Wintermärchen - Eine Heimat für das Herz in Dancing Coons - Band 2 der Dancing-Coons-Reihe - Isa Day - E-Book

Wintermärchen - Eine Heimat für das Herz in Dancing Coons - Band 2 der Dancing-Coons-Reihe E-Book

Isa Day

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Beschreibung

Dancing Coons, eine Kleinstadt im Adirondacks-Gebirge.

Ausgerechnet zum Start der turbulenten Wintersaison steht Chief Betty, Undersheriff von Coon County, ohne Stellvertretung da. Als eine unerwartete Bewerbung eintrifft, vergibt sie die Position, ohne den Kandidaten je gesehen zu haben — und arbeitet plötzlich mit ihrem absoluten Traummann zusammen. Dark Chayton ist attraktiv, integer und kann mit Tieren sprechen. So ein Mann gehört nach Coon County, da sind sich Betty und die Einheimischen sicher. Doch um die düsteren Wolken über seinem Schicksal zu vertreiben, braucht es den Einsatz aller, Unmengen von Glück und eine Prise der einzigartigen Coon-County-Magie.

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"Wintermärchen" -- Genieße eine wundervolle kleine Auszeit in Dancing Coons

Du liebst humorvolle und warmherzige Kleinstadt-Romane zum Wohlfühlen?
Romantische, tiefgründige Liebesgeschichten für Erwachsene?
Und die Natur und Tiere?

Dann komm mit nach Dancing Coons im hintersten Winkel des Staates New York, erlebe die wilde, von den Legenden der amerikanischen Ureinwohner durchdrungene Natur der Adirondacks-Berge und verliebe dich in meine zwei- und vierbeinigen Protagonisten.

Jeder der Dancing-Coons-Romane erzählt eine romantische Komödie mit metaphysischen Elementen, ist herzerwärmend, spannend und vollgepackt mit Kleinstadt-Charme.

Das erwartet dich:

Eine amerikanische Kleinstadt zum Verlieben, deren Einwohner ein möglichst ursprüngliches Leben führen und bedingungslos zusammenhalten.

Sympathische und vielschichtige Hauptpersonen mit Geek-Faktor, die sich den gravierenden Problemen ihrer Vergangenheit stellen.

Liebenswerte tierische Protagonisten, mit einem zauberhaften zahmen Stinktier namens Libby als Star.

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Einordnung von "Wintermärchen" in die Dancing-Coons-Reihe:

Band: 2
Liebespaar: Betty Warner, Undersheriff, und Dark Chayton, Sheriff's Deputy und Ex-Soldat
Tierische Protagonisten: Hunde, Katzen und (natürlich) Libby
Jahreszeit: Winter

Jeder Roman der Dancing-Coons-Reihe ist in sich abgeschlossen.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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BISHER ERSCHIENEN

Dancing Coons

Stürmische Verzauberung

Wintermärchen

Sommernachtsmagie

Urban-Fantasy-Serie «Sternenmagie»

Sternenstaubkind

Abschied

Verbannung

Wandelstern

Kollisionskurs

Isolation

Augenstern

Herzensband

Fantasyserie «Die Treppen der Ewigkeit»

Faya Namenlos (Prequel)

Wolf des Südens

Raghi der Schatten

Fantasyserie «Der Weg des Heilers»

Der verletzte Himmel

In den Tiefen der Ewigkeit

Bis das Eis bricht (Tantans Geschichte)

Die Nacht des Vergessens (Tantans Geschichte)

WINTERMÄRCHEN

EINE HEIMAT FÜR DAS HERZ IN DANCING COONS

ISA DAY

PONGÜ

1. Auflage 2021

© 2021 Isa Day und Pongü Text & Design GmbH, Meilen, Schweiz

Kontakt: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG («Text und Data Mining») zu gewinnen, ist untersagt.

Umschlaggestaltung: Isa Day

Bildquellen Depositphotos: eriklam, lifeonwhite, Mny-Jhee, myronstandret

Weitere Bildquellen: Ceacle, Feingold

ISBN 978-3-906868-40-0 (eBook)

ISBN 978-3-755784500 (BoD-Taschenbuch)

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Bonusszene

Sneak Peek in den Folgeroman

Eine Bitte

Lizenzerklärung

Über Isa Day

Isas Bücher

Bisher erschienen

1

Elizabeth Mary Jane Hellfire Warner, von den meisten Chief Betty genannt, schloss leise die Haustür und starrte mit leerem Blick den dunklen Flur in Richtung Küche hinab. Als Undersheriff von Coon County, einem Bezirk im hintersten Winkel des Staates New York, war sie stets für andere da. Zu ihrem Job gehörte es, das positive Verhalten der Menschen zu verstärken und bei Problemen rechtzeitig dazwischen zu gehen.

Für ihr eigenes Problem wusste sie keine Lösung. Ein unglaublicher Schmerz riss ihr Herz entzwei. Ihr Kopf war leer und hallte wie nach dem Bombenanschlag, den sie während ihrer Zeit bei der New Yorker Polizei miterlebt hatte.

In Zeitlupe hob sie die Hand und starrte auf die Leine und das leere Halsband, die sie mit einem Todesgriff umklammerte.

Draußen war es stockfinster. Anfang Dezember brauchte die Dämmerung lange, um in das dicht bewaldete Seitental, wo Bettys Hexenhäuschen stand, vorzudringen. Nur die Straßenlaterne direkt vor dem Grundstück verbreitete ein sanftes, gelbliches Licht.

Es ließ die Reflektoren auf dem neongelben Halsband aufleuchten. Fast konnte Betty die großen, schwarz aufgedruckten Buchstaben lesen.

Boots.

So vergeben, weil die Pfoten und Schienbeine des nicht reinrassigen Belgischen Schäferhundes eine weiße Zeichnung wie Stiefel trugen — nein, getragen hatten.

Betty schluchzte und biss sich auf die Fingerknöchel, um das Geräusch zu ersticken. Leider nutzte sie dafür die Hand, in der sie Halsband und Leine hielt.

Der Geruch ihres Hundes erfüllte ihre Nase. Wild, herb und zugleich der Duft von Vertrauen und tiefer Zuneigung.

Was war das für ein Wimmern?

Betty erkannte, dass sie selbst es ausstieß. Es klang wie das leidvolle Heulen einer verlorenen Seele.

Kraftlos schob sie sich von der Haustür weg, hin zum Schrank, in den sie bei jedem Heimkommen ihre Jacke hängte und ihre Stiefel stellte.

Sie arbeitete als Undersheriff dieses Bezirks. Für sie gab es keine Schwäche. In einer Stunde musste sie das Haus verlassen und vor den Einwohnern von Dancing Coons und Lake Coon funktionieren. Das war ihre Pflicht. Dafür wurde sie bezahlt.

Ihre Kontrolle versagte. Die Beine gaben unter ihr nach. Betty sank zu Boden, faltete die Arme auf den Knien, legte den Kopf obendrauf und weinte hemmungslos.

Ein leises Klopfen mischte sich in ihr Schluchzen. Mit einem Klicken öffnete sich die Haustür.

«Betty? Bitte nicht schießen. Ich bin es — Josie.»

Betty versuchte sich zusammenzureißen. Ein Warner zeigte keine Schwäche, das hatte ihr Vater all seinen Kindern kompromisslos eingebläut.

Ihre Erziehung versagte. Sie saß in einem unendlich tiefen schwarzen Loch, das sie zu ersticken drohte und aus dem es kein Entkommen gab.

«Es tut mir so unendlich leid.»

Arme legten sich um Betty und hielten sie. Sie spürte die Wärme und Fürsorge eines anderen Menschen. Ihre Hand krallte sich in Josies Rücken. Wieso konnte sie den Griff nicht lockern? Das musste doch furchtbar wehtun …

Der Weinkrampf ebbte nach und nach ab. Der grenzenlose Schmerz blieb.

Betty hob den Kopf.

Auch Josies Augen überliefen mit Tränen. Kein Wunder. Bettys junger Nachbarin gehörte ein wunderbares Katzenrudel. Von allen Menschen verstand sie am besten, was es bedeutete, mit einem Tier eine tiefe Beziehung einzugehen. Und welchen Schmerz der Verlust eben dieses Tieres verursachte.

«Bist du allen Ernstes im Schlafanzug rübergekommen?», fragte Betty. Auf die Worte folgte das Hicks eines Schluckaufs. Großartig! Als ob der Weinkrampf nicht gereicht hätte.

Josie schaute verdutzt an sich hinab. «Offenbar. Ich habe nicht nachgedacht. Ash sah dich nach Hause kommen. Na ja, eigentlich hast du ihn mit deinem Truck fast von der Straße gedrängt. Da wusste er, dass etwas nicht stimmt, und rief mich an. Er wäre jetzt ebenfalls hier, aber die Biber im Seitenarm vom Coon Creek haben offenbar über Nacht und trotz der Winterruhe ihre Burg vergrößert, sodass sich das Wasser gefährlich staut.»

Betty nickte matt.

