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Eine dunkle Verschwörung, die Jahrtausende überspannt. Werden die Kräfte des Lichts und der Liebe gegen sie bestehen?
Raghi hat sich durch seinen trotzigen Wagemut aus Versehen unsterblich gemacht. Gleichzeitig wird klar, welche finsteren Pläne sein Gegner verfolgt: Er will das Volk der Ghitains -- Raghis neue Familie -- auslöschen, um die Herrschaft über die Ewigkeit an sich zu reißen.
Mit einer waghalsigen Reise durch die Zeit versuchen Raghi und seine Freunde, das furchtbare Schicksal abzuwenden. Doch wie sollen sie gegen einen übermächtigen Feind bestehen, der nicht sterben kann?
In Raghis Seele entscheidet sich der Kampf zwischen Licht und Dunkelheit. Mit seinem grenzenlosen Improvisationstalent kann er das Multiversum retten -- wenn er die Liebe in sein verletztes Herz lässt und dem Schicksal erlaubt, seine geheimsten Träume zu erfüllen. Für Raghi die schwierigste Prüfung von allen.
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In Isa Days berührender Zeitreise-Fantasy-Reihe Die Treppen der Ewigkeit erhalten scheinbar verlorene (erwachsene) Protagonisten eine zweite Chance. Dafür müssen sie sich in fremde Zeiten und vergessene Welten begeben und große Gefahren überwinden. Als Lohn für ihren Mut finden sie Liebe und eine Gemeinschaft, die sie aufnimmt.
Die spannenden und zugleich warmherzigen Geschichten laden zum Träumen ein. Sie bieten intelligente, märchenhafte und magische High Fantasy für Erwachsene mit vielschichtigen Protagonisten und detailliert ausgearbeiteten Welten. Als weitere Zutaten finden sich Zeitreisen, eine mysteriöse Mörderzunft mit einem finsteren Meister, Romantik, Humor und -- wie stets bei Isa Day -- liebenswerte (magische) Tiere.
Alle Bände der Reihe sind als Ein- oder Zweiteiler in sich abgeschlossen, haben eigene Protagonisten und können für sich allein gelesen werden. Wer der Serie treu bleibt, wird über die verschiedenen Bände hinweg größere Zusammenhänge erkennen und liebgewonnenen Charakteren wiederbegegnen.
"Raghi der Unsterbliche" ist der zweite Band der Raghi-Dilogie und schließt diese ab. Die Dilogie erzählt von der Suche nach dem Sinn des Lebens und dem Mut, sich einem außergewöhnlichen Schicksal zu stellen.
Bisher erschienen:
Faya Namenlos (Novelle)
Wolf des Südens
Raghi der Schatten
Raghi der Unsterbliche
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dancing Coons
Stürmische Verzauberung
Wintermärchen
Sommernachtsmagie
Urban-Fantasy-Serie «Sternenmagie»
Sternenstaubkind
Abschied
Verbannung
Wandelstern
Kollisionskurs
Isolation
Augenstern
Herzensband
Fantasyserie «Die Treppen der Ewigkeit»
Faya Namenlos (Prequel)
Wolf des Südens
Raghi der Schatten
Raghi der Unsterbliche
Fantasyserie «Der Weg des Heilers»
Der verletzte Himmel
In den Tiefen der Ewigkeit
Bis das Eis bricht (Tantans Geschichte)
Die Nacht des Vergessens (Tantans Geschichte)
1. Auflage 2025
© 2025 Isa Day und Pongü Text & Design GmbH, Meilen, Schweiz
Kontakt: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG («Text und Data Mining») zu gewinnen, ist untersagt.
Umschlaggestaltung: Isa Day, mit Bildmaterial von menschlichen Kunstschaffenden
ISBN (eBook) 978-3-906868-42-4
ISBN (Taschenbuch BoD) 978-3-759793805
Für meinen Mann, der mich
in meiner Arbeit als Autorin immer unterstützt und
sich auf jedes neue Buch von mir freut.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Über meine Arbeit & Eine wichtige Bitte
Lizenzerklärung
Isas Bücher
Bisher erschienen
Um Mitternacht betrat Parth, der König der Könige der Ghitains, endlich die Mitte des Versammlungsrunds. Sein Clan hatte es auf der Wiese innerhalb des Lagers der Lichtträger errichtet. Niedrig brennende Flammen umgaben die freie Fläche, deren Durchmesser zeremoniell zehn Schritte betrug. Parths Bruder Arjun hatte jedes der Feuer auf Sprengstoff überprüft.
Außerhalb des Feuerkreises nahmen die Ghitains auf Teppichen und Decken Platz. Raghi beobachtete überrascht, dass sich die Clans der Lichtträger und Seher mischten. In diesen gefährlichen Zeiten hätte er erwartet, dass sich die Menschen an ihre eigene Sippe hielten, aber solche Überlegungen schienen, wie so viele andere auch, nicht für die Ghitains zu gelten. Männer, Frauen und Kinder setzten sich in vollkommener Stille. Schließlich hörte das Rascheln der Kleider auf.
Parths Gesichtsausdruck war ernst. Ansonsten verriet nichts an der Erscheinung oder Haltung des Königs der Könige die Strapazen der vergangenen Tage oder die Tatsache, dass der Mann seit sechsunddreißig Stunden oder länger wach war. Er wirkte imposant mit seiner hohen Statur, seinem wallenden schwarzen Haar und seinem dunkelhäutigen Gesicht, das die Weisheit des Multiversums auszustrahlen schien. Selbst seine feschen, farbenfrohen Ghitainkleider — eine lilafarbene Tunika und eine dunkelviolette Hose und Weste, die mit silbernen Stickereien verziert waren — sahen dank der Magie, die sie durchdrang, makellos aus.
Parths scharfe Augen schweiften über die Menge, während er sich wahrscheinlich fragte, wer der Verräter war.
Auch Raghi hielt seinerseits nach Hinweisen Ausschau. Wie schon einmal bei einer ähnlichen Versammlung saß er in der hintersten Reihe neben Palash, dessen geisterhafte Gestalt neblig-sanft leuchtete.
Parth drehte sich langsam gegen den Uhrzeigersinn im Kreis und musterte das Publikum. Bei jeder Bewegung funkelte sein Silberschmuck, aber kein Klimpern störte die Stille. Selbst der Wind, der mit fortschreitender Nacht aufgefrischt und zu wispern begonnen hatte, schien innezuhalten.
Parth streckte die Arme aus, die Handflächen zum sternenübersäten Nachthimmel gerichtet, während er sich weiterdrehte. Magisches Feuer flammte in seinen Handflächen auf.
Raghi atmete überrascht ein. Das ungewöhnliche Feuer der Ghitains erfüllte ihn schon länger mit Neugier. Er hatte bisher aber noch nie gesehen, wie es entzündet wurde.
Die gerade noch winzigen Flammen in Parths Handflächen loderten auf und trafen sich weit über seinem Kopf, wo sie wie ein Feuerwerk explodierten und einen Sprühregen aus Funken in alle Richtungen schickten.
Raghi versuchte ihnen mit den Augen zu folgen. Zwischen den Rädern der Vardos hindurch sah er, wie die Funken in einem weiten Kreis auf den Boden trafen, wo sie aufloderten und die beiden Wagenburgen der Ghitains in einem Feuerring einschlossen.
«Mein Name ist Parth. Ich bin der König des Clans der Lichtträger und der König der Könige der Ghitains. Hiermit habe ich das Lager unserer beiden Sippen magisch versiegelt und aus dem Fluss der Zeit herausgenommen, damit keine bösen Mächte uns belauschen können. Und ich verpflichte hiermit jeden anwesenden Ghitain und jede Kreatur zur Verschwiegenheit über das, was ich euch zu sagen habe.» Obwohl er nicht schrie, drang seine eindringliche Stimme bis zu Raghi.
«Wir sind hiermit zur Verschwiegenheit verpflichtet», antworteten die Ghitains leise.
«Der Zweck dieses Treffens ist es, euch eine Geschichte zu erzählen. Diese Geschichte wird zur Wahrheit über ein Ereignis führen, das vor einiger Zeit unser Leben durcheinandergebracht hat. Und sie wird unser Schicksal bestimmen.»
«Möge unser Schicksal bestimmt werden», erwiderten die Clans.
«Raghi und Violet, kommt her. Bringt Mallika mit», sagte Parth und wandte sich ihnen zu.
Raghis Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Seine Beine fühlten sich wie gelähmt an und ein eisernes Band schien sich um seine Brust zu legen.
«Worauf wartest du noch? Geh!», zischte ihm Palash zu.
Violet auf Palashs anderer Seite erhob sich, griff mit einem Arm um den Geist herum und zog Raghi auf die Beine. Wann war seine Amme wieder so stark geworden? Sie sollte sich noch immer von den Qualen erholen, die seine verhassten Eltern ihr zugefügt hatten.
«Halt dich an Mallika fest. Sie wird dich ablenken», befahl Violet tonlos und reichte ihm seine Schwester.
Raghis Arme schlossen sich um das Kleinkind. Violet zog ihn bereits durch die Lücken zwischen den sitzenden Ghitains zur Mitte, wo der König der Könige ihnen entgegenstarrte.
Jeder Instinkt drängte Raghi zu fliehen, aber er konnte nicht ... nein, durfte nicht.
Dann war es zu spät. Parths Hand legte sich auf seine Schulter. Als sich ihre Blicke trafen, füllten sich die Augen des Mannes mit Verständnis und Mitgefühl.
Die Ghitains waren gute und tapfere Menschen. Er konnte das ertragen, sagte sich Raghi.
Seine Panik weigerte sich, auf die Vernunft zu hören.
«Dieser junge Mann heißt Raghi der Schatten. Er ist ein ausgebildeter Mörder und stieg aus einer fernen Zukunft die Treppen der Ewigkeit herab, um hier bei uns zu sein. Das Baby in seinen Armen ist Mallika, seine Schwester. Und das hier ist Violet, Raghis Amme, die er auch Nana nennt. Ich lade hiermit jeden Ghitain ein, sie anzuschauen und ihre Anwesenheit zu bemerken, so wie sie ab sofort auch euch wahrnehmen dürfen.»
