Schneewittchen und Rapunzel - C. U. Wiesner - E-Book

Schneewittchen und Rapunzel E-Book

C. U. Wiesner

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Beschreibung

Auf den folgenden Seiten tauchen die Gestalten meiner Kindheit aus dem Nebel der Vergangenheit auf: der böse Kaufmann Sumpf, dessen Weib ich in ohnmächtiger Rachsucht beinahe umgebracht hätte, der furzende Lehrer Buchhorn, dem ich einen Spitznamen verpasste, der ihm bis zum Lebensende anhing, die Kinder des Reichspropagandaministers auf der Insel Schwanenwerder, der Feldmarschall von Mackensen in der Uniform der Totenkopfhusaren, welcher schmählich im Katzendreck erstickte, und viele andere. Meine Heimatstadt nannte ich 1982 nicht beim Namen, aber sie ist unschwer als Brandenburg an der Havel zu erkennen. Auch die meisten Personen verschlüsselte ich, denn man weiß ja nie …Trotzdem wäre es einmal beinahe schiefgegangen. 1986 veranstaltete die größte Buchhandlung der Stadt eine Signierstunde. Mehr als zweihundert Leser standen Schlange, aber so was war im Leseland DeDeDingsda keineswegs ungewöhnlich. Bei der anschließenden Lesung saß in der ersten Reihe ein Mann, der mir durch seine Schnapsfahne und seinen finsteren Blick auffiel. Leicht verunsichert überlegte ich: Woher kennste denn den Kerl? Nachdem der Beifall verrauscht war, zischte mir der Mann zu: „Det is ne Schweinerei von dir, dette jeschrieben hast, wie dolle mein Vadder jeschielt hat. Komm du mir nachher hier raus, sag ick dir!“ Nun erst erkannte ich meinen ehemaligen Jungenschaftsführer Günter, der in dem Kapitel Als ich ein Großdeutscher Pimpf war zu Recht nicht sehr schmeichelhaft weggekommen ist. Ich verließ die Buchhandlung durch die Hintertür. Wie lange können Ressentiments noch weiterglimmen? Er war damals dreizehn, ich zwölf Jahre alt. Eigentlich sollte der Schutzumschlag ein Mädchen und einen Jungen in der Kinderuniform des Tausendjährigen Reiches zeigen. Dies verhinderte der Leiter des Eulenspiegel Verlages: „Solange ich was zu sagen habe, kommen mir keine Nazisymbole auf die Umschläge!“ Die beiden Kindlein, die auf der damaligen Auflage zu sehen waren, trugen neckisches Zivil. So fragten auf den Buchbasaren viele Käufer: „Das ist doch wohl ein Kinderbuch?“ – Dann musste ich sie immer warnend darauf hinweisen, dass in dem Buch viele unanständiger Sprüche vorkämen. Auch die Titelfigur, mit der ich ja aus reiner Pointensucht nicht durchweg liebevoll umgegangen bin, ist mir noch einmal leibhaftig begegnet. Nach einer Lesung 1989 in der Freien Universität Berlin stand eine ansehnliche Dame vor mir: „Kennst du mich nicht mehr? Ich bin doch dein Schneewittchen.“ C. U. W.

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Seitenzahl: 685

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Impressum

C. U. Wiesner

Schneewittchen und Rapunzel

Geschichten aus der Kinder- und Jugendzeit

ISBN 978-3-96521-069-1 (E-Book)

Die Druckausgabe von „Machs gut Schneewittchen“ erschien erstmals 1982, „Leb wohl, Rapunzel“ 1985 im Eulenspiegel Verlag Berlin.

Titelbild: Ernst Franta

© 2020 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Machs gut, Schneewittchen. Zehn Geschichten aus der Kinderzeit

Wie ich beinahe TERRORIST wurde

Kein Mensch wird als Gewalttäter geboren. So war auch ich zunächst ein braver, etwas moppelhaft anzusehender Knabe, bevor mich das Gefühl jäh angetanen Unrechts um ein Haar zu einer mordgierigen Bestie werden ließ. Dabei zählte ich nicht viel mehr als sieben Lenze und lebte vorwiegend bei meiner Großmutter, die sich redlich mühte, mich zu einem Prachtexemplar von deutschem Jungen zu erziehen. So prangte an unserer einzigen Stubentür eine bunte Europakarte. Darauf durfte ich nach den täglichen Wehrmachtsberichten aus den Reichsrundfunksendern mit selbst gebastelten Stecknadelfähnchen den jeweiligen Frontverlauf markieren. Im ersten Kriegsjahr war das noch eine aufregende Beschäftigung. Später, als die Fähnchen immer häufiger nach links zurückgesteckt werden mussten, hat meine Großmutter die Landkarte abgenommen und eines Tages trotz des warmen Frühlingswetters in unserem einzigen Kachelofen verbrannt. Als wir jedoch das Jahr 1940 schrieben, musste ich noch jeden Abend mein Kindergebetchen sprechen: „Lieber Gott, ich bitte dich: Ein gutes Kind lass werden mich! Gib mir Gesundheit und Verstand und schütze unser Vaterland! Schütz auch den Führer jeden Tag, dass ihm kein Leid geschehen mag! Amen!“

Dieses ersprießliche Gebet geriet erst aus der Mode, als uns die Sirenen des Fliegeralarms zur Schlafenszeit immer häufiger in den Luftschutzraum trieben.

Für mich stand felsenfest, dass ich einmal Jagdflieger, zumindest aber U-Boot-Kommandant werden würde. Dazu waren zwei Voraussetzungen nötig. Einmal durfte der Krieg nicht zu schnell beendet werden, indem sich etwa die feige Feindesbrut gar zu eilig ergeben sollte. Zum anderen musste man selber Mumm in den Knochen haben, ein ganzer Kerl sein, eben ein mutiger deutscher Junge. Selbst Siebenjährige ließen keine Gelegenheit aus, ihre Heldenneigung zu beweisen.

In der Nähe des Hauptbahnhofs befand sich eine Fußgängerbrücke. Man hatte sie errichtet, damit die Kleingärtner und Siedler zu ihren Grundstücken gelangen konnten und nicht ewig vor den Schranken warten mussten, die wegen rangierender Güterzüge fast immer geschlossen blieben. Vor Jahren hat man übrigens - ich vermute, auf Wunsch der heutigen Kleingärtner und Siedler - besagte Brücke abgerissen, und als ich dort neulich den Motor ausschaltete und mir eine Zigarette anzündete, ist mir das alles wieder eingefallen. Kam damals eine Lokomotive angefahren, so bestand die erste Mutprobe darin, unerschrocken auf der Brücke stehen zu bleiben und sich den schwarzen Qualm nebst den Funken um die Nase wehen zu lassen. Höherer Mut gehörte schon dazu, auch dann nicht fortzulaufen, wenn das schwarze, fauchende Ungetüm genau unter der Brücke anhielt. Rußgeschwärzte Gesichter, schmerzende Brandflecken und Brandlöcher im Pullover waren der sichtbare Beweis für unsere Kühnheit, die erst dann kläglich dahinschwand, wenn verständnislose Eltern zum unwürdigen, doch bewährten Rohrstock griffen.

Die höchste Mutprobe aber bestand darin, sich von einem rangierenden Güterzug überfahren zu lassen. Das war ganz einfach. Man brauchte nur ein paar Handvoll Schotter zwischen zwei Schwellen herauszuklauben und sich vor dem Herannahen des Zuges flach zwischen die Schienen zu pressen. Hier nun, fast stocke ich beim Berichten, gebrach es mir an jener letzten Kühnheit. Auch nach mehreren, immer höhnischer werdenden Aufforderungen der älteren Jungen machte ich Ausflüchte und traute mich schon gar nicht mehr recht auf die Straße. Bis mir ein Einfall kam, mit dem ich mich zum Helden des gesamten Bahnhofsviertels aufzuschwingen gedachte.

Ich hatte irgendwo läuten gehört, dass es zu ungeheuren Explosionen käme, wenn man Feuer und Wasser vermischt. Mein erster Laborversuch schien das zu bestätigen. Sobald ich gegen die rot glühende Tür des Kachelofens spuckte, ertönte ein warnendes Zischen. Ich wurde kühner, heizte heimlich unsere elektrische Kochplatte auf der dritten Stufe an und goss ein Viertellitermaß kalten Wasses in einem Zug darüber. Ich erschrak fast zu Tode, als das gemarterte Eisen förmlich aufkreischte und sich mit einer heißen Dampfwolke zur Wehr setzte.

Nun war ich mir meiner Sache sicher. Sollte ich nach dem heldenhaften Wagnis noch am Leben sein, so würde ich mich umgehend an die Westfront melden, um alle noch nicht in deutscher Hand befindlichen französischen Eisenbahnzüge umgehend in die Luft zu sprengen. Ich krakelte auf die ausgerissene Seite eines Schulheftes: „Wenn ich fale, fale ich für Deutschland. Weint nicht um mir. Meine Spilsachen sol mein kleiner bruder haben. Euer lieber Ulrich.“

In das Vorhaben hatte ich nur meinen besten Freund, den Malermeistersohn Hansi eingeweiht. Er sollte unterhalb der Brücke Zeuge der großen Tat werden und im Falle eines Opfertodes meinen Ruhm der Nachwelt künden.

Wir warteten lange vergeblich. Die Abenddämmerung zog herauf. Hansi wurde immer kleinlauter, denn sein strenger Vater pflegte die Hausaufgaben zu kontrollieren. Endlich zeigte sich eine Rangierlok willig und blieb mit dem nur schwach dampfenden Schlot genau vor dem Brückengeländer stehen. Die Ausführung fiel mir ungeahnt leicht, denn meine Blase drückte mich nach stundenlanger opferbereiter Enthaltsamkeit gehörig. Schon der erste Strahl fand sein Ziel, genauer gesagt, er traf ins Schwarze.

Der Gegner indessen zeigte nicht die geringste Wirkung. Er schnaubte heftig auf und fuhr unbeeindruckt dem Rangierberg zu. In namenloser Enttäuschung knöpfte ich den Hosenlatz zu. Ich war so sehr in finstere Gedanken versunken, dass ich den neuen Feind, der mir unerwartet in der Gestalt des Schrankenwärters Hampke erwuchs, beim Abstieg gar nicht bemerkte. Statt meines Freundes Hansi, der sich längst verkrümelt hatte, nahm mich am Fuße der Treppe der kräftige Mann mit der Bahnermütze in Empfang, zog mich an den Ohren in die Höhe, beschimpfte mich als Regimentsschwein und Pullerferkel und kündigte mir an, mich bei der Polizei zu melden. Ich heulte ein wenig, nicht so sehr aus Angst oder vor Schmerzen, mehr aus dem ohnmächtigen Gefühl heraus, diesem groben Unhold gegenüber nicht die durchaus edlen Motive meines Tuns artikulieren zu können.