Wenigstens fiel dieser Einsatz nicht in die Zuständigkeit des Sheriff’s Departments, sondern wurde von der Feuerwehr und Bettys Brüdern geleistet. Letztere betrieben als Warner & Sons das regionale Straßenbau-, Entsorgungs- und Recyclingunternehmen und verfügten deshalb über schwere Maschinen.

Josie zog den Ärmel ihres Schlafanzugs über die Hand und wischte vorsichtig Bettys Wangen trocken. Die Berührung fühlte sich tröstend an, auch wenn Betty keine Dankbarkeit zeigen konnte.

«Wenn du mir erlaubst, in deiner Küche zu hantieren, mache ich dir einen Kaffee.»

Kaffee? Ach ja, das schwarze Zeugs, das First Responder wie Polizei und Feuerwehr literweise tranken.

«Als ob du einen richtigen Kaffee hinbekommst», spottete Betty. «Behördenkaffee muss so stark sein, dass er den Löffel zerfrisst.»

Josies Mundwinkel wanderten nach oben, doch ihre Augen blieben traurig und erfüllt von tiefer Empathie. «Ich werde mein Bestes geben. Jetzt komm. Im Dezember ist dein Steinboden zu kalt, um lange darauf zu sitzen.»

Josie erhob sich und fasste Betty unter den Achseln, um ihr auf die Füße zu helfen.

Um ein Haar hätte Betty erneut aufgeschluchzt. Als ob dieses Manöver funktionieren könnte! Josie war gerade mal mittelgroß, Betty eine Amazone, die die meisten Männer überragte.

Praktisch für ihren Job als Undersheriff, weil sich kaum jemand mit ihr anlegte, aber tödlich für ihr Liebesleben.

«Geh du schon einmal vor. Ich ziehe meine Stiefel aus und komme nach.»

Josie zögerte kurz, schlüpfte aus ihren Korksandalen — hatte sie allen Ernstes nicht mal richtige Schuhe angezogen? — und gehorchte.

Betty streifte ihre Stiefel ab und verstaute sie im Garderobenschrank. Ihre Jacke behielt sie an. Ihr war kalt.

In der Küche setzte sie sich an den Tisch und legte Leine und Halsband vor sich hin.

Josie hatte das Licht eingeschaltet und hantierte mit der Kaffeemaschine. Bald verbreitete sich der unvergleichliche Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee.

Josie stellte Betty eine volle Tasse hin. Ihre eigene hatte sie nur halb gefüllt. Vorsichtig nippte sie daran, verzog das Gesicht und goss heißes Wasser nach.

Betty trank einen Schluck. «Nicht übel. Etwas mild.»

Josies entsetzter Gesichtsausdruck brachte sie fast zum Lachen. Bis ihr Blick auf Halsband und Leine fiel und ihr die Realität wieder bewusst wurde.

Boots, ihr wundervoller Hund, war tot.

Josie setzte sich an den Tisch. «Möchtest du mir erzählen, was passiert ist?»

Mit zitternden Fingern strich Betty über den Griff ihrer Tasse. «Du weißt ja, dass Boots schon lange kränklich war. Sechzehn Jahre sind für einen Malinois ein biblisches Alter. In der Nacht fiel er einfach um. Er zitterte und konnte nicht mehr aufstehen. Da brachte ich ihn in die Tierklinik nach Saratoga Springs. Leider konnten sie ihm nicht mehr helfen.»

Eine neue Träne lief über Josies Wange. «Das tut mir so leid.» Ihr Blick fiel auf die Leine. «Wo … wo ist er?»

«Die Tierklinik wird ihn einäschern. Und danach … Auch in Rente behielt er seinen Status als Polizeiangehöriger und wird in Saratoga Springs mit allen Ehren verabschiedet. Nach dem Anlass bringe ich ihn nach Hause.» Eine Welle der Übelkeit raste durch Bettys Körper, als sie sich an eine drängende Pflicht erinnerte. Sie schaute auf die Uhr. «Ich muss Kerrick anrufen. Nicht dass die Tierklinik mir zuvorkommt. Er wird am Boden zerstört sein.» Bettys Blick fiel auf die Futtertonne neben der Küchenzeile. «Und was mache ich jetzt mit Boots’ Futter? Ich habe erst vor Tagen einen Zehn-Kilo-Sack gekauft. Das muss ich dem Tierheim spenden …»

Sie stoppte ihren Wortschwall. Es war der Schock, der ihre Gedanken wild herumspringen ließ und ihre Prioritäten durcheinanderwirbelte. Damit verhielt sie sich wie jene Einbruchsopfer, die vor dem Eintreffen der Polizei ihre Wohnung aufzuräumen begannen, weil sie den Beamten die Unordnung ersparen wollten.

Selbst sie — Deputy Sheriff, gut ausgebildet und abgebrüht — war nur ein Mensch wie alle anderen. Der Gedanke erschien ihr zugleich ernüchternd und tröstlich.

«Weshalb rufst du ihn nicht jetzt gleich an?», schlug Josie vor. «Ich würge noch eine Weile an meiner Tasse Kaffee — oder gieße die dreifache Menge an heißem Wasser nach. Das ist die bessere Idee.» Sie erhob sich.

Betty beobachtete mit einem liebevollen Schmunzeln, wie sie ihr Getränk genießbar zu machen versuchte. Es war ein Glücksfall, dass Josie vor einiger Zeit nach Dancing Coons zurückgekehrt war und im Haus direkt über die Straße lebte. Und doch nicht immer einfach.

Mal abgesehen von Josies Schusseligkeit, die zu derartigen Auftritten im Schlafanzug führte, entsprach sie Bettys Idealbild einer Frau — bildhübsch, von durchschnittlicher Größe, fit und fähig, ohne dass die Männer sich von ihr eingeschüchtert fühlten.

Betty hingegen …

Als Kleinste der Warners maß sie eins fünfundachtzig an Körperhöhe und überragte damit selbst in Amerika die meisten Männer. An ihr Au-pair-Jahr in Frankreich getraute sie diesbezüglich gar nicht mehr zu denken. Einmal hatte sie in Südfrankreich einen regionalen Markt besucht und die Atmosphäre genossen — bis sie bemerkte, dass sie wie ein Leuchtturm aus einem Meer weit kleinerer Franzosen herausstach, die ihr alle unter dem ausgestreckten Arm durchlaufen konnten.

Na ja, fast alle.

Und dann war nicht abzustreiten, dass es ziemlich viel von Betty gab. Undersheriff in Coon County war ein Knochenjob, bei dem sie zupacken musste — insbesondere da ihr Vater, der gewählte Sheriff, im Rollstuhl saß und sie dadurch automatisch einen Teil seiner Pflichten übernahm.

War sie als junges Mädchen rank und schlank wie ein Weidenzweig gewesen, hatten die Jahre harter Arbeit Muskeln auf ihre Knochen gepackt. Die Doofköpfe, von denen es neben vielen netten Menschen leider einige im Bezirk gab, nannten sie deshalb Xena, nach der Kriegerkönigin der gleichnamigen Fernsehserie.

Der Vergleich war nicht allzu gemein, immerhin sah jene Xena gut aus und verdrosch routiniert mächtige Krieger und selbst Götter. Trotzdem tat er weh.

Kein Mann würde Betty jemals anschauen, als wäre sie zerbrechlich und müsste beschützt werden. Und die Wertschätzung als Saufkumpanin, die als eine der Letzten in der Runde unter den Tisch fiel, hatte nicht die gleiche Bedeutung.

«Betty?» Sie fühlte eine Hand auf dem Arm. «Du wolltest deinen Kollegen anrufen.»

Das war korrekt. Und ihm die traurige Nachricht vom Tod seines früheren Partners überbringen.

Sie erreichte ihn sofort. Kerrick nahm die Neuigkeit erstaunlich gelassen auf. «So sind es sechzehn Jahre geworden. Das ist beeindruckend», drang seine tiefe Stimme aus dem Lautsprecher des Smartphones. «Ich sah jedes Mal, wenn du uns hier besucht hast, wie gut es ihm bei dir gefiel und wie liebevoll du dich um ihn gekümmert hast. Danke, Betty.»

Kerrick meinte es so. Das erkannte sie am Tonfall. Seine Freundlichkeit ließ sie erneut aufschluchzen. Sie hatte sich Mühe gegeben. Das stimmte. Warum konnte sie dann das Gefühl nicht abschütteln, versagt zu haben?

«Niemand kommt gegen den Tod an», sagte Kerrick leise. «Und jeder Polizeibeamte, der seinen Ruhestand erleben und friedlich entschlafen darf, ist ein Sieg des Guten in dieser Welt.»

Damit hatte er recht. Hier in Coon County passten die Menschen aufeinander auf. Das war nicht überall so. Bereits in Saratoga Springs herrschten andere Sitten. Und dann erst in New York.

«Hör mal, Betty, ich weiß, ich sollte nichts sagen. Nicht jetzt, wenn dein Herz so wund ist. Aber wir suchen wieder einen Platz. Und es ist dringend. Können wir an der Trauerfeier für Boots darüber sprechen?»

