Spuk unterm Riesenrad - C. U. Wiesner - E-Book

Spuk unterm Riesenrad E-Book

C. U. Wiesner

4,8

Beschreibung

Auf einem Staubsauger fliegen sie durch die Lüfte – vom Alexanderplatz zur Burg Falkenstein im Harz: Hexe Emma, Riese Otto und der böse Zwerg Rumpi, lebendig gewordene Figuren aus einer Berliner Geisterbahn. Die drei Enkelkinder des Schaustellers, Umbo, Tammi und Keks, machen sich auf zu einer atemberaubenden Verfolgungsjagd. Die siebenteilige Abenteuerserie von C. U. Wiesner ( Regie: Günter Meyer), erstmalig im Fernsehen der DDR am 1. Januar 1979 ausgestrahlt, hat es längst zu einem Kultstatus gebracht. Sie wurde zu einem zweiteiligen überaus erfolgreichen Kinofilm, erreichte als Kinderbuch in den achtziger Jahren eine Auflage von über 100.000 Exemplaren und wurde von zahlreichen Fernsehsendern auf vier Kontinenten übernommen ( u. a. Spanien, China, Kanada, Ägypten). Im Sommer 2012 eroberten Hexe, Riese, Rumpelstilzchen auf einen Streich gleich drei Theaterbühnen in Rostock, Berlin und Dresden. Bei Google findet man inzwischen fast 63.000 Einträge. Nach dem Spuk unterm Riesenrad ging es fröhlich und gruselig weiter: Spuk im Hochhaus (1982), Spuk von draußen (1987) und Spuk aus der Gruft (1997). Edition digital konnte auf die Originalfassung des Kinderbuchverlages von 1984 zurückgreifen.

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Impressum

C. U. Wiesner

Spuk unterm Riesenrad

ISBN 978-3-86394-355-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1984 bei Der Kinderbuchverlag Berlin

Titelbild: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com

Familie Kröger

Wenn es mir in Berlin zu laut und unruhig wird, schließe ich die Wohnung hinter mir ab, lade Papier und Schreibmaschine in den Trabant und fahre ein paar Tage nach Bärenklau. Das ist ein kleines Städtchen etwa nördlich von Berlin. Wer hier nur so durchfährt, könnte es für ein großes Dorf halten. Aber es gibt fünf Straßen, vier Betriebe, drei Gaststätten, zwei Schuhläden und ein Rathaus mit einem richtigen Bürgermeister, und darum ist Bärenklau eben doch eine Stadt und kein Dorf.

Dort, wo die letzten Häuser stehen und schon bald der Wald anfängt, döst eine grüngestrichene Laube vor sich hin. Ich habe sie von meinem Onkel Felix geerbt, und mein Nachbar sagt immer, da müsste wenigstens mal neue Dachpappe draufgenagelt werden, und die Bretter seien auch schon ziemlich wurmstichig.

Mit meinen Nachbarsleuten, den Krögers, komme ich gut aus. Wenn ich nicht da bin, passt Herr Kröger auf meine Laube auf, und wenn ich da bin, bringt mir Frau Kröger Kartoffelpuffer, selbst gebackenen Kuchen oder frisch gelegte Eier von ihren Hühnern. Am Anfang sagte ich einmal, das sei mir peinlich. Aber da lachte sie nur und meinte: „Bei so 'ner großen Familie fällt immer was ab."

Krögers gelten als kinderreich. Darum durften sie sich auch das schmucke Einfamilienhaus bauen, auf das sie nun mit Recht sehr stolz sind. Herr Kröger arbeitet im Bärenklauer Margarinewerk. Dort muss er jeden Tag kosten, ob die Margarine, die in die halbe Republik verschickt wird, auch wirklich gut schmeckt. Obwohl er das schon seit vielen Jahren macht, sieht er noch schlanker und sportlicher aus als ich. Daran merkt man, dass Margarine wirklich sehr gesund ist, besonders die aus Bärenklau.

