Schwarzer Nebel - Jürgen Vogler - E-Book

Schwarzer Nebel E-Book

Jürgen Vogler

0,0

Beschreibung

Mord in Timmendorfer Strand. Hauptkommissar Forsberg und sein Team nehmen die Ermittlungen auf. Doch die anfangs verheißungsvollen Spuren enden in einer Sackgasse. Wenig später fliegt in Travemünde die Motoryacht Esperanza mit ihrem Besitzer in die Luft. Ein Unfall oder auch ein Mord? Nur langsam lichtet sich für Forsberg der Nebel aus Arglist, Täuschung und Niedertracht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 272

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Autor

Jürgen Vogler wurde 1946 in der Holsteinischen Schweiz geboren und wohnt heute an der Ostseeküste. Nach seinem Dienst als Pressesprecher bei der Bundespolizei arbeitet er seit 1988 als Freier Journalist und Autor.

Neben zwei Kinderbüchern sind Historisches und Kriminelles die Schwerpunkte seiner Arbeit. Kriminelles Treibgut ganz besonderer Art findet der Leser in „Kopflos im Strandkorb“. In achtzehn Kurzkrimis verwandeln sich norddeutsche Ferienorte in Tatorte. Im Kriminalroman „Schwarzer Nebel“ stellen zwei mysteriöse Todesfälle an der Ostseeküste Hauptkommissar Forsberg und sein Team vor eine kaum lösbare Aufgabe.

www.juergenvogler.de

Bereits erschienen:

„Kopflos im Strandkorb“

„Ostholstein gestern“

„Der Mohr von Plön“

„Der Narr von Eutin“

„Der Marquis von Lübeck“

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 1

22. Mai 2015

Liebes Tagebuch, ich weiß nicht, was ich dir heute alles erzählen soll. So viel Aufregendes ist passiert. Frau Eberhardt, die alte Ziege, hat mich tatsächlich gelobt. Zwei Kundinnen waren total begeistert von mir. Dabei habe ich denen nur Black Opium empfohlen, womit sie sich schon im Geschäft vollkommen eingenebelt haben.

In der Post war ein langer Brief von Jackie aus New York. Die ist so was von begeistert vom Big Apple. Vielleicht komme ich da ja auch noch mal hin. Außerdem will ich nach Neuseeland und nach Hawaii – wie Peter Pan über die Länder und Meere fliegen.

Ich weiß nicht, ob ich heute Nacht überhaupt schlafen kann? Marcus hat mir sein altes Smartphone geschenkt. Das ist wie neu, da mein Bruderherz als IT–Berater gerade bei diesen technischen Sachen immer das neueste Modell haben muss. Gut für mich. Aber nun muss ich mich da erst einmal hineinfummeln.

Jenny und Caro nerven mich schon den ganzen Tag, weil morgen die große Strandparty von Stefan abgeht und sie nicht wissen, was sie anziehen sollen. Ich weiß es auch noch nicht. Hummeln im Bauch hab ich, wenn ich nur an Mario denke. Hoffentlich kommt er auch. Bestimmt werde ich von ihm träumen.

Gute Nacht, liebes Tagebuch.

„Aber lauf nicht so weit weg, du kleiner Racker“, ermahnte Maren Hausschildt ihren Cocker Spaniel Frido, als sie ihn von der Leine ließ. Wie ein geölter Blitz fegte der Hund über den Strand und scheuchte kläffend einen Schwarm Möwen am Ufersaum auf. Die Urlauberin genoss die frühen Morgenstunden. Während sich die anderen Gäste noch einmal in ihren Betten umdrehten, herrschte hier an der Küste Ruhe und sie konnte den Hund frei laufen lassen. Sie wusste sehr wohl, dass das in den Sommermonaten nicht erlaubt war. Aber so früh am Morgen störte sich niemand daran.

Maren Hausschildt breitete die Arme aus und atmete tief durch. Einmal im Jahr gönnte sich die Siebenundsechzigjährige den Luxus, ihrer Zweizimmerwohnung in Dortmund zu entfliehen und die frische Ostseeluft in Timmendorfer Strand zu genießen. Regelmäßig steuerte sie mit Frido vor sechs Uhr von ihrer kleinen Pension aus den Strandabschnitt im Bereich der alten Lesehalle an, in die vor einigen Jahren eine Buchhandlung namens „Mikado“ eingezogen war und wo asiatische Skulpturen den Eindruck eines japanischen Gartens vermittelten.

„Frido, komm!“ Maren Hausschildt blickte sich suchend nach ihrem Hund um. „Frido, wo bist du?“ Aber von ihm war nichts zu sehen. Im Augenwinkel hatte sie kurz zuvor registriert, dass er die Jagd auf die davonflatternden Möwen sehr schnell aufgegeben hatte und kurz darauf schnüffelnd zwischen den Strandkörben verschwunden war.

„Frido! Komm zu Frauchen! Frido, Leckerli! Komm!“ In den meisten Fällen verpasste Frido bei keiner Gelegenheit die Aussicht auf Leckerli, ganz gleich, an welcher wohlriechenden Spur sich seine Hundenase gerade erfreute. Nur heute Morgen schien ihr Lockruf ungehört in den plätschernden Ostseewellen zu verhallen.

Maren Hausschildt stapfte durch den Sand den Strandkörben entgegen. Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihr, als sie Frido am Dünenrand entdeckte, wo er begeistert im Sand wühlte. „Du sollst doch nicht so weit weglaufen.“

Der Cocker Spaniel drehte sich um und sprang schwanzwedelnd auf sie zu.

Als der Hund näher kam, runzelte Maren Hausschildt verwundert die Stirn. „Was hast du denn da wieder ausgebuddelt?“

Frido trug einen Schuh im Maul, den er ihr vor die Füße legte, um sogleich umzukehren und davonzurennen.