Seitdem mied ich für längere Zeit die Bahnbrücke und ging fortan fast jeden Nachmittag brav an Großmutters Hand zur Tante Meta. Sie war eine gütige , immer bleiche Matrone, die selber kinderlos, dazu neigte, mich mit Süßigkeiten, Zinnsoldaten und selbst erdachten Märchen zu verwöhnen. Manchmal, noch nach vierzig Jahren, träume ich von ihr. Ich bin sehr krank, liege im fast abgedunkelten Zimmer. Tante Meta sitzt an meinem Bett, legt mir etwas angenehm Kühles auf die Stirn und singt mit ihrer wunderschönen klaren Stimme: „Schlaf, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist du.“

Vielleicht rührte Tante Metas Bleichsucht von ihrer Tätigkeit her. Sie besaß eine Heißmangel, mit der sie mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt verdiente. Tagaus, tagein stand sie hinter dem brummenden Ungeheuer. Ich durfte es nicht berühren, denn da waren ungewisse Geschichten in Umlauf - von Leuten, denen es die Hand weggerissen, ja den ganzen Arm mit durchgedreht hatte. Ich habe die friesumspannte Walze nur hier und da, wenn es keiner bemerkte, flüchtig angetippt. In meiner Vorstellung sah ich mich nämlich platt gewalzt zu einem bunten Tuch mit menschenähnlichen Umrissen am anderen Ende herauskommen und zusammengefaltet in einem Wäschekorb verschwinden.

Die Heißmangel, so dachte ich bis vor Kurzem, sei ein Relikt meiner Kindertage. Wir haben eine vollautomatische Waschmaschine, und die sogenannte große Wäsche holt der freundliche Herr Wegener vom Dienstleistungsbetrieb REWATEX ab und bringt sie uns nach vierzehn Tagen mit seinem Barkas frisch gebügelt in einem handlichen Paket zurück. Es würde mich nicht verwundern, wenn ich eines Tages in der Wochenpost lesen sollte: „Liebhaber sucht guterh. Heißmangel. Zahle Höchstpr.“ Und dann stellt er die ungeschlachte Maschine im Garten seines Wochenendgrundstücks auf und bepflanzt sie mit Petunien.

Als ich neulich meine Heimatstadt besuchte, kam ich an einem kleinen Laden vorüber. „Heißmangel“ stand an der Schaufensterscheibe. Ich warf einen Blick durch die geöffnete Ladentür. Da drehte sich summend, von einem Elektromotor getrieben, von einer Zeile blauer Gasflämmchen beheizt, die wohlbekannte friesumspannte Walze. Auf dem gusseisernen Rad stand in erhabenen Buchstaben: „Gebr. Stute Hannover“. Die ältere Dame hinter der Mangel besprenkelte ein Laken mit einer Wasserbüchse, bevor sie es einlegte, ein krumm gewordenes Mütterchen nahm das ausgespiene Wäschestück entgegen und faltete es zusammen. Ich war wieder zu Hause in meiner Kindheit.

Tante Metas Heißmangel brachte für mich dazumal das große Geschäft. Als Siebenjähriger wurde ich für alt und seriös genug befunden, mittwochs und sonnabends die fertige Wäsche bei den Kundinnen der Umgebung auszufahren. An diesen Tagen hatte nämlich der etatmäßige Wäschefahrer Werner sein Braunhemd anzulegen und bei den Hitlerpimpfen den Gleichschritt zu üben, den Lebenslauf des Führers auswendig herzusagen und das völkische Liedgut zu pflegen. Wenn der Wind günstig und die Ladentür offenstand, hörten wir den markigen Schlachtgesang herüberklingen: „Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem großen Krieg ...“

Meine Arbeit erschien mir nicht schwer. Die Wäschepakete, manchmal auch Körbe - aber die musste ich nicht allein heben - wurden auf einen gummibereiften Fahrradanhänger verladen, und dann gings ab heidi! im Dauerlauf um die Ecke. Und im selben Tempo füllte sich das kleine schweinslederne Portemonnaie, das mir Tante Meta zur Einschulung geschenkt hatte.

Die Einnahmen bezog ich gleich aus zwei Quellen. Einmal entlohnte mich die gute Heißmangelprinzipalin redlich mit einem Fünfziger pro Arbeitstag. Zum anderen lernte ich schon frühzeitig die köstlichen Segnungen eines Trinkgeldberufes kennen und schätzen, und ich verstehe bis heute nicht, warum ich später eine so bakschischfremde Laufbahn wie die eines Literaten eingeschlagen habe. So mancher Groschen wanderte in meine immer praller werdende Börse. Und der gute messingne Groschen mit den gekreuzten Ähren war in seinem güldenen Glanze noch das Sinnbild üppigen Vorkriegswohlstands, wenigstens so, wie er sich damals in den naiven Hirnen von Kindern und fleißigen Kleinbürgern verklärte - besonders nachdem der Führer, von einer Welt von Feinden dazu gezwungen, mit seinem Zauberstab das gelbe Messing zu Granatzündern verwandelt und das stumpfe Zehnpfennigstück aus verzinktem Eisen in Umlauf gesetzt hatte.

Damals aber hortete ich meinen glänzenden Kinderschatz und mehrte ihn durch etwas, von dem ich noch nicht wusste, dass man es angewandte Psychologie nennt. Ich hatte nämlich ziemlich bald spitzgekriegt, wie man die einzelnen Kunden am wirkungsvollsten begrüßte, wenn man auf Trinkgelder spannte. Bei Klavierlehrerin Haseloff zum Beispiel machte man einen tiefen Diener und verkündete mit bescheidener Stimme: „Guten Tag, Frau Klavierlehrerin. Meine Tante, Frau Schubotz, schickt Ihnen die Wäsche. Würden Sie so freundlich sein ... ich kann den Korb nicht alleine tragen.“ Fräulein Haseloff trug den Korb sogar ohne meine Hilfe die Treppe hinauf und flötete, immer wieder nach Luft schnappend: „Nein, was es noch für wohlerzogene Kinder gibt!“ Hier war mir außer einem Fünfziger sogar ein Himbeerbonbon sicher.

Anders sah es aus, wenn ich Mittelschullehrer Tetzner zu beliefern hatte. Sein Wäschepaket war nie allzu schwer. Trotzdem schaffte ich mir ein asthmatisches Keuchen an, bevor ich den Klingelknopf drückte. Erschien der etwas zu kurz geratene Mann mit der goldgeränderten Brille und dem korrekten Scheitel in der Tür, so legte ich ihm das Paket zu Füßen, um den rechten Arm hochreißen zu können, und krähte: „Heil Hitler, Volksgenosse! Ich bringe die Wäsche!“ Dann schmunzelte Volksgenosse Tetzner wohlgefällig, legte mir die Hand auf den Kopf, wie er es im „Völkischen Beobachter“ dem größten aller Deutschen abgeschaut hatte, und schnarrte mir zu: „Jawollja, immer in strammer Haltung, mein Junge!“ Allerdings gab er nie mehr als einen Groschen.

Allmählich wurde mein Vermögen so umfangreich, dass ich es zum größeren Teil ins Sparschwein umfüllen musste. Mein Vater, der finanziell gesehen ein ziemlich armer Teufel war, empfahl mir, auf ein Knabenfahrrad zu sparen. Er hätte es mir kaum kaufen können, denn es kostete im Kaufhaus Gentz am Steintorturm bare zweiundvierzig Mark.

Leider wurde aus diesem Plan vorerst nichts, denn an der anderen Ecke von Tante Metas Häuserblock lauerte ein ruchloser Versucher darauf, mir die sauer gewordenen Groschen aus der Tasche zu ziehen. Wenn ich heute so Worte wie Konsumzwang und Manipulation höre, muss ich immer an Kaufmann Sumpf denken. Dabei tue ich dem armseligen Tante-Emma-Laden und seinem Inhaber, den gewiss längst die Brandenburgische Friedhofserde deckt, zweifellos unrecht.

Worin denn bestand sein Verführungswerk? Es gab in seinem Laden zwei Artikel, die Kinderaugen zum Leuchten bringen mochten. Kaufmann Sumpf führte sechs Sorten köstlicher Brauselimonade: Himbeere (rot), Waldmeister (grün, heute sowieso verboten, da angeblich Krebs erzeugend, aber von köstlichem Wohlgeschmack), Apfel (gelblich), Apfelsine (orangefarben, was sonst?), Zitrone (farblos), Schokolade (braun, vielleicht ein Zugeständnis an das herrschende Regime, schmeckte übrigens scheußlich).

Die Brause wurde in 1/3-Liter-Flaschen verkauft. Die hatten noch einen eisernen Bügelverschluss mit Porzellanknopf und Gummimanschette und machten beim Öffnen vernehmlich „plupp !“.

Vor einigen Jahren habe ich mir auf einem polnischen Flohmarkt so eine Flasche gekauft, ziemlich teuer, aber zum ehrlichen Umtauschkurs. Nun könnte ich Kaufmann Sumpf zum Gedenken ab und zu mal „plupp“ machen, aber wer tut das schon? Damals. aber pluppte es bei mir mehrmals täglich. Jedes ,,Plupp“ kostete mich fünfundzwanzig Pfennige, aber wenn ich die Flasche gleich vor der Ladentür ausgetrunken hatte, belohnte mich Kaufmann Sumpf mit einem blanken Groschen für die leere Flasche. Er dachte übrigens gar nicht daran, mir Vorhaltungen zu machen wegen möglicher gesundheitlicher Schädigungen, wusste ich doch von meiner guten Tante Meta, dass Kinder vom allzu vielen Trinken Läuse in den Bauch bekämen. Aber so waren sie eben, diese Kleinkapitalisten, nur Profit, Profit, Profit ...

Bald begann mir Kaufmann Sumpf auf noch schnödere Art das Geld aus der Hosentasche zu ziehen, indem er mich in gütigem Onkelton auf seine Wundertüten aufmerksam machte. Ich war manipulierbar und ging ihm auf den Leim. Besagte Tüte kostete einen Groschen, und dafür, das muss man zugeben, wurde allerlei geboten. Zugesteckt war sie mit einer Nadel, die gleichzeitig einen Fingerring mit Glasperle festhielt. Was sollte ich als deutscher Junge mit weibischen Fingerringen anfangen? Ich verschenkte sie, wenn gerade keine anderen Jungen in Sicht waren, gönnerhaft an die Mädchen aus dem Häuserblock. Des Weiteren enthielt die Tüte eine kleinere Tüte mit bunt gefärbtem Puffreis. Den konnte man immerhin essen, schon als Äquivalent zu dem täglichen Liter Brause. Das eigentliche Wunder der Tüte bestand jedoch in irgendeiner billigen Schnurrpfeiferei, einem Schnickschnack, einem Firlefanz: Mal war es ein Würfel, mal eine Schleife oder ein Geduldspiel. Jedenfalls blieb der Gegenstand, mit dem man nie was Rechtes anzufangen wusste, stets unter der Erwartung. Von der aber lebte Kaufmann Sumpf, denn ich war nicht sein einziger Kunde. Übrigens nahm ich damals an, er fülle die Wundertüten eigenhändig. Ob es wirklich so war, wird heute kaum noch festzustellen sein.

Der Krieg nahm seinen Fortgang. Im Kreisblatt mehrten sich die Anzeigen mit dem schwarzen Eisernen Kreuz. Immer wieder las man, dass jemand in treuer Pflichterfüllung für Führer, Volk und Vaterland gefallen sei. Die Frauen gingen in stolzer Trauer einher, sahen aber verweint und gar nicht so stolz aus. Überhaupt wirkten die Leute etwas stiller als früher.

Ohne dass es einer so recht angekündigt hätte, wurden manche Dinge teurer. Mir wäre das freilich verborgen geblieben, hätten mich nicht Kaufmann Sumpf und Maxe Kuhtz sozusagen mit der Nase darauf gestoßen.