Frau Kröger sitzt den halben Tag an der Kaufhallenkasse. Den anderen halben Tag braucht sie schon, um sich um ihre fünf Kinder zu kümmern. Weil die Kaufhalle „Kosmos" heißt, hängt über dem Gemüsestand ein großes Bild von dem Fliegerkosmonauten Sigmund Jahn. Daneben hängt ein etwas kleineres. Aber die Dame auf dem Foto ist nicht die Frau Jahn, sondern die Frau Kröger, und darunter steht, dass sie die beste Kassiererin und obendrein dreifache Aktivistin ist.

Jetzt brauche ich nur noch Krögers Kinder vorzustellen. Die beiden kleinen heißen Ruggiero und Nicole, aber die gehen noch in den Kindergarten und zählen für unsere Geschichte nicht. Die drei, auf die es hier ankommt, sind zwölf, elf und zehn Jahre alt und werden in ganz Bärenklau nur Umbo, Tammi und Keks gerufen, sogar in der Schule. Ihre richtigen Namen wissen sie selber kaum noch. Wenn man schon amtlich Jan Franz, Jörg Fridolin und Jolanda Franziska heißen muss, ist man froh über jeden einigermaßen brauchbaren Spitznamen.

Umbo gilt als der Schlaueste. Wenn es nach seinen Eltern ginge, müsste er später mindestens Professor werden, denn reden kann er wie kein Zweiter. Aber auch in Ausreden und Widerreden ist er groß, und dabei hat er sich neulich von Vater Kröger ein paar echte altmodische Backpfeifen eingefangen.

Früher bekam Umbos jüngerer Bruder Tammi die Anoraks oder Pullover, aus denen der Große herausgewachsen war. Heute ist das umgekehrt, denn Tammi hat den Umbo an Länge und Breite schon überholt. Tammi ist nicht so gut in der Schule. Ohne seinen Bruder wäre er letztes Jahr vielleicht sogar sitzen geblieben. Aber Tammi hat Muskeln und fürchtet sich vor gar nichts. Als er schon nicht mehr wusste, wohin mit seiner Kraft, hat ihn Vater Kröger bei der Boxersektion von „Empor Bärenklau" angemeldet.

Die kleine Keks wird von ihren großen Brüdern nie so richtig für voll genommen, aber ich glaube, die Bengels unterschätzen sie. Nur weil man mit zehn Jahren noch gerne Märchenbücher liest, muss man doch keine dumme Gans sein.

Solange ich sie kenne, sind die Krögers in den Sommerferien nie verreist. Es ist schwer für eine so große Familie, ein passendes Urlaubsquartier zu finden.

In jenem Sommer, von dem ich erzählen will, kam alles anders als sonst. Auf Umbo, Tammi und Keks wartete ein Abenteuer, wie es sich nicht mal ein Märchenerzähler ausdenken könnte, falls es heutzutage überhaupt noch Märchenerzähler gibt.

Es war an einem der letzten Schultage vor den großen Ferien. Wir saßen in der Krögerschen Veranda und warteten auf den Chef; so wird Vater Kröger von seinen Kindern genannt. Auf dem Tisch stand eine Riesenschüssel mit Kartoffelsalat, wie ihn nur Frau Kröger machen kann: mit Radieschen, grüner Gurke, frischen Bollenpiepen, saurer Sahne und Eierscheiben.

„Ich könnte ja schon die Würstchen reinholen", meinte Tammi, „sonst platzen sie noch im Topf."

„Pass man auf, dass du nicht platzt, oller Fresssack", sagte Keks. „Soll der Chef nachher alleine essen?"

„Vielleicht macht er Überstunden", sagte Umbo. Da hörten wir von der Gartentür her fröhlichen Gesang: „Das Wandern ist des Müllers Lust ..."

„Von wegen Überstunden", knurrte Tammi, „im Goldenen Stern war er. Bier hat er getrunken."

„Spinnst ja", sagte Keks. „Der Chef kann auch ohne Bier fröhlich sein und singen."

Vater Kröger kam in die Veranda hereingehopst, nahm seine Frau, die ganz erschrocken war, in die Arme und wirbelte sie herum wie ein Eiskunstläufer. Fehlte bloß noch, dass er einen Doppelaxel mit ihr probiert hätte. Und jetzt sang er schon wieder:

„Mein Schatz, mein Schatz, mein Schatz! Die Krögers kriegen einen Urlaubsplatz!"