Es war ein moderner Herrenschuh, ein schwarzweißer Sneaker. Kein Billigprodukt. Sie hob ihn auf und folgte Frido. Als sie kurz vor den Dünen um den letzten Strandkorb bog und nach links blickte, blieb ihr fast das Herz stehen. Mit dem Gesicht im Sand lag nur wenige Meter vor ihr eine Person, an der Frido eifrig schnüffelte. Der linke Fuß war unbekleidet. Entgeistert starrte Maren Hausschildt auf den Schuh in ihrer Hand und warf ihn voller Panik von sich.

Magnus Forsberg ließ kaltes Wasser über seinen muskulösen Körper prasseln. Ein Ritual, wie auch seine morgendlichen Joggingtouren am Strand, auf das er ungern verzichtete. Dafür hatte er sich in seinem gemieteten Apartment im fünfundzwanzigsten Stock des Maritim-Hochhauses in Travemünde extra eine Schwalldusche einbauen lassen. Eigentlich hatte es nur eine Übergangslösung sein sollen, aber inzwischen wohnte er hier schon fast drei Jahre mit dem atemberaubenden Blick auf die Travemündung, die Viermastbark „Passat“ und den alten Leuchtturm.

Ein störendes, immer wiederkehrendes Geräusch übertönte das Rauschen der Dusche. Forsberg stellte das Wasser ab, ergriff das Handtuch und stieg aus der Duschkabine. Unaufhaltsam ertönte aus seinem Handy „Eine kleine Nachtmusik“ von Mozart. Er nahm es von der Ablage und sah im Display den Namen „Peter Petersen“ aufleuchten, von Beruf Kriminaloberkommissar und sein unmittelbarer Mitarbeiter beim Lübecker Kommissariat 11, zuständig für Mordermittlungen.

„Sie stören, Petersen, wie immer. Was gibt es?“, meldete er sich.

„Tut mir ja leid, Chef, aber wir haben eine Leiche in Timmendorfer Strand. Irgendwo auf Höhe des Teehauses. Die Ortsangaben waren etwas vage. Ich dachte mir, Sie haben den kürzeren Weg, ich hab aber inzwischen KTU, Rechtsmedizin und Staatsanwaltschaft aktiviert und fahre jetzt aus Lübeck los.“

„Ist gut, Petersen. Wir sehen uns vor Ort.“

„Moin! Moin! Gut, dass Sie da sind. Hier geht schon alles drunter und drüber.“ Sichtlich erleichtert trat der Leiter der Polizei Timmendorfer Strand, Hauptkommissar Keller, Forsberg entgegen, als er ihn auf der Promenade entdeckte.

Stirnrunzelnd beobachtete dieser, dass einige Beamte sich darum bemühten, Urlauber, die an diesem sommerlichen Morgen dem Strand zustrebten, vom Bereich des Tatorts fernzuhalten. Leider nicht immer erfolgreich. „Wo liegt der Tote?“, fragte er, ohne auf Kellers Begrüßung einzugehen.

„Gleich hinter den Dünen. Ich geh mal voran.“ Der Hauptkommissar drehte sich um und ging auf die Strandkörbe zu. Am Ende des Dünenweges hielt er an und zeigte nach links.

Forsberg warf nur einen kurzen Blick auf die Person, die auf dem Bauch im Sand lag, und überflog die Situation am Strand.

„Fordern Sie umgehend mehr Leute an“, ordnete er an, „und sperren Sie den Strandbereich bis zum Wasser weiträumig ab. Hier marschiert weder am Ufer noch auf der Promenade jemand durch.“

Der Leiter der Polizeistation sah Forsberg an, als habe er den Auftrag erhalten, den Mond einzufangen.

„Aber das kann ich doch...“

„Das hier ist ein Tatort, Herr Kollege, und kein Urlauberbelustigungsspektakel“, unterbrach Forsberg den Beamten, der daraufhin auf dem Absatz kehrtmachte und davonstapfte.

Forsberg wandte sich der Leiche am Dünenrand zu. Vor ihm lag ein groß gewachsener Mann. Sein ungefähres Alter konnte er nicht feststellen, da das Gesicht frontal im Sand lag. Der Mann trug ein schwarzes Sommerjackett und eine beige Leinenhose. Auf den ersten Blick keine billige Kaufhausware.

Verwundert stellte Forsberg fest, dass der Tote nur seinen rechten Schuh trug und der linke ungefähr zehn Meter entfernt im Sand lag.

„Unter dem Begriff ,Sommerfrische' hast du dir sicher auch etwas anderes vorgestellt, oder?“

Magnus Forsberg drehte sich zu der Stimme um und sah Personen auf sich zukommen, die wie weiß gekleidete Marsmenschen aussahen, allen voran Paul Zimmermann, Kriminalhauptkommissar und Leiter der Kriminaltechnik. Sie kannten sich schon von ihrer gemeinsamen Ausbildung her.

„Moin, Paul“, brummte Forsberg, „es gibt viele Spuren im Sand. Aber du liebst ja die Herausforderung.“ „Nun lass uns erst einmal unser Arbeit machen.“

Die Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren weißen Overalls schwärmten aus und begannen mit ihren Untersuchungen. Jeder wusste, was er zu tun hatte.

Kurze Zeit später sah Forsberg zwei weitere Menschen durch den Sand auf sich zustapfen. Eine grazile Person mit schulterlangem braunem Haar in einem figurbetonten, schlicht gelben Sommerkleid, die ihre Schuhe in der Hand hielt. Daneben ein kräftiger junger Mann, der einen schweren Koffer trug.