«Was …?» Er wollte ihr einen weiteren vierbeinigen Kameraden anvertrauen?

«Sag jetzt nichts. Lass den Vorschlag auf dich wirken. Weißt du schon, wann du Boots’ Asche abholen kannst?»

Betty hatte Mühe sich zu erinnern. Ihr Kopf schien mit Melasse gefüllt. «Morgen Vormittag.»

«Dann plane ich die Trauerfeier für die Mittagszeit. Passt das für dich?»

«Ja.»

Sie vereinbarten alles Nötige und verabschiedeten sich.

«Klang das für dich auch seltsam?», wandte Betty sich an Josie, nachdem sie die Verbindung beendet hatte.

«Das nicht direkt, aber hinter seiner Bitte scheint mehr zu stecken, als er zugeben wollte.» Josie trank einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und schob die Tasse von sich. «Wie bekommst du das nur runter? Ich schaffe es selbst mit zehnfacher Verdünnung nicht. Du bist wie Ash. Mit seinem Kaffee kann man Farbe ablösen.»

Betty schnaubte. «Das ist der wahre Eignungstest beim Militär und den anderen Einsatzkräften. Vergiss die Fitnessprüfung und all das Zeugs. Wenn du Beize ohne ein Wimpernzucken trinken kannst, wirst du aufgenommen.»

Betty mochte die lakonische Antwort hinbekommen, doch in ihrem Innern sah es anders aus. Das war auch etwas, was ihr den Umgang mit Josie seit einigen Wochen erschwerte. Josie hatte einen wundervollen Mann gefunden — Ash, den Deputy Fire Chief von Coon County. Ehrlich, gewissenhaft, liebevoll und so sexy, dass Betty sich kaum an ihm sattsehen konnte, obwohl er nicht ihrem Typ entsprach.

Sie gönnte Josie das Glück von ganzem Herzen. Und war zugleich traurig, weil ein solches Glück für sie selbst unmöglich war. Sie fiel nicht ins Beuteschema der Männer. Keiner wollte eine wehrhafte Amazone.

So war es wahrscheinlich am besten, wenn sie dem Polizeihund, den Kerrick erwähnt hatte, ein neues Zuhause gab. Die Beziehung zu einem Tier war etwas ganz anderes als die zu einem Mann und konnte sie keinesfalls ersetzen. Trotzdem hatte sie sich in ihrer gemeinsamen Zeit mit Boots nie allein gefühlt.

Einen Versuch war es wert.

Ihr Telefon, das vor ihr auf dem Tisch lag, meldete sich. Der Name auf dem Display erstaunte Betty.

«Was kann Jesse von mir wollen? Und dann um diese Uhrzeit», wunderte sie sich laut. Jesse hatte mit Ash gedient und arbeitete immer noch für das Militär. Betty hatte sie erst vor wenigen Tagen beim bunt zusammengewürfelten Thanksgiving-Fest der Warners kennengelernt und gleich total sympathisch gefunden, obwohl sie sich äußerlich nicht stärker unterscheiden konnten.

Jesse kam als winziges Paket. Die ehemalige Special-Forces-Soldatin erinnerte an einen platinblonden Punkkobold, war knallhart und absolut furchtlos. In den Hack-and-Slay-Rollenspielen, die Betty in ihrer Jugend auf dem Computer gespielt hatte, galt es auf solche Wesen aufzupassen. Sonst starb der Avatar, bevor man als Spieler «Was ist denn das Niedliches?» zu Ende denken konnte.

Betty hatte sich gut mit Jesse unterhalten. Es war erholsam, eine andere Frau zu treffen, die kompromisslos ihren Weg ging und sich von niemandem auf den Kopf scheißen ließ.

Gegen Ende des Fests hatten sie die Telefonnummern ausgetauscht, dies falls es Betty jemals nach Virginia verschlug. Jesse arbeitete dort als Pilotin und hatte offenbar Zugriff auf eine flugtüchtige Spitfire aus dem Zweiten Weltkrieg.

Ein Flug mit dieser Maschine gehörte zu Bettys größten Träumen. Sie liebte alte Technik.

«Willst du nicht abnehmen?», fragte Josie leise. «Ich glaube nicht, dass das per Telepathie funktioniert.»

Betty realisierte, dass sie ihr Telefon anstarrte. Gleichzeitig regte sich ihr Instinkt als Polizistin. Etwas an Josies Tonfall war seltsam. Und welcher Ausdruck war da über ihr Gesicht gehuscht? Schuldbewusstsein?

«Weißt du etwas davon?», fragte sie und zeigte auf den Bildschirm.

Josies Wangen röteten sich. «Es könnte sein, dass du dich mit Titel und Nachnamen melden willst.»

«Undersheriff Warner», nahm Betty mit ihrem professionellsten Polizeitonfall ab.

«Guten Morgen, Undersheriff Warner. Hier spricht Darko Chayton, einer von Asher Blakes Militärkameraden. Können Sie meinen Namen zuordnen?»

Gänsehaut überlief Bettys Arme. Was für eine Stimme! Verführerisch wie Samt und Schokolade.

Moment mal! Betty rief sich selbst zur Ordnung. Wo war der Gedanke hergekommen? Hatte sie sie noch alle? Offenbar verwirrte Boots’ Tod ihr den Verstand.

«Ja, wenn auch eher vage», zwang sie sich zu einer Antwort. «Sie waren vor Jahren mit meinem Cousin Ben hier in Dancing Coons. Unser Onkel erwähnt Sie ab und zu. Wir sind uns aber nicht persönlich begegnet, weil ich zu jener Zeit nicht in Coon County lebte.» Betty versuchte sich zu erinnern, ob sie damals ihr Au-pair-Jahr in Frankreich verbracht oder als Austauschpolizistin in New York gearbeitet hatte. Es gelang ihr nicht.

«Ja, das ist korrekt. Mit dem Besuch, meine ich.» Ein tiefes Durchatmen am anderen Ende der Verbindung. «Ich rufe Sie an, weil Jesse vor mir steht und eine Uzi auf mich richtet.»

Betty suchte Josies Blick. Ihre Nachbarin schaute entsetzt drein. Das hatte sie offenbar nicht erwartet.

«Wenn du mich schon verpetzt, dann sei präzise. Es handelt sich um eine Uzi mit montiertem Schalldämpfer», mischte sich die Stimme einer Frau ein. Betty erkannte sie und den kalten Tonfall sogleich.

Jesse.

«Welchen Unterschied macht der Schalldämpfer?», konnte sich Betty die angesichts der Bedrohungssituation irrelevante Frage nicht verkneifen. Als Polizistin gehörte Neugier zu ihrer Berufsbeschreibung. Zudem war es in ihrem Job wichtig, stets alle verfügbaren Fakten zu kennen.

«Dass es mir ernst ist.» Wieder Jesse.

Damit nahm das Gespräch für Betty absurde Formen an. Welchen Unterschied machte ein Schalldämpfer bei einem Maschinengewehr? «Die Uzi reicht dafür nicht?»

«So kann sie abdrücken, ohne dass jemand den Schuss hört», lieferte Darko Chayton die Erklärung. Die Wachsamkeit in seinem Tonfall ließ erahnen, dass er die Bedrohung ernst nahm.

Betty schüttelte irritiert den Kopf. Was sollte das alles? Es war an der Zeit, die Gesprächsführung zu übernehmen und den Grund für den seltsamen Anruf herauszufinden. «Wie kann ich Ihnen helfen, Mister Chayton?»

«Jesse hat mir gesagt, dass Ihnen für die Hochsaison ein Deputy fehlt. Ich bin per sofort bis Ende Februar temporär verfügbar.»

Eine kurze Ansage ohne irgendeine Absicherung, um das Gesicht zu wahren. Darko Chayton konnte nicht wissen, ob die Stelle noch frei war.

Was allerdings zutraf. Bettys Deputy hatte vor zwei Tagen erst gekündigt. Am 1. Dezember. Und verlangt, dass er seine Funktion sofort niederlegen konnte, um seinen neuen Job bei der Polizei von Saratoga Springs anzutreten. Ein Karrierist. Und leider nicht der erste.

Betty war so wütend und enttäuscht gewesen, dass sie ihn auf der Stelle entlassen hatte. Über die Jahre war sie vorsichtig geworden, wem sie ihr Vertrauen schenkte — auch beruflich.

Die meisten Mitglieder ihres Teams waren Einheimische und arbeiteten schon lange für Betty. Sie konnte sich blind auf diese Männer und Frauen verlassen. Da Coon County jedoch eine beliebte Tourismusdestination des Staates New York war und der Sheriff im Rollstuhl saß, benötigte Betty einen Senior Deputy, der mehr drauf hatte als der typische Polizist vom Land.

Und die Probleme mit der Besetzung dieser Position hörten nicht auf.

