Kopflos im Strandkorb - Jürgen Vogler - E-Book

Kopflos im Strandkorb E-Book

Jürgen Vogler

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Beschreibung

Der idyllische Strand mit dem Rauschen der Wellen und dem Schrei der Möwen kann sich ganz schnell in einen Ort des Schreckens verwandeln. In achtzehn Kurzkrimis stürzen Menschen an der Küste in kaum vorhersehbare Abgründe. Stets aufrüttelnd, furchterregend, aber auch augenzwinkernd und humorvoll erzählt.

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Der Autor

Jürgen Vogler wurde 1946 in der Holsteinischen Schweiz geboren und wohnt heute an der Ostseeküste. Nach seinem Dienst als Pressesprecher bei der Bundespolizei arbeitet er seit 1988 als Freier Journalist und Autor.

Neben zwei Kinderbüchern sind Historisches und Kriminelles die Schwerpunkte seiner Arbeit. Kriminelles Treibgut ganz besonderer Art findet der Leser in „Kopflos im Strandkorb“. In achtzehen Kurzkrimis verwandeln sich norddeutsche Ferienorte in Tatorte. Die friedliche Urlaubsstimmung rund um den Strandkorb wird blitzschnell zum mörderischen Albtraum. Aufrüttelnd, furchterregend, aber auch augenzwinkernd und unterhaltsam erzählt.

www.juergenvogler.de

Bereits erschienen:

„Ostholstein gestern“

„Der Mohr von Plön“

„Der Narr von Eutin“

„Der Marquis von Lübeck“

„Schwarzer Nebel“

Inhaltsverzeichnis

Wenn ich einmal reich wär

Warzenschwein

Garten der Stille

Eisen 7

Hackbällchen

Ohne Moos nichts los

Musik am Meer

Der Jagdschein

Der ultimative Kick

Geld regiert die Welt

Das Hotel

Eine weniger

Bernhards Traum

Der Sammler

Guter Mond, du gehst so stille

Herzensangelegenheiten

Süßer die Glocken nie klingen

SOS - Socken, Oberhemd, Schlips

*******

Wenn ich einmal reich wär…

Urlaub. Endlich Urlaub. Heribert atmete tief durch. Das Meer. Blaue Wellen, weiße Segel. Planschende Kinder. Strandkörbe. Bunte Sonnenschirme. Davon hatte Heribert immer geträumt. Jetzt stand er selbst an der Ostseeküste. So wie Oma Adele es beschrieben hatte und genauso, wie es die Urlaubsprospekte versprochen hatten.

Heribert war noch nie in seinem Leben am Meer gewesen. Und es sollte auch nicht irgendein Meer sein. Nein, es musste die Ostsee sein. Und auch nicht irgendwo. Nein, es durfte nur Sierksdorf sein. Jetzt war er hier. Präzise in jenem Ort, in dem Oma Adele, als sie noch jung war, ihr großes Liebesglück gefunden hatte:

„Heribert, wenn du verliebt am Meer stehst, kannst du die Welt umarmen und fühlst dich frei wie die Möwen im Wind.“

Heribert konnte von diesem Ausnahmezustand eines Menschen noch nicht berichten. Obwohl er bereits zweiunddreißig Lebensjahre zählte, war ihm das Kribbeln im Bauch eines Verliebten noch nicht widerfahren. Ob es an seinem Äußeren lag oder eher an seinem zurückhaltenden Wesen, das hatte er selbst noch nicht erforschen können.

Heribert Koslowski maß einen Meter neunzig in der Länge und war dünn. Man könnte auch sagen dürr. Dadurch erschienen seine Bewegungen bisweilen ein wenig ungelenk. Eine spitze Nase beherrschte sein blasses Gesicht, auf der eine schwarze Hornbrille thronte. Heribert war überaus korrekt. Eine unabweisbare Voraussetzung für seinen Beruf.

Seit nunmehr zwölf Jahren übte er die vertrauensvolle Stellung eines Buchhalters in der Firma Schraub und Nagel in Castrop-Rauxel aus. Genau genommen war er der Assistent des Buchhalters. Stets untadelig gekleidet in gedecktem Anzug mit weißem Hemd und unauffälliger Krawatte. Wer gemein sein wollte, der würde Heribert als graue Maus bezeichnen.

