehend von den Kerben und Kratzern, mindestens eine Schlacht gesehen.
Das Gewicht der gesamten Ausstattung musste beträchtlich sein und entsprach wahrscheinlich Emilios Körpergewicht, trotzdem eilte der Wachmann leichtfüßig durch die steinernen Korridore. Seine Beine waren unglaublich lang. Machte er zwei Schritte, benötigte Emilio drei für die gleiche Distanz.
Wie standen die Chancen, innerhalb weniger Augenblicke auf zwei Riesen zu treffen? Züchteten sie die irgendwo?
Während er den Wachmann beobachtete, hatte sich ein unabhängiger Teil seines Verstandes ihre Bewegungen durch die Burg eingeprägt. Die Orientierung erwies sich als einfach. Die Gänge waren schmucklos, verfügten jedoch über schmale verglaste Fenster in unterschiedlichen Formen. Eiskristalle bedeckten das Glas, und draußen war es stockfinster. Die Dunkelheit erfüllte ihn mit Unbehagen.
«Wie spät ist es?», fragte er den Wachmann, den die Gegenwart eines Mörders in seinem Rücken kaltzulassen schien.
«Ein paar Minuten nach Mittag.»
«Warum bleibt es dann so dunkel? Es ist später Frühling, nicht wahr?» Trotz der klirrenden Kälte und der Schneestürme, die wütend gegen die Fenster prallten.
Emilio erkannte seinen Überlegungsfehler im nächsten Moment. Sein Platz in der Ordnung der Dinge war nur ihm wichtig. Die Treppen enthielten die gesamte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Universums. Sie hätten ihn jederzeit und in jeder Jahreszeit ausspucken können — was vielleicht die ultimative Strafe war. Er war im wahrsten Sinne des Wortes heimatlos, da er nicht nur Heimat und Besitz verloren hatte, sondern auch jeden Bezug zu dem, was einmal gewesen war. Nur seine Essenz, sein Wissen und seine Fähigkeiten blieben ihm erhalten. Unter diesem Gesichtspunkt sah der Tod durch Enthauptung plötzlich wie das gnädigere Urteil aus.
In Gedanken verloren, verpasste er fast die Antwort des Wachmanns.
«Es ist — Frühling, meine ich. Die andere Frage habe ich nicht zu beantworten. Hier rein.» Der junge Mann öffnete eine große, kunstvoll geschnitzte Tür.
Emilio gehorchte und prüfte die Umgebung mit jedem langsamen Schritt, der ihn tiefer in den Raum führte. Er befand sich im Arbeits- und Besprechungszimmer eines mächtigen Mannes. Seine Missionen hatten ihn in viele davon geführt. Es gab den üblichen massiven Schreibtisch mit einem bequemen, aber eindrucksvollen Stuhl und einen großen Tisch, an dem Strategien geplant und Vorgänge analysiert werden konnten. Zwei Sessel standen vor einem imposanten Kamin, in dem ein Feuer loderte. Gemälde in kunstvollen goldenen Rahmen schmückten die Wände, schwere Vorhänge hingen neben den Fenstern bis auf den Boden hinab, und an einer Wand befand sich ein großer Wandteppich mit einem beeindruckenden Wappen und einem Stammbaum.
Das war eindeutig das Arbeitszimmer des Prinzregenten, aber wo war der Prinz?
Eine ungewöhnliche Gruppe von Personen wartete auf ihn.
Da waren zwei grauhaarige Männer. Einer von ihnen schien vorzeitig ergraut zu sein, denn sein Gesicht wirkte jung, und sein durchtrainierter Körper deutete auf das beste Mannesalter hin. Er stand auf der entfernten Seite des Schreibtisches, etwas hinter dem kunstvollen Stuhl, und trug eine leichte Rüstung. Der andere Mann, der auf dem Stuhl saß, war tatsächlich alt. Er sah auch traurig und müde aus.
Vor dem Kamin kniete ein kleines Mädchen und spielte ein Spiel, das nur für sie verständlich war.
Zwei junge Frauen mit langen braunen Haaren standen an den Fenstern und gaben vor, in die Dunkelheit hinauszuschauen. Eine davon war Maira. Ihr etwas fülliger Körper war leicht zu erkennen. Die andere sah aus wie Morayn, doch die Haarfarbe stimmte nicht.
Als der alte Mann aufstand, konnte Emilio nur starren. Er war ein Riese, noch größer als Almbart und der junge Wachmann.
Ein unbehagliches Kribbeln breitete sich in seiner Magengrube aus. In seiner eigenen Zeit war Emilio hochgewachsen gewesen, ein oder zwei Fingerbreit größer als die meisten Männer. Dieser Umstand hatte ihn nicht daran gehindert, in einer Menge zu verschwinden. Gleichzeitig verlieh er ihm einen Vorteil gegenüber seinen Verfolgern, da er ihre Bewegungen unbemerkt beobachten konnte.