Tammi verkniff sich das Lachen. Umbo tippte sich respektlos an die Stirn. Keks aber drängelte sich zwischen ihre Eltern und rief immer wieder: „Nu erzähl doch schon!"

Schließlich waren die Würstchen nicht nur geplatzt, sondern beinahe kalt, als sie Tammi endlich auf den Tisch trug. Er war dann auch der Einzige, der davon aß, gleich fünf hintereinander. Wir anderen waren alle viel zu aufgeregt.

Herr Kröger hatte von der Gewerkschaft des Margarinewerks einen Ferienscheck bekommen, nicht etwa einen gewöhnlichen, sondern einen für das berühmte Interhotel „Neptun" in Warnemünde.

„Mann", rief Umbo begeistert, „is ja einsame Spitze. Direkt am Strand, und wenn die Ostsee zu kalt ist, geht man einfach ins geheizte Wellenbad!"

Tammi leckte sich die Lippen. „Und jeden Tag kann man in 'ner andern Gaststätte essen, ohne dass man aus 'm Hotel rausgeht. Eisbein und Bratfisch und riesige Eisbecher!"

„Chef", sagte Keks, „machen wir auch ganz bestimmt 'ne Hafenrundfahrt und kucken uns im Dunkeln den Leuchtturm an?"

Vater Kröger stocherte in seinem Kartoffelsalat herum und war auf einmal gar nicht mehr fröhlich. „Ich wollte ja erst mal mit Mutti darüber sprechen. Die Sache hat nämlich einen Haken."

Der Ferienscheck, so erfuhren wir jetzt, war zwar für eine kinderreiche Familie ausgestellt, aber der Reichtum durfte nur in vier und nicht in fünf Kindern bestehen. Mehr Betten gab es in den beiden Zimmern beim besten Willen nicht.

„Halten wir also Familienrat", sagte Vater Kröger seufzend. „Einer von den fünf Banditen fährt statt nach Warnemünde zu Oma und Opa nach Berlin. Aber wer?"

„Wir können ja knobeln", schlug Tammi vor. Eine Weile blieb es mäuschenstill in der Veranda. Endlich hob Keks ihren Zeigefinger wie in der Schule und erklärte mit etwas zittriger Stimme: „Ich fahre freiwillig nach Berlin!"

„Kommt überhaupt nicht infrage!", sagte Mutter Kröger und wischte sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen.

Umbo stand auf, warf einen raschen Blick auf seine Mutter und zog sich den Pullover bis über die Knie. „Alles klar", sagte er, wobei seine Stimme etwas heiser klang, „ich bin der Älteste und der Vernünftigste. Nach Warnemünde kommt man immer noch. Vielleicht geh ich mal zur Handelsmarine."

„Bravo, mein Sohn", sagte Vater Kröger, „ich hab's nicht anders von dir erwartet. Nehmt euch ein Beispiel an Umbo!"

„Mach ich, Chef!" Tammi verschluckte hastig seinen letzten Wursthappen. „Ich fahr mit Umbo zusammen nach Berlin. Erstens komme ich dies Jahr sowieso mit dem Kinderferienlager an die Ostsee, und zweitens ...", er haute Umbo grinsend auf die Schulter, „grault sich mein Bruderherz dann nicht in Opas Gespensterbann. Und drittens ...", er umarmte Mutter Kröger, „brauchste auf einen weniger aufzupassen."

Vater und Mutter Kröger warfen einander einen Blick zu und nickten erleichtert. Die Sache schien zur allseitigen Zufriedenheit gelaufen. Ich bedankte mich für das Abendbrot und verabschiedete mich, um noch ein bisschen an meiner neuen Geschichte zu arbeiten.

Als ich längst an der Schreibmaschine saß, wunderte ich mich, dass bei Krögers noch immer Licht brannte. Erst am anderen Morgen hörte ich von Keks, welche überraschende Wendung die Angelegenheit noch genommen hatte. Keks war mit dem Vorschlag herausgerückt, sie werde mit ihren großen Brüdern nach Berlin fahren. Den beiden passte es zunächst überhaupt nicht, auch noch die Püppi mitschleppen zu müssen. Aber wenn Keks sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie nicht mehr zu bremsen. „Seht mal", hatte sie zu ihren Eltern gesagt, „nur ihr zwei beide mit Ruggiero und Nicole ganz allein in dem herrlichen Interhotel! Da müsst ihr euch doch vorkommen wie auf der Hochzeitsreise."