Das schwere Gefühl in Raghis Magen verdoppelte sich.
Bis zu diesem Moment war ihr Kontakt auf die königlichen Familien der beiden Clans und einige wenige ausgewählte Ghitains beschränkt gewesen, während strenge Sitten alle anderen Angehörigen des Volkes dazu zwangen, sie zu ignorieren. So seltsam dieses Konzept klang, es hatte erstaunlich gut funktioniert.
Nach der förmlichen Einführung durch den König der Könige durften nun alle sie anschauen.
«Willkommen, Raghi der Schatten, Violet, die Raghi auch Nana nennt, und Mallika», antwortete die Menge geschlossen.
Obwohl Raghi sich in der Zeit, die er nun schon mit ihnen reiste, an die manchmal seltsamen Verhaltensweisen und die Magie der Ghitains gewöhnt hatte, klang diese Begrüßung geradezu unheimlich. Ein kurzer Blick ins Gesicht seiner Nana zeigte ihm, dass sie das Gleiche empfand.
Parth verstärkte seinen Griff um Raghis Schulter. Natürlich spürte er, dass Raghi fliehen wollte. Der charismatische Mann, der um die fünfzig war, schien ihn bis auf den Grund seiner befleckten Seele zu durchschauen. Er musste schon viele Versager wie Raghi getroffen haben — Menschen, ob jung oder alt, die für die Aufgabe, die sie zu erfüllen hatten, nicht geeignet waren und kurz davorstanden, kläglich zu scheitern.
«Lasst mich euch Raghis Geschichte erzählen. Ich werde es für ihn tun, denn ich kann entscheiden, welche Informationen für unsere Clans relevant sind. Wenn ihr mehr wissen wollt, könnt ihr ihn später fragen.»
Der König von König hielt inne, um seine Worte wirken zu lassen — oder um Spannung zu erzeugen.
«Manche Geheimnisse versteckt man am besten vor aller Augen», hatte er vor dem Treffen gesagt, als sie Raghis Situation diskutiert hatten. «Wenn wir den Verräter in unseren Reihen dazu verführen können, das in der Versammlung auferlegte Siegel der Verschwiegenheit zu brechen, wird unsere Magie uns sofort zeigen, wer er oder sie ist.»
Damit machte er Raghi zum Köder.
Was kein Problem darstellte. Normalerweise brachte sich Raghi selbst in derart gefährliche Situationen.
Wenn ihre Strategie jedoch funktionierte, rief das einen zweiten Feind auf den Plan, und zwar ein tödliches Ungeheuer. Raghi musste es irgendwie in seine Schranken weisen. Leider hatte er keine Ahnung wie.
«Wie bereits erwähnt, wurde Raghi in einer fernen Zukunft geboren. Kaea, die Königin des Clans der Seher, und ich haben versucht, die Zeitspanne zu schätzen, indem wir uns das Uhrwerk des Multiversums angesehen haben. Soweit wir das beurteilen können, ist Raghi mindestens zwanzigtausend Jahre gereist, um heute Abend hier bei uns zu sein.»
Das sorgte für ein erstauntes Keuchen unter den Anwesenden.
Auch Raghi konnte die Zahl noch immer nicht fassen.
«In all diesen Jahren hat sich das Multiversum stark verändert, sodass uns diese Zukunft in vielerlei Hinsicht fremd erscheinen würde, wenn wir dorthin reisen könnten. Anderes wiederum blieb erstaunlich gleich. Raghi wurde königlichen Eltern auf einer Insel im ewigen Winter geboren. Sie sahen etwas in ihm, das sie verängstigte, weshalb sie immer wieder versuchten, ihn zu töten — ihr leibliches Kind. Als nichts zu funktionieren schien, verkauften sie Raghi an den Meister der Mördergilde von Eterna.»
Das Publikum zischte — was bei den Ghitains dem Ausdruck tiefster Missbilligung entsprach.
Das Geräusch aus so vielen Mündern zu hören ließ Raghi frösteln.
«Ja, die Mördergilde existiert auch in jener fernen Zukunft. Raghi zählte sieben Jahre, als er verkauft wurde. Seine Ausbildung war nicht einfach. Seine angeborene Widerspenstigkeit führte dazu, dass er immer wieder heftig mit dem Zunftmeister aneinandergeriet. Ihr Streit wurde so schlimm, dass der Meister ihm nicht erlaubte, seine Ausbildung zu beenden.»
Um ein Haar hätte Raghi geschnaubt. Mit einem einzigen Satz beschönigte Parth grausame Qualen, Strafen und Erfahrungen, die Raghi mit keinem anderen lebenden Menschen teilte.
«Ihr Kampf dauerte an, bis Raghi fast zweiundzwanzig war. Nach ihrer letzten Konfrontation versteckte er sich. Jemand, der es gut mit ihm meinte, spürte ihn auf und brachte ihm zwei Nachrichten. Erstens: Der Meister hatte die grausamsten Mörder seiner Zeit auf ihn angesetzt. Zweitens: Violet, seine geliebte Amme, lag nach schweren Misshandlungen durch seine Eltern fern von ihm in der alten Heimat im Sterben.»
Violet fand sich im Mittelpunkt von etwa dreihundert besorgten Blicken. Sie versuchte, unbeeindruckt zu wirken, aber Raghi sah, wie sie schluckte.
«Raghi floh über die Treppen der Ewigkeit. Weil er eine Locke von Violets Haar in einem Medaillon bei sich trug, reiste sie mit ihm in die Vergangenheit. So konnte er sie befreien — tot oder lebendig.»
Parth gab seinen Worten die Zeit zu wirken.
«Raghi fand sich im südwestlichen Grasland unserer Zeit wieder, mit einer fast toten Violet an seiner Seite, die seine kleine Schwester in den Armen hielt. Raghis Eltern hatten das unschuldige Kind zur Zielscheibe ihres Hasses gemacht — so wie Raghi zwei Jahrzehnte zuvor. Als Violet versuchte, die Kleine wie einst ihn zu beschützen, überließen sie beide in den Kerkern dem Tod.»
Dieses Mal war das Zischen noch viel lauter. Ghitains pflegten enge Familienbande und begegneten ihrer Umwelt mit liebevoller Achtsamkeit. Eltern erzogen ihre Kinder, indem sie ihnen ein Vorbild waren, und nicht durch Belehrung.
Parth wartete, bis sich die Aufregung legte. «Glücklicherweise zeigten sich die Treppen freundlich. Raghi und seine Gefährten fanden sich mitten im Lager von Königin Kaea wieder. Der Clan der Seher nahm sie auf und Chandana, dessen Heilerin, pflegte Violet und Mallika gesund.»
Ein zustimmendes Murmeln ging durch die Menge.
«Raghi und seine kleine Familie haben viel gelitten und ich wünschte, wir könnten ihnen einen sicheren Ort zum Leben bieten. Leider nimmt die Dunkelheit im Multiversum stetig zu und erst vor wenigen Tagen erfuhr Kaea die dunkelste aller Geschichten vom Bürgermeister von Aeriels Quellen, einem Dorf, das weit und breit für die wohltuende Kraft seines Thermalwassers und die Fähigkeiten seiner Heiler bekannt ist. Gleich werde ich euch diese Geschichte erzählen und euren Seelenweg unwiderruflich verändern. Diejenigen von euch, die nicht wollen, dass ihr Schicksal neu ausgerichtet wird, stehen jetzt auf!»
Die Ghitains reagierten mit stoischer Akzeptanz. Raghi hatte zumindest einige Ausrufe der Überraschung oder Anzeichen von Zögern erwartet. Nur eine junge rothaarige Frau erhob sich. Ihr Gesicht zeigte Spuren von Trauer und Erschöpfung.
Nach einer schnellen, nervösen Verbeugung sprach sie: «Mein König, bevor ich mich entscheide, erlaube mir eine Frage. Mein Name ist Meera. Ich bin die Goldschmiedin des Clans der Seher und habe drei kleine Kinder und einen von Brandnarben gezeichneten Ehemann.»
Parth richtete seine volle Aufmerksamkeit auf sie. «Stell deine Frage, Meera, Goldschmiedin vom Clan der Seher.»
«Wenn ich meinen Schmuck herstelle, singt mein Ghitainblut und ich fühle mich mit allem verbunden, was uns umgibt. Aber wenn der Augenblick der Schöpfung vorbei ist, bin ich nur noch ich selbst — eine schwache Frau, die an Dingen scheitert, die alle anderen mit Leichtigkeit bewältigen. Nicht einmal meinen Vardo kann ich fahren, ohne gefährlich im Sumpf stecken zu bleiben, wie es mir erst vor wenigen Tagen geschah. Ich fühle mich durch und durch als eine Ghitain und will meinen Seelenweg erfüllen, aber gibt es wirklich etwas, das ich zu diesem Kampf beitragen kann, oder bin ich nur eine Gefahr für alle anderen?»
Parth nickte ernst. «Das ist eine wichtige Frage und wir alle sollten uns die Antwort vergegenwärtigen. Unser Volk hat sich vor langer Zeit entschieden, im Licht zu wandeln und es zu bewahren. Und wenn wir in unserem Kampf gegen die Dunkelheit sterben, dann erachten wir unseren Seelenweg — unser Dharma — als erfüllt.»
«Unser Dharma erfüllt sich in der Bewahrung des Lichts», bestätigten die Ghitains vielstimmig.
«In normalen Zeiten geschieht dies über kleine Dinge. Die Freude eines Kindes, wenn seine Eltern ihm ein von uns gefertigtes Spielzeug schenken. Oder die Verzauberung der sesshaften Menschen, wenn sie ein Ghitainfest besuchen und zu unserer Musik tanzen. Angenehme Momente, die schöne Erinnerungen bilden. Positive Erlebnisse für den einzelnen Menschen, doch scheinbar ohne Konsequenz für das Multiversum.»