Maxe Kuhtz galt als ein Original unserer Stadt. Er verrichtete Botengänge und mit seinem Handwagen kleinere Lohnfuhren. Man erzählt von ihm, er sei da oben nicht ganz dicht gewesen, aber davon muss mich erst einer überzeugen. Er pflegte eine Kneipe zu betreten, und alsbald steckte ihm ein Stammgast einen Groschen zu und sagte: „Maxe, pfeif mal!“

Maxe ließ sich nicht lange nötigen. Sein Repertoire war recht einschichtig, er beherrschte nur eine einzige Melodie, die aber perfekt. Maxe pfiff den Militärmarsch „Preußens Gloria“. Ob wir den heutzutage schon wieder von unseren Blasorchestern hören können, weiß ich nicht. Wir Jungen sangen damals unseren eigenen Text darauf: „General von Ziethen lag im Bett mit seiner Frau Elisabeth. Sie lagen beide Arsch an Arsch und furzten den Radetzkymarsch ...“ Maxe Kuhtz also pfiff und pfiff und hörte nicht mehr auf. Bis es dem jeweiligen Kneiper zu bunt wurde. Dann langte er Maxe einen Groschen hin und knurrte: „Nu ist jut, Maxe!“ Worauf dieser beide Groschen dem Kneiper aushändigte, seinen Schnaps trank und das Restaurant verließ. Ich glaube übrigens nicht, dass der einfältige Bote die Fachliteratur über Chicago und Umgebung, über Al Capone und Konsorten studiert hat. Bei Maxe kam das mehr so von innen heraus und war unsagbar gutartiger. In gewisser Weise nahm er die Einstellung heutiger Unterhaltungskünstler vorweg: Es kam ihm nicht darauf an, wo und vor wem er auftrat - Hauptsache, die Gage stimmte. So konnte ihn ein beliebiger Halbwüchsiger auf offener Straße engagieren - Maxe pfiff eben für gutes Geld. Mein Freund Hansi und ich haben es selber ausprobiert. In die Kosten teilten wir uns. Ich zahlte den Groschen fürs Pfeifen, Hansi den fürs Aufhören.

Als wir gegen Ende des ersten Kriegsjahres anderen Jungen unseren Künstler vorführen wollten, bekamen wir eine herbe Abfuhr. Maxe betrachtete geringschätzig meinen Heißmangelgroschen, spuckte darauf, gab ihn mir zurück und knurrte: „Een Fumziger und ne Zijarre, sonst fang ick jar nicht erst an!“ So war Maxe Kuhtz unter die verabscheuungswürdigen Kriegsgewinnler gegangen, und nicht nur er. Als ich meinen Groschen auf den Ladentisch legte und von Kaufmann Sumpf eine Wundertüte erheischte, sagte er patzig: „Kost jetz zwanzig Fennje, wir ham nämlich Kriech.“

Das mit dem Krieg war mir bekannt, aber eine Verbindung zwischen diesem und der verteuerten Wundertüte vermochte ich zunächst nicht herzustellen. Der Führer hat gesagt, das deutsche Volk muss Opfer bringen für die heldenhaft kämpfenden Soldaten. Das wusste ich von meiner Großmutter. Auch dass er die Losung ausgegeben hat: „Kampf dem Verderb!“ Das wusste ich von Fräulein Schwartzlose, unserer Lehrerin. Die hatte uns das genauer erklärt: Jeder Teller Eintopf, den ein deutsches Kind nicht brav aufisst, bedeutet Verrat an der deutschen Volksgemeinschaft. Ich betrachtete Kaufmann Sumpf. Er hatte genauso ein Bärtchen wie der Führer, aber im Gegensatz zu dem eine spiegelblanke Glatze. Auch war die braune Uniform des Führers viel schöner als Kaufmann Sumpfs fleckiger brauner Kittel. Aber der Blick! Kaufmann Sumpf schaute genauso streng drein wie der Führer in der Wochenschau. Zögernd langte ich den zweiten Groschen aus meiner Schweinslederbörse. Das Geschäft und der Fahrradanhänger waren schließlich heute ganz gut gelaufen.

Draußen öffnete ich die Wundertüte. Sie enthielt einen hölzernen Würfel - und sonst nichts. Spornstreichs lief ich zurück in den Laden und krähte: „Herr Sumpf, Herr Su-umpf! Sie haben nicht mal Puffreis reingetan. Det is Beschiss!“

Kaufmann Sumpf glotzte mich an. Im Laden standen zwei Kundinnen, gemeinsame Kundinnen, denn ich belieferte sie mit Heißmangelwäsche. Die freundlichsten waren sie nicht, obwohl ich sie mit schallendem „Heil Hitler!“ zu begrüßen pflegte. Kaufmann Sumpf blickte auf die beiden Damen, heute würde ich sie als Zimtzicken bezeichnen. Sie schauten einander an und machten mit der Zunge jenes schmatzende Geräusch, das man so unzulänglich mit „Tz, tz, tz“ wiedergibt. Dies ermunterte den Ladeninhaber. Er kam auf mich zu, haute mir rechts und links eine runter, fügte in der Mitte noch eine hinzu, packte mich am Kragen und beförderte mich mit dem Rufe „Lass dir nicht noch mal bei mir blicken, du Lausewanst!“ vor die Ladentür.

Mir war merkwürdig taumlig zumute. In meinem Kopf summte es. Mir kamen die Tränen. Ich begann schniefend hochzuziehen. Es schmeckte so komisch. Als ich mit dem Handrücken über die Nase fuhr, war alles rot. Nur nicht so der Tante Meta und der Großmutter unter die Augen treten! In einem Hausflur presste ich das Taschentuch gegen die Nase, bis das Bluten aufhörte. Dann warf ich das Taschentuch weg. Bei der Heißmangel herrschte Hochbetrieb. Mein verstörtes Aussehen fiel keinem auf. Ich ging in die Küche, wusch mir die Nase und setzte mich auf einen Stuhl.

Meine Logik war glasklar: Der Führer ist gerecht. Kaufmann Sumpf ist ungerecht. Auch die Feinde sind ungerecht, denn sie wollen Deutschland verderben. Kaufmann Sumpf hat versucht, mich zu verderben. Also ist er ein Feind, denn ich bin ein deutscher Junge. Feinde muss man töten, also muss Kaufmann Sumpf sterben.

Wie aber sollte ich mein Urteil vollstrecken? Ich war ein halbes Pfund Hackfleisch, der Feind aber ein kräftiger Unhold. Das hatte das erste Treffen erwiesen. Vielleicht sollte ich ihm einfach die Schaufensterscheibe mit einem Stein einwerfen? Hier aber setzte eine andere Hemmung ein. Als ich noch sehr klein war, bin ich mit meinem Vater durch die Innenstadt gegangen. Da sind Männer in braunen Uniformen aus einem Auto gestiegen und haben mit Knüppeln eine Schaufensterscheibe eingeschlagen. Mein Vater hat mich auf den Arm genommen. Er hat so komisch gezittert und immerzu vor sich hin gemurmelt: „Diese Schweine, diese Schweine!“ Dann ist er mit mir in die Stehbierhalle von Bunke gelaufen und hat ganz viel Schnaps getrunken. Wie wir nach Hause gekommen sind, hat uns meine Mutter ganz schnell ins Bett gebracht, und ich durfte bei meinem Vater schlafen. Er hat mich ganz doll gedrückt und immer geweint. Schaufenster einschmeißen, das wusste ich schon damals, muss etwas ungeheuer Böses sein.

Meine Nase schmerzte noch heftig, als mich Großmutter an diesem Abend zudeckte, aber ich behielt mein Wundertütenerlebnis für mich. Die Großmutter schnarchte schon ein wenig, da sprang mich plötzlich der zündende Gedanke für meine Rachepläne an. Wenn ich Kaufmann Sumpf einfach umbrachte, kam er womöglich noch in den Himmel - wer kannte sich in solchen Fragen schon aus? - und durfte täglich die lieben Englein singen hören. Und was hatte ich davon?

Nein, das Schicksal sollte ihn härter treffen. Man muss ihm das Liebste nehmen, was er auf dieser Erde hatte, und das war unbestritten seine Frau. Selbst wenn Kunden im Laden waren, turtelte er mit dieser Dame herum, dass man schon gar nicht mehr wusste, was man als Siebenjähriger für ein Gesicht machen sollte. Mit honigsüßer Stimme sprach er zu ihr: „Mein Pusselchen, mein Schnudelchen“ und betatschte sie dauernd unter ihrem faltigen Doppelkinn. Dabei war Frau Sumpf alles andere als schön. Sie überragte als dürre Bohnenstange ihren Mann um Haupteslänge, watschelte wie eine Ente und hatte eine genauso scheppernde Stimme wie der Wecker meiner Großmutter. Dabei tat sie aber ungeheuer fein, und wenn sie wirklich mal im Laden mit bediente, verbesserte sie ständig meine Aussprache. Kurzum: Frau Sumpf war das geeignete Opfer meiner Rache. Diese aber musste sorgfältig geplant werden.

Da ich fast täglich in der Gegend herumstreunte, wusste ich, dass Schnudelchen jeden Donnerstagnachmittag in die Stadt fuhr. Sumpfs wohnten zwar nicht auf dem Lande, aber wenn man bei uns Stadt sagt, meint man noch heute die beiden rechtwinklig zueinander verlaufenden Hauptgeschäftsstraßen im Weichbild der historischen Neustadt. Was Frau Sumpf dort jeden Donnerstag zu suchen hatte, habe ich nie erfahren. Ich will ihr - schon ob des geschilderten Aussehens - nicht unterstellen, dass sie einen Liebhaber besuchte. Ich weiß auch nicht, ob sie Singestunde im Kirchenchor von St. Katharinen hatte oder gar Versammlung bei der NS-Frauenschaft, einer Organisation, über die ein literarischer Spottvogel nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches schrieb: „Dem Führer unsre Mühe, dem Führer unsre Kraft. Wir sind die alten Kühe der NS-Frauenschaft.“ Ich wusste jedenfalls, dass Frau Sumpf zu ihrer Stadtfahrt stets die Weiße Linie der Straßenbahn benutzte, und zwar genau um 15 Uhr. Woher ich das so genau weiß? Natürlich hatte man mir noch keine Quarzuhr zur Einschulung geschenkt. Meine erste Uhr bekam ich mit neunzehn Jahren. Das Westgeld dafür haben meine Eltern zum Schwindelkurs eingetauscht. Meine genaue Zeitangabe entsprang einer einfachen Beobachtung. Kaufmann Sumpf öffnete pünktlich um 15 Uhr seine Ladentür für die Kundschaft. Donnerstags ließ er bei der Gelegenheit sein aufgedonnertes Pusselchen hinaus, drückte ihr einen vermutlich nach Fassgurken schmeckenden Schmatz auf den Mund, und Schnudelchen stöckelte eilig zu der etwa 100 Meter oberhalb des Eckladens liegenden Haltestelle. Fuhr die Weiße Linie dann am Laden vorüber, so warf Kaufmann Sumpf seiner Holden durchs Fenster eine Kusshand zu.

