Tödlicher Zorn - Jürgen Vogler - E-Book

Tödlicher Zorn E-Book

Jürgen Vogler

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Beschreibung

Die unkonventionellen Recherchen für seine Kriminalromane bringen den Schriftsteller Karl-Magnus Lindberg immer wieder in gefährliche Situationen. Nach dem Tod des Hoteliers Hardenberg in Travemünde gerät er selber unter Mordverdacht. Unabhängig von seiner schwesterlichen Freundin Anna Severin, der Leiterin der Mordkommission in Lübeck, versucht auch er, dem Mörder auf die Spur zu kommen. Als zudem russische Patrioten von ihm die Herausgabe eines Buches über Katharina der Großen erpressen, hängt sein Leben nur noch an einem seidenen Faden. Sind sie auch für den Mord an dem Hotelier verantwortlich? Lediglich die wachsende innige Freundschaft zu seiner Nachbarin Maja Wissmann lenkt ihn auf liebevolle Weise von seinem gefahrvollen Alltag ab. Doch wie sind die abfälligen Äußerungen der Familie des Toten aufgrund seines despotischen Verhaltens zu werten? Und was hat es mit den sexuellen Übergriffen des Vorsitzenden einer Hilfsorganisation auf sich? Bis zum Schluss stehen Lindberg und Anna Severin vor einem Hexenkessel voller Hinterlist und Täuschung.

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Autor

Jürgen Vogler wurde 1946 in der Holsteinischen Schweiz geboren und wohnt heute an der Ostseeküste. Nach seinem Dienst als Pressesprecher bei der Bundespolizei arbeitet er seit 1988 als Freier Journalist und Autor.

Seine wöchentlichen Zeitungskolumnen über die Vergangenheit Ostholsteins erschienen 2007 als Buch unter dem Titel "Ostholstein gestern" - 100 Geschichten über Land und Leute -.

2009 entstand der Seeräuber "Bottelpott" - Der beste Pirat aller Zeiten -. Er erlebt zehn wundersame Abenteuer, die Jürgen Vogler zur Freude kleiner Zuhörer und großer Vorleser auch illustrierte. Ebenso wie "Jan-Peter, das Deichlamm", fünf aufregende Geschichten von der Küste für die Kleinsten unter uns.

Seine augenzwinkernden Kurzkrimis, die er seit 2011 schreibt, hat er in „Kopflos im Strandkorb" (2018) zusammengefasst. Nach seinem ersten Kriminalroman „Schwarzer Nebel" (2017) erschien 2018 „Verhängnisvolle Schatten", in dem der Kriminalschriftsteller Karl-Magnus Lindberg in Lübeck unkonventionelle Wege bei der Recherche für seine Romane geht. In „Tödlicher Zorn" stürzt er sich erneut in atemberaubende Abenteuer.

Jürgen Vogler ist ebenfalls Autor der historischen Romane "Der Mohr von Plön" (2012), "Der Narr von Eutin" (2014) und "Der Marquis von Lübeck" (2016).

www.juergenvogler.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 1

Ein Giftmord trägt eindeutig eine weibliche verbrecherische Handschrift. Der Mörder ist immer der Gärtner. Das Tatwerkzeug bei einem Mord auf dem Golfplatz kann nur das Eisen 7 sein. Der Privatdetektiv weiß mehr als die Polizei und es sind immer Jacky Brown und Baby Miller, die den Kriminaltango tanzen. So oder so ähnlich funktionieren Kriminalromane. Hoch lebe das Klischee!

Oh, entschuldigen Sie, liebe Leser, wenn ich Sie so unvermutet mit meinen provokativen Thesen überfalle. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Karl-Magnus Lindberg und ich bin Kriminalromanschriftsteller. Natürlich sind meine eingangs erwähnten Sätze dummes Zeug. Doch ein bisschen Wahrheit verbirgt sich schon dahinter. Quasi im übertragenen Sinne. Denn glauben Sie alles, was Sie in einem Kriminalroman lesen? Ich behaupte in meiner Allmacht als Autor: Ja! Sie glauben es! Schütteln Sie bitte nicht den Kopf. Ich werde es Ihnen beweisen. Während Sie meinen Kriminalroman lesen, folgen Sie auch meinen beschriebenen Gedankengängen. Nur so bin ich in der Lage, Sie auf eine falsche Fährte zu locken. Auch wenn Sie irgendwann erahnen mögen, dass in diesem Fall der Gärtner nicht der Mörder seien kann, haben Sie es mir anfangs doch geglaubt. Wenn es nicht so wäre, könnte ich Sie am Ende nicht mit der Lösung der Bluttat überraschen, dass letztlich doch die liebenswerte Blumenhändlerin die Mörderin war. Keine Angst, liebe Leser, ich habe ihnen nicht das Ende dieses Romans, den Sie in der Hand halten, verraten. Das können Sie mir glauben. Oder vielleicht doch nicht?

Die Hansestadt Lübeck zeigte sich an diesem Morgen von ihrer besten Seite. Ein strahlend blauer Himmel, verziert mit ein paar Schäfchenwolken, ließ die imposanten Kirchtürme der Stadt noch höher erscheinen. Eine sommerliche Leichtigkeit schwebte heute durch die Straßen, die sich oft genug mit ihren mächtigen Giebelhäusern von enger und bedrohlicher Seite zeigten. Vielleicht lag es auch daran, dass Lübeck an diesem Tag ein wenig von seiner bedrückenden Würde verlor, weil eine große Anzahl von Gästen bereits in den frühen Morgenstunden durch die Straßen bummelte und die Fassade des repräsentativen Rathauses bestaunte, zugleich aber auch über die Bedeutung der großen Löcher in der Giebelwand über ihren Köpfen rätselte. Für sie war kein Motiv zu schade, um die Details der alten Gemäuer der ehrwürdigen Hansestadt zu bewundern. Sie fingen sie mit ihren Kameras und Smartphones ein, hielten sie fest und trugen sie sicher mit nach Hause.