Nach langem Hin und Her — es sei ja schade um die leer stehenden Kinderbetten — hatten schließlich die Kröger-Eltern klein beigegeben.

„Ganz ehrlich, Keks", fragte ich, während wir zusammen meine letzten Erdbeeren ernteten, „warum willst du nicht mitfahren?"

„Halt mal meine Zopfspange!", sagte sie und begann ihre Rattenschwänze zu flechten. „Für einen Schriftsteller biste ziemlich doof. Was wär denn gewesen in Warnemünde? Ich hätte genau wie hier den ganzen Tag die kleinen Biester hüten müssen wie 'ne Tüte Mücken. Und das soll Urlaub sein? Nee, danke für Backobst!"

Drei Tage später brachte ich erst die Urlauberfamilie Kröger zum Bahnhof Oranienburg. Dann verstaute ich Umbo, Tammi und Keks samt ihren Campingbeuteln und Rucksäcken in meinem Trabant und kutschierte sie nach Berlin zum Kulturpark im Plänterwald.

Die Gespensterbahn

Wenn Oma und Opa Kröger einen Fragebogen auszufüllen haben, tragen sie als Beruf „Schausteller" ein. Das ist zwar ein seltener, aber durchaus ernst zu nehmender Beruf. Ohne Schausteller gäbe es keine Rummelplätze, keine richtigen Volksfeste, keine Weihnachtsmärkte und schon gar nicht den berühmten Berliner Kulturpark. Ohne Schausteller wäre unser Leben ein kleines bisschen langweiliger. Eigentlich sind alle Leute Schausteller, die anderen zur Freude etwas zur Schau stellen: Maler ihre Bilder, Sänger ihre Lieder, Schriftsteller ihre Bücher und Schauspieler sich selber. Ohne all diese Menschen wüssten wir gar nicht, was wir mit unserer Freizeit anfangen sollten. Vielleicht würden die Großen nur noch Skat und die Kleinen nur noch Mau-Mau spielen, aber das würde uns bald ganz schön anöden.

Die Vorfahren der Schausteller waren die Gaukler, Spaßmacher, Zauberer und Seiltänzer, die fahrenden Sänger, die vor Hunderten von Jahren die Leute auf den Jahrmärkten belustigten. Sie wurden belacht, aber man verachtete sie. Und nirgendwo hatten sie eine feste Bleibe. Jemand, der einen Anzug schneidern kann, der ist was. Jemand, der ein Brot backen kann, der gilt was. Aber jemand, der nur Fratzen schneidet und Purzelbäume schlägt?

Opa Kröger war als junger Mann aus dem letzten schlimmen Krieg heimgekehrt. Er hatte nicht viel mehr als gehorchen und schießen gelernt, und er sehnte sich nach richtiger Arbeit. Die fand er bei einem Karussellbesitzer, und da fand er auch seine Frau, die heutige Oma Kröger, die bei den Schaustellern groß geworden war. Mit dem eigenen Karussell fing es an — Pferde, Feuerwehr und Straßenbahn. Das war ihr erstes Fahrgeschäft, so nennt man auf dem Rummelplatz alles, was sich da dreht, was glitzert und rasselt und umhersaust.

Heute sind Oma und Opa Kröger Inhaber der Gespensterbahn, und wer mal im Berliner Kulturpark oder auf dem Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz war, weiß, wo sich die Leute am meisten drängeln: vor Krögers Gespensterbahn.

Es war Anfang Juli. Während Oma Kröger die Kassenabrechnung machte, sah Opa Kröger noch einmal nach, ob alle Geister an ihrem Platz standen. Dann gingen die beiden in ihren Wohnwagen. Um den hätte sie jeder Campingfan heftig beneidet. Drinnen sah es fast wie in einer Neubauwohnung aus: Schlafraum mit Klappbetten, Wohnzimmer mit Bücherschrank und Farbfernseher, Küche mit Propangasherd und Kühlschrank. Neben dem Wohnwagen war ein Hauszelt aufgeschlagen, denn Krögers erwarteten ihre drei Enkelkinder.