Nun überragte ihn dieser alte Krieger, der sein Kettenhemd wie normale Kleidung trug, um einen ganzen Kopf.
«Ich dachte, du wärst größer», knurrte der Mann.
Emilios Temperament loderte auf. «Da dies nicht die erste Beschwerde über mich ist, habt ihr eure Bestellung offensichtlich nicht gut formuliert.»
Alle Anwesenden erstarrten, aber nicht für lange.
«Wer zum Teufel hat dem Strolch Waffen gegeben? Bin ich von Idioten umgeben?», hörte er eine schrille Stimme, die er erkannte.
Als er sich der Quelle des Lärms zuwandte, sah er Morayn. Wie in der Kirche war ihr Haar hellrot und schien ein Eigenleben zu führen. Wie war das möglich? Wo hatte sie sich versteckt? Und wo war das zweite braunhaarige Mädchen hin? Die junge Frau, die nicht Maira war?
«Königin Morayn, benimm dich!», schrie der alte Mann.
«Und warum sollte ich?», schrie sie zurück. «Das ist mein Leben und mein Königreich, die hier vor die Hunde gehen!» Ihre Rage schien mit jedem Wort größer zu werden, und ihr Haar hellte sich immer weiter auf, bis es in einem völlig unnatürlichen Orangeton glühte.
Der alte Mann zeigte zur Tür. «Auf dein Zimmer!»
Die Worte wurden von einer Kraftwelle begleitet, die Emilio fast in die Knie zwang.
Morayn ging ohne ein weiteres Wort und schlug die Tür so heftig hinter sich zu, dass einige der Bilder auf den Boden krachten.
Könnte ich mich doch nur unsichtbar machen!
Ob sie es bemerkten, wenn er aus dem Arbeitszimmer schlich oder sich hinter einem Vorhang versteckte?
Der alte Mann stützte seine Fäuste auf den Tisch und holte tief Luft. Als er Emilio wieder ansah, war sein Blick gefasst. «Dreh dich um. Streif die Kapuze runter und nimm die Mütze ab.»
Emilio zwang eine neutrale Maske auf sein Gesicht und seine Gefühle unter eiserne Kontrolle. Er gehorchte.
«Das Zeichen eines Mörders. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Kommt, Maira, Meryem. Er ist nutzlos für uns.»
Schwere Schritte entfernten sich, leichtere folgten ihnen. Emilio wandte sich um. Der alte Mann, Maira und das Kind verließen das Arbeitszimmer durch eine versteckte Tür in der Wand hinter dem Schreibtisch.
Der jüngere Krieger blieb, wo er war. Bis auf seine äußerst aufmerksamen Augen, mit denen er alles beobachtete, hätte er eine Statue sein können. Während der ganzen Szene hatte er nicht einmal den Kopf bewegt.
«Ein Wort mit Euch, Herr Ritter?», sprach Emilio ihn an. Ein neuer Schwindelanfall raste durch seinen Körper, und sein Blick verschwamm.
Als er wieder sehen konnte, befand sich der Mann an seiner Seite und hielt ihn sicher am Oberarm. Auch dieser Krieger war riesig. Emilio fühlte sich wie ein Zwerg neben ihm.
«Keiner von ihnen dachte daran, dich zu füttern, oder?», fragte er mit tiefer, grollender Stimme. «Wobei Almbart, der Idiot, es wohl absichtlich vergessen hat.»
Emilio nickte nur.
«Gehen wir in die Küche. Und setz deine Mütze wieder auf. Ich weiß nicht, wie das Zeichen dorthin kam, aber die Antwort ist wahrscheinlich nicht so simpel, wie dieser hirnlose Haufen denkt.»
Kurze Zeit später fand sich Emilio in einer behaglichen Küche wieder, wo ihm eine Magd eine Tasse warme Milch mit Honig und ein Festessen aus Brot, Würstchen, Suppe und verschiedenen Käsesorten servierte.
Emilios Magen knurrte vor Erwartung, doch er wusste auch, dass die Dinge nicht immer so waren, wie sie zu sein schienen. Diese Leute mochten ihn hassen, aber bis auf weiteres waren sie seine Familie. «Wie ist eure Lage hier auf der Burg und bei dem schrecklichen Wetter? Gibt es genug Essen für alle?»
Die Magd legte ihm eine von Seife und Laugen gerötete Hand auf die Schulter. Sie hatte ein schlichtes, freundliches Gesicht und ein schönes Lächeln. «Iss einfach, mein Hübscher. Der Prinzregent kümmert sich um uns. Wir erleben Entbehrungen, aber Hunger gehört nicht dazu.»
Emilio überflog rasch die Auswahl und wählte jene Speisen aus, die er essen wollte.