Doch jetzt stand Heribert am Meer. Drei Jahre hatte er für diese Reise gespart und sich bewusst das Hotel Hof Sierksdorf ausgesucht. Direkt am Strand. Ein Steinwurf von der Ostsee entfernt. Gleich nach seiner Ankunft am späten Nachmittag hatte Heribert sein Hotel-Appartement im ersten Stock bezogen. Natürlich mit Meerblick. Beim Abendessen im hoteleigenen Restaurant entschied sich Heribert für „Smutjes Leibgericht“ mit Klößchen von Ostseefischen. Dazu einen milden Silvaner, der den Fisch auf delikate Weise schwimmen ließ.

Heribert war rundherum zufrieden und entschloss sich, seinen ersten Ostseeurlaubsabend mit einem kleinen Spaziergang abzuschließen. Er verließ das Hotel bei immer noch sommerlichen Temperaturen und hatte daher in ausgelassener Urlaubsstimmung sogar auf sein Anzugjackett und seine Krawatte verzichtet.

Auf seinem Weg entlang der Küstenstraße kam er sehr bald an eine der kleinen Treppen, die ein müheloses Überqueren der betonierten Uferbefestigung ermöglichte. Er nahm die wenigen Stufen mit federnden Schritten und setzte sich auf eine nahe stehende Bank. Erst zweifelnd, doch dann immer mutiger entschloss er sich, schon heute einmal die hautnahe Bekanntschaft mit dem Meer zu machen. Zielstrebig zog er sich Schuhe und Strümpfe aus und krempelte seine Hosen hoch, um dann durch den immer noch warmen Sand zum Wasser zu schreiten.

„Welch ein Gefühl“, atmete Heribert befreit durch und ließ seinen Blick über das Meer bis zum Horizont schweifen.

„Verfluchter Mist!“, entfuhr es ihm, als er urplötzlich stolperte und nur mit wild rudernden Armen einen Sturz in den Sand verhindern konnte. Dabei flogen seine Schuhe im hohen Bogen durch die Luft. Heribert drehte sich wütend um und suchte nach dem Stein des Anstoßes.

„Es ist doch nicht zu fassen, was die Leute alles wegwerfen“, murmelte er entrüstet vor sich hin, als er einen braunen Gegenstand entdeckte, der halb aus dem Sand herausragte und zweifelsfrei die Ursache für sein Straucheln war. Heribert trat näher.

„Eine Tasche“, staunte er verwundert. Er bückte sich, ergriff das Fundstück und betrachtete es neugierig.

Es war eine braune, schon ein wenig abgegriffene, prall gefüllte Kollegtasche aus Leder mit Reißverschluss. Heribert öffnete die Tasche. Ihm blieb fast das Herz stehen. Ungläubig starrte er den Inhalt der Kollegtasche an. Mit fliegenden Händen nestelte er an der kleinen Lasche für den Reißverschluss, um sie hektisch wieder zu schließen.

Heriberts Kopf flog von rechts nach links. Doch es war keine Menschenseele in der Nähe. Sein Herz schlug rasend bis zum Hals. In der Tasche war Geld. Viel Geld.

Was sollte er tun? Sie einfach wieder hinlegen und fortgehen, als hätte er sie nie gesehen? Wer vergisst eine Tasche mit so viel Geld einfach so am Strand? Kann man so etwas überhaupt verlieren? Heribert fasste einen Entschluss. Es handelte sich um eine herrenlose Fundsache, die seinem rechtmäßigen Besitzer wieder zugeführt werden musste. Eilig sammelte er seine Schuhe ein, in dem Bewusstsein, dass sein erstes Fußbad im Meer heute im Sande verlaufen würde. Zielstrebig ging er zurück zur Bank, setzte sich und zog seine Strümpfe und Schuhe wieder an. Wobei es ihn entgegen seiner peniblen Natur noch nicht einmal zu stören schien, dass seine Füße nicht sandfrei waren, bevor er in die Socken schlüpfte. Heribert war beunruhigt.