«Jede Flamme trägt zum Licht bei. Jeder Funke besiegt die Dunkelheit.»
Raghi staunte. Die ritualisierten Antworten der Anwesenden kamen ohne ein Zögern und niemand schien sich zu verplappern. Wenn die Ghitains wie zu Beginn der Versammlung Parths letzten Satz wiederholten, schien das nicht außergewöhnlich. Bei den letzten beiden Antworten hatte es sich jedoch eher um ergänzende Aussagen gehandelt. Wie wussten sie, wann sie etwas erwidern mussten? Und welche Antwort angemessen war?
Ein Rätsel mehr. Und eins, das durch seine bevorstehende Flucht wahrscheinlich ungelöst blieb.
«Leider haben wir keine normalen Zeiten mehr. Dieses Mal ist alles anders. Uns erwartet nichts weniger als der Kampf um die Zukunft des Multiversums, die Entscheidung, wer triumphiert — das Licht oder die Dunkelheit.»
Parth ließ diese Worte wirken.
Niemand widersprach ihm oder hinterfragte seine Aussage. Das Rascheln von Kleidung blieb die einzige Reaktion. Ob diese von Überraschung oder Sorge geprägt war, konnte Raghi nicht bestimmen.
«Und somit kommen wir zur Antwort auf deine Frage, Meera, Goldschmiedin vom Clan der Seher. Als Ghitain trägst du jeden Tag deinen Teil zur Bewahrung des Lichts bei. Der kleinste Funke kann den Kampf entscheiden. Ein Lächeln zur richtigen Zeit und am richtigen Ort. Eine Geste der liebevollen Achtsamkeit. Wir können nicht mehr tun, als unser Bestes zu geben. Die Geschichte wird nachträglich aufzeigen, wo der Kampf gewonnen oder verloren wurde.»
Meera nickte und setzte sich.
Also weiter im Text. Raghi konnte nur hoffen, dass Parth die Erzählung nicht in endlose Längen ausdehnte. Ihm war inzwischen halb schlecht, weil er sich im Fokus der Aufmerksamkeit befand.
Für einmal half auch Mallikas Anwesenheit nicht. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte Raghi sich an den kleinen Wurm gewöhnt. War er gnadenlos ehrlich mit sich, liebte er seine kleine Schwester gar. In dieser Nacht erschien sie ihm jedoch wie ein totes Gewicht, das unangenehm an seinen Armen riss.
Violet schien sein Unbehagen zu fühlen. Sanft legte sich ihre Hand auf Raghis unteren Rücken. Die Berührung gab ihm neue Kraft.
Parth bemerkte die Geste. Er nickte ihnen zu. «Ich danke euch, dass ihr meinem Volk erlaubt habt, euch wahrzunehmen, und insbesondere dir, Violet, obwohl du noch nicht wieder vollständig bei Kräften bist. Bitte setzt euch jetzt wieder auf eure Plätze.»
Raghi gehorchte erleichtert. Violets Gesicht war während der letzten Minuten deutlich blasser geworden. Er setzte Mallika auf eine Hüfte und stützte seine Nana sanft, während sie sich den Weg durch die Sitzenden suchten.
Erst als sie ihre Plätze wieder eingenommen hatten, fuhr Parth mit seiner Rede fort. «Somit kommen wir zur dunkelsten aller Geschichten, die Kaea von Sander, dem Bürgermeister von Aeriels Quellen, erfuhr. Er stammt aus dem fernen Westen, einer ungezähmten Gegend mit mächtigen Bergen, wo ein Unsterblicher namens Lyrrhodenai über ein dunkles Reich herrscht und Schrecken verbreitet.»
«Bleibt Unrecht zu lange bestehen, erlangt es seine eigene Form von Wahrheit», erwiderten die Ghitains.
Unvermittelt schritt Parth, der sich bislang gemächlich an Ort und Stelle gedreht hatte, den Kreis gegen den Uhrzeigersinn ab, seine Haltung angespannt wie ein sprungbereiter Panther. Seine Augen schienen zu glühen.
«Merkt euch diesen Namen — Lyrrhodenai — und verwendet ihn, wenn ihr von der drohenden Gefahr sprecht. Gebt Lyrrhodenai keine Macht über euch, indem ihr ihn als unseren Feind oder den Reisenden bezeichnet. Einst war er ein Mann. Dann wurde er ein mächtiger Unsterblicher. Dies ist ein Abbild seines Lebensstrangs.»
Parth machte eine wütende Geste, fast als würde er etwas Widerliches zu Boden schleudern.
Die Ghitains zischten. Dieses Mal glich die Welle der Missbilligung einem Sturm.
Mehrere Hundert Augenpaare musterten das Geschwür, das vor Parth erschienen war.
Konnte das sein?
Raghi schaute bestürzt zu Palash an seiner Seite. Der Geist hatte die Brauen zusammengezogen und nagte an seiner Unterlippe. Raghis fragenden Blick bemerkte er nicht.
«Längst nicht alle von uns haben schon einen Lebensstrang gesehen. Königin Kaeas Handwerk ist furchteinflößend. Wer möchte schon den Zeitpunkt seines eigenen Todes oder den seiner Liebsten kennen? Deshalb lasst mich euch erklären, was ihr vor euch seht.»
Parth machte eine nachlässige Handbewegung. Plötzlich standen acht Parths in der Mitte des Versammlungsrunds. Sie bildeten einen Kreis, den Rücken dem Zentrum zugewandt, jeder mit einem Abbild des Lebensstrangs vor sich, und alle bewegten sich simultan.
Parth langte in das verknotete Gebilde hinein und zog ein Ende heraus. «Dieser braune Teil hier stellt Lyrrhodenais Geburt als Sterblicher dar.»
Er hielt es hoch, sodass es für einen kurzen Moment zu sehen war. Dann arrangierte sich der Rest der Masse wieder darum herum und verschluckte es.
«Normalerweise würde der Lebensstrang gerade verlaufen und irgendwann enden. Jenes andere Ende repräsentiert den Tod.»
Parth wartete kurz, ob jemand Fragen hatte. Das schien nicht der Fall. «Bei der Ansicht, die ihr vor euch seht, entsprechen hundert Jahre einer Handspanne. Hätte Lyrrhodenai ein besonders langes Leben gelebt und wäre in sehr hohem menschlichem Alter gestorben, würde sein Lebensstrang die Länge eines Regenwurms haben. Hier jedoch geschah etwas anderes.»
Ein Regenwurm entsprach einhundert Jahren? Raghi konnte es kaum glauben. Wenn man dieses Gewirr auflöste, wie vielen Regenwürmern entsprach die Länge des Lebensstrangs dann? Eintausend? Einhunderttausend?
«Ihr alle versucht zu fassen, was ihr vor euch seht. Dabei fehlt euch jedoch eine wichtige Information. Lyrrhodenai reiste mehrmals über die Treppen der Ewigkeit. Sobald er seine eigene Zeitebene verließ, alterte er nicht mehr. Deshalb entspricht der braune, sterbliche Teil mehreren Schrittlängen und deshalb ist das Gebilde derart verknotet. Lasst es uns am Lauf der Zeit ausrichten, damit wir es verstehen können.»
Parth arrangierte den Lebensstrang vor sich und zeigte auf einen bestimmten Teil, der sich auf der Höhe seines Gesichts befand. «Dieses silberne Ende repräsentiert die Gegenwart — unser Hier und Jetzt. Auf meine Anweisung hin hat Kaea nicht ins Morgen geschaut, denn wir Menschen — selbst wir Ghitains mit unserer Lebensphilosophie der liebevollen Achtsamkeit — neigen dazu, die Zukunft aus unseren Ängsten zu formen.»
Parth zeigte nach oben, wo das braune Ende aus der Masse ragte. «Dort seht ihr Lyrrhodenais Geburt. Ihr Zeitpunkt ist bis auf einige wenige Jahre identisch mit Raghis und liegt etwa zwanzigtausend Jahre in der Zukunft.»
Raghis Magen verabschiedete sich ins Bodenlose. Wie war so etwas möglich?
Falls Kaea und Parth bei den Berechnungen kein Fehler unterlaufen war, stammte Lyrrhodenai aus der gleichen Zeit wie er. Von diesem Ausgangspunkt aus hatte er sich in allen Epochen herumgetrieben, sowohl in der Zukunft von Raghis Eterna als auch in der grauen Vorzeit, als die Treppen der Ewigkeit noch gar nicht existierten.
Im Verlauf der Jahrtausende musste er unermessliches Wissen gesammelt und die Macht eines Gottes erlangt haben.
Wie sollte Raghi — der dümmste und ungeeignetste Lehrling aller Zeiten — so jemanden in seine Schranken weisen? Der Meister hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihm seine Minderwertigkeit mit Worten und Taten aufzuzeigen.
Düstere Aussichten für das Multiversum.
Raghis Ängste absorbierten ihn so stark, dass er um ein Haar Parths weitere Erklärungen verpasst hätte.
«Wie erwähnt, erlangte Lyrrhodenai irgendwann die Unsterblichkeit. Es war kein gradueller Prozess. Hier wechselt die Farbe seines Lebensstrangs von braun zu silbern.»
Parth nahm das Stück mit beiden Händen. Jener Abschnitt erschien plötzlich so dick wie ein Seil und alle sahen die scharfe Trennung zwischen den beiden Farben.
«Die Sagen erzählen uns, dass Lyrrhodenai mit seinem Schicksal unzufrieden war. Seht all die Scharten und Dellen sowohl im sterblichen wie auch im unsterblichen Teil. Jede davon entspricht einem Versuch Lyrrhodenais, sein Leben zu beenden.»
Raghi schluckte leer. Die Beschädigungen des Lebensstrangs ließen sich nicht zählen. Manche Abschnitte wirkten völlig zerfetzt.