Ein echter Terrorist studiert die Gewohnheiten seiner Opfer, und man sieht, ich war ganz gut im Bilde. Mein Plan schien so genial wie einfach: Ich brauchte nur die Straßenbahn unmittelbar vor dem Sumpfschen Laden zum Entgleisen zu bringen, so fand nicht nur Pusselchen ein grausiges Ende - der Schläger im fleckigen Kittel musste auch noch die Katastrophe mit eigenen Augen ansehen.

Vielleicht sollte ich, bevor ich zum Attentat schreite, erklären, was es mit dem Phänomen der Weißen Linie auf sich hat. In meiner Heimatstadt führten die Straßenbahnlinien bis 1945 nicht, wie andernorts üblich, Nummern zur Unterscheidung, sondern Farben, die sie auf drehbaren Schildern oberhalb der Fahrerkabine zeigten. Es war ähnlich wie bei Kaufmann Sumpfs Brausesortiment. Es gab eine Rote, eine Gelbe, eine Blaue, eine Weiße und zeitweise auch eine Grüne Linie. Die Weiße sollte nach meinem Willen die Sumpfsche Todeslinie werden.

Wenn ich die Dinge heute so überschaue, so erschreckt es mich noch im Nachhinein. Mir kam nicht einmal der Gedanke, dass doch auch der Fahrer, die Schaffnerin und etliche unschuldige Fahrgäste zu den Opfern hätten zählen können. Darum begreife ich vielleicht als einziger Bürger unseres so friedlichen wie gutartigen Landes in vollem Umfang die Schrecken des internationalen Terrorismus. Damals war es mir - den vulgären Ausdruck kannte ich freilich noch nicht - scheißegal.

Der nächste Abschnitt der fahrplanmäßigen Strecke bot ohnehin seine Gefahren. Die Bahn überquerte die kesselförmige Erweiterung des Büttelhandfassgrabens. Der Überlieferung nach pflegte sich dort im Mittelalter der Scharfrichter, wenn er am nahen Galgen einen armen Sünder gehenkt hatte, die Hände zu waschen. Auf dem Eis des zugefrorenen Kessels tummelten sich im Winter die Kinder mit Schlittschuhen oder Holzpantinen, je nach dem sozialen Status. Ich habe dieses Eis nie betreten, denn von Tante Meta wusste ich, dass hundert Jahre zuvor ein durchgehendes Fuhrwerk in den Kessel gerast sei. Weder vom Fuhrmann noch vorn Wagen und den Pferden habe man jemals eine Spur gefunden. Leider stand es nicht in meiner Macht, die Bahn mit Frau Sumpf in den grausigen Kessel stürzen zu lassen.

Der von mir bestimmte Todesort lag etwa zweihundert Meter davor. Als sich, von der Haltestelle kommend, die Bahn der geballten Ladung näherte, war ich für Sekunden bereit, auf die Schienen zu springen, um das Unheil doch noch zu verhindern. Pure Feigheit hielt mich zurück.

Fünf Jahre später erlebte ich fast an derselben Stelle, was es heißt, Todesfurcht zu empfinden. Wir hatten im Frühjahr 1945 die noch immer umkämpfte Stadt verlassen müssen. Als wir, Vater, Mutter, Bruder und ein unechter Foxterrier zurückkehrten, unsere Habe auf einen Handwagen gepackt, war jene Büttelhandfassbrücke der einzig mögliche Zugang zu unserem inzwischen halb niedergebrannten Stadtviertel. Aber die Brücke bestand nur noch aus zwei einsamen Straßenbahnschienen, über die man ein paar Bretter und ausgehängte Türen gelegt hatte. Nachdem wir mit winzigen Zeitlupenschritten das andere Ufer erreicht hatten, troff uns der Angstschweiß aus allen Poren.

Heute ist der Kessel längst zugeschüttet. Eine breite Straße führt darüber. Es gibt keine Tante Meta mehr und auch keinen Kaufmann Sumpf. Bei aller Feindschaft wünsche ich ihm nachträglich, dass er seine Frau noch oft „Mein Pusselchen“ und „Mein Schnudelchen“ nennen durfte.

Wer einen Groschen aus Messing auf die Schienen legt, bringt keine Straßenbahn zum Entgleisen und keine dürre Kaufmannsfrau vom Leben zum Tode, genauso wenig, wie ein Bombenleger den gesetzmäßigen Lauf der Dinge ändert. Und ich bin ganz froh, dass ich das aus eigener Erfahrung sagen kann.

Wie meine Laufbahn als KLAVIERVIRTUOSE scheiterte

Man müsste Klavier spielen können, behauptete man vor einem Menschenalter, denn wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frauen. Was mögen das für rückständige Zeiten gewesen sein! Ein junger Mann von heute würde bei den meisten Mädchen als bleicher Spinner abblitzen, versuchte er, auf diese altmodische Art zu landen, es sei denn, er säße schön und blond wie der Franzose Richard Clayderman im weißen Frack am weißen Flügel und spielte Pour Adeline oder Song Of Joy. Aber wer klimpert sonst schon noch selber auf dem Piano herum, wo es doch viel bequemer ist, eine Platte aufzulegen oder den Rekorder einzuschalten? Im Zeitalter der wachsenden Spezialisierung überlässt man die Musik den professionellen Fachleuten, anstatt sich mit hausgemachter Stümperei abzugeben.

Was mich betrifft, so bin ich ein altmodischer Mensch und bedauere das Dahinsterben des Klavierspielens. Eingeweihte wissen, dass ich nicht von jenem Instrument rede, wie es Annerose Schmidt in internationalen Konzertsälen zu immer neuen Ehren führt. Ich meine jenes Klavier, das in einem Café stand. Drei würdige Herren, Violine, Cello, Piano, gaben dort nachmittags zu Mokka und Kirschtorte die Serenade von Toselli oder das Poem von Fibig, vertauschten nach dem Abendbrot den schwarzen Smoking mit der Lüsterjacke, die Streichinstrumente mit Saxofon und Schlagzeug und spielten zu gedämpftem Licht eine so leise, zärtliche Barmusik, dass man seiner Partnerin beim Tanzen nicht das Ohr abbeißen musste, um ihr mitzuteilen, dass man das erste Mal in dieser zauberhaften Stadt sei.

So was gab es, Ehrenwort! bei uns noch Mitte der sechziger Jahre, zum Beispiel im Bahnhofshotel zu Quedlinburg. Als die Nostalgiewelle trotz allen Hohngeschreis der Presse auch bei uns eindrang, vielleicht nicht so sehr die Seelen wie die Haushalte überspülte, hegte ich die heimliche Hoffnung, auch das Klavier mit seiner dezenten Barmusik würde wieder in unseren Breiten heimisch werden. Ein törichtes Hoffen, wie inzwischen jeder weiß.

Wäre ich nicht ein so faules und undiszipliniertes Kind gewesen, so könnte ich heute mich und die Meinen an den himmlischsten Gaben der Frau Musica laben. In meinem Zimmer stünde ein braunes, matt glänzendes Klavier mit messingnen Kerzenleuchtern. Und wenn mir so wäre, mitten in der Nacht, so setzte ich mich im Schlafanzug auf den harten Schemel, schlüge behutsam den Deckel auf und spielte mit versonnenem Lächeln die Mondscheinsonate.

Geboren bin ich in einer Eckkneipe, im letzten Monat der Weimarer Republik. Die Stammkunden nannten das Lokal den „Blauen Affen“, obwohl es eigentlich ganz anders hieß. Es verkehrten dort Arbeiter, Straßenbahner und Inhaber kleiner Läden, Kommunisten, Sozialdemokraten und parteilose Kleingärtner. Familienväter versoffen ihren Wochenlohn und Arbeitslose ihr Stempelgeld. Selbst der berüchtigte Zuhälter und Messerstecher Schmalte Brebeck trank ab und an seine Molle und seinen Korn, soll jedoch niemals randaliert haben.

Der „Blaue Affe“ muss eine mächtig verräucherte Stampe gewesen sein, hatte aber außer den herkömmlichen schlichten Getränken auch einiges zu bieten, nämlich Bockwurst mit Kartoffelsalat, Soleier und Buletten und nicht zuletzt das Klavierspiel meines Vaters. Das war nämlich das einzige, was ihm in dieser Kneipe Spaß machte. Als sehr jungen Mann hatte ihn der Rat der älteren Geschwister dazu verdammt, meiner Großmutter am Thresen mannhaft zur Seite zu stehen.

Mein Vater hat nie Klavierspielen gelernt, aber es ist noch heute so mit ihm: Er nimmt ein Instrument zur Hand, fingert ein bisschen daran herum, und schon entlockt er ihm zusammenhängende und durchaus melodisch klingende Töne. Im „Blauen Affen“ spielte er im Nu die allerneuesten Schlager: „In einer kleinen Konditorei ...“, „Schöner Gigolo, armer Gigolo ...“, „Adieu, du kleiner Gardeoffizier ...“, „Es war einmal ein Musikus ...“.

Die Schlager des Jahres 1935 hießen: „Regentropfen, die an dein Fenster klopfen ...“ und: „Du kannst nicht treu sein, nein, nein, das kannst du nicht ...“.

Man sagt mir nach, ich hätte neben Vaters Klavier gestanden und aus voller zweijähriger Kehle mitgesungen.

Es waren schlechte Zeiten für eine Arbeiterkneipe, deren Pächter von der Adlerbrauerei doch ziemlich ausgeräubert wurde. Die verlangte als Pacht vierzig Prozent vom Bierumsatz, wobei Vater natürlich das Bier nur von der Adlerbrauerei beziehen durfte, und das war fast noch schlechter als das, was man heute für gewöhnlich in den Kaufhallen meiner Heimatstadt in seinen Korb fischt.

Meine Mutter hat allerdings noch eine andere Version für den Exodus aus dem Blauen Affen anzubieten: Sie habe um ihr Kind gefürchtet. Einmal sei sie dazugekommen, wie ein betrunkener Stammgast an der Pinkelrinne stand, mit der Rechten sein Gerät bedienend, mit der Linken dem Kleinkind eine angebissene Bulette entgegenhaltend: „Na, Kleener, wiste ma abbeißen?“ Außerdem soll man mich mehrfach gesichtet haben, wie ich in Windeseile Likör- und Bierneigen leerte.

Ohne näher auf solche Legenden einzugehen, will ich nur mitteilen, dass sich meine Großmutter Ende 1935 ins Rentnerdasein zurückzog, während meine arbeitslosen Eltern von ihren letzten Ersparnissen eine mehr als bescheidene Zweizimmerwohnung in der Bahnhofsgegend mieteten. Vater bekam endlich eine dürftig bezahlte Stellung als Fürsorgearbeiter bei der Stadtverwaltung. Es reichte trotzdem nicht hin und nicht her. Großmutter sprang ein und nahm wenigstens einen Fresssack, nämlich mich, in Kost und Logis.

Fortan wohnten wir beide in einem prächtigen dreigeschossigen Jugendstilhaus Am Altstädtischen Markt Nr. 3. Erst vor Kurzem habe ich meiner Frau, die nicht aus dieser Stadt stammt, das Haus gezeigt. Der Marktplatz als solcher ist verschwunden. Busse und Baufahrzeuge donnern um die Ecke. Es staubt und stinkt nach Dieselabgasen.