Wie viel Geld mochte in der Tasche sein? Eines war sicher, er durfte nicht auffallen. Er musste sich wie ein ganz normaler Urlauber verhalten. Entspannt und gelassen. Geradezu langsam erhob Heribert sich von der Bank und nahm dabei wie selbstverständlich auch die Tasche in die Hand. Im gemächlichen Spazierschritt näherte er sich wieder dem Hotel Hof Sierksdorf.

An der Rezeption ohne Störung angekommen verlangte er nach seinem Zimmerschlüssel.

„Na, Herr Koslowski, hat ihnen ihr erster Ausflug ans Meer gefallen?“

Heribert fuhr erschrocken herum. Vor ihm stand der Besitzer des Hotels und lächelte ihn freundlich an.

„Ja, doch ja. Vielen Dank. Ja doch“, stotterte Heribert mit zitteriger Stimme.

„Es war sicherlich ein anstrengender Tag für sie. Ich wünsche ihnen eine ruhige und angenehme Nacht, Herr Koslowski. Übrigens morgen soll es auch wieder ein herrlicher Sommertag werden“, verabschiedete sich der Hotelbesitzer immer noch freundlich lächelnd von Heribert.

„Danke, ja, vielen Dank.“ Heribert bemühte sich, schnellstens der Nähe des Hoteldirektors zu entfliehen. Mit wackeligen Beinen erklomm er die Treppe in den ersten Stock, die Tasche krampfhaft mit der Linken an seine Seite gedrückt. Zwei Mal fiel ihm der Schlüssel aus der Hand, bevor er endlich die Hotelzimmertür öffnen konnte. Hastig zog er sie hinter sich zu und verschloss sie sogleich wieder von innen.

Er zögerte nur kurz. Mit fliegenden Händen zerrte er am Reißverschluss der Tasche und schüttete das Geld auf das Bett.

„Ich glaub es nicht, ich glaub es einfach nicht“, stammelte Heribert vor sich hin. Vor ihm lagen 50-100-, 200- und 500-Euroscheine bunt durcheinander, manche von ihnen sogar noch gebündelt. Heribert begann zu zählen. Erst die großen Scheine, dann die kleineren. Er bildete Haufen um Haufen.

Heribert konnte es nicht fassen. 85.650 Euro lagen vor ihm.

Doch was nun? Einem ehrlichen Finder stand auch ein angemessener Finderlohn zu. Waren es zehn Prozent? Oder doch nur ein Prozent? Oder drei? Oder fünf? Heribert wusste es nicht. Und was wäre, wenn der Besitzer bei der Rückgabe behaupten würde, dass nicht 85.650 Euro in der Tasche waren, sondern gar 150.000? Dann müsste Heribert sich noch für seine gute Tat rechtfertigen und käme selbst in Misskredit.

Und was wäre, wenn er das ganze Geld einfach behalten würde? Heribert spürte ein unruhiges Kribbeln am ganzen Körper. Von einem Smartphone hatte er doch schon lange geträumt. Auch vor der Espresso-Maschine, unter die man zwei Tassen stellen konnte, war er öfter schon einmal stehen geblieben. Vielleicht könnte er sich es dann sogar auch einmal leisten, Fräulein Herzsprung aus der Spedition zum Abendessen bei Wein und Kerzenschein einzuladen. Heribert war hin- und hergerissen. Schlafen, er musste darüber schlafen. Gute Entscheidungen mussten überschlafen werden.

Heribert erwachte am nächsten Morgen schweißgebadet und fühlte sich wie gerädert. In wirren Träumen hatten junge Frauen mit seinem Geld um sich geworfen und brutale Gangster versucht, ihm sein Geld abzujagen. Heribert wusch sich, kleidete sich an, verstaute die Geldtasche in seinem Koffer und machte sich auf den Weg in den Frühstücksraum.

Auf dem Tischchen neben dem Frühstücksbüfett sprangen ihm die Lettern des Ostholsteiner Anzeigers entgegen: „Bewaffneter Banküberfall in Neustadt“. Ein dunkelhaariger untersetzter Räuber mit einem schlanken blonden Komplizen hatte am gestrigen Morgen die Commerzbank in Neustadt beraubt. Die Beute belief sich nach ersten Schätzungen auf rund 90.000 Euro. Die Täter konnten unerkannt in einem grünen PKW Richtung Sierksdorf entkommen.