„Schneller ging es leider nicht, Chef, zu viel Verkehr. Alle wollen bei diesem Wetter an die Ostsee“, begrüßte Peter Petersen seinen Vorgesetzten, „und Frau Doktor hab ich auch gleich mitgebracht.“

„Ihnen unter diesen Umständen einen guten Morgen zu wünschen, Frau Doktor Veltin, wäre wohl eher unangebracht.“

„Guten Morgen, Herr Forsberg. Es erleichtert mir die Arbeit ungemein, wenn ich hin und wieder auf Kavaliere treffe, was, wie Sie wissen, unter Polizeibeamten nicht immer selbstverständlich ist.“ Die Rechtsmedizinerin lächelte verschmitzt. „Wie ich sehe, ist Herr Zimmermann schon aktiv. Dann werde ich mir einmal den Corpus Operandi ansehen.“

„Was wissen wir denn schon, Chef?“, fragte Peter Petersen, nachdem er den Koffer der Rechtsmedizinerin abgestellt und einen Blick auf den Toten geworfen hatte.

„Nichts, Petersen. Es wird Zeit, dass Sie herausfinden, wer den Toten gefunden hat und wo die Person sich jetzt auf...“

Eine aufgebrachte Stimme unterbrach Forsberg. „Das können Sie nicht machen! Das ist mein Ruin! Wir haben Hauptsaison...“ Vor ihm stand ein korpulenter Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Auf dem Kopf trug er eine weiße Schirmmütze, die mit einem goldenen Anker verziert war. Ein uniformierter Polizeibeamter war ihm händeringend gefolgt. Offensichtlich hatte er vergeblich versucht, den Strandkorbvermieter an seinem Vorstoß in Richtung Tatort zu hindern.

Bevor Forsberg antworten konnte, hatte Kriminaloberkommissar Petersen den aufgeregten Mann am Arm gepackt und dicht zu sich herangezogen, sodass sich ihre Nasenspitzen fast berührten.

„Sind Sie noch ganz richtig im Kopf, Mann?“, fuhr er ihn an. „Wenige Meter von uns liegt ein Toter, und Sie jammern wegen ein paar Euro! Wenn Sie nicht sofort verschwinden, nehme ich Sie wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungen fest. Haben wir uns verstanden?“ Abfällig schubste er den Strandkorbvermieter von sich. „Nehmen Sie ihn mit. Und wenn er wieder aufmüpfig wird, buchten Sie ihn ein“, wies er den uniformierten Kollegen an, der Petersens Zurechtweisung anerkennend beobachtet hatte.

Forsberg verfolgte die Aktion kommentarlos. So kannte er Petersen. Dieser war als zweiter Sohn eines Landwirts auf Fehmarn geboren. Da sein älterer Bruder den Hof erben würde, hatte er sich schon in jungen Jahren entschieden, zur Polizei zu gehen. Vor knapp zwei Jahren war er zur Mordkommission in Lübeck gestoßen. Trotz seiner achtundzwanzig Jahre wirkte er mit seinem blonden Struwwelhaar wie ein großer Junge, der seine bäuerliche Herkunft nicht verbergen konnte.

Er war kräftig gebaut und untersetzt. Konnte zupacken. Wer allerdings aufgrund seines behäbigen Gangs eine generelle Schwerfälligkeit vermutete, der wurde sehr schnell eines Besseren belehrt, wenn es, wie soeben, darum ging, flüchtige Kriminelle zu verfolgen oder renitente Personen außer Gefecht zu setzen.

„Wat gift dat bloß för Dösbaddel? Aber den Mors sünd wi nu los, Chef.“ Petersen grinste Forsberg unbekümmert an.

„Mein Gott, Petersen, haben Ihnen die Pauker in Ihrer Dorfschule denn nicht wenigstens ein paar Brocken Hochdeutsch beigebracht? Und Festnahme wegen Behinderung von Ermittlungen, bloß weil der Strandkorbkapitän um den Verlust seiner Einnahmen bangt? Haben Sie da nicht etwas übertrieben?“

„Das weiß der Torfkopp doch nicht...“

„Ihr Glück. Nun aber an die Arbeit!“ Forsberg hatte sich inzwischen an die etwas robuste und teilweise unbekümmerte Art des Kriminaloberkommissars gewöhnt, wenn diese auch seinem eigenen eher nüchternen und analytischen Wesen grundsätzlich widersprach. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Polizeibeamten das abgesperrte Areal erweiterten und mit Flatterbändern versahen. Kurze Zeit später entdeckte er ein weiteres bekanntes Gesicht.

„Ich dachte, Sie wären längst im Urlaub, Herr Wagenknecht“, begrüßte er den Staatsanwalt, der stets wie aus dem Ei gepellt gekleidet war und jetzt missmutig durch den Sand auf ihn zustapfte. Vermutlich in großer Sorge darum, dass das edle Leder seiner Schuhe Schaden nehmen könnte.

Er fluchte, als er vor Forsberg stehen blieb. „Können sich unsere Kunden nicht irgendwann einmal einen Platz aussuchen, den ein zivilisierter Mitteleuropäer ohne größere Blessuren erreicht?“

„Es tut mir leid, verehrter Herr Staatsanwalt, doch auch mein Einfluss ist in solchen Angelegenheiten eher begrenzt. Aber Sie müssen auch nicht näher heran. Wie Sie sehen, sind unsere Experten noch nicht fertig. Männliche Leiche. Alter noch unbestimmt. Wurde heute Morgen in dieser Position aufgefunden.“

„Tschuldigung, Chef. Moin, Herr Staatsanwalt“, unterbrach Petersen die beiden. „Die Dame, die den Toten gefunden hat, sitzt im Häuschen des Strandkorbvermieters. Wollen Sie sie sprechen?“

„Moment, ich komme gleich“, erwiderte Forsberg und wandte sich an den Staatsanwalt. „Möchten Sie dabei sein?“

Der nickte nur.