Vor dem Rathaus stand in meiner Kinderzeit der Kurfürstenbrunnen, eine kunstvolle Bronzegussplastik, Reiterstandbild des Burggrafen Friedrich von Nürnberg unter gotischem Baldachin, errichtet im Jahre 1912. Da waren es gerade 500 Jahre her, dass die Hohenzollern Einzug in die Mark gehalten hatten. Der Brunnen mit seinen Figuren wurde 1945 von der neuen Stadtverwaltung entfernt, zwei Jahre bevor der Alliierte Kontrollrat einen toten Hund noch einmal totschlug: den preußischen Staat. Vielleicht haben wir nach all den schweren Jahren heute den Ansatz gefunden, unser Verhältnis zur Geschichte zu ordnen, es endlich einmal dahin zu bringen, dass Geschichte nicht das langweiligste und widerwärtigste unter unseren Schulfächern ist. Leider können wir bestimmte Schlösser nur mehr in historischen Bildbänden wiederfinden und den viel wertloseren Kurfürstenbrunnen bloß noch auf antiquarischen Ansichtskarten.

Ich betrete das Haus mit Vorsicht, denn ich weiß: Die Erinnerung vergoldet selbst einen Kackhaufen. Und genau über den stolpern wir schon im Hausflur, und er ist nicht vergoldet. Das Treppenhaus wirkt dreckig und verkommen. Erhalten sind wie durch ein Wunder das prächtig geschnitzte Geländer mit den Löwenköpfen und die bunten Glasfenster mit den Blumen- und Bienenornamenten. Es war mal ein hochherrschaftliches Haus. Aber schon nicht mehr, als Großmutter und ich einzogen.

Die Wohnung im zweiten Stock mit ihren vermutlich acht Zimmern war mehrfach geteilt. Großmutter bezog als Untermieterin eine Stube mit Küchenbenutzung. Die Stube war ein kleiner Tanzsaal mit Parkett, einem Erker und dem Balkon, auf dessen Blumenkästen Großmutter weiße und lila Petunien und schon in Friedenszeiten aus Sparsamkeitsgründen Tomaten zog. Die Küche, rundum gefliest und mit einer riesigen Kochmaschine für Holz- und Kohlenbetrieb ausgestattet, hatte etwa die Grundfläche einer Dreiraumneubauwohnung auf der Berliner Fischerinsel von heute.

Schlimm war es bei aller einstigen Hochherrschaftlichkeit nur, wenn man ein menschliches Bedürfnis verspürte. Da zu unserem Wohnungsabschnitt weder Bad noch Innentoilette gehörten, versorgte uns Großmutter mit einem sogenannten Nachteimer. Das war eine höchst sinnreiche Einrichtung aus gutem weißen Porzellan mit geflochtenem Korbbügelgriff. Nach verrichtetem kleinen Geschäft verwandelte sich der Deckel mittels Umdrehens in einen Geruchsverschluss. Ich möchte nicht wissen, was Freunde historischen Haushaltsgeräts beim Staatlichen Antiquitätenhandel in der Frankfurter Allee heutzutage für so ein Gerät anlegen würden, zumal sein Gebrauchswert für Wochenendhäuser ohne Wasseranschluss gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Ich will mich hier auch gar nicht über das sonstige Mobiliar meiner Großmutter verbreiten. Dreimal in ihrem Leben ist die alte Dame noch umgezogen, aber das letzte Mal konnte sie weder ihren Biedermeierlehnstuhl noch das grüne Plüschsofa mitnehmen, auf dem ich als Kind geschlafen habe. Beides und noch etliches dazu wurde zerhackt oder verschleudert. Jahre später bin ich dem Stübchen meiner Kinderzeit wiederbegegnet. Im Märkischen Museum: Berliner Jugendstilzimmer, stand auf einem Pappschild.

Ich führte ein herrliches Leben bei meiner Großmutter. Vom erstarkenden Faschismus, von Wiederaufrüstung und Vorbereitung des zweiten Weltkrieges kriegte ich nichts mit. Einmal fragte mich, während sie mir eine Scheibe Jagdwurst zuschob, die Frau vom Fleischermeister Strehlau, wie man so Kinder fragt: „Na, was macht denn dein Vati?“ Und prompt und nach bestem Wissen antwortete der Dreijährige: „Der schimpft auf die blöden Nazis!“ Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass meine Großmutter den stumpfsinnigen Klotzgesellen, einen fanatischen SA-Mann, mit einer Flasche Cognac, einem Geldschein und vielen guten Worten davon abgebracht hat, Anzeige gegen meinen Vater zu erstatten.

Als meine Großmutter im Februar 1952, fast zweiundachtzig Jahre alt, starb, habe ich bis zuletzt an ihrem Bett gesessen und ihre welk gewordene Hand gestreichelt. Sie kam aus den ärmlichsten Verhältnissen und hat vor dem ersten Weltkrieg sogar einen bolschewistischen Arbeiterführer in ihrer Wohnung in der Kronprinzenstraße, der heutigen Jeßnerstraße, versteckt. Aber wie so viele deutsche Frauen erlag sie zeitweise der mir heute unverständlichen Faszination des Führers Adolf Hitler.

Maikundgebung 1937 der Nazis auf dem Altstädtischen Markt. Uniformierte Kolonnen ziehen auf. Marschmusik. Fanfaren der Hitlerjugend, Trommeln und Pfeifen der Spielmannszüge. Großmutter und ich nehmen die Parade vom Balkon ab. Ich bekomme die Fußbank untergeschoben, um meinen Hals über die Blumenkästen recken zu können. An seinem Podium hebt der Nazi-Kreisleiter zu reden an. Plötzlich bricht ein Schneesturm los, geht in einen urgewaltigen Pladderregen über. Alles rennnet, rettet, flüchtet. Der nasse Kreisleiter flieht in sein Auto. Großmutter und ich stehen auf dem Balkon. Wir schreien vor Lachen. Plötzlich zieht mich Großmutter vom Balkon und sagt, während sie sich das runzlige Gesicht mit dem Taschentuch trocknet: „Der Führer würde das gar nicht ulkig finden.“

Manchmal besucht uns mein Vater nach Feierabend. Ich höre nicht zu, wenn er mit Großmutter was bespricht. Ich kraule Piesel, unserem blauen Wellensittich, den Kopf, während er altklug schnarrt: „Kommt der Ewald mitm Rrrad?“ Vater Ewald aber klemmt sich schon die Fahrradspangen ans Hosenbein, knöpft die zerschlissene Reichsbannerwindjacke zu und drückt seinen kleinen Jungen noch einmal an sich. Und dann schreien wir einander zu, er vom Altstädtischen Markt, ich vom Balkon mit den Petunien: „Nacht! Nacht! Schlaf schön! Träum schön!“

Nun liege ich im Bett. Großmutter schnarcht schon. Sie ist die Großmutter aus dem Märchen vom Rotkäppchen. Der Wolf sieht genauso aus wie der Klotzgeselle von Fleischer Strehlau. Weiße Lichtfelder ziehen über die hohe Zimmerdecke. Über den Markt fährt die Grüne Linie der Straßenbahn. Oder ein Auto ...

Auf einmal erklingt die wunderschöne Musik. Die Petunien im Blumenkasten haben richtige Gesichter. Sie klettern heraus und tanzen um Brummchen, meinen kleinen Teddybären, herum und singen:

„Mit den Füßchen trapptrapptrapp, mit den Händchen klappklappklapp, einmal hin, einmal her, ringsherum, das ist nicht schwer.“

Plötzlich fährt Großmutter hoch und raunzt: „Kann se denn gor keene Ruhe ni geben, die ale Baronin? Schlaf ok, Ulrich!“

Die Baronin war unsere Hauptmieterin, eine verarmte baltische Adlige namens Edith Zoege von Manteuffel. Die Leute im Hause erzählten von ihr, sie sei vor den Roten und ihrer Revolution geflohen und habe nicht viel mehr retten können als ihr wertvolles altes Klavier. Erst viel später begann ich, mir über diesen sonderbaren Umstand Gedanken zu machen, als ich nämlich beobachtete, wie vier bullige Möbelträger ächzend und fluchend ein Klavier die Treppe hinaufwuchteten. Aber da war es längst zu spät, Frau von Manteuffel nach Einzelheiten ihrer Flucht zu fragen. Wir werden also nie erfahren, ob sie mit einer herrschaftlichen Kutsche geflüchtet ist, das Klavier auf dem Rücksitz, oder ob das alte Klangmöbel auf einem Fischerboot über die Ostsee schaukelte, an dessen Ruder ein durchnässtes, verängstigtes Frauchen den Wellen trotzte.

Jedenfalls können weder das Instrument noch die Kunstfertigkeit seiner Besitzerin unter der mutmaßlich abenteuerlichen Flucht ernsthaft gelitten haben. Damals ahnte ich nicht einmal, was ein Nocturno, ein Präludium oder eine Sonate sei. Mir war jedoch unverständlich, warum Großmutter über diese wunderschöne Musik schimpfte. Als ich der Baronin nach Jahren wiederbegegnete, erfuhr ich, dass sie gern Bach und Mozart spielte, am liebsten aber Chopin, abends, ohne das Licht anzuzünden, allein in dem hohen dämmrigen Zimmer.

Großmutter hatte ihren eigenen Geschmack und dazu ein Grammofon sowie ein Blaupunktradio mit soundso viel Röhren. Sie liebte wohltönende Männerstimmen, gleich, ob es der schmelzende Tenor Enrico Carusos oder der röhrende Bass Leo Schützendorfs war, und versicherte mir immer wieder, dass solche Leute Gold in der Kehle hätten. Sang jedoch eine Frau, womöglich noch eine Koloratursopranistin wie Erna Sack, so erklärte mir Großmutter: „Die ale Gake schreit, weil se Hunger hat!“ Und schaltete schleunigst das Radio ab. Im übrigen liebte sie Marschmusik und vaterländische Gesänge, und da kam man zu jener Zeit und in jener Stadt so recht auf seine Kosten.

Auffälliger als die mittelalterlichen Kirchen und Tortürme, als die Fabrikschornsteine der Gründerzeit prägten die wilhelminischen Backsteinbauten mit ihren schwarz-weiß-roten Schilderhäusern den Charakter der Stadt. Aber statt dem strahlenden Weiß der Kürassiere und dem Königsblau der Prinz-Heinrich-Füsiliere von einst herrschte nun das Feldgrau der Wehrmacht.

Die Mehrzahl der Einwohner platzte noch vor Stolz auf blank gewichstes Lederzeug, klatschenden Stechschritt, klingendes Spiel, rossgeschweifte Schellenbäume.

„Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren, öffnen die Mädchen die Fenster und die Türen ...“

Vermutlich auch noch anderes. Das Großdeutsche Reich brauchte Soldatennachwuchs. Ei warum?

„Ei warum? Ei darum! Ei warum? Ei darum! Ja, bloß wegen dem Tschingdarassa, Bumdarassassa!“

Im Haus gegenüber steht ein grauköpfiger Invalide am offenen Fenster. Die blinkenden Instrumente kann er nicht mehr sehen, seit ihn in Frankreich eine Gelbkreuzgranate um sein Augenlicht gebracht hat. Aber das Gehör ist noch in Ordnung. Die Finger der Linken trommeln begeistert den Takt der „Alten Kameraden“ auf dem Fensterbrett mit.