Heribert verspürte plötzlich ein unerklärliches mulmiges Gefühl in seiner Magengegend. Eilig begab er sich auf seinen Platz.

Konnte in der Tasche wo möglich ein Teil der Beute aus dem Bankraub sein? Bedrohliche Gewitterwolken brauten sich vor Heriberts geistigem Auge zusammen. Und wenn ja, was würden die Bankräuber anstellen, um das Geld wiederzubekommen? Verstohlen versuchte Heribert seine feuchten Hände mit der Serviette trocken zu reiben.

Es war nicht auszuschließen, dass die Bankräuber als Feriengäste in einem Hotel in Sierksdorf wohnten und von hier aus zu ihrem Überfall gestartet waren. Wohnten sie vielleicht sogar in seinem Hotel?

Die Frage der freundlichen Bedienung, ob er Tee oder Kaffee zum Frühstück wolle, beantwortete er automatisch. Zu sehr war er damit beschäftigt, sich auszumalen, auf welche Weise die Gangster vorgehen würden, um wieder an ihre Beute zu kommen.

Ein peitschender Knall zerriss seine Gedankenwelt. Wie vom Blitz getroffen rutschte Heribert von seinem Stuhl und ging unter dem Tisch in Deckung. Dabei stieß er das Glas mit Orangensaft um, das jetzt kleckernd seinen Rücken benetzte.

„Sie scheinen wirklich urlaubsreif zu sein, Herr Koslowski“, kam der Hoteldirektor auf Heribert zu und zog ihn behutsam wieder unter dem Tisch hervor, während die junge Bedienung versuchte, den Orangensaftschaden so gut wie möglich zu beheben.

„Das war lediglich die Fehlzündung eines Motorrades, Herr Koslowski, kein Grund zur Beunruhigung.“ Dabei klopfte er Heribert beruhigend und freundlich lächelnd auf die Schulter.

„Hätte ich bloß diese Tasche nicht gefunden“, machte sich Heribert selbst Vorwürfe. Er saß in der Patsche.

Eine weitere Gefahr zog vor Heriberts geistigem Auge wie eine Gewitterfront auf. Wenn er nicht sehr bald die Tasche abgeben würde, könnten sie ihn auch noch wegen Fundunterschlagung herankriegen. Dann wäre er vorbestraft, und sein Job als Assistent des Buchalters wäre futsch.

Heribert wusste nicht, ob seine schlotternden Beine ihn gefahrlos zum Frühstücksbüfett tragen würden, deshalb schenkte er sich eine zweite Tasse Kaffee ein und schüttete die Hälfte vor Schreck daneben, als er aus dem Fenster blickte und sah, wie ein silber-blauer Streifenwagen die Küstenstraße in hoher Geschwindigkeit herangerauscht kam und mit quietschenden Reifen vor dem Hotel bremste. Ein Polizeibeamter sprang heraus und kam mit der Hand an der Pistole in das Hotel gelaufen.

Am Eingang des Frühstücksraums blieb er stehen und sprach mit der Bedienung. Das Mädchen zeigte in seine Richtung. Heribert konnte nicht mehr atmen. Der Polizist steuerte forschen Schrittes auf ihn zu. Heribert wusste, dass er verloren hatte. Aus der Traum vom großen Geld. Starr geradeaus blickend blieb er sitzen und hob die Hände, um sich zu ergeben. Doch der Polizeibeamte beachtete ihn gar nicht, sondern eilte an seinem Tisch vorbei und reichte dem Mann am Nebentisch eine Brieftasche mit den Worten: „Bitte schön, Herr Müller-Hartmann, sie ist gefunden worden. Ich bin in Eile, wir fahnden immer noch nach den Bankräubern.“