Gegen Abend lieferte ich Umbo, Tammi und Keks bei den Großeltern ab, trank noch eine Tasse Tee und ließ mir die Gespensterbahn zeigen. Kleine Wagen, der Schausteller nennt sie Chaisen, fahren auf elektrischen Gleisen kreuz und quer durch die enge Bude und begegnen an jeder Ecke irgendeiner Märchenfigur, die auf geheimnisvolle Weise zum Leben erwacht. Über verborgene Lautsprecher schnarrt und kreischt es, Lampen blitzen auf — also so richtig graulich fand ich das Unternehmen nicht. Ich verabschiedete mich von Umbo, Tammi und Keks und wünschte ihnen alles Gute für den Urlaub.

Zunächst hatten die Kinder etwas Mühe, sich daran zu gewöhnen, dass der Tag hier anders ablief als zu Hause. In einem Zelt zu schlafen, das war schon was Besonderes. Aber geweckt wurden sie am ersten Morgen schon viel früher als daheim. Schuld daran war Keks, denn sie hatte am Abend den schwarz-weißen Kater Dagobert mit ins Zelt geschmuggelt. Kaum dass die Sonne aufgegangen war, machte das Katzenvieh Spektakel, mauzte und schnurrte, sauste kreuz und quer durch das Zelt und patschte den drei Schläfern so lange mit der Pfote ins Gesicht, bis sie alle wach waren.

„Nicht mal im Urlaub kann man ausschlafen", schimpfte Umbo und jagte den verspielten jungen Kater aus dem Zelt.

Tammi, der sich trotz seiner elf Jahre noch immer nicht so recht mit Waschlappen und Seife anfreunden kann, wollte am liebsten ein Morgenbad in der Spree nehmen, die ja gleich am Kulturpark vorbeifließt. Er war schon durch die Tür im Drahtzaun spaziert, als ihn Opa am Schlafittchen kriegte. „Es ist verboten, hier in der Spree zu baden", sagte er. „Siehst doch selber, dass hier alle naselang Schiffe und Motorboote vorbeifahren. Außerdem steigste dreckiger aus dem Wasser, als du reingesprungen bist."

Um 13 Uhr wurde der Kulturpark geöffnet. Bis dahin mussten Zelt und Wohnwagen aufgeräumt sein. Umbo und Tammi sorgten mit Opa dafür, dass in der Gespensterbahn alles betriebsbereit war. Keks hätte zwar am liebsten den halben Tag mit ihrem neuen Freund, dem Kater Dagobert, gespielt, aber sie sah ein, dass sie der Oma beim Einkaufen und Mittagessenkochen helfen musste. Pünktlich um zwölf wurde gegessen. Alle saßen dann unter einem bunten Sonnenschirm neben dem Wohnwagen, und Oma spielte Schlaraffenland. Abwechselnd durften sich die drei Kinder ein Leibgericht wünschen. Keks bestellte sich Eierkuchen mit Erdbeermarmelade, Umbo Makkaroni mit Tomatensoße und der verfressene Tammi Eisbein mit Sauerkohl.

Wenn sich dann alle am liebsten satt und zufrieden die Bäuchlein gestrichen hätten, begann, wie Opa das nannte, der Ernst des Lebens. Ganze Völkerscharen stürmten den Kulturpark: Kinder und Erwachsene aus Sachsen und Prag, aus Mecklenburg und Dänemark, aus Kuba und dem Vogtland, aus Berlin-Lichtenberg, Leningrad, Budapest, aus Frankreich und von der Insel Rügen. Die Sache mit dem Kulturpark Berlin musste sich herumgesprochen haben. Achterbahn und Riesenrad, Auto-Scooter und Gespensterbahn. Wer da nicht mitgefahren ist, soll keinem erzählen, er sei im Kulturpark gewesen.

Die Krögerkinder hatten vom ersten Tage an ihre festen Aufgaben. Opa bediente die elektrische Schalttafel, Oma verkaufte die Eintrittskarten, und Keks durfte ihr dabei helfen. Wenn Oma mal Luft schnappen ging, war Keks sogar Chefkassiererin, und hier zeigte sich, dass es gar nicht so schlecht ist, wenn man in Mathematik seit Jahren nur Einsen nach Hause bringt.