Er teilte Lyrrhodenais Schicksal und war durch seinen Leichtsinn nun ebenfalls unsterblich.
War das die Zukunft, die ihn erwartete? Selbstzerstörerischer Wahnsinn?
Parth und seine Kopien ließen den unförmigen Lebensstrang — oder eher Lebensknoten — mit einer angewiderten Geste verschwinden. Danach verblassten Parths Abbilder und er nahm die ursprüngliche Art und Weise der Präsentation wieder auf, bei der er sich langsam gegen den Uhrzeigersinn drehte.
«Als alle Mittel zu sterben versagten, versklavte Lyrrhodenai einen Drachen — ein weibliches Tier namens Najira — und verlangte von ihr, dass sie ihn töte. Als Najira sich weigerte, quälte er sie.»
Wieder das Zischen der Ghitains. Dem Klang nach hatten die Anwesenden den Schritt von tiefer Missbilligung zu Wut vollzogen. Offenbar empfanden sie Lyrrhodenais Handlungen als Sakrileg.
Parth wiederum klang tieftraurig. «Nach einer endlosen Zeit der Qual gelang es Najira zu fliehen und sie suchte Schutz bei Kaeas Sohn Naveen, dem Prinzen des Clans der Seher. Wie ihr alle wisst, ist er nicht nur der Hüter der magischen Kreaturen, sondern auch mein zukünftiger Schwiegersohn und somit mein Nachfolger als König der Könige.»
Hier bog Parth die Wahrheit zurecht. Najira hatte Raghis schwarze Seele in ihrer Dunkelheit entdeckt und war zu ihm geflohen. Dabei hatte sie sich als Stinkdrache getarnt. Diese hässlichen kleinen Biester mit ihren krummen Körpern waren meist schlecht drauf und wichen kaum vom Herdfeuer in Naveens Vardo.
Raghi war irgendwann darauf aufmerksam geworden, dass es einem der Tiere schlecht ging. Eins führte zum anderen und am Ende legte er sich den kleinen Drachen wie eine Kette um den Hals, um ihm von seiner Wärme abzugeben. Seither verließ Najira dieses Versteck nur, wenn jemand sie dazu zwang.
Aus irgendeinem Grund konnte Lyrrhodenai sie nicht orten, wenn sie bei Raghi war, nicht einmal, wenn Raghi und er sich wie vor wenigen Nächten im Ghitainlager direkt gegenüberstanden und nur eine dünne Schicht Kleidung Najiras Gestalt vor den Augen ihres Peinigers verbarg.
Raghi schnaubte. Das hatte er nun von seiner Freundlichkeit.
Seine Verärgerung hielt ihn nicht davon ab, genau zu beobachten, wie die Anwesenden auf Parths Eröffnung reagierten.
Naveen und seine Mutter hatten Feinde unter den anwesenden Ghitains. Jemand, vielleicht auch eine Gruppe, schien bestrebt, ihnen das größtmögliche Leid anzutun.
Vor nicht allzu langer Zeit hatten der oder die Verschwörer Palash getötet, der nun als Geist neben Raghi saß. Er war Kaeas Bruder und Naveens Onkel und hatte immer unverrückbar zu den beiden gehalten — auch in den schlimmsten Zeiten, als Mutter und Sohn aufgrund ihrer Armut unter den Vardos anderer Ghitains schlafen mussten.
Der Mordanschlag auf Naveen und Anjali während ihrer Verlobungsfeier im vergangenen Winter schlug glücklicherweise fehl. Die Ghitains hatten dieses Ereignis lange für einen Unfall gehalten. Erst vor wenigen Stunden hatte Raghi sie aufgrund der Beweise eines Besseren belehrt.
Keine Tat, auf die er stolz war. Gerne hätte er den Familien dieses neue Leid erspart.
Weil die Zuhörenden im Kreis saßen, konnte Raghi die Reaktion auf Parths Worte bei den meisten problemlos beobachten. Die Entscheidung des Königs der Könige bezüglich seiner Nachfolge schien, gelinde gesagt, umstritten.
Die Ghitains vom Clan der Seher zeigten mehrheitlich Bedauern und Besorgnis. Naveen war Königin Kaeas einziges Kind. Raghi als Außenstehender konnte nicht einschätzen, wer ihre Nachfolge antrat, wenn der Prinz nicht mehr zur Verfügung stand.
Der Clan der Lichtträger wiederum wirkte wenig begeistert, dass Parths Wahl auf Naveen gefallen war. Offenbar hätten sie einen anderen Nachfolger bevorzugt.
Alles normale menschliche Reaktionen, die sich in einem akzeptablen Rahmen bewegten. Veränderungen waren nie leicht.
Raghi entdeckte keinen Hass und keine offene Feindseligkeit, nicht einmal bei jenen Ghitains, die er sich aufgrund früherer Beobachtungen speziell gemerkt hatte.
Als niemand seine Worte kommentierte, fuhr Parth fort. «Im Moment schützt unsere Magie Najira vor ihrem Verfolger, aber das wird nicht für immer funktionieren. Währenddessen treibt Lyrrhodenai die Ausbreitung der Dunkelheit im Multiversum voran. Als Ghitains haben wir uns der Bewahrung des Lichts verschrieben und werden ihn zur Rechenschaft ziehen, auch wenn dieser Krieg uns alles abverlangt.»
«Wir sind die Bewahrer des Lichts und werden Lyrrhodenai bis zu unserem letzten Atemzug bekämpfen», erwiderten die Ghitains einstimmig.
«Wir werden die nächsten Tage nutzen, um uns zu beraten. Danach reisen wir weiter nach Eterna. Alle nötigen magischen Sicherheitsmaßnahmen sind eingerichtet. Bitte beachtet sie akribisch. Ich danke für eure Aufmerksamkeit.»
Damit schloss Parth die Versammlung.
Später in der Nacht saßen Raghi und Violet Seite an Seite auf einem kleinen Hügel, von wo aus sie die beiden kreisrunden Wagenburgen der Ghitains überblicken konnten.
Am Himmel leuchteten zwei Mondscheiben. Sie und eine Unzahl Sterne tauchten die Landschaft in ein silbern-bläuliches Licht. Die Frühlingsluft war kalt, die Morgendämmerung nicht mehr fern.
Violet zog ihr Schultertuch enger um sich. Trotz des Aufstiegs, bei dem Raghi ihr geholfen hatte, wirkte sie nicht erschöpft. Offenbar ging es ihr tatsächlich besser.
«War das eine seltsame Versammlung», sagte sie nachdenklich. «Bist du dir sicher, dass wir hier sein dürfen?»
Raghi nickte. «Parths Bruder Arjun hat den Schutz des Lagers extra für uns ausgedehnt. Nachdem du mir offenbar etwas so Schlimmes beichten musst, wollte ich aus den Menschen raus. Du weißt ja. Meinen Reaktionen kann man nicht trauen.»
Sein Trotz kam nicht gut an. Ein eisiger Flammenstoß traf seinen Rücken, gefolgt von einem dumpfen Grollen. Desert Rose klang gereizt. Der Drachenschwanz der Chimäre peitschte neben Raghi auf den Boden.
Violet schaute besorgt über die Schulter. «Sie ist fuchsteufelswild.»
Raghi seufzte. «Ja, seit Najira Anjali geheilt hat. Desert Rose versuchte es zuerst, aber ihr Drachenfeuer besitzt kaum heilende Kraft. Daraufhin hat Najira ihre Energie durch mich und Rose hindurch zu Anjali geleitet. Ich empfand das als sehr invasiv. Najira hat ungefragt all meine Narben und alten Verletzungen geheilt. Was die Missy bei Rose angerichtet hat, muss ich noch herausfinden. Falls sie mich jemals wieder an sich heranlässt.» Er hasste die in seiner Stimme mitschwingende Verdrossenheit.
Violet rückte ein wenig weg von ihm und wandte sich zu der Chimäre um. «Können wir irgendetwas für dich tun, damit es dir besser geht?», fragte sie und streckte lockend die Hand aus.
Ihre Frage ließ ein warmes Glühen in Raghis Herz entstehen. «Du fürchtest dich nicht vor ihr?» Bisher hatte Violet noch nie so direkt mit der Chimäre interagiert.
Rose schmiegte ihren Adlerkopf in Violets Hand, während der Drachenkopf Ausschau nach Gefahren hielt. Als Violet ihr sachte das Gefieder kraulte, verengte sie genießerisch die Augen.
«Vielleicht ein wenig. Sie ist ein mächtiges, Ehrfurcht gebietendes Tier. Gleichzeitig gehört sie zu dir und kann somit nur gut sein.»
Raghi schnaubte verächtlich. «Vergiss endlich deine Illusionen über mich. Ich bin …»
Violets freie Hand legte sich über seinen Mund und stoppte den bitteren Wortschwall. «Shh, Raghi. Dies heute Nacht ist mein Auftritt, nicht deiner.»
Desert Rose schien der gleichen Meinung zu sein, denn ihr Drachenkopf spuckte eine weitere Salve eisiges Feuer auf Raghi.
Igitt! Wenn sie die Flammen noch kälter machte, fühlten sie sich ebenso eklig an wie ein Bad in der Energie von Geistern.
Er schob Violets Hand weg. «Jetzt sprich schon, sonst verwandelt sie mich in einen Eisblock.»
Wieso konnte er sich nicht normal und mit Würde benehmen?
Die Antwort war klar. Er fürchtete sich vor dem, was Violet ihm zu erzählen beabsichtigte. Dass sie ihm das letzte bisschen Vertrauen entriss, das ihm in seiner grausamen Existenz geblieben war — sein Vertrauen in sie, seine geliebte Nana. Seinen Glauben an ihre Güte.
«Rose, ich muss Raghi etwas sehr Schwieriges berichten. Dafür muss ich dich jetzt leider loslassen.»
Die Chimäre brummte. Violet nahm Raghis Hände.