Heribert senkte schnell die Arme, versuchte sich zu beruhigen. Der Polizeiwagen war schon vor einer ganzen Weile abgefahren, bis sich Heribert ganz langsam zum Frühstücksbüfett traute. Als er sich mit Lachs und Rührei auf dem Teller wieder zu seinem Einzeltisch begab, hörte er hinter einem Pfeiler geflüsterte Wortfetzen. „Tasche“, „heute noch“, „ich habe einen Verdacht“. Heribert stolperte zügig zu seinem Platz, konnte sich dabei aber einen Blick hinter den Pfeiler nicht verkneifen. Zwei Männer saßen dort. Einer hatte schwarze Haare und wirkte untersetzt, der andere war schlank und blond. Heribert brach der Schweiß aus. Wie lautete noch die Täterbeschreibung der Bankräuber in der Zeitung? Er konnte keinen Bissen herunterkriegen. Eines stand fest. Sie waren ihm auf der Spur. Er musste handeln.

Heribert ließ alles stehen und liegen und eilte aus dem Frühstücksraum. Es gab nur eine Lösung. Das Geld musste zur Polizei, bevor die Gangster ihn erwischen würden. Sie waren bewaffnet, wie es in der Zeitung stand. Die würden nicht lange fackeln. Heribert stürzte ins Hotelzimmer, holte die Kollegtasche aus seinem Koffer und suchte nach einer Plastiktüte. Wenn sie ihn mit der Tasche ertappen würden, wäre es aus mit ihm. Vorsichtig blickte er aus dem Zimmer und schlich den leeren Flur entlang. An der Rezeption schreckte Heribert zurück. Die beiden von dem Pfeilertisch standen vor dem Hoteleingang. Wo sollte er hin?

Heribert kehrte um und folgte den grünen Notausgangszeichen. Über eine Hintertür gelangte er auf den Hotelparkplatz, wo auch in zweiter Reihe sein alter dunkelgrüner Polo stand. Mit langen Schritten hetzte er über den Asphalt, sprang ins Auto und ließ den Motor an. Mit Entsetzen sah er im Rückspiegel, wie der schwarzhaarig Untersetzte und der lange Blonde ebenfalls in ein Auto stiegen.

Heribert trat das Gaspedal durch.

Ostholsteiner Anzeiger

Polizei fasst Bankräuber

Neustadt. Am gestrigen Dienstag konnte die Polizei einen achtbaren Fahndungserfolg verzeichnen. Bei einer Verkehrskontrolle kurz vor Neustadt nahmen die Beamten einen 32-jährigen Buchhalter aus Castrop-Rauxel fest, der mit einem grünen Polo unterwegs war. Der Mann war der Polizei durch überhöhte Geschwindigkeit aufgefallen.

Bei der Durchsuchung des Fahrzeuges wurde ein Geldbetrag von mehr als 85.000 Euro sichergestellt. Die Polizei geht davon aus, dass es sich um die Beute aus dem Banküberfall handelt. Der Verdächtige konnte zur Tat noch keine Angaben machen, da er bei der Festnahme einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.

*******

Warzenschwein

Es war ein sonniger Tag. Ein strahlend blauer Himmel, garniert mit ein paar Schäfchenwolken. Auch im Herzen von Katharina Rummelshausen schien die Sonne. Kati wurde sie von ihren Freunden gerufen. Es waren nicht viele. Aber die wenigen, die sie kannten, nannten sie so. Kati war verliebt. Zumindest deutete sie dieses ungewöhnliche Gefühl so. Den so oft beschriebenen und besungenen Ausnahmezustand kannte Kati bisher nicht aus eigener Erfahrung. Es hatte zwar in ihrem zweiundvierzigjährigen Leben schon den einen oder anderen Freund gegeben. Doch meistens entpuppten sich die Beziehungen sehr bald als emotionale Verirrungen, die nur eine kurzzeitige Abwechslung in ihrem sonst sehr übersichtlichen Alltag erlaubten. Warum das so war, wusste Kati nicht. Zugegeben, ihre äußere Erscheinung neigte nicht dazu, dass Männer ihr auf der Straße hinterherpfiffen. Sie war schlank gewachsen, verfügte aber nicht über die aufreizenden Rundungen an der richtigen Stelle, die zahlreiche Männer offenbar für eine grundsätzliche Voraussetzung für ein Vollweib hielten. Sie trug ihre braunen Haare kurz geschnitten. Kleidete sich stets modisch. Verzichtete aber ganz gleich zu welcher Jahreszeit auf grelle Farben. Auch als Schönheit konnte man Kati nicht bezeichnen. Aber das Attribut hässlich wäre ebenfalls nicht angemessen. Irgendetwas so mittendrin. Sie verfügte über ein durchaus ansprechendes Gesicht, lediglich die Proportionen widersprachen dem Schönheitsideal unserer Tage. Die Nase ein wenig zu lang, dafür die Oberlippe zu kurz bemessen. Auch ihr Kinn hätte eine energischere Form verdient. Lediglich ihre ausdrucksstarken braunen Augen konnten einen Betrachter fesseln und in Atem halten. Doch dazu bedurfte es zunächst einer gewissen Aufmerksamkeit anderer Menschen und zuletzt auch einer frontalen Nähe.