Betty ging die Kraft aus, sich immer wieder von Neuem auf jemanden einzulassen. Deshalb hatte sie die Stelle noch nicht einmal ausgeschrieben, obwohl die Wintersaison angelaufen war und die Arbeit sie zu erdrücken drohte.

«Undersheriff Warner? Sind Sie noch dran?»

Betty schreckte auf. Wie lange hatte sie in Gedanken versunken geschwiegen?

«Ja, Mister Chayton.» Betty wusste, dass sie tausend Fragen hätte stellen sollen. Daraus wurde eine einzige: «Wann können Sie anfangen?»

«Wenn ich ihn zu euch hochfliege, hast du ihn heute Mittag.» Jesse.

«Jesse, der Trailer …»

Die bis dahin perfekte Verbindung raschelte und knackste. Hatte sich Jesse das Mobiltelefon geschnappt?

«Halt die Klappe, Dark. Ich fliege dich jetzt da hoch. Und den Trailer bringe ich dir in den nächsten Tagen. Betty, wo kann ich den Hubschrauber bei euch landen und wie finden wir dich?»

Hubschrauber? Landen? Finden?

Betty riss sich zusammen. Sie kam sich vor, als wäre sie auf einem rasenden Karussell gefangen. Ohne irgendeine Möglichkeit abzusteigen.

«Erinnerst du dich an die Gegebenheiten von Dads Grundstück am See, wo wir Thanksgiving gefeiert haben? In Notfällen dient die Einfahrt Helikoptern als Landeplatz. Allerdings nur den kleinen mit einem Rotor. Für größere reicht der Lichtraum zwischen den Bäumen nicht.»

Bei Jesse war es nötig, solche Details zu erwähnen. Als geniale Pilotin konnte sie so ziemlich alles fliegen und es war nicht ausgeschlossen, dass sie mit einer zweimotorigen Chinook auftauchte, einem militärischen Transporthelikopter größer als ein Bus.

Jesse lachte nur. «Hey, easy. Ich nehme was Kleines und Schnelles. Bist du um zwölf Uhr dort?»

«Ja, kann ich machen.»

«Ein Deputy. Kommt sofort. Bis am Mittag.» Damit wurde die Verbindung unterbrochen.

2

«Du erhältst deinen Deputy per Luftpost?», brüllte Sheriff Mike Warner und hieb mit beiden Fäusten auf den Küchentisch. «Sag mal, hast du sie noch alle? Du kennst den Kerl doch überhaupt nicht!»

Die Wut ihres Vaters war furchteinflößend. Den letzten solchen Tobsuchtsanfall hatte Betty in ihrer Jugend erlebt — dies verdient, denn sie war ein wildes Kind gewesen. Das Hellfire, eine familieninterne Erweiterung ihres Taufnamens, kam nicht von ungefähr.

Betty achtete darauf, dass ihre Miene nichts von ihrem Unbehagen verriet. Mike Warner hasste Schwäche — bei jedem, egal ob Familie oder fremd.

«Das ist korrekt. Ich kenne ihn nicht. Aber Jesse und Ash kennen ihn und er kommt mit ihrer Empfehlung. Das genügt mir.»

«Pah, das sagst du. Ich will mit Ash reden. Wo steckt dieser dahergelaufene Südstaatler überhaupt?»

Bettys Bruder Dave, der scheinbar entspannt an der Wand lehnte und an seinem Kaffee nippte, erwiderte wortkarg: «Arbeiten.»

Seinen Platz hatte er strategisch optimal gewählt. Unmittelbar neben der Tür zur Veranda. Sekundenbruchteile für eine Flucht, falls das Treffen endgültig den Bach runterging.

Betty beneidete ihn. Von der Bank am Küchentisch kam sie bei einem Super-GAU nicht schnell genug weg.

Sheriff Mike holte tief Luft, um weiterzupoltern.

Bettys Mutter, die neben ihm saß, legte die Hand auf seinen Unterarm. Es besagte einiges, dass sie das Kochen unterbrochen und sich an den Küchentisch gesetzt hatte. Unter anderem, wie explosiv die Situation war.

Während Bettys Jugend hatte es zahllose solche Szenen gegeben, ihretwegen und — etwas seltener — wegen ihrer sieben Brüder.

Vor der Querschnittlähmung war ihr Vater in derartigen Momenten wie ein Raubtier am jeweiligen Ort herumgetigert, während er ihnen ihre Vergehen an den Kopf warf. Eine beeindruckende Vorstellung bei einem Zwei-Meter-Hünen. Seit er im Rollstuhl saß, hatten die Schelten an Wucht und Intensität zugenommen. Was er nicht mehr über körperliche Dominanz hinbekam, erledigte er mit Worten.

Es tat immer noch genau gleich weh.

«Mike, der Anruf war ein Geschenk des Himmels. Betty braucht Hilfe», sagte ihre Mutter ruhig.

Er knurrte und sandte seiner Tochter einen sengenden Blick.

Von fern erklang das Knattern eines Hubschraubers.

«Ich gehe jetzt meinen neuen Deputy begrüßen», sagte Betty frostig und erhob sich. Inzwischen war es ihr egal, ob der Kerl eins fünfzig groß war und eine dicke Brille trug. Um ihren Vater zu ärgern, hätte sie ihm den roten Teppich ausgerollt. Leider war keiner verfügbar.

«Du bleibst hier, Mädchen. Ich bin nicht fertig mit dir!»

Betty verließ fluchtartig die Küche und eilte die Stufen der Veranda hinab. Mit seinem Rollstuhl war ihr Vater verdammt schnell, doch er musste die längere Rampe nehmen.

Wolfie, der Irische Wolfshund ihrer Eltern, folgte ihr auf dem Fuß. Bei Streitereien ergriff er oft Partei, und zwar für jene Seite, die eher im Recht war. Schwarz und Weiß gab es bei solchen Konflikten ja nie. Mikes Bedenken waren alle korrekt. Doch Betty brauchte Unterstützung in ihrem Job. Jetzt. Und ohne Mehraufwand, der sie zusätzlich stresste.

Da kam ihr ein ehemaliges Mitglied einer militärischen Spezialeinheit wie gerufen. Betty kannte Ben, Ash und Jesse aus jenem Team und schätzte alle sehr, obschon Jesse sie an eine dieser stacheligen Seeminen erinnerte. Ein kleiner Schubs und — bumm! — ergaben sich permanente Konsequenzen.

Unter diesen Umständen konnte Darko Chayton kein Idiot sein.

In jedem Team gibt es einen Omega, rief die kleine böse Stimme in Bettys Kopf ihr die Realitäten des Lebens in Erinnerung.

Ja, genau. Den Klugscheißer, der alles besser wusste und sich stets gegen das Team stellte. Sätze wie ich habe es euch gesagt und ich würde das ja ganz anders machen zählten zu seinen Erkennungsmerkmalen.

Der Hubschrauber landete. Betty stoppte in angemessener Distanz. Wolfie setzte sich an ihre Seite und beobachtete die Maschine. Für einen Hund war er tiefenentspannt. Anders überlebte man als Vierbeiner im chaotischen Haushalt der Warners nicht. Die verschiedenen Katzen hatten Bettys Jugendjahre komatös durchgeschlafen, wenn sie nicht fressen oder auf dem Klo waren.

«Betty, verdammt noch mal. Wirst du mir zuhören!» Jemand ergriff ihre Hand und riss sie derb herum.

«Dad! Was erlaubst du dir! Ich bin …»

Plötzlich riss Bettys Vater die eben noch wütend blitzenden Augen auf und starrte an ihr vorbei. Dann begann er zu grinsen.

«Dein Deputy ist da», sagte er süffisant und wirkte dabei wie die sprichwörtliche Katze, die den Kanarienvogel gefressen hatte.

Das konnte nichts Gutes bedeuten. Offenbar hatte sich Betty wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht. Wie damals als hitzköpfiger Teenager.

Schritte stoppten hinter ihr. Jetzt starrte auch ihre Mutter, die schräg hinter dem Rollstuhl stehen geblieben war.

Betty schluckte, straffte die Schultern und atmete tief durch. Was hatte sie sich da nur eingebrockt?

Sie drehte sich um. Dabei orientierte sich ihr Blick wie stets leicht nach unten. Schließlich überragte sie die meisten Einwohner von Coon County deutlich.

Ihr Blick fiel auf die Brust eines Mannes … und wanderte Zentimeter um Zentimeter nach oben. Sein markantes Kinn befand sich auf Augenhöhe. Hagere Wangen folgten. Eine kühn geschwungene Nase. Dunkelblaue Augen …

Als ihre Blicke sich trafen, setzte Bettys Herzschlag kurz aus und pochte danach um ein Vielfaches schneller als zuvor.

Darko Chayton hatte die müdesten Augen, die sie je bei einem Menschen gesehen hatte, und wirkte trotzdem hellwach. Er musterte sie jedenfalls genauso intensiv wie sie ihn. Dabei blieb seine Miene unleserlich-neutral.

Er salutierte. «Undersheriff Warner. Darko Chayton.» Wieder diese Stimme wie geschmolzene Schokolade, obwohl sein Tonfall korrekt und respektvoll war.