«Was kommt jetzt?», versuchte er zu scherzen. «Eine Liebeserklärung? Pass nur auf, ich mag ältere Frauen — und Männer. Ich …»
«Raghi, bitte», sagte Violet ohne jeden Vorwurf. «Du machst es mir durch dieses Verhalten nicht leichter.»
Das war auch nicht seine Absicht. Zu viel war geschehen in letzter Zeit. Er hing an seinen wenigen verbliebenen Illusionen.
Violets Daumen streichelten sanft seine Handflächen, während ihre lavendelfarbenen Augen tief in seine schauten. «Ich liebe dich tatsächlich, Raghi, und ich hoffe, dass du das weißt. Für mich bist du mein Sohn. Diese Mutterliebe kam jedoch nicht automatisch.»
Mit einem sinkenden Gefühl im Magen realisierte Raghi, dass er seine Nana noch nie nach ihrer familiären Situation gefragt hatte. Gab es leibliche Kinder? Eine Familie, der er sie entrissen hatte und die nun in der Zukunft um sie trauerte?
Als Kind war seine Selbstverliebtheit entschuldbar gewesen, aber nun als Erwachsener?
Violet spürte seine wachsende Panik und hielt seine Hände fester. «Shh, Raghi. Hör mir einfach zu. Bis zum Ende. Versprichst du mir das?»
Er presste die Lippen zusammen und nickte. Das sollte er hinbekommen, oder?
«Du hast mich nie nach meiner Herkunft gefragt. Ich stamme aus den Wolkenstädten in Eternas Norden, so wie deine Mutter. Wir sind miteinander verwandt. Wie genau ist aufgrund der chaotischen Familienverhältnisse schwierig zu erklären und hilft meiner Geschichte nicht weiter. Deshalb nur das Relevante: Ihr Familienzweig ist reich und mächtig, meiner war arm. Ich sage war, weil es inzwischen niemanden mehr gibt. Ich bin die Letzte.»
Raghi schluckte leer, während sich Kälte in seiner Brust ausbreitete. Violet war mit seiner herzlosen Mutter verwandt? Er wollte die Hände aus ihrem Griff lösen.
«Shh, Kind. Bitte hör mir weiter zu. Wie du sicher weißt, erheben sich die Wolkenstädte an der Nordküste des Kontinents hoch über dem Weltenmeer. Die Eisinseln sind ein wichtiger Handelspartner für sie. Als der König der Eisinseln die Wolkenstädte zwecks Brautschau besuchte, erhielt er deshalb Einlass in die besten Familien. Sein Auge fiel auf mich. Sein Geschäftssinn riet ihm aufgrund der damit verbundenen strategischen Allianz zur Wahl deiner Mutter.» Violets Tonfall war während der letzten Sätze bitter geworden.
Raghi ahnte, wie die Geschichte weiterging. Es gab etablierte Wege, wie ein mächtiger Mann solche Probleme löste. Die allgemeine Akzeptanz dieser Lösungen machte sie nicht weniger verwerflich.
«Er verhandelte um uns beide und bekam uns beide. Malena — deine Mutter — sollte ihn heiraten und ich wurde dazu auserwählt, sie als Zofe zu begleiten. Malena war damals dreiundzwanzig Jahre alt, ich gerade mal fünfzehn. Unter normalen Umständen, wenn Geld und Macht mit Schönheit zusammenfallen, zeigt sich die Altersstruktur derartiger Arrangements genau umgekehrt mit einer jungen Braut und einer älteren Zofe.» Violet schluckte schwer. «Als wir die Eisinseln schließlich erreichten, waren deine Mutter und ich beide vom König schwanger. In meinem Fall nicht einvernehmlich. Ich fand deinen Vater vom ersten Treffen an abstoßend und daran hat sich nie etwas geändert.»
Raghi hatte bislang nur widerwillig zugehört. Nun flutete tiefes Mitgefühl seine Brust. «Oh, Nana, es tut mir so leid, dass du das erleben musstest. Wie bist du damit umgegangen?»
Sie starrte gedankenverloren ins Leere. «Nur schwer. Allein wäre ich wahrscheinlich verzweifelt. Eines Abends jedoch, nachdem der König mein Gemach verlassen hatte und ich weinte, klopfte es plötzlich leise und der ältere Krieger, der immer vor meiner Tür Wache stand, kam rein, stellte mir ein Tablett mit Tee und Kuchen hin und setzte sich in meine Nähe. Ich fürchtete mich vor ihm. Er zeigte stumm auf das Tablett. Irgendwann gab ich auf und aß trotz meiner Angst. Als mein Teller leer war, begann er zu sprechen.»
Violet lächelte plötzlich und Wärme erfüllte ihre Miene. «Ich kann dir irgendwann einmal von ihm erzählen, Raghi. Er war ein guter Mann. Er und seine Frau wurden meine ersten Freunde auf den Eisinseln. Sie gaben mir Tipps und trugen mir vertrauliche Informationen über den König zu. Die Besuche des Mistkerls wurden dadurch erträglicher und nach und nach verdarb ich ihm meine Gegenwart. Fünf Monate nach meiner Ankunft auf den Eisinseln hatte ich meine Ruhe.»
Raghi konnte es kaum glauben. Sein Vater war der typische feige Sadist, der kuschte, sobald jemand stärker oder mächtiger war als er, und Schwächere oder Unterlegene dafür umso gnadenloser quälte. Wie hatte sich ein wehrloses fünfzehnjähriges Mädchen gegen ihn behauptet?
Bevor er fragen konnte, fuhr Violet fort. «Malena und ich bekamen fast gleichzeitig Wehen. Bei mir schritten sie rasch fort und die Geburt verlief problemlos. Das Kind war ein Mädchen, winzig klein und schwach. Es lebte nur wenige Stunden. Und selbst nach all den Jahren weiß ich immer noch nicht, was ich fühlen soll. Jedes Kind wird unschuldig geboren. Wäre ich stark genug gewesen, dieses kleine Wesen zu lieben und die Umstände seiner Zeugung zu vergessen? Keine Ahnung.»
Violet seufzte schwer. «Lange fragte ich mich auch, ob ich das Kind unbewusst getötet hatte. Ob es durch meine negativen Gedanken in meinem Leib nicht gewachsen war. Sicher werde ich es nie wissen, doch Malenas spätere Schwangerschaften deuten eher darauf hin, dass etwas mit dem Blut der Könige der Eisinseln nicht in Ordnung ist. Von den vielen Kindern zwischen deiner Geburt und Mallikas hat nur ein weiteres Mädchen überlebt — Ina. Erinnerst du dich an sie? Sie kam drei Jahre nach dir zur Welt und war immer krank.»
«So halb», bestätigte Raghi und schluckte leer. «Wie viele sind gestorben? Jedes Jahr eins?»
«Oder bei frühen Fehlgeburten zwei.»
Was sollte er mit dieser Information anfangen? Und dem Mitleid, das er fühlte? Ausgerechnet für seine Mutter, die sich nie für Raghi eingesetzt hatte, wenn sein Vater ihn misshandelte.
Während er nachdachte und überwiegend schlechte Erinnerungen sein Bewusstsein fluteten, regten sich Zweifel in ihm, dass Violets Erklärung zutraf. «Wieso gab es dann meine älteren Brüder und Schwestern aus den früheren Ehen meines Vaters?»
Violet nickte ernst. «Darauf habe ich später in meiner Geschichte vielleicht eine Antwort, auch wenn ich sie nicht verstehe. Lass mich weitererzählen. Deine Geburt verlief problemlos. Ein, zwei Tage lang schien alles in Ordnung. Malena benahm sich für ihre Verhältnisse ganz in Ordnung. Sie interessierte sich für dich und rieb mir mein Versagen, ein gesundes Kind für den König zu produzieren, nicht unter die Nase. Dann plötzlich, mitten in der Nacht, gab es ein großes Geschrei und am Morgen riss mich der König aus dem Schlaf, während zwei Diener eine Wiege neben mein Bett stellten. ‹Kümmere dich um ihn!›, befahl er. ‹Wenn er stirbt, stirbst auch du.› Und damit ließen sich mich allein.»
«Einfach so?», fragte Raghi kleinlaut. Wie hatte er es, kaum auf der Welt, geschafft, seine Eltern gegen sich aufzubringen? Klar war er inzwischen stolz auf seinen Widerspruchsgeist, auch wenn er sich damit das Leben erschwerte. Nur hatte er ihn immer für einen Verteidigungsmechanismus, keine angeborene Eigenschaft, gehalten.
«Nicht ganz, wie ich herausfand, als ich mich neben deine Wiege stellte und auf dich hinabstarrte. Ich möchte ganz ehrlich mit dir sein, Raghi. In jenem Moment gab es deine Nana noch nicht. Ich war nur eine verletzte junge Frau, die mit den Nachwirkungen der Geburt ihres eigenen Kindes kämpfte. In jenem Moment fühlte ich keinerlei Mutterinstinkt. Dein Anblick stand für alles, was ich an meiner Situation hasste, und so hasste ich auch dich.»
Es fiel Raghi schwer, Violets Unverblümtheit nicht persönlich zu nehmen. Hatte er es nicht verdient, dass wenigstens ein Mensch ihn vom ersten Augenblick an liebte? Was das zu viel verlangt?
«Was geschah dann?», fragte er matt, als Violet schwieg.
«Du hast die Augen geöffnet und zurückgestarrt. Und während wir uns anstarrten, wechselten deine Augen die Farbe von Braun zu Purpur und wieder zurück.»
Hatte er Violet richtig verstanden? «Meine Augen wechselten die Farbe? Du meinst so?»
Vor wenigen Nächten erst hatte Raghi die Essenz des Multiversums getrunken — mit der Absicht zu sterben und dabei einen flüchtigen Blick auf die Geheimnisse der Schöpfung zu erhaschen, der sonst keinem Sterblichen vergönnt war.
Der Plan misslang. Raghi sah nichts von den Wundern und machte sich durch seine eigene Dummheit und Waghalsigkeit unsterblich.