In der Bude des Strandkorbvermieters saß eine völlig in sich zusammengesunkene Frau. Eine weitere Frau, die sich als die Ehefrau des Vermieters herausstellte, strich ihr in einer beruhigenden Geste unentwegt über den Rücken. Neben den beiden lag ein Hund, der die ankommenden Männer neugierig beäugte. Von der grimmigen Kapitänsmütze war nichts zu sehen.

„Guten Morgen. Ich bin Kriminalhauptkommissar Forsberg, der ermittelnde Beamte. Das ist Staatsanwalt Wagenknecht.“ Forsberg zeigte auf den Staatsanwalt. „Und meinen Mitarbeiter Petersen kennen Sie ja bereits. „Sie sind Frau...?“

„Hausschildt. Maren Hausschildt“, kam die zaghafte Antwort.

„Nun, Frau Hausschildt, dann erzählen Sie mal.“ Die Zeugin richtete sich auf und begann zu erzählen. „Ich bin heute Morgen wie immer mit Frido an den Strand gegangen.“ Der Hund zu ihren Füßen wedelte mit dem Schwanz, als er seinen Namen hörte. Als Forsberg ihr auffordernd zunickte, fuhr sie fort. „Und plötzlich kam er mit einem Schuh im Maul angerannt. Nein, mein Gott, wenn ich nur daran denke, dass er ihn dem toten Mann vom Fuß...“ Schluchzend hielt sie sich ein Taschentuch vor die Nase.

„Darüber sollten Sie sich keine Gedanken machen, Frau Hausschildt. Vielleicht lag der Schuh ja auch bereits im Sand“, versuchte Forsberg die aufgelöste Frau zu beruhigen. „Und weiter?“

„Frido hat den Schuh dann vor mir abgelegt und ist gleich wieder hinter den Strandkörben verschwunden. Oh, wie schrecklich, ich hab den Schuh auch noch aufgehoben!“ Maren Hausschildt schniefte erneut in ihr Taschentuch. „Ich bin ihm gefolgt, und als ich den toten Mann vor mir liegen sah, hab ich den Schuh vor lauter Schreck weggeworfen.“

„Wo war in dem Moment Ihr Hund?“, fragte Forsberg.

„Das ist ja das Schlimme, Herr Kommissar. Er hat an der Leiche geschnuppert, bis ich ihn fortgezerrt habe. Ich mag gar nicht daran denken. Vermutlich wird mich dieses schreckliche Bild noch lange Zeit im Traum verfolgen.“ Maren Hausschildt schüttelte sich und rang um Fassung.

„Haben Sie jemanden in der Nähe des Toten gesehen?“

„Nein. Ich glaube nicht. Ich weiß nicht...“

Forsberg wusste, dass er von der Frau nichts Näheres erfahren würde. „Vielen Dank, Frau Hausschildt. Sie haben uns sehr geholfen. Mein Kollege wird gleich Ihre Personalien aufnehmen. Er wandte sich an die Frau des Strandkorbvermieters. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dafür sorgen könnten, dass Frau Hausschildt sicher nach Hause kommt.“

„Ja, ja, Herr Kommissar, ich kümmere mich um sie. Keine Sorge.“

„Das wird Paul Zimmermann aber ganz besonders erfreuen, wenn er hört, dass ein Hund seine Sabberspuren auf dem Toten hinterlassen hat.“ Forsberg trat aus der Bude des Strandkorbvermieters und machte Petersen Platz, der im Begriff war, sich in das kleine Holzhaus zu zwängen.

„Eine äußerst unglückliche Situation so mitten im Urlaubstrubel“, erwiderte Staatsanwalt Wagenknecht. „Für Ihre Kollegen ebenso wie für die Gäste.“ Missbilligend schüttelte er den Kopf.

„Wir werden uns, soweit möglich, bedeckt halten. Einen Augenblick, bitte“, entschuldigte sich Forsberg, als er wenige Meter von ihnen entfernt den Leiter der Polizeistation entdeckte. „Herr Keller!“, rief er und winkte ihn zu sich.

Dieser trat näher. „Die Absperrung haben wir jetzt erweitert, Herr Forsberg, und aus Scharbeutz kommen in Kürze noch einige Kollegen dazu.“

Forsberg nickte. „Kennen Sie in der Nähe einen Raum, den wir für eine kurze Lagebesprechung nutzen könnten? Ich würde diese ungern hier in aller Öffentlichkeit abhalten.“

„Ja, ich glaube, ich hab da eine Idee. Bin gleich wieder da.“ Polizeihauptkommissar Keller eilte davon, während Forsberg und der Staatsanwalt die Aktivitäten der Spurensicherung und der Rechtsmedizinerin verfolgten.

Forsberg wandte sich zum Gehen. „Ich werde mal nachfragen, wie weit unsere Experten sind. Wir sehen uns dann bei der Besprechung. Ach, übrigens...“, er konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. „Ruinieren Sie sich Ihre Schuhe nicht!“

„Nun, Paul, darf ich näher treten, ohne deine Kreise zu stören?“ Forsberg sah, dass die Spurensucher noch damit beschäftigt waren, die Umgebung des Leichenfundortes zu inspizieren. Inzwischen hatten sie den Toten umgedreht und Fotos gemacht. Forsberg fiel auf, dass die Rechtsmedizinerin das Gesicht des Mannes akribisch mit einer Lupe untersuchte, obwohl es vollständig mit Sand bedeckt war.