Umbo sorgte dafür, dass die Fahrgäste rasch in die Chaisen einstiegen, und nahm ihnen die Eintrittskarten ab. Zuerst hatte er ab und zu noch einen kleinen Ulk gemacht, wie: „Aussteigen und Blumenpflücken während der Fahrt verboten!" oder: „Hauen Sie nicht nach dem Menschenfresser, er hat heute noch kein Mittagessen gekriegt!"

Aber bald ging alles nur noch auf Tempo, und Umbo murmelte verdrossen: „Los, einsteigen." Das murmelte er jeden Tag ein paar hundert Mal.

Am Ausgang der Gespensterbahn, wenn die Leute manchmal noch völlig verstört von den Gruseleien in ihren Chaisen saßen, jagte sie Tammi mit dem mürrischen Ruf: „Los, aussteigen, andere wollen auch!" hinaus und schob die leeren Chaisen seinem Bruder Umbo zu.

So ging das tagtäglich acht Stunden lang. Umbo und Tammi waren schon ziemlich sauer. So hatten sie sich ihren Berlinurlaub nicht vorgestellt. „Ich hab gedacht, wir fahren mal zum Strandbad Müggelsee", maulte Umbo, und Tammi gab ihm wie meistens recht.

„Ihr seid die Richtigen", sagte Keks empört, „erst große Bogen spucken: Wir helfen Oma und Opa. Und nu?"

„Halt die Klappe, Püppi!", erwiderte Umbo. „Von dir hängense sowieso noch ein Foto am Eingang vom Kulturpark auf: Jolanda Franziska Kröger, verdientes Musterenkelkind!"

Das Schönste waren die Abende. Keks, Umbo und Tammi durften viel länger aufbleiben als zu Hause. Wenn es im Kulturpark still geworden war, saßen sie mit Oma und Opa unter der Laterne neben dem Wohnwagen, aßen Eis und tranken Apfelsinensaft.

„Lasst man", meinte Opa, „nur noch ein paar Tage, dann werdet ihr abgelöst. Da kommen drei Oberschüler. Die wollen sich in den Ferien ein paar Groschen dazuverdienen."

„Du, Opa", sagte Keks eines Abends, „ich hab mir mal die Figuren in der Gespensterbahn genau angesehen. Drei sind dabei, die passen nicht zu den anderen."

„Nein, was haben wir für eine schlaue Püppi!", höhnte Umbo und tippte sich an die Stirn. „Opa hat die Figuren alle wissenschaftlich ausgesucht, und dabei hat ihm ein Professor für Völkerkunde geholfen. Das sind alles sogenannte Dämonen. Davor hatten früher die Stämme in Asien, Amerika und Afrika eine Mordsangst."

Keks sprang empört auf. „Und der Riese, die Hexe und das Rumpelstilzchen?"

„Lass Dampf ab, Schwesterchen", sagte Tammi und schob sich fünf Salzstangen auf einmal in den Mund. „Die ollen Germanen waren eben früher auch mal primitiv, als sie noch keine Autos kannten."

Opa goss sich ein Glas Bier ein. „Keks hat völlig recht. Mit den drei Figuren hat es schon seine besondere Bewandtnis. Vor vielen, vielen Jahren kam ein Schausteller auf die Idee, sich als richtige Attraktion eine Gespensterbahn aufzubauen. In einem Harzer Dorfgasthof entdeckte er unter allerlei Gerümpel drei hölzerne Figuren. Sie waren schon ziemlich ramponiert. Trotzdem fragte er den Wirt, was die wohl kosten sollten. Drei Flaschen Wein, sagte der Win lachend, und die trinken wir zusammen aus. Seitdem stehen Hexe, Riese und Rumpelstilzchen in der Gespensterbahn. Natürlich wurden sie schon oft repariert und neu gestrichen. Als Oma und ich die Gespensterbahn kauften, kam Oma auf die Idee, die drei Figuren beweglich zu machen. Ganz geheuer sind sie mir nie gewesen. Wenn ich mit der Taschenlampe an ihnen vorbeigehe, ist es mir manchmal, als ob sie mir zuzwinkern."

„Hör auf, Opa!", sagte Keks und presste angstvoll den Kater Dagobert an sich.