Als sichtbare Folge davon verwandelte sich das langweilige, nichtssagende Braun seiner Augen zu Purpur. Seither verbarg eine Illusion, ursprünglich erzeugt von Najira, die ungewöhnliche Veränderung, um die Ghitains nicht zu verunsichern. Angeblich eine einfache Form von Drachenmagie.
Raghi hatte immer noch keine Ahnung, worum es sich dabei eigentlich handelte.
Seit der vorherigen Nacht, als all die heilende Energie durch seinen Körper hindurch zu Rose und weiter zu Anjali geströmt war, konnte er den Zauber jedoch klar erkennen, nicht unähnlich einem Verband, der eine Hautstelle bedeckte.
Für Violet lüftete er diesen magischen Schleier nun. Nicht dass er gewusst hätte, was er dabei tat. Sicherheit und der Respekt vor Grenzen hatten ihn noch nie geschert. Er probierte es einfach.
Sein Experiment schien zu gelingen.
Violet sog scharf den Atem ein. «Raghi, was hast du getan?»
«Lange Geschichte», flachste er mit einem Schulterzucken, während Genugtuung durch seine Adern raste. Er hatte den Zauber ohne Najiras Hilfe aufgelöst. So dumm, wie der Meister immer behauptet hatte, war er nicht. «Erzähl erst du.»
Sie zeigte sichtlich Mühe, sich zu konzentrieren. «Wie ich später erfuhr, hatte der Farbwechsel deiner Augen deine Eltern so erschreckt, dass sie dich in meine Obhut gaben. In Verbindung mit dem Starren wirkte es unheimlich auf sie. Sie hielten dich für einen Dämon.»
«Warum haben sie mich dann nicht umgebracht?»
«Weil die Gesetze der Eisinseln Kindsmord scharf bestrafen. Sie gelten auch für den König.»
Deshalb hatte er jene ersten Tage seines Daseins überlebt? Weil die Gesetze ihn schützten?
«Sie hätten mich einfach ersticken können. Plötzlicher Kindstod kommt häufig vor. In der Gilde wurde uns das als ideale Mordmethode für Säuglinge beigeb…» Raghi verstummte. Violets Gesichtsausdruck war eindeutig. Sein Blut verwandelte sich in Eis. «Die Bastarde haben es versucht.»
«Und waren nicht erfolgreich. So kam ich ins Spiel.» Violet rieb sich das Gesicht. «Ich weiß nicht, wie lange ich an jenem Morgen von dunklen Gefühlen zerfressen an deiner Wiege stand. Irgendwann geschah etwas Unglaubliches. Zuerst nahm ich nur ein Leuchten wahr, das mein Gemach in silbernes Licht tauchte. Als ich die Ursache dafür suchte, entdeckte ich eine Lichtsäule neben mir. Ihr Strahlen verblasste und aus dem Licht materialisierte die Gestalt eines jungen Mannes.»
Violet, die immer noch Raghi zugewandt saß und seine Hände hielt, schaute über seine Schulter in die Ferne. Der Blick ihrer Augen wirkte entrückt.
Er schwieg. Seinem Widerspruchsgeist hatte es für einmal die Sprache verschlagen.
«Vergiss nicht, wie jung ich damals war. Gerade mal sechzehn Jahre alt. Er wirkte so fremd und war zugleich wunderschön. Seine Haut schimmerte weiß wie Schnee und seine Augen wechselten die Farbe wie deine. Waren sie in einem Moment purpurn, wirkten sie im nächsten grün oder zeigten alle möglichen Schattierungen von Blau. Wissen die Menschen in deiner Zeit noch, wer ich bin? hörte ich seine Stimme in meinem Geist. Ich schüttelte stumm den Kopf und fürchtete mich davor, dass all meine dummen Gedanken für ihn offenlagen. Ich fragte mich allen Ernstes, wie dieser perfekte Mann wohl nackt aussah.» Violets Wangen röteten sich, als sie Raghi dieses Detail verriet.
Raghi grinste. «Wäre mir ähnlich ergangen. Nur hätte ich wahrscheinlich an Sex gedacht.»
Die Farbe von Violets Wangen vertiefte sich. «Wer sagt dir, dass ich es nicht tat? Er schien meine Unsicherheit zu spüren. Ich bin einer der Drachenfürsten, ein Bewahrer des Multiversums, das ihr heute Universum nennt. Du hast von mir nichts zu befürchten. Und deine Gedanken sind vor mir sicher. Sie zu lesen gehört sich nicht, erklärte er mir. Ob er das sagte, um mir die Verlegenheit zu nehmen, oder ob es die Wahrheit war, weiß ich nicht. Jedenfalls entwickelte sich ein Gespräch zwischen uns. Ich sprach normal mit ihm, wie wir uns gerade unterhalten. Er verwendete Gedanken.»
«Was wollte er?», fragte Raghi, damit Violet endlich auf den Punkt kam.
«Genau das fragte ich ihn auch. Er schaute auf dich in deiner Wiege. Das ist Blut von meinem Blut, sagte er. Tausendmal verdünnt, aber nichtsdestotrotz ein Kind meines Geschlechts. Bitte kümmere dich um ihn und bring ihm bei, wie man liebt und lacht. Ich war von seiner Bitte wenig begeistert. Er ließ nicht locker. Gelingt es dir nicht, stürzt diese Welt, so wie du sie kennst, in ewige Dunkelheit.»
Raghi verzog das Gesicht. «Da konntest du natürlich nicht mehr nein sagen», spottete er.
Violet schüttelte ernst den Kopf. «Logische Argumente hätten mich nicht berührt. Er jedoch schaute mich an und berührte meinen Arm. Jedes Kind hat eine Chance verdient und du bist seine. Bitte hilf ihm! So stimmte ich schließlich zu.»
Raghi fühlte bodenlose Enttäuschung. «Dann warst du seinetwegen all die Jahre nett zu mir? Ich dachte wirklich, du liebst mich. Du bist eine verdammt gute Schauspielerin, Violet. So wie die Huren in Eternas teuersten Bordellen.»
Er wollte ihr seine Hände erneut entreißen. Sie gab ihn nicht frei, trotz des heftigen Rucks.
«Gerade zeigst du wieder den einzigen Charakterzug, der mich je an dir gestört hat. Du besitzt alle Fakten, aber statt sie zu kombinieren, ziehst du den schlimmstmöglichen Schluss, um deine Ängste zu bestätigen.»
Violets Worte löschten seine gerade erst aufgeflammte Wut wie eine eisige Dusche. Tat er das?
Uh oh, möglicherweise schon. Kaeas Ermahnungen gingen nicht selten in eine ähnliche Richtung.
«Welchen Schluss hätte ich dann ziehen sollen?»
«Dass ich meine Aufgabe zuerst aus Pflichtbewusstsein erfüllte. Und dass sich dieses Pflichtbewusstsein nur zu bald in Liebe wandelte. Du hast mir immer gesagt, dass ich deine Rettung war. Das mag stimmen. Ganz sicher warst du meine.»
Das musste eine Lüge sein. «Ich war doch nur ein fetter Versager.»
Violet beugte sich vor, um seine Stirn zu küssen, und schaute ihm in die Augen. «Das mag deine Wahrnehmung sein. Ich sah ein Kind, das sich durch nichts unterkriegen ließ und mir immer mit einem Lächeln in die Arme fiel, egal was es gerade erlebt hatte. Du warst absolut unbeugsam. Und kein einziges Mal hast du mir vorgehalten, dass ich dich nicht vor deinem Vater beschützen konnte.»
Raghi schüttelte heftig den Kopf. «Wie könnte ich das? Ich habe gesehen, was er dir antat, wenn du dich eingemischt hast.» Er schluckte schwer. «Und du hast dich wirklich in mich verliebt?», fragte er kleinlaut. Durfte er ihr das glauben?
«Ja.»
Er löste sich aus ihrem Griff. Dieses Mal ließ sie es zu, legte ihm aber eine Hand auf das Knie.
«Es erscheint mir so unwahrscheinlich, Nana. Die Ghitains haben mir Egoismus in meinem Denken vorgeworfen und sie hatten recht. Wie kannst du mich lieben, wenn ich dich nie nach deiner Herkunft gefragt habe oder deiner aktuellen Familiensituation?»
Violet schmunzelte. «Du hattest genug anderes, mit dem du dich auseinandersetzen musstest. Soll ich dir die Jahre seit deinem Fortgang zusammenfassen?»
Er nickte stumm.
«Es gibt nicht allzu viel zu erzählen. Als du weg warst, musste ich mich entscheiden, was ich tun wollte. Der König hätte mir niemals erlaubt, die Eisinseln zu verlassen. Allein war ich einigermaßen frei. Mit einem Mann und eigenen Kindern wurde ich erpressbar. So arbeitete ich weiter als Amme und konnte einer ganzen Anzahl Säuglingen das Leben retten. Für den König war das akzeptabel und ich hatte bis auf gelegentliche bissige Kommentare meine Ruhe. Dann jedoch wurde Mallika geboren und die Geschichte wiederholte sich.»
Violet seufzte tief. «Als ich erneut vor der königlichen Wiege stand, wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Es hatte mir das Herz zerrissen, dein Heranwachsen in diesem schrecklichen Umfeld zu beobachten. Ich hatte nichts dagegen tun können, dass sie dich an diesen schrecklichen Mann verkauften. Und selbst wenn das Königspaar dieses Kind nicht verkaufte, kannte ich die Schrecken, die es in seinem Zuhause erwarteten.» Sie sprach das Wort wie etwas Widerwärtiges aus.
«Du hast überlegt, die Kleine zu töten?», mutmaßte Raghi, sein Herz schwer.
«Ja. All die Male, als ich deine Wunden versorgt und dich wieder zusammengeflickt hatte, erfüllten meinen Gedanken. So zog ich meinen Dolch. Und siehe da, das silberne Licht erschien wieder. Dieses Mal spürte ich weder Staunen noch Ehrfurcht. Bevor der Drachenfürst ganz materialisiert hatte, schrie ich ihn schon an und ließ meinen über zwei Jahrzehnte lang aufgestauten Frust an ihm aus.»