„Gib uns ein paar Minuten“, antwortete Paul Zimmermann. „Der Tote stellt uns mehr Fragen, als uns lieb ist. Aber dazu nachher mehr.“

Eine halbe Stunde später saß Forsberg auf der Empore der Buchhandlung „Mikado“ dem Staatsanwalt, der Rechtsmedizinerin, dem Leiter der Kriminaltechnik und Polizeihauptkommissar Keller gegenüber. Petersen hatte neben ihm Platz genommen.

„Wir wollen es kurz machen“, eröffnete er die Besprechung und wandte sich an die Rechtsmedizinerin. „Frau Doktor Veltin, wie lange liegt der Tote schon am Strand?“

„Das ist in diesem Fall die Frage, die ich am einfachsten beantworten kann. Den Todeszeitpunkt können wir gegen Mitternacht annehmen – plus/ minus eine Stunde. Wie ich Sie kenne, möchten Sie auch die Todesursache wissen. Da der Mann mit dem Gesicht im Sand lag, ist anzunehmen, dass er erstickt ist. Die dafür typischen petechialen Blutungen konnte ich bisher nicht nachweisen, da sein Gesicht mit Sand bedeckt ist und ich ihn erst in der Rechtsmedizin davon befreien möchte. Anzeichen für eine Fremdeinwirkung konnte ich bisher nicht feststellen.“

„Verstehe ich Sie richtig, Frau Doktor Veltin: Wir können gar nicht sicher sein, dass es sich um eine Straftat handelt?“ Staatsanwalt Wagenknecht schien überrascht zu sein.

„Das haben Sie richtig verstanden, Herr Staatsanwalt. Erst wenn ich den Toten auf dem Tisch habe, kann ich Genaueres sagen.“

Staatsanwalt Wagenknecht schüttelte den Kopf. Offenbar hatte er eine detaillierte Antwort erwartet.

„Vielen Dank, Frau Doktor Veltin.“ Forsberg wandte sich dem Kriminaltechniker zu. „Paul, was haben deine Untersuchungen ergeben?“

„Wir haben hier einen Mann von ungefähr vierzig Jahren. Etwa ein Meter fünfundachtzig groß. Schlank. Er lag lang ausgestreckt auf dem Bauch, sein Gesicht frontal im Sand. Auffällig dabei ist, dass seine Arme parallel zum Körper lagen. Das lässt den Schluss zu, dass er umgekippt sein muss wie ein Baum nach dem letzten Axtschlag. Ungewöhnlich auch, dass der linke Schuh mehr als zehn Meter von ihm ent...“

„Das kann ich aufklären“, unterbrach Forsberg seinen Kollegen. „Den Schuh hat die Zeugin, die den Toten gefunden hat, vor lauter Schreck von sich geworfen, nachdem ihr Hund ihn apportiert hatte.“

„Na super, dass wir das auch erfahren!“, reagierte der Kriminaltechniker pikiert.

„Deine Freude wird noch größer werden, Paul, wenn du hörst, dass nicht nur die Zeugin den Schuh angefasst, sondern ihr Hund den Toten zudem intensiv beschnuppert und dabei seine Spuren hinterlassen hat.“

„Wusste ich es doch, dass heute ein Scheißtag wird“, grummelte Paul Zimmermann weiter. „Wir haben bei dem Toten nichts gefunden. Keine Uhr, kein Handy, keine Geldbörse, keinen Ausweis – nichts.“

„Raub ohne Mord, aber trotzdem tot, so etwas hatten wir ja noch nie“, stellte Petersen grinsend fest.

Forsberg warf seinem Mitarbeiter einen strafenden Blick zu. „Wir wissen also nicht, wer der Tote ist, Urlauber oder Ortsansässiger?“

„Entschuldigung, Sie haben doch ein Foto von ihm gemacht“, meldete sich Polizeihauptkommissar Keller zu Wort. „Kann ich das mal sehen?“

„Die Fotos sind schon auf dem Weg nach Lübeck. Außerdem waren Sie als Erster am Tatort, da haben Sie den Mann doch gesehen!“ Der Leiter der Kriminaltechnik wirkte ungehalten.

„Er lag mit dem Gesicht im Sand, verdammt noch mal...“

„Meine Herren, bitte!“, unterbrach Forsberg die Streithähne. Paul Zimmermann forderte er auf, sich mit dem Fotografen in Verbindung zu setzen. „Sag ihm, er soll dir ein Foto von dem Toten aufs Tablet schicken.“

„Vielen Dank für den kollegialen Hinweis“, bemerkte der Kriminaltechniker säuerlich, während er auf seinem Tablet herumtippte. Kurze Zeit später meldete ein Klingelton den Eingang einer Nachricht. Ohne Worte schob Zimmermann das Tablet über den Tisch. Auf dem Bildschirm war das sandige Gesicht des Toten zu sehen.

„Das ist Meier-Habeck“, stieß Polizeihauptkommissar Keller hervor.

„Sie kennen den Mann?“, fragte Forsberg erstaunt.