«Jetzt hör schon mit dem formalen Scheiß auf, Junge. Wir sind hier in der Provinz», grollte Mike Warner hinter Betty lautstark. «Rück zur Seite, Hellfire, damit ich mir deinen neuen Deputy anschauen kann.»

Betty gehorchte, während sie sich innerlich vor Verlegenheit wand und ihr die Wärme in die Wangen stieg. Offenbar hatte ihr Vater auf gemein umgestellt und versuchte, sie vor dem Neuankömmling zu blamieren.

Darko Chayton nahm die klassische Rührt-Euch-Stellung ein, bei der die Arme entspannt an den Seiten hingen. Plötzlich schaute Jesse hinter seinem Rücken hervor. Ihr Scheitel befand sich knapp oberhalb seines Ellbogens.

«Hallo, allerseits. Mike, Agnes, Betty.»

Weil ein Name fehlte, schaute Betty über die Schulter und sah ihren Bruder im Schuppen nahe der Grundstücksgrenze verschwinden. Typisch Dave. Bei Familienkonflikten machte er sich gerne aus dem Staub.

«Hallo, kleiner Wadenbeißer. Steckst du hinter all dem?» Der Sheriff sandte Jesse ein humorvolles Lächeln, das Betty verletzte. Ihr Vater hatte sich einen Narren an der zierlichen Frau gefressen. Entsprach sie dem Bild der Tochter, die er sich gewünscht hatte?

«Könnten wir uns ein einziges Mal wie normale Menschen benehmen, damit uns nicht jeder gleich für verrückt hält?», rief Betty genervt aus und wandte sich ihrem neuen Deputy zu. «Mister Chayton. Herzlich willkommen in Coon County. Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind. Sie lösen damit ein großes Problem für mich. Dies hier sind Mike Warner, Sheriff von Coon County und mein Vater, und meine Mutter Agnes Warner.»

«Sir, Madam», begrüßte er die beiden mit einem Nicken.

Während Bettys Vorstellung war Wolfie aufgestanden, um den Neuankömmling zu beschnüffeln. Darko Chayton warf ihm einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel zu und machte eine unauffällige Handbewegung. Gehorsam setzte sich Wolfie an seine Seite — mit einem erstaunlichen Resultat.

Bei den meisten Menschen erreichte der Kopf des riesigen Wolfhunds fast die Schultern. Neben Darko Chayton wirkte Wolfie kaum größer als ein Belgischer Schäfer.

Zu traurig, lebte Boots nicht mehr! Ihr Hund war ein umfassender Menschenkenner gewesen. Betty hätte gerne seine Reaktion auf diesen Mann beobachtet.

Einiges an ihm war ungewöhnlich. Immerhin hatte Wolfie soeben einem Zeichen gehorcht, dessen Bedeutung ihm unbekannt war.

«Und das Kalb da ist Wolfie. Wie Sie zweifellos erkannt haben, ist er ein großer Softie. Hallo, Jesse. Vielen Dank, dass du so freundlich warst, Mister Chayton herzufliegen.»

«Das habe ich gern gemacht.» Jesse schien Betty die eher ruppige Behandlung nicht übel zu nehmen. «Ich fliege dann gleich wieder los. Ich habe für heute Abend einen Lastwagen und ein paar Soldaten gekriegt, die ihr Transportwissen auffrischen müssen. Für Burger und Bier nach der Rückkehr helfen sie mir beim Umzug des Trailers, obwohl ihr Strafdienst eigentlich nur halb so lange dauert, wie wir für die Überführung benötigen. Betty, schickst du mir heute die Adresse einer geeigneten Wohnmobilsiedlung und die Nummer des Standplatzes, wo wir abladen können?»

«Ja, mache ich», bestätigte Betty, obwohl sie die Hintergründe des Themas nicht überschaute.

«Also dann, hat mich gefreut!» Jesse winkte und eilte zurück zum Hubschrauber.

Betty und die anderen beobachteten die Maschine, bis sie in den tief hängenden Wolken verschwunden war. Es begann zu regnen. Ein typischer Herbsttag in Coon County.

«Kommen Sie, Mister Chayton», sagte Betty. «Wir fahren zur Wache. Dort können wir alles besprechen.»

Er bückte sich und hob seine Sporttasche hoch. Selbst für das Allernötigste wirkte sie verdammt klein. Wolfie, der neben der Tasche gesessen hatte, wedelte um Aufmerksamkeit heischend. Dafür wurde er hinter den Ohren gekrault. Der Hund schloss genießerisch die Augen und grinste, wobei er die lange Zunge seitlich aus der Schnauze hängen ließ. Wer ihn so sah, gab keinen Cent auf seine Intelligenz.

«Hör mal, Chief Betty. Obwohl du das Tagesgeschäft normalerweise selbstständig erledigst, möchte ich diese Besprechung hier abhalten», meldete sich ihr Vater ungewöhnlich zivilisiert zu Wort. «Drei Monate sind kurz und die ersten Touristen eingetroffen. Da wäre es gut, wenn Mister Chayton ab morgen voll arbeiten kann. Das gibt einiges zu tun, aber zusammen bekommen wir es hin.»

Betty starrte ihren Vater an. Meinte ihr alter Herr das freundlich oder herablassend? Und wo blieb seine übliche Widerborstigkeit? Normalerweise machte er Neuankömmlingen unter den Einsatzkräften des Bezirks gnadenlos die Hölle heiß. Bei Ash hatte er es zuletzt versucht — und war grandios gescheitert. Dies zu Bettys diebischer Freude.

«Dann bringe ich Sie schon einmal in die Küche, Mister Chayton.» Bettys Mutter trat vor und hakte sich bei ihm unter. «Darf ich Sie Dark nennen und duzen? Wir sind hier informell und Ben nennt Sie immer so, wenn er Sie erwähnt. Mein Name ist Agnes.»

«Gern. Ich freue mich, dich kennenzulernen, Agnes», hörte Betty seine Antwort, während die beiden in Richtung Küchentür aufbrachen.

Sie wartete, bis Darko Chayton und Agnes außer Hörweite waren, und wandte sich ihrem Vater zu. «Was soll das, Dad? Bereitest du eine neue Gemeinheit vor? Erinnere dich daran, wie gut dir das bei Ash bekommen ist.»

Seine Augen musterten sie aufmerksam. «Was ist los, Mädchen? Diese überhastete Entscheidung passt nicht zu dir.» Er winkte über die Schulter zum Haus. «Und du siehst aus, als hättest du gerade die Liebe deines Lebens verloren …» Er stockte, als ihre Augen ohne Vorwarnung überliefen. «Was du offenbar hast. War es jetzt soweit? Mit Boots?»

Betty schlug die Hand vor den Mund und wandte sich ab, um ihre Tränen zu verbergen, obwohl er sie schon gesehen hatte. Schwäche galt bei ihrem Vater nicht.

Sie hörte die Räder des Rollstuhls auf dem Kies. Jemand berührte sanft ihren Ellenbogen. «Jetzt komm schon und hol dir deine Umarmung ab. Es tut mir so leid.»

Als Betty nicht reagierte, ergriff er behutsam ihren Arm und zog sie zu sich runter. «He, ich weiß, dass ich stets Haltung von dir verlange — und oft viel zu hohe Ansprüche an dich habe. Das hier ist anders. Gegen Herzschmerz ist niemand gefeit.»

Betty ging neben dem Rollstuhl in die Hocke und ließ sich halten. Der Geruch ihres Vaters hüllte sie ebenso beschützend ein wie seine Umarmung. Die Zusammenarbeit der vergangenen Jahre hatte diesen Aspekt seiner Persönlichkeit in den Hintergrund gedrängt. Der Polizeiberuf war hart, stressig und forderte viele Überstunden.

Dadurch hatte sie überwiegend seine harte Seite gesehen. Vielleicht, weil auch er sich oft bis an die Grenzen pushte. Ein Sheriff im Rollstuhl musste doppelt so viel leisten wie gesunde Berufskollegen, um akzeptiert zu werden. War er deshalb oft gemein und zynisch?

Sein Duft weckte Erinnerungen an ihre Jugend, an den Vater, der er, damals körperlich völlig gesund, gewesen war. Er hatte nie Unterschiede zwischen seiner Tochter und seinen Söhnen gemacht und war bei aller Härte und Prinzipien immer für sie da.

Einmal hatte er sogar in Bettys Spieltipi übernachtet, als sie sich weigerte, ins Haus zu kommen. An den Grund für ihre kindliche Verzweiflung erinnerte sie sich nicht mehr, sehr wohl aber an den hünenhaften Mann, der sich zu einem Kringel zusammenrollen musste und sich die ganze Nacht kaum rühren durfte, weil eine Bewegung von ihm das Tipi gesprengt hätte.

«Dad, bitte sei freundlich zu Mister Chayton. Ich weiß, das willst du nicht hören, aber ich habe keine Kraft mehr. Im Frühling, wenn die Touristen weniger werden, ist er wieder weg. Dann können wir in aller Ruhe weiterschauen und planen. Irgendetwas müssen wir ändern. Keiner der fähigen Deputys will bleiben.»