«Hat es etwas gebracht?»
Violet schnaubte humorlos. «Es war ein anderer.»
Raghi stutzte. «Zwei verschiedene Drachenfürsten?» Das ergab keinen Sinn. Mallika und er konnten nicht so wichtig sein.
«Ja. Dieser hatte blaugraue Haut, goldene Augen und war auch größer als der andere. Er sagte nichts, hörte mir einfach zu, bis ich mich verausgabt hatte. Dann unterhielten wir uns und die Unterhaltung endete mit dem gleichen Versprechen wie kurz nach deiner Geburt. Dieses Mal war ich jedoch geistesgegenwärtig genug, um die Frage zu stellen, die mich schon lange beschäftigte: Wieso passiert das?»
«Hat er geantwortet?»
«So ungefähr. Er sagte, dass Drachenartefakte Drachenseelen zu sich rufen. Und dass ein menschliches Kind besonders stark sein muss, um eine solche Seele zu beherbergen.»
Raghi verengte nachdenklich die Augen. «Dann haben meine älteren Brüder und Schwestern keine Drachenseelen, was auch immer das bedeuten mag?»
«Nein.»
«Und deshalb die vielen Fehlgeburten?»
«Offenbar.»
«Mmh.» Das ließ eigentlich nur einen Schluss zu. «Was hat der König damals außer dir und meiner Mutter aus den Wolkenstädten mitgebracht?»
«Ich habe mich das auch gefragt. Und ob er damit geprahlt oder das Objekt eher verborgen gehalten hätte. Leider ergab sich nicht die Möglichkeit zu Nachforschungen. Es waren sehr schwierige Monate mit Mallika. Damals mit dir gelang es mir, die Situation zu beruhigen. Die Farbwechsel deiner Augen hörten irgendwann auf. Wieso weiß ich nicht. Und auch das Starren verschwand. Mit Mallika eskalierte die Situation und wir landeten im Kerker. Seltsamerweise ließ mich das nicht bereuen. Stattdessen fühlte ich mich bestärkt, dass mein Versprechen an den Drachenfürsten das Richtige gewesen war, auch wenn ich es nicht erfüllen konnte.»
Raghi schaute zum Horizont, wo sich die ersten Anzeichen der Morgendämmerung zeigten. Sein Herz und sein Verstand fühlten sich wund an. Er hatte viel Material zum Nachdenken erhalten.
Auch Violet wirkte erschöpft.
«Lassen wir es gut sein für heute», sagte er.
Etwas mussten sie allerdings noch tun. Raghi nahm das Medaillon, in dem er all die Jahre eine Locke seiner Nana bei sich getragen hatte. «Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Es kann sein, dass ich durch das, was uns bevorsteht, wieder über die Treppen der Ewigkeit reisen muss. Diese Locke darf ich dann nicht mehr bei mir haben. Sonst begleitest du mich erneut.»
Violet betrachtete das Medaillon nachdenklich und mit einem Hauch von Besorgnis. «Was passiert mit mir, wenn du die Locke zerstörst?»
Raghi atmete tief durch. Hoffentlich machte er nun keinen Fehler. «Als Faya — eine Freundin aus der Mördergilde — mich die Treppen hinab sandte, erzählte sie mir eine Mischung aus Lügen und der Wahrheit. Ich brauchte eine Weile, um diese zu entwirren. Das sind die Fakten, wie ich sie kenne: Du kamst mit, weil ich deine Locke bei mir trug. Wenn wir sie zerstören, bleibst du hier in dieser Zeit und kannst ein normales Leben führen. Allerdings alterst du nicht und kannst nicht sterben.»
«Puh. Das klingt furchtbar und doch auch schön.» Violet errötete.
Das weckte Raghis Neugier. «Woran hast du gerade gedacht?», neckte er sie.
Die Farbe ihrer Wangen vertiefte sich. «Verglichen mit den schlimmen Dingen, die ich dir gerade erzählt habe, ist das ein kleines Geheimnis. Du hattest recht, was Daakshi und mich betrifft. Ich finde ihn attraktiv und sehr sympathisch. Und die Interaktionen der Ghitainfamilien zu beobachten hat meinen Wunsch nach einer eigenen Familie wieder geweckt. Ich bin jetzt achtunddreißig. Mit ganz viel Glück könnte ich noch ein oder zwei Kinder bekommen, vor allem wenn ich nicht altere. Und ja, ich weiß, wie egoistisch das klingt.»
Raghi legte seine Hand über ihre, die immer noch auf seinem Knie ruhte. «Das ist nicht egoistisch, Nana. Du hast so lange deine Kraft anderen gegeben. Wenn jemand dieses Glück verdient hat, dann du.»
«Vielleicht.» Violet schaute zum Horizont, wo sich die ersten Strahlen der Sonne zeigten. «Doch wie verhält es sich mit dem Glück, wenn alle um mich herum altern und sterben, nur ich nicht?» Ihr schien etwas einzufallen. «Und du auch nicht. Wir stammen schließlich aus der gleichen Zeit.»
Raghi hatte sich in seiner Dummheit ein noch viel größeres Problem eingebrockt, aber seine wahre Unsterblichkeit war ein Thema für einen anderen Tag. «Bevor du dich wegen dieser berechtigten Bedenken verrückt machst, solltest du dir alle Fakten besorgen. In dieser Epoche ist so vieles anders, als wir es kennen. Wir wissen nicht, wie hoch die normale Lebenserwartung eines Ghitains ist. Und vielleicht haben sie auch Zugang zu einer Magie, die dich ganz in diese Zeit holt. Das ist möglich. Ich weiß es von einem Freund aus der Gilde, der vor mir die Treppen in die Vergangenheit nahm.»
Violet schmunzelte. «Ein Tag nach dem anderen. Das klingt nach etwas, das ich dir früher geraten hätte. Du bist weise geworden, Raghi.»
Er schnaubte. «Verlass dich nicht drauf. Meine Spezialität sind Chaos und Wahnsinn. Dann verbrennen wir die Locke?»
«Ja.»
Er rückte von Violet weg, öffnete das Medaillon und legte die Locke auf den Stein zwischen ihnen. «Rose? Nur normales Feuer, kein Drachenfeuer.»
Mit ihrem Drachenkopf blies die Chimäre eine winzige Flamme auf die Haarsträhne und führte sie präzise wie ein Maler seinen Pinsel. Bald war nur noch weiße Asche übrig. Die laue Brise, die nach Frühling und Hoffnung duftete, trug sie weg.
«Wir sollten ins Lager zurückkehren. Der König der Könige und Kaea wollen mit Naveen und mir sprechen.» Hatte er das gerade gesagt? Raghi war sich selbst fremd. So verlässlich und verantwortungsbewusst — das war doch nicht er.
«Vorher solltest du deinen Augen wieder die braune Farbe geben. Dieses purpurne Leuchten ist beunruhigend.»
Ob es das hinbekam? Raghi versuchte es.
«Perfekt», sagte Violet.
Sie machten sich auf den Rückweg.
Es war schon hell, als Raghi und Violet in die Wagenburg des Clans der Seher zurückkehrten. Violet umarmte Raghi zum Abschied und ging dann zu Chandanas Vardo. Die Heilerin hatte ihren türkisfarbenen Wohnwagen wie so oft direkt vor Kaeas abgestellt und kochte etwas auf der Wiese daneben.
Raghi war mit Kaea und Parth verabredet.
Die beiden unterhielten sich vor dem lavendelfarbenen Vardo der Königin. Raghi entdeckte Zeichen der Erschöpfung in ihrer Haltung. Kaeas Schultern hingen ein wenig und sie hatte ihr blaues Schultertuch eng um sich gewickelt, als ob ihr kalt wäre. Parth wiederum stand nicht wie sonst stark auf beiden Beinen, sondern hielt ein Knie gebeugt, was bei ihm linkisch aussah.
Nur Raghi fühlte sich gut. Wahrscheinlich eine ausnahmsweise positive Konsequenz seiner Unsterblichkeit — oder der unerwünschten Heilung durch Najira.
Na ja, der möglicherweise unerwünschten Heilung durch Najira. Auch wenn Schmerzen stets Raghis Dasein und Selbstverständnis definiert hatten, vermisste er sie — wenn er rücksichtslos ehrlich mit sich war — nicht. Es war eine faszinierende Erfahrung, sich wie ein gesunder junger Mensch zu fühlen.
«Raghi.» Kaea begrüßte ihn mit einem echten, wenn auch müden Lächeln. «Danke, dass du pünktlich bist. Naveen hat Anjali schon hineingetragen. Es geht ihr viel besser, aber wir sind noch vorsichtig.»
«Lichtträger heilen so schnell?», wunderte er sich. Seit Chandana, die Heilerin des Clans der Seher, die Bombensplitter aus Anjalis Gesichtswunden operiert hatte, war noch nicht einmal ein Tag vergangen. Sein eigenes Heilvermögen war ähnlich ungewöhnlich, jedoch eine Folge seiner Unsterblichkeit.
«Licht besitzt große Macht», bestätigte Parth. «Leider ist es zugleich unendlich fragil.»
Kaea legte ihm eine Hand auf den Unterarm. «Lass uns reingehen, mein Freund. Ich bereite uns einen stärkenden Tee zu.»
Der König der Könige schien noch nicht dazu bereit. Er schaute über die Wiese zu Violet, die Chandana beim Kochen half. «Konntet ihr alles wie vereinbart erledigen?»
«Ja», bestätigte Raghi. Wobei vereinbart nicht die beste Beschreibung war. Seit Naveen und er das Lager der Lichtträger erreicht hatten, waren zu erledigende Schritte in kurzen, hektischen Treffen besprochen worden, bevor alle zur nächsten dringenden Aufgabe weitereilten. Das Durcheinander machte ihn schwindelig.