Auf dem Markt hat die Regimentskapelle der 68-er Infanterie zum Platzkonzert Aufstellung genommen. Ein vierjähriger Knirps drängelt sich durch die Schaulustigen, klettert auf das Podium und macht sich mit der Holzpeitsche seines Kreisels zum Kodirigenten. Der gestrenge Kapellmeister mit den silbernen Schulterstücken schmunzelt, drückt mir seinen Taktstock in die Hand und lässt mich den Marsch allein zu Ende dirigieren.

Großmutter hat das alles vom Balkon aus beobachtet. Voller Stolz erzählte sie meinem Vater am Abend davon und meinte: „Glaubs ok, Ewald, aus dem Jungen wird amol a großer Musiker.“

Nun gab es zu allen populären Marschmelodien eine meist recht vulgäre Textdeutung. Da ich gelehrig wie unser Wellensittich war, hatte ich den Gassenjungen schon ein beträchtliches Repertoire abgelauscht. So konnte ich, als mich Vater fragte, was denn die Kapelle gespielt habe, sofort aus dem Vollen schöpfen und losschmettern:

„Herr Hauptmann, Herr Hauptmann, was macht denn ihre Frau? Sie wäscht sich nicht, sie kämmt sich nicht, sie ist ne alte Sau.“

Fortan dirigierte ich mit Fleiß das Viermannorchester auf dem Vorschiff des Dampfers „Deutschland“, die Blaskapelle im Pavillon des Ausflugslokals, ja, sogar die klitzekleinen Bläser, die sich hinter dem stoffbespannten Radiolautsprecher versteckten.

Eines Tages aber wurde meiner Vorliebe für preußische Marschmusik fürs erste gründlich Abbruch getan. Mein gleichaltriger Freund Klausi, ein Lehrerskind aus unserer Etage, und ich schlossen uns einer vorüberziehenden Militärkapelle an und versuchten mit unseren kurzen Beinchen, im Takt der Musik zu marschieren. Andere Kinder folgten unserem Beispiel, ließen sich aber bald zurückfallen. Genau vor uns rumste die Pauke, zischten die Becken, brummte die Tuba, dröhnte das Helikon, das seinen Bläser wie ein gewaltiger Elefantenrüssel umspannte. Wir marschierten durch Straßen, die wir noch nie betreten hatten. Die Leute an den Fenstern schienen nur uns zuzuwinken. Wir legten ernsthaft grüßend die Hand an einen eingebildeten Stahlhelmrand. Ich weiß nicht, wo wir gelandet wären, hätte die Kapelle nicht eine Brücke überquert. Was war Fridericus Rex, was waren die blitzenden Instrumente gegen den qualmenden Schleppdampfer, der sich drunten auf dem Kanal mit seinem Lastkahngefolge langsam der Brücke näherte! Wir sammelten eifrig Spucke und zielten auf die Mützen der Schiffer. Als diese Munition knapp wurde, ersetzten wir sie durch Steinchen und kringelten uns vor Vergnügen über das ohnmächtige Schimpfen der Kahnbesatzungen und das Gekläff der Schiffshunde. Erst als der Schleppzug schon nicht mehr zu sehen war, fiel uns ein, dass wir ja wieder nach Hause müssten. Eine böse Vorahnung trieb uns, jeder noch einen Strauß von den schönen blauen Blumen zu pflücken, die in dem gelben Roggenfeld hinter der Brücke leuchteten. Wie wir nach Hause zurückfanden, weiß ich nicht mehr.

Großmutter hatte zunächst vom Balkon aus den Marktplatz überspäht, dann zusammen mit der Lehrersfrau die angrenzenden Gassen abgesucht. Als ich klingelte, setzte sie sich gerade den guten schwarzen Strohhut mit den künstlichen Kirschen auf, um zum Polizeirevier zu gehen. Was halfen mir die Kornblumen, die ich ihr Verzeihung heischend entgegenstreckte? Großmutter nahm das Rohrstöckchen, mit dem sie sonst unsere Sofakissen ausklopfte, vom Schlüsselbrett und führte es einem bisher von mir nicht gekannten Verwendungszweck zu. „Dir werd ich helfen“, sprach sie grimmig, „dass muss amol an Ende ham mit der verrickten Soldatenmusike!“

Ein paar Jahre später - das Großdeutsche Reich befand sich schon im Kriegszustand mit den meisten Ländern seines Erdteils - zogen meine Eltern aus der Kleinen Gartenstraße in die Große Gartenstraße um. Die Wohnung hatte nun statt zweier drei Zimmer und dazu eine richtige Badestube und außer Keller und Bodenkammer sogar einen Holzstall auf dem Hof. Meine Mutter hegte fortan die Vorstellung, wir seien etwas Besseres, denn in dieser Straße wohnten neben den Arbeitern immerhin einige Gewerbetreibende, und sogar die Straßenbahn fuhr an unserem Haus vorüber. Ganz so vornehm, wie meine Mutter annahm, war die Gegend wirklich nicht. In einer Kellerwohnung des Nebenhauses vegetierten Bialoblotzkys, deren Kinder voll von Flöhen saßen, und von unseren Mitbewohnern will ich gar nicht erst anfangen zu erzählen. Im Haus gegenüber lebte Mutter Imme mit ihrem feisten Mops Pucki, der mit ihr aus einem Teller schleckte und am selben Bonbon lutschte. Pucki nahm ein schlimmes Ende. Als es einmal während des Abendbrots klingelte, erschrak sich der kleine Fettsack so, dass er vom Tisch fiel und inwendig platzte.

Neben Mutter Imme wohnte das Ehepaar Saumsiegel. Er war irgendwo Vorarbeiter. Am Lohntag stand seine Frau stets am Fabriktor, aber Saumsiegel entkam ihr immer wieder auf irgendeinem Schleichpfad. Gewitzt durch dreißig Ehejahre, wechselte er jeden Freitag die Kneipe. Mal ging er ins „Stadt Hamburg“, mal ins „Märkische Haus“, hin und wieder sogar zu „Affedu“. Dieses Restaurant trug seinen Namen nach dem Besitzer, der im angetrunkenen Zustand seine Gäste mit dem Schimpfwort „Du Affe, du!“ zu belegen pflegte. Saumsiegel aber musste jedes Mal die gleiche trübe Erfahrung machen. Spätestens nach der dritten Molle mit Korn stand sein zweizentnerschweres Weib wie eine drohende Wand hinter ihm und knurrte mit ihrer Bassstimme: „Gib das Geld raus!“ Dann zahlte Saumsiegel und folgte ihr ohne Widerrede an den heimischen Herd. Während sie das Geld nachzählte, murmelte er was von Kelleraufräumen, setzte sich drunten auf den Holzklotz und leerte in Gemütsruhe die hinter einem Holzstapel versteckte Flasche Branntwein. Solchermaßen gekräftigt, stieg er nach oben und gerbte seiner Alten mit einem Holzscheit das Fell, sodass sie zuweilen, im Nachthemd, heulend auf die Straße floh.

An einem Sommerabend habe ich sie selber in diesem Zustand gesehen. Mein Bruder und ich standen am Kinderzimmerfenster und sahen die dicke Saumsiegeln mit lautem Jaulen die Straße entlangrennen. Es hörte sich an wie die Fliegeralarmsirene. Diesmal hatte Frau Saumsiegel nicht nur wie sonst ein blaues Auge, sondern auch lauter blaue Flecken im Nachthemd. Ihrem Mann konnte diese Verfärbung wirklich nicht angelastet werden, der schrubbte schon seine Nachtschicht herunter. Im Saumsiegelschen Schlafzimmer war ein Glasballon mit gärendem Heidelbeerwein explodiert.

Meine Eltern gingen nun daran, der neuen Wohnung auch äußerlich die Attribute einer gewissen Wohlsituiertheit zu verleihen. Vater war jetzt immerhin Magistratsangestellter und Mutter sogar Kontoristin bei der Handwerkerversicherung. Da half nichts, sie mussten sich fast völlig neu einrichten. Die weiß lackierten Metallbetten mit dem Messingzierrat wanderten ins Kinderzimmer. Viele Jahre später kaufte sie für ein Butterbrot der Lumpenmatz. Damals aber nahmen mich die Eltern mit zum Möbelhaus Naumann. Meine Mutter, selbst gelernte Möbelverkäuferin, mäkelte und feilschte lange herum, bis sie sich für ein Schlafzimmer in heller Eiche entschied. Daran hat sie recht getan. Noch heute, nach vierzig Jahren, sieht es wie neu aus. Das Geld - oder wars der Kredit bei Möbelhändler Naumann - reichte sogar noch für ein Nussbaumbüfett mit ausklappbarer Schreibplatte und einen Wohnzimmertisch mit vier Polsterstühlen aus. Ein Möbelkauf war selbst bei der höchst zweifelhaften Perspektive jener Jahre noch etwas fürs ganze Leben. Es wäre undenkbar gewesen, Wohnungseinrichtungen, Wintermäntel und Ehefrauen alle paar Jahre, dem neuesten Modetrend folgend, zu wechseln.

Unsere Einrichtung war aber noch immer nicht komplett. Irgendwas, was den Sinn für das Höhere verkörperte, fehlte. Und wieder sprang Großmutter ein. Unter Berufung auf meine ungewöhnliche musikalische Begabung beglückte sie uns mit einem Klavier aus Nussbaumholz nebst Messingleuchtern, das sie für den sündhaften Preis von dreihundert Reichsmark aus zweiter Hand erworben hatte. Daran knüpfte sie die Bedingung, dass ich alsbald in der kunstgerechten Handhabung dieses Instruments unterwiesen werden müsse.

Ich wurde bei Fräulein Haseloff angemeldet, die ich schon flüchtig kannte, weil ich ihr zuweilen die Wäsche aus Tante Metas Heißmangel gebracht hatte. Fräulein Haseloff war mir von Anfang an zuwider. Sie hatte ein Backpflaumengesicht und wasserstoffblonde Stocklocken. In ihrer Wohnung stank es nach Maiglöckchenparfüm und sämtlichen andalusischen Wohlgerüchen. Ich lernte nach einem Notenbuch, welches von einem gewissen Hellwig stammte und „Der kleine Klavierschüler“ hieß, ein Titel, der mich von vornherein kränkte, weil ich mich mit neun Jahren schon zu den großen Jungen zählte. Der Unterricht machte mir gar keinen Spaß. Ich hätte am liebsten gleich den Hohenfriedberger Marsch oder wenigstens den Walzer „Kornblumenblau“ gespielt, wie ihn mein Vater, wenn er gut gelaunt war, mühelos herunterklimperte. Stattdessen musste ich mich mit dümmlichen Pipistückchen herumplagen, die „Erster Erfolg“, „Beim Ballspiel“ oder „Stille, kein Geräusch gemacht“ hießen. Fräulein Haseloff blökte mich fortwährend an, bog mir schmerzhaft die Finger zurecht und nebelte mich, wenn sie sich über mich beugte, trotz allen Maiglöckchenparfüms mit ihrem schlechten Atem ein.