«Ich weiß, Kind.» Mike tätschelte ihren Rücken. «Ich wünschte, ich wüsste, wie wir das lösen können. Vielleicht bist du mit deiner — wie ich nach wie vor finde — überhasteten Entscheidung auf etwas gestoßen. Hochdekorierte ehemalige Militärangehörige, die zwischen Jobs stehen, könnten eine Lösung sein. Mit etwas Glück und Mund-zu-Mund-Werbung füllt sich die Position von selbst.»

Wow, eine Friedenserklärung von Mike Warner. Damit hatte Betty nicht gerechnet. Eine seiner Aussagen erstaunte sie. «Hochdekoriert?»

Ihr Vater nickte. «Das sagt mir mein Instinkt. Du hast dir ein Überraschungspaket liefern lassen.»

Hatte sie ein Problem damit, wenn ihr Deputy über höhere Qualifikationen verfügte als sie selbst?

«Was genau beschäftigt dich, Dad?»

Mike Warner zögerte. «Ist dir vorhin aufgefallen, dass Darko Chayton sich vor deiner Mutter fürchtet?», fragte er für sein sonstiges Kommunikationsverhalten ungewöhnlich leise, als wollte er absolut sichergehen, dass die Personen im Haus ihn nicht hörten. «Das Gefühl zeigte sich für einen Sekundenbruchteil, wie ein unbewusstes Zucken, doch für jemanden mit unserer Ausbildung war es offensichtlich.»

Betty hätte sich ohrfeigen können. «Mir steht im Moment echt jemand auf der Leitung. Ja, ich hab’s gesehen. Es war keine Furcht im Sinne von Panik, sondern extreme Wachsamkeit. Er scheint sie als Bedrohung einzustufen, dich und mich aber nicht.»

Sie starrten sich an.

Betty seufzte. «Was machen wir jetzt?»

«Wir setzen uns zu Agnes und ihm in die Küche und organisieren alles, damit er gleich mit der Arbeit beginnen kann.»

Im Haus erwartete sie eine scheinbar relaxte Atmosphäre. Wolfie wälzte sich mit heraushängender Zunge auf dem Rücken und heischte um Aufmerksamkeit. Betty musste ihn an den Vorderpfoten zur Seite ziehen, damit Mike den Rollstuhl zum Tisch bewegen konnte. Das war die einfachere Variante, als den überdimensionierten Hund zum Aufstehen zu bringen.

«Du unmögliches Kalb!», schimpfte sie und bewegte seine Pfoten wie ein Pendel hin und her. «Kein Respekt vor dem Gesetz!»

Der Wolfshund grinste noch breiter, wedelte und jaulte, was bei ihm eher wie ein Quietschen klang.

Schon wieder drohten Tränen, als Betty sich an ihre Spiele mit Boots erinnerte. Der Malinois hatte ihr stets bedingungslos gehorcht. Wolfie war ebenfalls perfekt erzogen, nutzte aber, wenn es ums Folgen ging, seinen Spielraum gnadenlos aus.

Als Betty sich dem Tisch zuwandte, beobachtete sie, dass Darko Chayton ganz vorne und außen auf der Sitzbank saß — bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Er ließ Agnes nicht aus den Augen.

Hier im Haus hatte er seine dunkelgraue Mütze abgelegt. Betty entdeckte, dass sein Haar schwarz war wie die Nacht — und ihm bis über die Schultern reichte. Wenn er das unauffällige Lederband in seinem Nacken löste.

«Betty, Dark, wollt ihr mit uns essen?», fragte ihre Mutter. Sie stand am Herd und rührte in einem Topf, aus dem der verführerische Duft von Fleischbällchen drang.

Ihr Blick traf auf Bettys. Agnes war sich bewusst, dass etwas nicht stimmte.

«Normalerweise gerne, Mama, aber heute hätte ich nicht die Ruhe dazu.» Zudem verhinderte die Trauer, die wie ein Stein in ihrem Magen lag, jeglichen Hunger.

«Nein, danke», lehnte auch ihr neuer Deputy ab. Weil Betty ihm keine Wahl gelassen hatte?

«Dann viel Erfolg bei eurer Besprechung.» Mit einem freundlichen Winken verließ Agnes den Raum. Sie war es gewohnt, dass ihre Küche dem Sheriff als Besprechungsraum diente.

«Also, Junge. Wie meine Frau erklärt hat, sind wir in Coon County informell. Im Dienst bin ich Sheriff Mike, privat Mike. Meine Tochter wird von den meisten Chief Betty genannt, gleiches Prinzip. Wenn du hörst, dass Einheimische uns mit Titel und Nachnamen ansprechen, ist für gewöhnlich etwas faul. Das sind die Kandidaten für unsere Arrestzellen. Ist es für dich in Ordnung, wenn wir dich als Deputy Dark einführen?»

«Jawohl, Sheriff Mike», erwiderte er.

«Herzlich willkommen in Coon County, Deputy Dark.» Mike reichte ihm die Hand über den Tisch.

Er schlug ein.

Betty war die Nächste. «Herzlich willkommen auch von mir.»

Als Dark ihre Hand ergriff, regte sich etwas in Bettys Seele, als würde ein Teil von ihr aus dem Schlaf erwachen. Für einen so großen Mann griff er angemessen fest und trotzdem nicht grob zu. Allerdings war seine Hand eiskalt.

Unauffällig musterte Betty Darks Kleidung. Er trug nur einen dünnen anthrazitfarbenen Wintermantel, den er in der Küche aufgeknöpft hatte, und darunter ein weißes Herrenhemd. Seine khakifarbenen Chinos schienen eher für den Sommer geeignet, aber sicher nicht für das raue Klima der Adirondacks. Und er war mit normalen Straßenschuhen angereist. Mit ihrer geschulten Beobachtungsgabe hatte Betty das unbekannte Paar im Schuhregal beim Eingang bemerkt, aber nicht gleich geschaltet, was es bedeutete.

Ein Special-Forces-Soldat, der nicht auf die Klimatabelle und topografische Karte seines Einsatzortes schaute?

«Mehr Kaffee?», fragte Mike und hob die Kanne.

«Gern.» Dark schob die Tasse in seine Reichweite.

Auch Betty ließ sich nachschenken.

«Dann gehen wir die Liste anhand der Prioritäten durch. Diese lauten: Waffe, Fahrzeug, Uniform, Unterkunft. Allerdings muss ich dir als Allererstes den Kopf waschen. Wieso tauchst du in diesem Aufzug hier auf? Die Kleidung kannst du selbst in New York im Winter vergessen», polterte Mike.

Direkt vom Zuckerbrot zur Peitsche. So kannte Betty ihren Vater.

Darks Miene wurde undurchdringlich. «Ich war vor dem Abflug auf einer Beerdigung, Sheriff Mike.»

Der ausdruckslose Tonfall ließ Betty aufhorchen. Ob ihr Vater …? Natürlich. Der kannte nichts.

«Wessen Beerdigung?», fragte Mike.

«Meiner Mutter.»

Wham! In diesen Fettnapf war der Sheriff mit Anlauf hineingetappt und er wusste es. Er sandte Betty einen wachsamen Blick aus den Augenwinkeln.

«Unser aufrichtiges Beileid», sagte er zu Dark.

«Danke.»

Ein einziges Wort. Es sandte die Temperatur in der Küche tief unter den Gefrierpunkt.

Mike ließ einen Augenblick verstreichen, damit sich die Situation entspannte. «Gib mir ein Signal, Dark. Möchtest du an diesem Tag deine Ruhe? Oder willst du arbeiten?»

«Arbeiten.» Ein Wort wie ein Felsbrocken. Unverrückbar. Bezüglich Einsilbigkeit konnte Bettys neuer Deputy problemlos mit ihren Brüdern mithalten. Wenn einer von denen fünf Wörter sagte, kam das einer Rede gleich.

«Sind dir die Gegebenheiten von Coon County klar? Wenn ja, fass kurz zusammen, was du weißt.»

Dark, der bisher unverwandt Sheriff Mike angestarrt hatte, senkte den Blick. «Coon County ist ein Bezirk im Adirondacks-Gebirge, das im Norden des Staates New York die Grenze zu Kanada bildet. Als Staatspark sind die Adirondacks ein gigantisches Naturschutzgebiet. Es erstreckt sich über eine Fläche, die so groß ist wie mehrere amerikanische Nationalparks zusammengenommen, und dient als beliebte amerikanische Tourismusregion. Der Bezirk umfasst zwei rund zehn Kilometer voneinander entfernt liegende Ortschaften: Dancing Coons auf 230 Metern über Meer und Lake Coon auf 110 Metern über Meer, wo wir uns befinden. Dazu kommen einige Skiresorts in den Bergen. Im Sommer ist das Klima feucht-warm. Im Winter sinken die Temperaturen tief unter dem Gefrierpunkt und es fallen beträchtliche Schneemengen. Soll ich fortfahren?»