Parth schien es ähnlich zu gehen. «Dann besprechen wir jetzt die Situation und tragen alles zusammen, was wir wissen. Das gibt uns ein Raster. Danach holen wir Baz und Devi hinzu, legen ihnen die Situation dar und schauen, welche Gedanken und Schlussfolgerungen sie beitragen können.»
Kaea wackelte mit dem Kopf, was höflichen Widerspruch ausdrückte. «Neben unseren Ehepartnern sollten wir gleichzeitig auch Arjun und Palash hinzuziehen.» Eine Aussage, die für die geistige Anpassungsfähigkeit der Ghitains stand, denn von den beiden war nur Parths Bruder am Leben.
«Das ist richtig. Unsere Brüder können wichtige Informationen und Überlegungen beitragen. Vor allem Palash.» Parth wischte sich über die Stirn, als wollte er seine Gedanken klären.
«Dann lass uns das jetzt angehen. Und danach essen und schlafen», bestimmte Kaea. Sie hakte sich bei Parth ein und führte ihn zu ihrem Vardo. «Im Moment funktionieren wir alle mit halbem Verstand. Aber leider lässt die Dringlichkeit nichts anderes zu. Gehst du voraus und öffnest die Tür für uns, Raghi?»
Er beeilte sich, ihre Bitte zu erfüllen. Zugleich erfüllte ihn Stolz. Ihre Vardos waren den Ghitains heilig. So simpel Kaeas Bitte klang, sie stellte einen großen Vertrauensbeweis dar.
Als Raghi die Tür öffnete, erwartete er, den schlichten weißen Innenbereich des Wohnwagens zu sehen. Stattdessen erblickte er Schwärze, übersät mit Sternen und durchzogen von verschiedenfarbigen Energielinien, die meisten davon matt, einige silbern.
Das Uhrwerk des Multiversums.
Er erstarrte, von Überraschung gelähmt. Hinter ihm knarrten die Stufen, als die Ghitainherrscher zur Plattform des Vardos hinaufstiegen.
«Raghi, was ist?», fragte Kaea, der seine Reaktion nicht entgangen war. Im nächsten Augenblick schnappte sie nach Luft. «Rein! Alle! Sofort!»
Raghi wurde in den Innenraum gestoßen. Als er die Bewegung nach einigen Schritten stoppen konnte, stolperte Parth gegen ihn. Offenbar war Kaea gar nicht zimperlich im Durchsetzen ihres Befehls.
Raghi schaute sich zu ihr um. Gerade schloss sie leise die Tür. Ein Lichtschimmer umgab kurz ihre Hand auf dem Riegel. Danach wandte sie sich ihnen zu, das Gesicht kreidebleich.
«Naveen! Was hast du getan?»
Ihr Sohn reagierte nicht. Er stand unmittelbar vor Raghi, den Rücken ihm zugewandt. Mehr Bewegungsspielraum ließ der begrenzte Innenraum des Gefährts nicht zu. Anjali saß an dem kleinen Tisch bei der Tür, auf dem normalerweise Keas Kristallkugel ruhte.
Falls es der Prinzessin tatsächlich besser ging, war im Moment nichts davon zu sehen. Ihr Gesicht, dort wo keine Verbände es bedeckten, war womöglich noch blasser als Kaeas.
Naveen wandte sich um. In den Händen hielt er etwas, das wie ein Bündel abgetrennter Hanfschnüre aussah. «Wir werden in Eterna alle sterben, Mama», sagte er, seine Stimme tonlos.
Seine Bewegung hatte einen kleinen Luftzug erzeugt. Ein angenehmer, leicht süßlicher Geruch stieg in Raghis Nase, auf schreckliche Weise vertraut. Er warf einen Blick auf Naveens Kleider. Die Farben waren die gleichen wie immer — Smaragdgrün in zahllosen Variationen, teils stark abgetönt, sodass es fast blau wirkte. Aber diese Tunika und anderen Kleidungsstücke hatte er noch nie gesehen.
«Gift!», stieß er hervor. «Raus aus den Kleidern, Naveen!»
Als sein Freund nicht reagierte, zog Raghi seinen Dolch und schlitzte die Front der Tunika auf.
«Raghi, was tust du», schrie Naveen und wehrte sich. «Die sind brandneu. Charu hat sie mir …» Eine furchtbare Erkenntnis dämmerte in seinen Augen. Raghi musste nichts mehr tun. Naveen riss sich alles vom Leib.
Hinter sich hörte er ein Poltern. Als er sich umdrehte, konnte er beobachten, wie Kaea und Parth Anjali von ihrem Gewand und all ihrer Wäsche befreiten.
Bald stand das junge Paar völlig nackt da.
«Was nun, Raghi?», fragte Kaea atemlos, ihre Augen voller Panik. Egal welche Regeln Naveen mit dem Öffnen des Uhrwerks übertreten hatte, ihr Sohn war ihr ein und alles.
«Informationen. Wann hat Charu euch die Kleidung gebracht? Wie lange war sie in eurer Nähe. Wann habt ihr sie angezogen?»
Naveen und Anjali teilten einen langen Blick. «Er kam kurz nach Sonnenaufgang. Wir haben die Kleidung danach gleich angelegt und sind hierhergekommen. Also etwa eine Stunde.»
Ein leises Rascheln erregte Raghis Aufmerksamkeit. Als er auf den Boden schaute, beobachtete er, wie die zerstörte Kleidung wieder ganz wurde. Zerschnittener Stoff und aufgerissene Nähte fügten sich zusammen. Für einmal erschien die sonst so nützliche Ghitainmagie einfach nur widerlich.
«Was passiert, wenn wir diese Kleidung verbrennen?», fragte er.
«Sie entsteht aus der Asche neu. Ghitainkleidung ist an unser individuelles Seelenlicht gebunden und kann erst nach unserem Tod zerstört werden», erklärte Parth.
Das waren gute Neuigkeiten. Während all die neuen Erkenntnisse in Raghis Kopf herumwirbelten, entwarf er einen Plan. «Zwei Dinge sind dringend. Dieses Gift wirkt sehr schnell, normalerweise innerhalb von drei Stunden, indem es von der Haut nach innen wandert und bei genügend hoher Konzentration das Herz zum Stillstand bringt. Um den Prozess zu stoppen, müssen wir Holzasche mit Wasser und einer Substanz, die ich bei mir trage, anrühren. Mit der Paste müssen sich Anjali und Naveen einreiben. Sie neutralisiert das Gift und zieht die Rückstände aus dem Körper. Leider brennt sie auch furchtbar auf der Haut.»
«In all dem Durcheinander haben Baz und ich den Ofen nicht wie sonst gereinigt», sagte Kaea. Sie drängte sich an Raghi vorbei und schloss die Schränke ihres Vardos, wobei Raghi nur die Bewegung und nicht die Schranktüren sehen konnte. Das Uhrwerk des Multiversums verschwand und der Innenraum des Vardos nahm wieder seine übliche Gestalt an.
«Reicht das?» Kaea schwang die Ofentür auf.
«Ja», bestätigte Raghi nach einem Blick auf die kalte Asche.
Hektische Momente folgten. Kaea reichte Parth eine hölzerne Schüssel. Er schaufelte die Asche mit bloßen Händen hinein. Kaea goss aus einem metallenen Krug Wasser dazu.
Raghi suchte in seinem Beutel das benötigte Pulver und gab alles davon in die Masse. Hoffentlich konnte er es irgendwann ersetzen. Wobei das nicht wichtig war. Nur Naveens und Anjalis Überleben zählte.
«Los!», befahl er leise und schob die Kleider mit dem Fuß zur Seite.
Während Parth und Kaea ihren Kindern halfen, nahm Raghi das in einem Korb bereitstehende Holz und baute daraus ein Feuer im Ofen. Bald loderten die Flammen hoch genug. Er warf die Kleidung hinein.
«Was müssen wir sonst noch tun?», fragte Parth.
Raghi überlegte. «Eure Hände, mit denen ihr Anjalis Kleider berührt habt, sind voller Aschelauge. Dort ist das Gift neutralisiert. Also reibe ich den Rest auf meine Hände, Anjalis Stuhl und den Boden, wo die Kleider lagen. Es kann sein, dass sich die Farbe der Planken verändert, Kaea.»
Sie zuckte nur stumm die Schultern.
Raghi führte die Neutralisierung des Gifts durch.
«Mir ist schwindelig», wisperte Naveen und griff nach Anjalis Hand. Die beiden klammerten sich aneinander.
Parth und Kaea hüllten ihre Kinder in Leinentücher, die Kaea aus der Sitztruhe beim Bettpodest nahm.
«Nehmt Platz», sagte Parth und bugsierte Anjali und Naveen zum Tisch, wo er sich zu ihnen setzte, während Kaea mit dem restlichen Wasser aus dem Metallkrug Tee kochte.
Nur der mit Asche eingeriebene Stuhl war noch frei. Raghi setzte sich darauf. Auf Flächen ließ sich das Gift rasch neutralisieren und ihm als Unsterblichen konnte es längerfristig nichts anhaben — oder so hoffte er.
«Was ist mit den Flächen in Anjalis Vardo, wo die Kleider kurz lagen?», fragte Naveen.
Parth suchte Kaeas Blick. «Darum kümmern wir uns später, Junge. Gerade haben wir ganz andere Probleme.»
Ja, das hatten sie. «Weiß jemand, wo Palash ist?», fragte Raghi.
Niemand antwortete. Er seufzte und starrte nachdenklich ins Leere. Seine Gedanken jagten sich. Was sollten sie nur tun? Wie der Situation Herr werden? Er war doch nur der dümmste Lehrling, den …
Etwas Unglaubliches geschah. Raghi konnte es nicht anders beschreiben, als dass ein kleiner Teil seines Verstandes sich missmutig vom Rest löste, aufstand und dem weitaus größeren Rest einen heftigen Tritt gab.