„Ja, ohne Zweifel, das ist Andreas Meier-Habeck. Ein Antiquitätenhändler hier aus dem Ort.“

„Na, immerhin etwas“, sagte Forsberg. „Bevor wir uns an die weitere Arbeit machen, habe ich noch eine Frage, Paul. Wie lange müssen wir die Absperrung aufrechterhalten?“

Der Kriminaltechniker überlegte. „Wir haben den Nahbereich bereits abgesucht. Ohne Ergebnisse. Wo sollen wir anfangen, wo aufhören? Wonach sollen wir in dieser Sandwüste suchen, wenn wir nicht einmal von einer Tatwaffe ausgehen können?“ Unmissverständlich fuhr er fort: „Der engere Bereich muss abgesperrt bleiben, bis wir die Todesursache kennen.“

„Gut.“ Forsberg nickte. „Herr Keller, aufgrund der speziellen Lage des Fundortes und der Ignoranz so mancher Urlauber, aber auch Einheimischer halte ich es für erforderlich, ständig Beamte zur Sicherung der Absperrung vor Ort zu haben. Sorgen Sie bitte dafür.“ Er stand auf und wandte sich zum Gehen. „Ich glaube, das war's fürs Erste. Wir haben alle genug zu tun. Vielen Dank.“

Kapitel 2

Unaufhaltsam trommelte der Regen gegen die Fenster des Polizeihochhauses in Lübeck. Die sommerlichen Gewitterwolken hingen so tief, als wollten sie den Kampf mit den Kirchturmspitzen der Hansestadt aufnehmen. Forsberg schien sich mit der rechten Hand dem Rhythmus der Regentropfen anzupassen. Ungeduldig klopfte er mit seinen Fingern gegen die Fensterscheibe. Der Leiter der Polizeidirektion Lübeck hatte ihn für elf Uhr zu sich bestellt. Zum wiederholten Male schaute er auf seine Armbanduhr. Elf Uhr vierzehn. Er drehte sich um.

„Frau Drenkhahn, sagen Sie Ihrem Boss, er soll sich melden, wenn er mich sprechen will. Ich muss Verbrecher jagen und kann meine Zeit nicht in den Vorzimmern unpünktlicher Chefs vertrödeln.“

Die Vorzimmerdame des Leitenden Polizeidirektors Freitag sah Forsberg über ihre Lesebrille hinweg prüfend an. Eigentlich mochte sie diesen nicht selten in sich gekehrt wirkenden Kriminalhauptkommissar. Er war groß und schlank, machte einen sportlichen Eindruck. Sein welliges dunkelblondes Haar verlieh dem etwas kantigen Gesicht eine gewisse Milde. Eine imposante Erscheinung, die auch als Schwiegersohn sicherlich eine gute Figur machen würde. Forsbergs jetziges Verhalten konnte sie allerdings nicht akzeptieren.

„Aber das können Sie doch nicht machen, Herr Forsberg! Er kann jeden Augenblick nach Ihnen verlangen.“ Gabriele Drenkhahn, seit mehr als sechsundzwanzig Jahren Sekretärin in der Chefetage der Polizei Lübeck und treue Dienerin all ihrer bisherigen Vorgesetzten, musste ein Machtwort sprechen, denn hier probte ein nachgeordneter Polizeibeamter den Aufstand.

„Doch, das kann ich sehr wohl. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“

Als Forsberg sein Dienstzimmer betrat, kam Petersen ihm bereits entgegen. „Oh, das ist gut, dass Sie da sind, Chef.“

„Was gibt es denn so Aufregendes?“, knurrte Forsberg seinen Mitarbeiter an.

Doch der ließ sich nicht beirren. „Unsere Frau Doktor hat zwei Mal nach Ihnen verlangt. Ich glaube, sie wollte nur wissen, wer von uns zur Leichenöffnung erscheint.“

„Ist gut, ich rufe sie gleich an.“ Forsberg, der inzwischen an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, drückte auf seinem Telefon die Kurzwahlnummer der Rechtsmedizin.

Nach dreimaligem Klingeln meldete sich Karen Veltin. „Guten Morgen, Herr Forsberg. Wann haben Sie heute Zeit für mich?“

„Für Sie jederzeit, verehrte Frau Doktor, obwohl Örtlichkeit und Anlass, die Sie stets für Ihre Einladungen auswählen, bei mir nicht unbedingt zu Begeisterung führen.“

„Gefällt Ihnen mein Reich etwa nicht? So zartbesaitet kenne ich Sie ja gar nicht.“

Forsberg lachte. „Keine Angst, ich werde an Ihrer Seite stehen. Nur wann das sein wird, das weiß ich nicht. Unser Oberboss verlangt nach mir und es kann möglicherweise etwas dauern.“

„Kein Problem. Sie wissen ja, wo Sie mich finden. So viel schon einmal vorab: Der Mann wurde ermordet, das ist sicher.“

„Und wie?“

„Später, Herr Forsberg, später.“ Bevor Forsberg weiter nachfragen konnte, hatte die Ärztin aufgelegt.

„Na, Chef, was gab es denn so Geheimnisvolles?“ Petersen trat in die offene Tür des Dienstzimmers.

„Nichts.“ Forsberg winkte ab. „Es ging nur um die Terminabsprache wegen der Leichenöffnung. Auf jeden Fall spricht Frau Doktor Veltin schon von Mord.“

„Dann sind wir ja wieder voll im Rennen. Und wie kommt sie darauf?“

„Das hat sie noch nicht verraten.“

„Übrigens“, erklärte Petersen, „der erste Bericht der Spurensicherung enthält keine Sensationen. Sie finden ihn auf Ihrem Rechner.“

Forsberg bedankte sich. „Wenn ich bei der Rechtsmedizin fertig bin, werden wir nach Timmendorf fahren. Ich will mir die Wohnung des Toten heute noch einmal ansehen, diesmal etwas genauer, und auch mit seiner Mitarbeiterin sprechen. Vielleicht hat sie sich etwas beruhigt.“ Er und der Oberkommissar waren am Tag zuvor unmittelbar nach der Lagebesprechung an der Promenade in das Antiquitätengeschäft in der Poststraße gefahren und hatten dort die Mitarbeiterin des Opfers angetroffen, die nach der Nachricht über den Tod ihres Chefs einen Zusammenbruch erlitt. Bei der ersten flüchtigen Besichtigung des Geschäfts und auch der Wohnung des Antiquitätenhändlers in der Bergstraße hatte es keine neuen Erkenntnisse gegeben.