Zu Hause ging der Terror weiter. Unbarmherzig stand Vater jeden Abend hinter mir, wachte darüber, dass ich wenigstens eine Stunde lang täglich übte, und bemängelte meinen harten Anschlag. Dabei war mir zu jener Zeit das Klavierspiel völlig schnuppe. Meine Interessen lagen auf ganz anderen Gebieten. Ich schmökerte, wo ich ging und stand, zum Beispiel die Zwanzigpfennighefte der „Kriegsbücherei der deutschen Jugend“, die mir Oma Muschert als zeitweilige Postfrau vorzugsweise frei Haus lieferte. In diesen Schundfetzen wurde auf packende Art von den Heldentaten deutscher U-Boot- und Flugzeugbesatzungen berichtet. Ich las wahllos alles, was mir in die Hände fiel: Auerbachs Kinderkalender, Piratengeschichten, „Trotzkopfs Brautzeit“, das Jahrbuch der Hitlerjugend, eine Biografie Friedrichs des Großen, Zukunftsromane von Hans Dominik, ein verstecktes Spartakusflugblatt - nur gegen ein Buch hegte ich unüberwindlichen Abscheu: gegen die Klavierschule des Herrn Hellwig.

Der Unterricht bei Fräulein Haseloff wurde mir zum Gräuel. Verzweifelt sann ich auf Abhilfe. Die Klavierlehrerin selber drückte mir ungewollt die Waffe in die Hand. Mehrfach schon war ich von Vater gerüffelt worden, weil ich zu spät vom Unterricht nach Hause kam. Es lag nicht an mir. Ich fand mich stets pünktlich zum vereinbarten Termin bei Fräulein Haseloff ein. Saß ich gerade mit meinem Maulgesicht auf dem Klavierhocker, so klingelte eine Dame der besseren Gesellschaft an der Tür. Alsbald spitzte Fräulein Haseloff ihre altjüngferlichen Lippen und flötete im schrillsten Diskant: „Selbstverständlich, Frau Kommerzienrat, wir fangen gleich an.“ Ich wurde auf einen Stuhl in der Ecke beordert und durfte mir eine drei viertel Stunde lang anhören, wie die beiden Schreckschrauben auf dem Piano herumzimperten. Hinterher wurde die gnädige Frau noch mit Tee und Kriegskeksen - ganz ohne Butter und Eier gebacken - bewirtet, und meine Lust auf Haydns Andante aus der Symphonie mit dem Paukenschlag stieg zusehends.

„Dass musste dir einfach nicht gefallen lassen“, sagte Vater kopfschüttelnd, als ich ihm von solchen Ausschweifungen meiner Klavierlehrerin berichtete, „unser Geld ist genauso viel wert wie das von sone Zimtzicken.“

Ich nahm ihn beim Wort. Als das nächste Mal eine picklige Frau Rektor Rappin bevorzugt und obendrein mit einem Likörchen bewirtet wurde, haute ich mit meiner Kinderfaust auf den Tisch, dass die Gläser zitterten, und krähte beherzt: „Fraulein Haseloff, ich kündige Ihnen, und zwar auf der Stelle!“ Dann klemmte ich mir Herrn Hellwig unter den Arm und marschierte siegesgewiss nach Hause.

Es gab weder Senge noch Schimpfe. Vater war ein wenig traurig, aber er stand zu seinem Wort: Man darf sich nicht alles gefallen lassen, und von sone Zimtzicken schon gar nicht.

Der Klavierunterricht ruhte, und mich hätte nichts dazu gebracht, den Rachen des braunen Ungeheuers von selber aufzuklappen.

An einem Herbsttag des vorletzten Kriegsjahres überraschte mich Vater mit der aus seiner Sicht freudigen Mitteilung: „Ich habe mit Frau von Manteuffel gesprochen. Sie will dir Unterricht geben, und sie ist sogar etwas billiger als Fräulein Haseloff.“

Zunächst war ich nur neugierig, hatte ich doch die Baronin jahrelang nicht mehr gesehen. Wieder klemmte ich mir Hellwigs Klavierschule unter den Arm und marschierte zum Altstädtischen Markt Nummer drei.

Frau von Manteuffel empfing mich in einem langen lilafarbenen Schlafrock. Ihr Gesicht bestand nur noch aus Runzeln und einem Paar großer hellwacher Augen. Darüber wehte eine kupferrot gefärbte Mähne. „Groß bist du geworden“, sagte sie, was mich sofort für sie einnahm, mehr noch als die kostbare Apfelsine, die sie mit einem silbernen Messer für uns beide schälte. Ich fasste sofort Vertrauen zu ihr und erzählte ihr von meinen musikalischen Misserfolgen.

„Am besten“, meinte sie, „wir fangen ganz von vorn an.“

Ach, wäre ich ihr doch erst ein paar Jahre später begegnet! Ich glaube, bei dieser wundervollen Greisin hätte einer wirklich Klavierspielen lernen können. Sie wusste so schöne Geschichten zu erzählen, vom kleinen Mozart, der mit verbundenen Augen, ein Tuch über den Tasten, spielte, vom armen Boccherini, den ein böser Fürst aus dem Fenster warf, vom genialen Peter Tschaikowski, der in St. Petersburg von einer bösen Seuche dahingerafft ward, vom Kantor Bach, wie er die weite Wanderung nach Lübeck nicht scheute, um von den Meistern des Orgelspiels zu lernen. Und immer griff sie selber in die Tasten und ergänzte so ihre Erzählungen. Ich gab mir zunächst redliche Mühe, denn ich mochte die Baronin nicht traurig sehen. Sie hat nie mit mir geschimpft, wenn ich mein Übungspensum herunterstümperte, aber sie war sehr traurig über meine mangelhaften Fortschritte.

Bald hatte ich spitzgekriegt, dass die gute Alte nur allzu leicht abzulenken war. Wenn ich nur wollte, spielte sie mir alle Klaviersonaten Beethovens vor, ein andermal verlor sie sich an ihren Liebling Chopin, bis sie erschrocken ihre Repetieruhr zog, ein Wunderwerk, welches auf Knopfdruck „Üb immer Treu und Redlichkeit“ ertönen ließ. Dann mussten wir wenigstens zum Abschluss noch Mozarts „ABC“ vierhändig spielen, ehe sie mich mit einem auf die Stirn gehauchten Kuss entließ.

Das letzte Kriegsjahr war angebrochen. Fast täglich heulten die Sirenen und trieben uns in die Luftschutzräume. Was scherten mich noch Bach und Mozart? Meinen halb blinden Vater hatte der Heldenklau für unbestimmte Zeit hinweggeholt, östlich der Oder den sogenannten Ostwall aufzuschippen, falls sich der Russe eventuell doch über die Reichsgrenze wagen sollte.

Keiner kontrollierte mehr meine häuslichen Klavierexerzitien. Pflichtgemäß, aber schon mit langen Zähnen, ging ich noch immer zum Klavierunterricht. Meinen Schildknappen, den Malermeistersohn Hansi, postierte ich vor dem Haus: „Warte ’n Moment. Es kommt sowieso gleich Fliegeralarm!“ Ich schäme mich, es zu gestehen, aber ich wünschte mir, dass eine feindliche Bombe das Haus Altstädtischer Markt Nummer drei treffen, die Frau von Manteuffel zwar, nicht aber das Klavier verschonen möge.

Bald darauf blieb ich dem Unterricht für immer fern. Ich habe nie erfahren, was aus der Baronin geworden ist.

Der Krieg war zu Ende. Unser Klavier schlief einen Dornröschenschlaf. Keiner hatte mehr Lust, darauf zu spielen. Alles, was vorher gegolten hatte, galt nicht mehr. Einmal setzte ich mich wütend auf den Schemel und spielte ohne Noten „Ein Hitlerjunge hält treu die Wacht ...“ Vater haute mir rechts und links eine herunter und knallte den Klavierdeckel zu, dass mir noch drei Tage lang die Fingerkuppen wehtaten. Im Herbst vertauschte er sein Akkordeon gegen zwanzig Pfund kanadischen Weizenmehls und drei Büchsen Schweinefleisch. Die Büchsen enthielten nichts als nassen Sand. Es begann eine Zeit ohne jegliche Musik.

Vater, der in den Anfangsjahren des Dritten Reiches in einer schwachen Stunde dem Teufel seine arme Seele verpfändet, aber nie von dessen Segnungen Gebrauch gemacht hatte und in Parteikreisen stets als verdächtiges Element galt, war plötzlich ein Nazi, verlor seine Stellung und schlug sich mit seinem einen, kaum sehtüchtigen Auge als Holzfäller, Limonadenabfüller und Kreissägenvorarbeiter durch. Ich aber, frischgebackener Oberschüler, setzte mich wieder ans Klavier und spielte ohne Noten „Chattanooga Choo Choo“, die „Caprifischer“, ließ die Möwe in die Heimat fliegen, nach dem Regen die Sonne scheinen, sang dazu frivol: „Angelina, was ist das, deine Höschen, die sind nass, Angelina!“ Oder 1948:

„Tschio-tschio - tschio - tscho Käse gibts in der H O. Kommste aber in die Halle, ist der Käse schon wieder alle!“

Das ging so lange, bis der Boogie aufkam, den packte ich nicht. Ein Rohrlegersohn, der später nach dem Westen abhaute, spannte mir mit seinen Boogiekünsten meine Freundin, eine werdende Kindergärtnerin, aus. Da war ich entschlossen, die Klaviervirtuosenlaufbahn aufzugeben. Hier könnte sogar meine Geschichte aufhören, wäre nicht noch von einem Nachspiel zu berichten.

Fünfzehn Jahre später nannte ich Frau, Sohn und Dreizimmerwohnung in einem kärglich geschnittenen Reihenhaus mein eigen. Da gaben Vater und Mutter ihr altes Domizil auf und zogen sich in das Altenteil von zwei Stübchen einer Altneubauwohnung zurück. Uns aber bescherten sie mit tränenreicher Geste das historische Klavier mit den messingnen Leuchtern, da meine Frau doch so wundervoll spielen könne.

Der war es ähnlich ergangen wie mir mit meinem Fräulein Haseloff. Henriette hasste das Klavierspiel, hatte sich aber unter dem Druck ihrer Eltern immerhin zwei Stücke angeeignet, den Türkischen Marsch aus der A-Dur-Sonate von Mozart und Beethovens „An Elise“. Damit konnte sie immerhin vor einschlägigem Besuch vorgezeigt werden, ohne dass die Leute es ahnten: Henriette ist nie hinter das System der Notenschrift gekommen und hat ihr bisschen Klassik nur auswendig eingebimst.

Nun standen wir da mit dem Klavier. Die Wohnung war sehr beengt. Wenn der Kohlenmann kam, musste er die Kiepen durch das Wohnzimmer in die Küche und von dort erst die Treppe hinab in den Keller schleppen. Wir hatten uns einen Fernsehapparat angeschafft. Das war dazumal noch eine Attraktion. Schaulustige Freunde und Nachbarn kamen und lieferten ihr Entree in Gestalt von Konfekt oder selbst gekeltertem Stachelbeerwein ab. Die Plätze in der Stube wurden rar. Wir etablierten die Rangloge: Man saß auf dem Klavier, die Füße auf dem geschlossenen Deckel.

Eines Tages aber - wir bemühten uns gerade, die Spuren einiger Gummisohlen von der Politur zu entfernen - sprach Henriette das Todesurteil: „Das Klavier muss weg. Hier kommt nämlich ein Sofa hin!“

Wir gingen zum Annoncenaushang am Bahnhof Frankfurter Allee, kehrten jedoch entmutigt um, als uns gleich auf mehreren Zetteln mitgeteilt wurde, dass ein Klavier zu verschenken sei.