„Es ist Zeit, dass wir schlafen gehn", beendete Oma das Gespräch. „Morgen haben wir wieder einen harten Arbeitstag." In dieser Nacht träumte Keks lauter dummes Zeug. Die Hexe aus der Gespensterbahn steckte ihren hässlichen Kopf mit der Brille und der Hakennase durch den Zelteingang und flüsterte: „Du kannst mich erlösen, kleine Keks!"

Am nächsten Abend wurden die Kinder zeitig ins Zelt geschickt. Es war ein durch und durch verdrehter Tag gewesen. Keks hatte zwei Jungen aus ihrer Klasse getroffen. „Hau doch einfach ab und komm mit zum Strandbad", sagten die. „Da ist viel mehr los als an unserem Autobahnsee."

„Geht nicht, ich hab doch Dienst", erwiderte Keks, war aber noch lange traurig, denn sie wäre so gern mitgefahren. Tammi und Umbo hatten eine kräftige Kopfwäsche von den Großeltern hinter sich. Mitten im dicksten Nachmittagsbetrieb waren sie plötzlich verschwunden gewesen. Oma, Opa und Keks hatten alle Hände voll zu tun gehabt, das Fahrgeschäft allein in Gang zu halten, während sich die beiden Jungen auf dem Kulturpark amüsierten. Als sie endlich zurückkehrten, war beiden schlecht; Umbo von fünf Fahrten hintereinander mit der Achterbahn und Tammi von fünf Bockwürsten und drei Kartoffelpuffern und zwei Portionen Eis.

Verdrossen lagen sie nun auf ihren Luftmatratzen. „So blöde Ferien hab ich noch nie erlebt", sagte Tammi gnatzig. „Da grab ich lieber dreimal unsern Garten um."

„Ein bisschen war's aber auch böse von euch", flüsterte Keks und streichelte den Kater Dagobert, der als einziger gute Laune hatte, er schnurrte behaglich vor sich hin.

„Ich wünsch mir mal ein richtiges Abenteuer", murmelte Umbo.

Die Großeltern saßen im Wohnwagen über der Tagesabrechnung. „Ich weiß nicht, was sich manche Fahrgäste so denken", sagte der Opa kopfschüttelnd. „Wir haben schon wieder eine Panne. Hexe, Riese und Rumpelstilzchen haben irgendwas abbekommen. Sie rühren sich nicht mehr."

Die Ausreißer

Am anderen Morgen saß die Familie wieder einträchtig am Frühstückstisch. Oma und Opa waren freundlich, als ob nichts gewesen wäre. Tammi hatte sich sogar mit freiem Oberkörper gewaschen, und Umbo meldete sich freiwillig zum Geschirrabtrocknen.

Opa blickte in den strahlend blauen Himmel. „Heute sollen's über dreißig Grad werden", verkündete er. „Hoffentlich kriegen wir bis Mittag unsere kaputten Geister wieder hin."

Oma, die als Spezialist für Elektrikerarbeiten galt, legte sich ihr Werkzeug zurecht.

„Und wer kocht das Mittagessen?", erkundigte sich Tammi besorgt.

„Das übernimmt heute mal Keks", erklärte Oma. „Du weißt ja, wo alles steht, mein Kind."

„Was soll ich denn kochen?", fragte Keks.

„Was du gerne möchtest", erwiderte Oma und sah sich im Kreise um. „Los, Männer, jetzt bilden wir eine Reparaturbrigade."

Tammi warf einen argwöhnischen Blick auf seine Schwester und flüsterte Umbo zu: „Am besten, wir machen heute einen Safttag."