Das Klingeln des Telefons beendete seine Gedanken. Wie er erfuhr, hatte Polizeidirektor Freitag jetzt Zeit für ihn.

„Sie können gleich hineingehen“, waren die knappen Worte, mit denen Gabriele Drenkhahn Forsbergs Erscheinen kommentierte. An ihrem schnippischen Verhalten und den heruntergezogenen Mundwinkeln war deutlich zu erkennen, dass sich ihre Sympathie für ihn gegenwärtig in Grenzen hielt.

Überrascht hielt Forsberg inne, nachdem er das Dienstzimmer des Leiters der Polizeidirektion Lübeck betreten hatte. Neben Tobias Freitag saßen drei weitere Personen am Konferenztisch und blickten den Neuankömmling erwartungsvoll an. Kriminaldirektor Reventlow, der Chef der Kripo in Lübeck, sowie sein Vertreter, Kriminaloberrat Wellenstein, und Oberstaatsanwalt Richter schienen schon eine Weile zu konferieren. Für diese Annahme sprachen die benutzten Kaffeetassen und einige leere Mineralwasserflaschen auf dem Tisch.

„Gut, dass Sie da sind, Herr Forsberg. Bitte nehmen Sie Platz.“ Auf die zeitliche Verzögerung ging der Leitende Polizeidirektor nicht ein. „Ich möchte gleich zur Sache kommen. Einfach ausgedrückt: Das Innenministerium hat uns angewiesen, die Verfolgung von Straftaten zu intensivieren. Besonders in den Sommermonaten kam es in der Vergangenheit im Ostseeküstenbereich immer wieder zu einer signifikanten Häufung von Delikten. Kurzum, wir müssen Schwerpunkte setzen. Den Bereich, der die Schutzpolizei betrifft, brauchen wir jetzt nicht zu erörtern. Für die Kriminalpolizei kommen jedoch Änderungen auf uns zu. Herr Reventlow, wenn ich Sie bitten dürfte.“

Der Kriminaldirektor ergriff das Wort. „Auch ich möchte nicht lange um den heißen Brei herumreden“, begann er in seinem brummenden Bass. „Wir werden bereits in der kommenden Woche ein Sonderdezernat Ostseeküste einrichten, um vor Ort präsent zu sein. Wie wir alle wissen, können wir für diese Aufgabe von unserem Dienstherrn weder zusätzliche Mittel noch weiteres Personal erwarten. Konkret heißt das: Die Kripo stellt drei Beamte ab, und Sie, Kriminalhauptkommissar Forsberg, sind der Dezernatsleiter.“

Die übrigen Anwesenden sahen Forsberg an, gespannt auf seine Reaktion nach dieser überraschenden Neuigkeit. Doch die blieb aus. Mit undurchdringlicher Miene musterte er die Runde am Konferenztisch und schwieg.

„Ich nehme an, dass Sie zu dieser Entscheidung auch eine Meinung haben, Herr Forsberg, oder?“ Kriminaloberrat Wellenstein sah es offensichtlich für nötig an, seinen Mitarbeiter anzustoßen und dem Schweigen ein Ende zu bereiten.

Forsberg reagierte auch jetzt nicht. Seit gut einem halben Jahr war der Kriminaloberrat jetzt in Lübeck. Als Jurist und Seiteneinsteiger gehörte er nicht zu den im Polizeidienst gewachsenen Beamten. Folglich fehlte es ihm an dem elementaren Wissen alltäglicher Polizeiarbeit, das die alten Hasen ihm voraus hatten. Da er es aber für unangebracht hielt, sich von den Fachleuten beraten zu lassen, sich zu informieren und in die vielschichtige Welt der kriminalpolizeilichen Ermittlung einzutauchen, war er nicht sehr beliebt. Zumal er stets in belehrender Weise seine theoretischen Kenntnisse zum Besten gab. Forsberg mochte Wellenstein nicht und ging ihm weitestgehend aus dem Weg. Was in der Vergangenheit schon mehrfach zu unschönen Auseinandersetzungen geführt hatte.

Ohne auf die Frage des Kriminaloberrats einzugehen, wandte er sich Kriminaldirekter Reventlow zu. „Ich gehe davon aus, dass sich die Dauer meiner Bedenkzeit aufgrund Ihrer Entscheidung in Grenzen hält.“

„Wie immer messerscharf analysiert. Keine fünf Minuten.“ Kriminaldirektor Reventlow lächelte Forsberg freundlich an. „Bei unserer Entscheidung mussten wir nicht lange überlegen. Sie sind unser erfahrenster Mann, Herr Forsberg. Kiel erwartet Ergebnisse von uns.“

„Vielen Dank für die Blumen. Aber die eine oder andere Frage zu dem neuen Sonderdezernat hätte ich schon. Zum Beispiel, wo es angesiedelt werden soll.“

„Dienstort wird Travemünde sein. Müsste Ihnen doch gelegen kommen. Wohnen Sie nicht im Maritim?“ Forsberg nickte bestätigend.

„Da die Wasserschutzpolizei in den vergangenen Jahren im Rahmen der personellen Einsparungen auch in Travemünde zur Ader gelassen wurde, stehen in dem Gebäude an der Promenade einige Diensträume leer. Bestens geeignet für unser Vorhaben“, erläuterte Kriminaldirektor Reventlow die weiteren Pläne zur Einrichtung des Sonderdezernats Ostseeküste.

Forsberg nickte knapp. „Meine zweite Frage: Wer wählt meine beiden Mitarbeiter aus?“

„Vergessen Sie bitte nicht, Kriminalhauptkommissar Forsberg, dass Sie auch in Ihrem neuen Amt ein Teil der Lübecker Kripo sind und über Personalangelegenheiten Ihre Vorgesetzten entscheiden“, ereiferte sich Kriminaloberrat Wellenstein, wobei er sich bedeutungsvoll in Positur setzte.