Doch diese Barriere hatte Peter vor einer Woche überwunden. Blitzartig war er in Katis Leben gepoltert. Eigentlich musste man es eher als Unfall bezeichnen. Kati war ihrem Vordermann an der Supermarktkasse in einem verträumten Augenblick mit ihrem Einkaufswagen in die Hacken gefahren. Wachgerüttelt durch seinen Schmerzensschrei sah Kati mit Entsetzen, wie der Mann sich mit rudernden Armen umdrehte, einen Karton mit Eiern vom Kassenband fegte, nach rechts taumelte und das Regal mit Kaugummi, Müsliriegeln und Flachmännern umriss. Gerade noch konnte er sich an ihrem Einkaufswagen festklammern, um nicht selbst zwischen dem abgestürzten Warenangebot am Boden zu landen.

Kati entschuldigte sich ununterbrochen, während beflissene Helfer des Supermarktes versuchten, das Trümmerfeld zu beseitigen. Der geschundene Vordermann hatte nur kopfschüttelnd gebrummt, seine Ware bezahlt und war anschließend kommentarlos davon gehumpelt. Auf dem Parkplatz, als Kati ihren Einkauf im Kofferraum verstaute, stand er plötzlich vor ihr.

„Es ist ein Klassiker. Verletzte Achillessehnen an der Supermarktkasse“, sagte er und lächelte sie an.

„Es tut mir aufrichtig leid. Sie müssen entschuldigen, ich wollte nicht …“, begann Kati zum stammeln.

„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich hab wohl auch etwas heftig reagiert“, unterbrach er sie.

„Wie geht es ihrem Bein“, wollte Kati wissen.

„Es geht schon. Ist nicht so schlimm.“

„Vielleicht sollte ich es mir lieber einmal ansehen. Ich bin Krankenschwester“, erklärte Kati mit besorgter Stimme.

„Ich glaube, wir beide haben im Supermarkt schon genug Aufmerksamkeit erregt. Eine medizinische Behandlung auf dem Parkplatz würde das ganze allerdings noch toppen.“

„Nein, nein, nicht hier. Ich wohne nicht weit. Und vielleicht könnte ich Ihnen gleichzeitig einen Kaffee oder auch ein Glas Wein als Trostpflaster anbieten.“

Kati wusste nicht, was in sie gefahren war. Hatte sie eben den wildfremden Mann zu sich nach Hause eingeladen? Noch bevor sie einen Rückzieher machen konnte, nickte er freudig mit dem Kopf und willigte ein.

„Eine gute Idee. Fahren Sie vor. Ich folge Ihnen.“

So hatte alles begonnen. Peter hieß er. Peter Dombrowski. Was er beruflich machte, wusste Kati nicht. Aber arm schien er nicht zu sein. Immerhin fuhr er einen Porsche und trug eine Rolex am Handgelenk.

Bei einem Glas Wein war es an diesem Nachmittag nicht geblieben. Irgendwann musste er sich in Katis abgrundtiefen verheißungsvollen braunen Augen versenkt haben. Sie trafen sich jeden Tag und verbrachten die meiste Zeit im Bett.

Auch heute, an diesem sonnigen Tag, erwartete Kati ihren Peter sehnsuchtsvoll. Sie war sich ganz sicher, ein Spaziergang würde an diesem Tag ganz bestimmt nicht zu ihrem Programm gehören. Peter war pünktlich. Zärtlich küsste er sie.