Eigentlich ist es ein Kinderspiel, eine dicke, süße Schokoladenpuddingsuppe zu kochen. Keks hatte dabei ihrer Mutter schon oft zugesehen. Jetzt saß der Kater Dagobert neben Keks und schnupperte an Omas größtem Kochtopf, in dem es nach heißer Milch zu duften begann. Keks stand auf einer Fußbank und rührte mit einem langen Quirl im Topf herum. Sie bekam Angst, der Kater könne sich die Pfoten am Topf verbrennen, und setzte Dagobert behutsam auf den Fußboden. Plötzlich hörte sie es zischen. Die Milch begann überzukochen. Rasch drehte Keks die Gasflamme kleiner und schüttete Zucker und eingerührtes Puddingpulver in den Topf. Darin begann es zu brodeln. Dicke Blasen zerplatzten an der Oberfläche, ein sonderbarer Geruch breitete sich aus. Als Keks vorsichtig kostete, schmeckte es weniger nach Schokoladenpudding als nach scharfgebratener Bulette mit Zuckerguss. Sie tat ein paar Löffel Suppe auf eine Untertasse und stellte sie Dagobert hin. Der wandte angeekelt den Kopf ab und zog ein Gesicht, als wollte ihn einer mit Schuhcreme vergiften.

„Dummer Kerl", schimpfte Keks, „sonst biste verfressen wie Tammi. Los, jetzt wird gekostet!" Sie packte ihn im Genick und stupste ihn mit Maul und Nase auf die Untertasse. Dagobert sauste durch die offene Tür ins Freie und ward zwei Tage lang nicht mehr gesehen. Keks setzte sich auf einen Küchenstuhl und merkte, dass ihr die Tränen kamen. Aber dann holte sie einen kleinen Plasteeimer und füllte den braunen Brei entschlossen hinein.

In der Gespensterbahn war es Oma und Opa inzwischen geglückt, den drei Figuren wieder zu ihrer geisterhaften Beweglichkeit zu verhelfen. Das war sehr wichtig, denn wenn die drei ausfielen, funktionierten auch die anderen nicht.

Opa betätigte den Hauptschalter, und die Chaisen polterten über die Gleise. Alles war wie immer. Die Hexe nickte mit dem Kopf, während ihre Augen hinter den Brillengläsern aufleuchteten. Der Riese schwang drohend sein Messer. Rumpelstilzchen hüpfte mit starrem, boshaftem Blick auf und ab.

Opa sah zur Uhr. „Es ist schon spät. Oma und ich müssen rasch noch zu einer Arbeitsbesprechung beim Kulturparkdirektor. Mit dem Essen braucht ihr nicht zu warten. Aber vorher räumt ihr hier sorgfältig auf!"

„Vergesst nicht, die Geister noch mal ordentlich abzuwischen", fügte Oma hinzu.

Als Umbo und Tammi allein waren, dachten sie gar nicht ans Aufräumen, sondern machten es sich auf einer Kiste bequem. Jetzt, in dem hellen Arbeitslicht, sahen die Figuren kein bisschen gruselig aus.

„Verstehst du", fragte Tammi, „warum manche Leute vor Angst kreischen, wenn sie hier vorbeifahren?"

Umbo schüttelte den Kopf. „Nee, kein Stück." Er stand auf und nahm einen großen Schraubenschlüssel in die Hand. „Wenn ich Märchen schreiben könnte, wär alles viel komischer. Pass mal auf! Es war einmal ein ziemlich bescheuerter König." Er zeigte mit dem Schlüssel auf den Riesen und hob ihm das Haupt. „Stimmt's, alter Holzkopp?" Der Riese musste notgedrungen nicken. „Na also", sagte Umbo. „Der hatte eine wunderschöne Tochter." Er deutete auf die Hexe. „Die wurde aus der achten Klasse entlassen, weil sie nur Stroh im Kopf hatte. Da lernte sie einfach gar keinen Beruf und schaffte sich erst mal ein Kind an, und das hatte gleich einen Bart ..." „Ist ja ganz verkehrt", rief Tammi lachend. „Na gut", sagte Umbo, „dann erzähl du weiter!"

Tammi sprang auf. „Die ging zu einem Kerl in die Lehre, der hat gesagt, er kann aus Stroh lauter Gold machen — und Kaugummi und Matchbox-Autos."

Umbo zupfte Rumpelstilzchen am Bart. „,Kannste das wirklich, du Superspinner?"

Tammi packte die Figur ebenfalls am Bart. „Erst sagste mal deinen Namen! Heißte Hammelwade? Heißte Schnürbein?"

Umbo drohte dem armseligen Geist mit dem Schraubenschlüssel. „Heißte Affenheini? Oder heißte Eierkopp?"

Tammi schob seinen Bruder beiseite. „Oder heißte vielleicht Schweinebacke?"