Bevor einer der leitenden Beamten eingreifen konnte, um eine mögliche Kontroverse zu unterbinden, fuhr Forsberg fort. „Und damit bin ich auch schon bei meiner dritten Frage: Wem ist das Sonderdezernat unterstellt?“

„Das ist doch gar keine Frage...“ Weiter kam der aufbrausende Kriminaloberrat nicht.

„Meine Herren, ich bitte Sie. Kompetenzrangeleien sind zu diesem Zeitpunkt das Letzte, was wir brauchen“, unterbrach Kriminaldirektor Reventlow die Diskussion, „Diese Angelegenheit ist in letzter Konsequenz noch nicht entschieden. Unstrittig bleibt, dass ein Sonderdezernat auch mit Sonderrechten ausgefüllt werden muss. Das heißt, wir müssen uns in einigen Bereichen von der üblichen Struktur der Abläufe lösen.“

Entrüstet hakte Kriminaloberrat Wellenstein nach. „Entschuldigen Sie, Herr Reventlow, wollen Sie damit sagen, dass das Sonderdezernat und damit Kriminalhauptkommissar Forsberg in Zukunft losgelöst von der Organisationsstruktur der Direktion operieren kann?“

Oberstaatsanwalt Richter, der dem Wortwechsel bisher schweigend gefolgt war, ergriff das Wort. „Erlauben Sie mir einen Hinweis, meine Herren: Wenn die Sonderkommission erfolgreich sein soll, bedarf es kurzer Wege. Meines Erachtens muss Herrn Forsberg uneingeschränkt direkter Kontakt zur Staatsanwaltschaft ermöglicht werden, ohne dass zeitaufwendige Hierarchien im polizeilichen Gefüge zu durchlaufen sind.“

„Ein löblicher Gedanke, Herr Richter, dem auch ich folgen möchte“, pflichtete Kriminaldirektor Reventlow dem Oberstaatsanwalt bei.

Forsberg registrierte aus dem Augenwinkel, wie der aufgebrachte Kriminaloberrat zu einer Erwiderung ansetzte, jedoch durch einen mahnenden Blick des Kriminaldirektors gebremst wurde.

Dieser sagte: „Wir müssen uns jetzt nicht in organisatorischen Einzelheiten ergehen. Wichtig ist, dass sich Herr Forsberg schon einmal gedanklich auf seine neue Aufgabe vorbereiten kann. Eine Frage noch.“ Er wandte sich an Forsberg. „Sehen Sie Probleme, insbesondere auch bei Ihren Ermittlungen in der Todessache von Timmendorfer Strand?“

„Grundsätzliche Probleme eigentlich nicht, wenn die Rahmenbedingungen für die neue Aufgabe stimmen. Natürlich sind solche Umstrukturierungen dem Ermittlungsalltag nicht unbedingt förderlich. Zu unserem aktuellen Fall: Inzwischen steht fest, dass es sich um Mord...“

„Ist das wieder eine Ihrer Intuitionen oder gibt es dafür Beweise?“, unterbrach Kriminaloberrat Wellenstein Forsberg entrüstet. „Verraten Sie mir doch bitte, woher Sie Ihren Geistesblitz nehmen? Bisher war nämlich die Todesursache noch nicht geklärt.“

„Ich glaube nicht, dass dies der richtige Zeitpunkt ist, Ihnen die Details polizeilicher Ermittlungsarbeit zu erläutern“, antwortete Forsberg in bewusst ruhigem Ton.

Kriminaldirektor Reventlow ging souverän über das Geplänkel der beiden Streithähne hinweg. „Wir wollen Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten. Für uns war es wichtig, Herr Forsberg, Sie so früh wie möglich über die neue Sachlage zu informieren. Um die organisatorischen und formellen Dinge kümmern wir uns schon.“

Ohne den konsternierten Kriminaloberrat zu beachten, erhob sich Forsberg und holte sich durch einen Blickkontakt das Einverständnis des Direktionsleiters, den Raum zu verlassen.

„Das ging ja schnell. Soll es gleich weitergehen?“, begrüßte Peter Petersen seinen Chef, der sich in seinem Dienstzimmer hinter den Schreibtisch gesetzt hatte.

„Fünf Minuten, Petersen. Und schließen Sie die Tür!“

Der Oberkommissar runzelte die Stirn, folgte aber dem Wunsch seines Vorgesetzten. Jetzt war Ruhe angesagt. Welche Laus ihm auch über die Leber gelaufen sein mochte, eine Störung konnte zu einem verheerenden Vulkanausbruch führen. So gut kannte Petersen ihn inzwischen.

Bevor er sich weitere Gedanken über Forsbergs Gemütszustand machen konnte, brach das Unheil herein. Wie von einer Hornisse gestochen stürmte Kriminaloberrat Wellenstein in das Büro der Mordkommission, riss ohne anzuklopfen Forsbergs Tür auf und knallte sie hinter sich zu.

„Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen, mich derart vorzuführen?“ Wild gestikulierend lief der Kriminaloberrat vor dem Schreibtisch auf und ab. „Ihnen ist wohl jedes Mittel recht, sich auf Kosten anderer zu profilieren.“ Er feuerte einen Giftpfeil an Vorwürfen nach dem anderen ab.

Forsberg verschränkte die Arme vor der Brust und blickte seinen Vorgesetzten mit einem ironischen Lächeln an.

„Das finden Sie wohl lächerlich. Ich erwarte von Ihnen eine offizielle Entschuldigung!“, tobte Wellenstein weiter.