«Nein», winkte Mike ab. «Es ist klar, dass du dich vorbereitet hast. Zur Waffe. Wir stellen dir eine Dienstwaffe. Wegen der Wildtiere wie Bären und Elche ein großes Kaliber. Wenn du eine Präferenz bezüglich Hersteller hast, sag es jetzt.»

«Keine Präferenz.»

Das kam als Überraschung. Bewaffnete Einsatzkräfte, insofern sie auswählen durften, hegten für gewöhnlich innige Vorlieben und tiefe Abneigungen, was ihre Ausrüstung betraf.

«Dann anders herum», versuchte es Mike. «Womit erzielst du die höchste Trefferquote?»

«Ich treffe mit allem.»

Eine schlichte Aussage. Keine Angeberei oder Größenwahn.

Betty spürte, wie ihr Vater wütend wurde. Sie stieß mit dem Fuß gegen seinen Unterschenkel. Weil sie nur Socken trug — in Coon County gehörte es sich, das Schuhwerk im Eingangsbereich eines Hauses abzulegen —, konnte sie die Intensität dosieren. Zwar fühlte Mike den Rempler durch die Lähmung nicht direkt, doch der Impuls setzte sich bis in seinen Oberkörper fort, wo er die Bewegung ausgleichen musste.

Die stumme Ermahnung trug ihr einen finsteren Blick ein.

«Dann der Dienstwagen. Unsere Behörde war in den vergangenen Jahren recht erfolgreich mit Wohltätigkeitsevents. Deshalb können wir dir einen stellen, was für einen eher ärmeren Bezirk nicht selbstverständlich ist. Das Fahrzeug ist versichert. Trotzdem erwarten Betty und ich, dass du bestmöglich darauf aufpasst.»

Die Andeutung einer Falte entstand zwischen Darks Brauen. «Jawohl, Sir.»

«Passt dir das nicht, oder was?», fragte Mike.

Betty zuckte innerlich zusammen. Also war ihm die winzige Veränderung in Darks Mimik nicht entgangen. Er hatte jedoch einen anderen Schluss daraus gezogen. Ihr Vater glaubte Trotz zu entdecken. Sie sah Verärgerung.

«Du erwähnst eine Selbstverständlichkeit. In einer Spezialeinheit achtet man zuerst auf seine Kameraden, dann auf sein Equipment. Sonst ist man tot.» Wie schaffte Dark es nur, so gelassen zu klingen?

Mike schnaubte. «Schön für dich, wenn du das als selbstverständlich erachtest. Als normale Polizisten haben wir es des Öfteren mit Idioten zu tun — auch im eigenen Team.»

«Verstanden.»

Betty verbarg ein Schmunzeln, als sie die Verwirrung sah, die dieses eine Wort bei ihrem Vater auslöste. Sheriff Mike war es gewohnt, dass Gesprächspartner entweder verängstigt oder wütend auf seine schroffe Art reagierten, und genoss seine Macht über sie.

Mit Darks Ruhe konnte er nicht umgehen. An dem Mann schien alles abzugleiten, fast als wäre er aus Teflon.

«Dann versuchen wir in Coon County möglichst schonend mit Ressourcen umzugehen. Im Winter während der Standzeiten den Motor laufen zu lassen, damit deine Fingerchen beim Einsteigen nicht kalt werden, gibt es nicht. Das gleiche Konzept gilt für die Klimaanlage im Sommer.»

Jetzt wurde ihr Vater kindisch, obwohl alle Neulinge diesen Hinweis erhielten.

«So wichtig dieser Grundsatz ist, deine persönliche Sicherheit geht immer vor», übernahm Betty. «Sobald dein Instinkt anschlägt, zählt nur der.»

Ein Aufblitzen dunkelblauer Augen, als Dark kurz zu ihr schaute. «Verstanden.»

«Dann die Uniform», behielt Betty die Gesprächsführung bei sich. Für weitere Animositäten ihres Vaters fehlte ihr die Geduld. «Da du größer bist als der Durchschnitt, geben unsere Lager nicht direkt etwas her.»

So lautete auch der Untertitel von Bettys Leben. Selbst in Amerika war es als großgewachsene Frau nicht immer leicht, perfekt sitzende Kleidung zu finden. Und Betty weigerte sich, vor ihrer Pensionierung Sackmode zu tragen.

«Aufgrund der temporären Dienstzeit schlage ich deshalb vor, dass Mama Dads alte Winteruniform für dich anpasst. Es ist alles gereinigt und eingelagert. Sie würde die Ranginsignien des Sheriffs abtrennen und jene eines Deputys annähen.»

Nun schaute Dark sie direkt an. «Wenn du mir alles Nötige gibst, erledige ich das selbst.»

Ein Mann, der nähen konnte? Beachtlich. Bei aller Selbstständigkeit und Selbstgenügsamkeit brachten die alleinstehenden Männer des Bezirks solche Aufgaben doch lieber zu jemandem, der sie für sie erledigte.

Dieser Gedanke enthielt einen Logikfehler. Betty hatte keine Ahnung, wie Darks Beziehungsstatus lautete.

«Dann suchen wir die Dinge nachher raus. Die Uniform ist grau und nicht olivbraun wie jene, die ich trage. Wie erwähnt handelt es sich um das alte Modell. Aber sie ist warm und kommt mit einer wintertauglichen Jacke. Stiefel hast du mit dabei?»

«Ja, von meiner taktischen Ausrüstung.»

Das waren gute Neuigkeiten. Ihr letzter Deputy hatte vier Wochen lang gejammert, während er seine neuen Stiefel einlief, und Betty vorwurfsvoll jede einzelne Blase gezeigt. Wenn sie in diesem Leben keinen Männerfuß mehr zu Gesicht bekam, ging das für sie in Ordnung.

Vielleicht abgesehen von Darks Füßen …

Betty wurde ganz warm, als sie sich bei dem Gedanken ertappte. Sie musste völlig überarbeitet sein. Wer dachte über so etwas nach?

«Dann die Unterkunft. Jesse erwähnte einen Trailer, den sie dir bringt. Was hat es damit auf sich?» Auf diese Frage gab es eigentlich nur eine Antwort, doch Betty wollte sie von ihm hören. Als Polizistin verließ sie sich nicht auf Vermutungen, sondern Tatsachen.

«Ich wohne darin. Ich hätte die drei Monate gezeltet, doch Jesse besteht darauf, mir den Trailer zu bringen. Und Jesse widersetzt man sich nicht.»

Jetzt wurde es kritisch. Betty hoffte, dass ihr Vater Fingerspitzengefühl zeigte. Wer in einem Trailer wohnte, war in Amerika normalerweise zuunterst angekommen. Die letzte Stufe vor der Heimatlosigkeit.

«Nein, dem kleinen Teufel widersetzt man sich nicht — selbst dann nicht, wenn man doppelt so schwer ist und sie einem gerade mal bis zur Brust reicht», bestätigte Mike erstaunlich mild und zugleich nachdenklich. «Aber das mit dem Trailer ist ein Problem. Es gibt eine Mobilheimsiedlung in Dancing Coons oben, aber dort wohnen deine polizeilichen Kunden. Es geht nicht, dass auch du dort haust. Aber ich habe eine Idee. Ich gehe rasch telefonieren.»

Mike stieß sich vom Tisch weg und rollte in sein Heimbüro, von wo aus er oft arbeitete. Betty kam es suspekt vor, dass er dabei die Tür schloss.

Als sie sich wieder ihrem Gesprächspartner zuwandte, bemerkte sie, dass der sie intensiv musterte. «Erklärst du mir, wie ihr euch die Verantwortung aufgeteilt habt?», fragte Dark und nickte zur Schiebetür, hinter der der Sheriff verschwunden war.

«Dad macht alles Politische und Administrative. Zudem dient er den Einwohnern als Vertrauensperson. Ich erledige die aktive Polizeiarbeit.»

«Funktioniert das gut für dich, Chief?»

Kein Einwohner von Coon County hatte sich je getraut, ihr diese Frage zu stellen. Betty schluckte und musste aufwallende Tränen zurückdrängen.

«Na ja, wir haben bald zehn Jahre Übung darin und sind ziemlich erfolgreich mit dem System.» Was nicht die Antwort auf seine Frage war.

Dark akzeptierte ihre Zurückhaltung und nickte.

Sein feinfühliges Verhalten weckte ihr schlechtes Gewissen. «War ich vorschnell, als ich Mamas Angebot bezüglich des Mittagessens abgelehnt habe? Bist du hungrig?»

Er schüttelte den Kopf. «Ich brauche nichts.»

Was wiederum nicht die Antwort auf ihre Frage war.

Die Tür zum Heimbüro ihres Vaters ging auf.

«Also, Betty. Ich habe mit unserem Bürgermeister gesprochen. Für Ethan ist es in Ordnung, wenn du Darks Trailer in deinem Schuppen aufstellst. Er wird so lange wegschauen, bis es Beschwerden gibt.»