„Ein Glas Wein?“, fragte Kati mit klimperndem Augenaufschlag.

„Alles zu seiner Zeit“, antwortete Peter schmunzelnd, warf sein Jackett zu Boden und zerrte bereits an den Knöpfen von Katis Bluse. Sich gegenseitig von der lästigen Kleidung befreiend stolperten sie ins Schlafzimmer und fielen auf das Bett. Wie die wenigen Male zuvor, schwebte Kati auch jetzt in den höchsten Gefilden der Lust. Atemberaubend und himmlisch. Anschließend lagen sie sich erschöpft in den Armen und Peter streichelte zart über ihre verschwitzte Haut. Er küsste sie hinter das Ohr, dann hob er den Kopf und betrachte andächtig den Cent großen Leberfleck an ihrem Hals.

„Du bist ein kleines Warzenschwein“, bemerkte er und sah sie lächelnd an. In Bruchteilen von Sekunden versteifte sich Kati. Peter konnte im Halbdunkel nicht erkennen, dass Kati die Zähne zusammenbiss und ihre Kieferknochen sich malend bewegten. Abrupt löste sie sich von ihm und stand auf.

„Ich habe heute Spätdienst“, stieß sie hervor, „eine Kollegin ist ausgefallen.“ Bevor Peter antworten konnte, war Kati im Badezimmer verschwunden. Zitternd hielt sie sich am Waschbecken fest. Das Weiß der Knöchel ihrer Hände war vom Porzellan des Beckens kaum zu unterscheiden. Mehrfach atmete sie tief durch. Als sie in den Spiegel blickte, starrte sie eine hasserfüllte Fratze aus schmalen Augenschlitzen an.

Warzenschwein! Warzenschwein! klang es wiederholt in ihrem Kopf. Wie ein nimmer endendes Echo. Warzenschwein! Warzenschwein! Wirre Bilder der Vergangenheit schwirrten vor ihrem geistigen Auge vorbei. Ihre Mutter hatte sie schon als kleines Kind so genannt. Mein kleines Warzenschwein! Später, als sie im Sommer am Strand mit ihrem Bruder spielte und er sie „Warzenschwein“ rief, hatte sie sich das erste Mal gerächt und seinen Kopf in den Sand gedrückt. Lediglich die Aufmerksamkeit eines Strandkorbnachbarn hatte ihren Bruder vor dem sicheren Erstickungstod bewahrt. Die Freundschaft zu ihrer damals besten Schulfreundin Beate endete dagegen dramatisch. Während eines Klassenausflugs zur Steilküste in der Nähe von Travemünde stürzte Beate das zwanzig Meter hohe Ufer Hals über Kopf hinunter und brach sich dabei zwei Lendenwirbel. Seitdem saß sie im Rollstuhl. Sie hatte Kati in pubertierender Eifersucht am Tag vorher als „Warzenschwein!“ beschimpft. Wie es zu diesem Unfall gekommen war, konnte keiner sicher sagen. Nur Kati wusste es genau. Auf dieser Welt würde sie keiner mehr mit diesem abgrundhässlichen Tier vergleichen und sie ungestraft „Warzenschwein“ nennen. Heiko, ihre erste Jugendliebe, überlebte den Sturz vom Hochsitz nicht. Jäger fanden ihn mit gebrochenem Genick. Auch Mario, der Südtiroler kehrte von einer Wandertour in den Ötztaleralpen nicht wieder zurück. Bergretter fanden ihn einen Tag später am Fuße einer fünfhundert Meter hohen Steilwand mit zerschmetterten Gliedern. Er war abgestürzt.