Schon waren wir bereit, alle Hoffnung fahren zu lassen. Da entdeckten wir in der Berliner Zeitung eine Anzeige: „Kaufe Ihr Klavier. Zahle Höchstpreise. Komme ins Haus.“

Letzteres stimmte. Vor unserem Haus hielt ein Lieferauto. Ein Kerl in braunem Kittel raste herein, riss unser gutes Familienstück unten, oben und in der Mitte auf, beutelte das arme Luder wie ein Tierquäler seinen alten Hund, sah uns verächtlich an und fauchte giftig: „Kriegsklavier. Zehn Zentimeter zu hoch. Grauer Filz. Kunststofftasten. Durchgehender Riss im Resonanzboden. Mahlzeit!“ Und raste aus der Tür auf sein Auto zu, als fürchtete er, wir würden ihm das Instrument nachwerfen.

In unserer Not kamen wir auf den hässlichen Gedanken, das Klavier kurz und klein zu hacken. Ein wohlmeinender Freund bewahrte uns davor, indem er darauf hinwies, dass an solchem Vorhaben schon durchtrainierte Schwerathleten gescheitert seien. Ich unternahm, von meiner Frau höhnisch belächelt, einen letzten, aberwitzigen Versuch. Auf einem handgeschriebenen Zettel tat ich kund, dass für hundertfünfzig Mark ein gut erhaltenes Klavier zu verkaufen sei. Den Zettel heftete ich mit Reißzwecken an einen Baum, der vor dem nahe gelegenen S-Bahnhof stand.

Das Wunder geschah. Schon am nächsten Sonntagvormittag stand ein rundlicher Mittfünfziger vor unserer Tür. Er trug einen grünen Hut mit einer Art Rasierpinsel über seinem tomatenrot leuchtenden Gesicht und ließ uns eine kräftige Schnapsfahne entgegenflattern. Sein Name sei Helmhake, und er komme aus einem Dorf bei Bernau. Die Kinder vom Pastor kriegten Klavierstunde, genauso der Bengel vom Tierarzt, und nun hätten sich sogar Eichholzens so einen Klimperkasten zugelegt, weil sie nicht mehr wüssten, wohin mit dem Geld. „Aber unse Franki“, fuhr er fort, „det is nämlich mein Enkel, Sie ahnen ja nich, wie musikalisch det Kind is. Wenn der wo Musike hört, stellt er sich gleich hin und fangt zu dirischieren an. In den steckt bestimmt ’n Stücke Schenie, und darum wird et höchste Zeit, det ihm Opa endlich ’n eijenet Klavier kooft. Wo steht denn det Dings?“

Immer noch verblüfft, baten wir Herrn Helmhake in die Stube. Er befühlte den Deckel, beklopfte die Seitenwände und meinte anerkennend: „Jute Arbeit, feinet Holz. Dadruff versteh ick mir nämlich. Noch nicht mal der Wurm drinne. Bloß nu müßtense mir erst mal wat zu die rein klaviermäßige Seite sagen. Man will ja die Katze nicht im Sack koofen.‘‘

Da ritt mich der Teufel. Ich schenkte uns einen Schnaps ein und begann: „Es ist kein gewöhnliches Klavier. Es stammt von dem berühmten Instrumentenbauer Krieg. Daher ist es sogar zehn Zentimeter höher als die meisten anderen und innen besonders vornehm, nämlich mit grauem Filz ausgestattet. Die Tasten sind nicht aus dem ordinären Elfenbein, sondern aus einem Spezialkunststoff, der nicht vergilben kann.“

Meine Frau hustete kräftig und sah mich vorwurfsvoll an. Herr Helmhake fing ihren Blick auf und zwinkerte mir zu: „Verstehe, Sie kriejen bestimmt noch mehr Anjebote und wollen sich det beste aussuchen.“

„Nein, nein“, stammelte ich betroffen.

Er zog eine Brieftasche aus der grünen Joppe und blätterte zwei Hunderter auf den Tisch. Als er mein fassungsloses Gesicht bemerkte, sagte er seufzend: „Wat tut man nicht allet für son bejabten Enkel!“, und legte noch einen Fünfziger dazu.

Henriette war so entgeistert, dass sie sich ans Klavier setzte und zur Freude des fröhlichen Landmanns letztmalig „An Elise“ spielte, und zwar mit vollem Pedaleinsatz. Noch am selben Abend wuchteten drei muskulöse Männer das Klavier mit solcher Gefühllosigkeit auf die Ladefläche eines Lastautos, dass es nur so krachte, ächzte und wimmerte. Herr Helmhake warf ihm eine schmuddlige grobe Decke über wie einem Verkehrstoten. Während wir tränenlos der klingenden Kindheitserinnerung nachblickten, flüsterte meine Frau furchtsam: „Und der durchgehende Riss im Resonanzboden?“

„Transportschaden“, entgegnete ich kaltherzig, „hast dus nicht beim Aufladen reißen hören?“

Meinem Vater brachten wir die Sache recht schonend bei. Ich legte noch etwas Geld zu unserem Gewinst zu und kaufte ihm als Wiedergutmachung für sein einstiges Familienopfer ein neues Akkordeon. Aber er hat wenig darauf gespielt. Auch die Mandoline, die wir ihm im vorigen Jahr schenkten, nimmt er nur selten zur Hand. Viel lieber befasst er sich mit seinem Tonband. Wenn ich es recht bedenke, wird es wohl auch in unserer nächsten Generation kein musikalisches Genie geben. Soeben spielt der schöne Richard Clayderman vom Kassettenband herunter „An Elise“.

„Gefällts dir?“, frage ich meinen Sohn.

Er lächelt nachsichtig. „Warum sollen frustrierte Papas nicht auch ihre Musik haben?“

Nur manchmal noch trauere ich den vertanen Chancen, dem verschluderten Unterricht nach. Ein Virtuose wäre ich wohl nie geworden. Vielleicht aber hätte es wenigstens zum Komponisten gelangt. Dann säße ich jetzt am heimischen Synthesizer und fabrizierte die Musik für einen Kriminalfilm. Immer, wenn der Mörder auftauchte, machte ich leitmotivisch ein tiefes, drohendes „Wummelwummelwumm“, und den tonlosen Schrei seines Opfers unterlegte ich mit einem lang gezogenen „Wääaauuh!“ Auf alle Fälle brauchte ich mich dann nicht so herumzuschinden wie bespielsweise mit dieser Geschichte.

Als ich ein großdeutscher PIMPF war

So seltsam es auch heutzutage klingen mag, ich war tatsächlich zwei Jahre und eine Woche lang ein Pimpf. Offiziell hieß die Knabenorganisation der Hitlerjugend zwar Deutsches Jungvolk, aber im Sprachgebrauch, selbst in der großdeutschen Presse, war meistens von den Pimpfen die Rede.

Gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges schalt der Dichter Johann Moscherosch:

„Pfui dich der Schand! Ihr bösen Teutschen, man sollt euch peutschen, dass ihr der Muttersprach so wenig acht’!“

Seine in mancher Hinsicht wohlmeinenden wie fruchtbringenden Zeitgenossen Campe und Zesen gingen in ihrem Sprachreinigungstrieb so weit, die Mumie als Dörrleiche, die Pistole als Meuchelpuffer eindeutschen zu wollen.

Das Dritte Reich begann schon in Friedenszeiten mit seiner gewaltsamen Germanisierungssucht, die es wenig später bis zum Ural voranzutreiben trachtete. Aus dem Kino wurde das Lichtspielhaus, statt Biologie unterrichtete man Lebenskunde. In meiner märkischen Heimat wurden zwei Dörfer, die jahrhundertelang Lotzschke und Schwina hießen, in Lehnsdorf und Emstal unbenannt. Besonders arg trieb es ein völkischer Studienrat in unserer Stadt. Aus dem guten alten Omnibus machte er einen Allfahrer, die Apotheke hieß bei ihm Gesundungsladen. Aus der Drogerie wurde eine Trockenkräuterei und aus dem Explosionsmotor gar ein Zerknalltreibling. Wäre der wackere Schulmann nicht 1945 am Parathyphus, zu deutsch an der Geschwindscheißerei zugrunde gegangen, so könnte er mir jetzt vielleicht als einziger noch Kundiger die Bedeutung des rätselhaften Wortes Pimpf enthüllen. Wo mögen die das wohl aufgelesen haben? Meine schlesische Großmutter sagte manchmal zu mir: „Tu dich ok ni su verpimpeln!“

Damit meinte sie das Gegenteil von abhärten. Aber Pimpfe waren nicht verpimpelt. Mit den paar Pimperlingen im Portemonnaie hatten sie genauso wenig zu tun wie mit dem Gewürz Pimpinelle. Später lernte ich noch ein anklingendes vulgäres Wort für eine an sich angenehme Betätigung kennen, aber damit hatten Pimpfe schon gar nichts zu schaffen; selbst in den Schulen waren Maidlein und Knaben säuberlich voneinander getrennt.

Während ich noch darüber nachdenke, erklärt mir mein Freund Walter P., Pimpf sei eine alte Bezeichnung für das Wolfsjunge, was ja der Sache ziemlich nahe käme. Indes bedeutet Pimpf im Österreichischen so viel wie Depp oder Tölpel. Auch das hätte was für sich. Wie dem auch sei: Am 19. April 1943, dem Vorabend des Führergeburtstages, wurde ich in die Reihen der Pimpfe aufgenommen. Manch einer, der damals wie ich zehn Jahre alt war, behauptet heute, er sei nicht mal beim Jungvolk gewesen. Uns blieb gar keine Wahl.

Man hatte sich einzufinden und basta, und wir fanden uns sehr gerne ein, denn erst als Pimpf begann die Menschwerdung des deutschvölkischen Affen. Nicht einmal die sogenannten Asozialen aus unserem Kietz schlossen sich aus. Die gemeinsame Uniform gab ihnen erstmalig das Gefühl sozialer Gleichberechtigung. Meine Eltern konnten oder wollten mir keine Uniform kaufen. Darüber war ich sehr verbittert, denn die Zivilisten mussten in schwarzer Hose und weißem Hemd am Ende des Fähnleins marschieren, und zwar nur im mittleren Glied, damit sie möglichst niemand sah.

Nun aber sprang Onkel Hans aus Berlin in die Bresche. Er besaß in der Frankfurter Allee ein gut gehendes Herrenartikelgeschäft, in dem nicht nur Hüte, Oberhemden und Schlipse verkauft wurden, sondern auch Uniformen, Embleme und andere Effekten der verschiedenen Naziorganisationen. In jenem Jahre ging das Geschäft schon nicht mehr so recht. Spinnstoffe, also Textilien, waren zwangsbewirtschaftet und nur noch beschränkt auf die sogenannten Punkte der Reichskleiderkarte zu beziehen. Braun und Schwarz trugen außer den Minderjährigen allenfalls die Heimatbonzen. Alle anderen waren auf das kleidsame Feldgrau umgestiegen, sogar Onkel Hans selber. Aus dem stolzen Sturmführer im Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps war ein mickriger Unteroffizier geworden, der in der französischen Etappe für den großdeutschen Endsieg focht, zum Beispiel indem er auf einer Feldpostkarte verordnete, dass seinem lieben Neffen kostenlos eine komplette Pimpfenuniform zukommen solle.