Betty klappte der Mund auf. Sie hieb mit den Handflächen auf den Tisch. «Dad! Wie kannst du es wagen, so etwas über meinen Kopf hinweg zu verhandeln!»

Er zeigte sich ungerührt. «Du wolltest einen Stellvertreter, der sogleich einsatzfähig ist. Dabei musst du Kompromisse eingehen. Arrangiere dich damit.»

3

Dark saß auf dem Beifahrersitz von Chief Bettys Pick-up. Es handelte sich um ein ziviles Einsatzfahrzeug. Auf dem Armaturenbrett war die Leiste mit dem Warnlicht installiert. In ausgeschaltetem Zustand wirkte sie so unauffällig, dass ein ungeschulter Beobachter sie kaum bemerkte.

Chief Betty und er hatten die Vakuumbeutel mit Sheriff Mikes alter Uniform aus dem Keller des Hauses geholt. Jetzt stapelten sie sich auf dem Rücksitz zwischen den Polizeiutensilien und einem größeren Notfallkoffer. Daneben lagen ein Nähbeutel und die Rangabzeichen eines Deputys, welche Agnes brummelnd für sie zusammengestellt hatte. Die Frau des Sheriffs schien die Arbeit nur ungern abzugeben.

Pech für sie.

Dark lehnte den Kopf an die Nackenstütze zurück und musterte durch die Windschutzscheibe seine Umgebung.

Das Anwesen des Sheriffs war atemberaubend. Auf einem weitläufigen, baumbestandenen Grundstück direkt am See stand ein türkisfarbenes Holzhaus im neugotischen Stil. Die weißen Zierelemente an der Veranda und am Giebel verliehen ihm etwas Leichtes und Fröhliches. Neben dem Haupthaus, verbunden durch einen gedeckten Weg, gab es eine separate Garage für mehrere Fahrzeuge und am Rand des Grundstücks erhob sich eine große Holzscheune, alles in den gleichen Farben gehalten.

Die Gebäude zeigten eine gelungene Mischung aus neu und alt. Einiges davon war der Behinderung des Sheriffs geschuldet, so die Rampe auf die Veranda und die breiter als übliche Eingangstür. Andere Details wie das riesige gläserne Tor der Scheune schienen eher einer sanften und zugleich mutigen Renovierung zu entsprechen. Es musste dem zuständigen Bauingenieur schlaflose Nächte beschert haben.

Alles deutete darauf hin, dass es sich bei den Warners um eine alteingesessene Familie handelte, die schon immer eine wichtige Rolle in der Gemeinde gespielt hatte. Sie übten ihre Funktion als Ordnungshüter mit einem tief verwurzelten Selbstverständnis aus.

Es war ein Fehler gewesen herzukommen.

Mit seinem offiziellen Lebenslauf — jenem, den Dark zeigen durfte — hätte er in jeder Großstadt eine temporäre Anstellung bei der Polizei gefunden. Auch ohne sein Studium, die Geheimeinsätze und Orden und trotz des beruflichen Abstiegs in den vergangenen Jahren las sich die Auflistung seiner Funktionen beeindruckend.

Welcher Teufel hatte ihn geritten, auf Jesses Vorschlag einzugehen?

Dass sie diesem mit einer Uzi mit Schalldämpfer Nachdruck verliehen hatte war ein Argument, das er nicht gelten ließ. Irgendwie hätte er sich herausreden können und sollen.

Er hatte vergessen, welche Gefahr Landpolizisten für persönliche Geheimnisse darstellten. Ihre Kollegen in der Stadt verließen sich auf Feuerkraft und Verstärkung.

Landpolizisten arbeiteten hingegen meist allein und mussten sich selbst aus Gefahren retten. Dabei dienten ihnen ihr Verstand und ihre Empathie als ebenso wichtige Waffen wie ihre Pistole.

Entsprechend tief sahen ihre Augen.

Dark war sich sicher, dass sowohl Sheriff Mike wie auch Chief Betty seine negative Reaktion auf Agnes bemerkt hatten.

Übelkeit flutete seinen Körper wie eine eisige Welle und sein Magen zog sich in einem schmerzhaften Krampf zusammen. Geduldig wartete Dark, dass der Moment vorbei ging. Das war nur der Hunger, der ihm meldete, dass er seit gestern nichts gegessen hatte.

Ein Job in der Stadt, um die Monate bis Ende Februar zu überbrücken, wäre die bessere Wahl gewesen. An diesem Ort gab es keine Anonymität. Hier kümmerten sich die Leute umeinander, was seine Existenz ungleich erschwerte.

Eine Bewegung auf der Veranda erregte Darks Aufmerksamkeit. Chief Betty hatte die Haustür aufgestoßen und unterhielt sich auf der Schwelle mit jemandem im Haus — offensichtlich mit dem Sheriff, da ihre Blickrichtung nach unten zeigte. Ihre Gestik war heftig. Zwischen Vater und Tochter flogen schon wieder die Fetzen.

Dark wollte nicht in Bettys Haut stecken.

Er ging davon aus, dass sie ein, zwei Jahre jünger war als er, also zwei- oder dreiunddreißig.

Viele Menschen erlebten dieses Alter als eine Zeit, in der sie stolz auf erste Erfolge zurückblickten — egal ob im Beruf oder durch die Gründung einer eigenen Familie. Diese Personen umgab oft ein Strahlen, weil der speziellen Lebensphase ein Zauber innewohnte, der alle Opfer und dunklen Ringe unter den Augen aufwog. Hoffnung, Liebe und physisches Wohlbefinden hatten im Idealfall noch keine Rückschläge erlitten. Zumindest keine drastischen, die das Urvertrauen unterminierten.

Jene kamen für gewöhnlich später im Leben.

Unter ihrem Einfluss panzerte sich die Seele, der Blick der Menschen wurde müde und die Last auf den Schultern schwerer.

Chief Betty zeigte all diese Anzeichen, obwohl sie zu jung dafür war. Sie trübten ihre Schönheit wie ein grauer Schleier.

Der Grund dafür lebte in dem türkisblauen Haus dort drüben. Wie ein Vampir sog Bettys Vater von ihrer Kraft. Dark hatte den zerstörerischen Einfluss, den Eltern auf ihre Kinder haben konnten, am eigenen Leib erlebt. Er wünschte diese Erfahrung niemandem.

Chief Betty schlug sich verdammt tapfer. Wie eine unbeugsame Amazonenkönigin hielt sie den Kopf hoch, obwohl ihre Kräfte schwanden.

Und sah dabei unglaublich gut aus, grauer Schleier hin oder her. Ihre Figur wirkte zu gleichen Teilen athletisch wie weiblich, mit geschwungenen Hüften, einer schmalen Taille und der perfekten Oberweite, um die Körperproportionen harmonisch erscheinen zu lassen.

Ihre über schulterlangen Haare waren haselnussbraun mit leichten Wellen darin. Sie trug sie zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Augen zeigten fast das gleiche Dunkelblau wie Darks und waren von langen dunklen Wimpern umgeben, die kein Make-up benötigten.

Und erst ihr Gesicht …

Jeder weibliche Filmstar aus früheren Zeiten hätte sie darum beneidet. Elegant und doch natürlich — wie ein ungewöhnlich hübsches Mädchen von nebenan.

Dark bemerkte, dass er ins Schwärmen geraten war.

Verdammte Müdigkeit.

Doch wieso sollte er nicht ein wenig träumen? Er stellte keine Gefahr für Betty dar. Kein Mann, der einen Hauch von Ehre besaß, fing in seiner Situation eine Beziehung an.

Und vielleicht war sie gar nicht Single. Oder bevorzugte weibliche Partner.

Dark rief seine Gedanken zur Ordnung. Während der Ausbildung zum Elitesoldaten war seine Beobachtungsgabe intensiv geschult worden, sodass sie das übliche Maß weit überstieg.

Betty war weder lesbisch noch in einer Beziehung. Und er dachte darüber nach, weil er ihren Reizen gegenüber nicht so immun war, wie er geglaubt hatte.

Na, toll. Genau das brauchte er. Noch mehr Probleme.

Betty öffnete die Fahrertür, stieg ein und legte die Hände aufs Steuerrad. Dann atmete sie tief durch. «Mit meinem Vater hast du soeben das größte Hindernis für einen angenehmen Arbeitseinsatz in Coon County überstanden. Ab jetzt kann es nur besser werden.»

Die knochentrockene Aussage überraschte ihn. Dark musste lachen und verwandelte den Laut rechtzeitig in ein Schnauben.

«Du nimmst kein Blatt vor den Mund», sagte er, weil sie nicht zu wissen schien, wie sie seine Reaktion deuten sollte.

Irgendetwas war an diesem Tag nicht in Ordnung mit ihr. Dark spürte Chief Bettys Kompetenz als Polizistin, doch sie schien aus irgendeinem Grund nicht die korrekten Schlussfolgerungen zu ziehen.

«Das ist besser so, was Dad betrifft.

---ENDE DER LESEPROBE---