Kati wusste nicht, wie lange sie im Badezimmer gestanden hatte. Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, war Peter verschwunden. Warum musste auch er dieses verdammte Wort sagen? Kati war hin- und hergerissen. Konnte sie ihm verzeihen? Wollte sie ihm vergeben? Sollte er noch eine Chance bekommen? Immerhin war er der erste, bei dem sie so etwas Ähnliches wie Liebe gespürt hatte. Zumindest glaubte sie es. Warzenschwein! Warzenschwein! klang es wieder und wieder warnend in ihrem Kopf. Der mahnende Ankläger erhob seine Stimme. „Keiner nennt Kati Rummelshausen ungestraft ein `Warzenschwein`! Die Strafe folgt auf dem Fuße. Keine Gnade den Verdammten!“

Kati hatte eine unruhige Nacht. In ihren wirren Träumen gab es kaum jemanden, der sie nicht „Warzenschwein“ rief. Ihre Kolleginnen im Krankenhaus. Der Professor, die Ärzte, sogar die freundliche Bedienung in der Cafeteria. Schweißgebadet wachte sie am nächsten Morgen auf. Nach einer Dusche und dem ersten Kaffee hatte sie trotz der verheerenden Nacht einen Entschluss gefasst. Peter sollte eine zweite Chance bekommen. Sie ergriff ihr Smartphone und schrieb ihm eine Whatsapp-Nachricht. Sie entschuldigte sich liebevoll mit rotem Kussmund und Herzchen. Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag zur gewohnten Stunde.

Alles schien vergessen und vergeben zu sein. Geteilte und genussvolle Leidenschaft im Bett. Danach ein Glas Wein bei stimmungsvollem Kerzenschein. Harmonie pur. Kati war froh, dass sie Peter den verbalen Ausrutscher vergeben hatte. Sie küssten sich herzlich, als sie sich am Abend verabschiedeten. Bevor er die Haustür zuzog, drehte er sich noch einmal um. „Übrigens, was ich noch sagen wollte. Ich finde Warzenschweine gar nicht so hässlich.“ Sein Lachen auf der Treppe klang noch eine ganze Weile nach.

Katis Vergebung platzte wie eine Seifenblase. Peter hatte seine Chance gehabt. Doch jetzt war sie vertan. Eine Kriegserklärung, die keinen Waffenstillstand duldete. Liebe hin, Liebe her. Du hast es nicht anders gewollt.

Zielstrebig setzte sich Kati mit Block und Stift an den Küchentisch und entwarf einen Plan. Kurz nach Mitternacht ging sie zufrieden ins Bett und fiel unverzüglich in einen traumlosen Schlaf.

Am nächsten Mittag, es war ein freier Sonnabend, empfing sie Peter in losgelöster Stimmung. „Weißt du was heute für ein Tag ist?“, fragt sie ihn nach dem innigen Begrüßungskuss. Peter stutzte und verneinte.

„Heute sind wir auf den Tag einen Monat zusammen. Das müssen wir angemessen begießen.“ Erstaunt sah Peter zu, als Kati zwei Gläser mit Champagner füllte, den sie bereits in einem Kühler bereitgestellt hatte.

„Auf eine lange und leidenschaftliche Liebe“, erklärte Kati und trank das Glas in einem Zug aus. Peter prostete ihr freundlich zu und leerte sein Glas ebenfalls. Nach nur wenigen Minuten fanden sich beide in enger Umarmung im Bett wieder. Doch Peters sonst kaum erschöpfliche Vitalität dauert an diesem Tag nicht lange an. Bereits nach wenigen Minuten erlahmte er und schlief mitten auf Kati liegend ein. Kati hatte einige Mühe sich von seinem Gewicht zu befreien. Zufrieden betrachtete sie den schnarchenden Liebhaber. Das erste Ziel war erreicht. Das Betäubungsmittel hatte gewirkt.

Aus ihrer Besenkammer holte sie einen Wäschetrolley hervor. Eine kurze Leihgabe aus der Klinik. Mit den geübten Griffen für bettlägerige Patienten wuchtete sie Peter in den Trolley und deckte ihn mit einem Bettlaken zu. Nachdem sie sich angezogen hatte, verließ sie mit ihrer rollenden Begleitung die Wohnung und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage. Ungesehen erreichte sie ihren elf Jahre alten VW Jetta, klappte den Kofferraum auf und lud ohne große Mühe ihre komatös schlummernde Fracht ein.

Es waren nur wenige Kilometer bis zum Schrottplatz, den ihr alter Schulfreund Rolf betrieb.

„Kati, welche Freude. Dich habe ich ja lange nicht gesehen“, begrüßte er sie fröhlich, „brauchst du ein Ersatzteil für deine alte Mühle?“