Karl-Magnus Lindberg liebte diese Tage. Es waren Kostbarkeiten, die man genießen musste. Viel zu schnell würden hier im hohen Norden des Landes wieder die Ostseestürme durch die Gassen fegen, sich sturzbachartig schwere Regenwolken entladen und das Ufer der Trave überschwemmen. Mit einem wohligen Seufzer streckte er seine langen Beine aus und betrachtete die Menschen, die in der Breiten Straße, Lübecks Fußgängerzone, an ihm vorbeizogen. Wie so oft an solchen Tagen leistete er sich den Luxus eines Frühstücks im Café am Kanzleigebäude. In dem langgestreckten Backsteinhaus im Schatten der allesüberragenden Marienkirche hatten über Jahrhunderte Notare und Ratsschreiber gewirkt. Es lag nur wenige Minuten von Lindbergs Haus in der Hüxstraße entfernt, das er von seinen Eltern geerbt hatte und in dessen Untergeschoss Meister Mahrenholz eine Goldschmiede betrieb. Auch wenn das alte Giebelhaus mit dem kleinen Innenhof sein Refugium war, in dem er sich wohlfühlte und wo er seine schriftstellerische Leidenschaft ungestört pflegen konnte, entfloh er doch zu gerne diesem Idyll. Lindberg war kein Autor, der im stillen Kämmerlein fern der Außenwelt seine Fantasien zu Papier brachte. Er brauchte die Menschen, ihre vielschichtigen Erscheinungsformen, ihre Eigenarten und Auffälligkeiten. Auf welche einfache und komfortable Weise konnte er sich doch inspirieren lassen, wenn er nur die Figuren beobachtete, die sich wenige Meter vor seinem Caféhaustisch vorbeischoben. Der Schnauzbärtige mit dem verwaschenen T-Shirt über dem gewölbten Bauch, der sein modisches Outfit noch mit Hosenträgern krönte, amüsierte ihn ebenso, wie auch die verhärmte Bohnenstange, die unaufhaltsam auf ihren genervten Begleiter einredete, da dieser offensichtlich den Stadtplan verkehrt herum hielt. Die Großen und Kleinen, die Lauten und Verschreckten, die Aufgeblasenen und Verhuschten, sie alle inspirierten ihn und hatten die Chance, auf irgendeine Weise in einem seiner nächsten Kriminalromane eine Nebenrolle zu erhaschen. Es war ein Laufsteg des Homo sapiens in allen facettenreichen Ausprägungen. Kostenlos und zum Greifen nahe.

Wehmütig erinnerte Lindberg sich an die Zeit, als er sich noch gemeinsam mit Katja, seiner langjährigen Freundin, über die Unzulänglichkeiten der Menschen erfreuen konnte. Doch Katja gab es nicht mehr in seinem Leben. Sie war mit ihrem Kamerateam über dem Regenwald des Amazonas abgestürzt. Eine Frau, für die er so innige Gefühle empfunden hatte wie bei Katja, war ihm danach nie wieder begegnet. Die Zeit hatte auch wie so oft im Leben die Wunden geheilt. Zum Einsiedler war er in der Vergangenheit nie geworden, aber in Momenten wie diesen vermisste er ihre Nähe sehr.

Noch bevor Lindberg in Trübsal verfallen konnte, erblickte er eine Person, die seine Stimmung urplötzlich ins Gegenteil umwandelte. Eine sportliche schlanke Frau mit kurzen braunen Haaren eilte mit schnellen Schritten dem Rathaus entgegen.

„Anna! Halt, stehen bleiben und Hände hoch!", rief Lindberg, als sie auf seiner Höhe war.

Abrupt blieb die so barsch Angesprochene stehen und starrte Lindberg überrascht an.

„Lindberg. Wie kannst du mich so erschrecken? Ich war ganz in Gedanken." Lachend kam sie auf ihn zu. Er stand auf und beide umarmten sich freudig. Anna Severin war Kriminalhauptkommissarin bei der Mordkommission und Lindbergs Freundin. Sie beide verband ein eher geschwisterliches Verhältnis, doch es gab kaum etwas, was sie nicht voneinander wussten. Sie trafen sich regelmäßig und besprachen alles, was sie irgendwie bewegte oder berührte. Berufliche ebenso wie auch private Sorgen. Mit großem Interesse verfolgte er auch Annas Kriminalfälle, die er allzu gerne in seinen Romanen verarbeitete. Nicht selten hatte er in der Vergangenheit auf unkonventionelle Weise zur Aufklärung mancher Taten beigetragen. Nicht immer zu Annas Zufriedenheit, wie er wusste, da sie sich dadurch stets in Erklärungsnot ihren Vorgesetzten gegenüber befand. Seine außerhalb der polizeilichen Ermittlungen liegenden Aktionen konnte sie nicht selten nur mit großer Mühe und viel Kreativität erklären.

„Wie ich sehe, geht es dir richtig gut, du fauler Autor", stellte Anna lächelnd fest.

„Alles nur im Dienste der schriftstellerischen Recherche, liebe Anna. Hast du ein paar Minuten Zeit?"

Anna sah auf ihre Armbanduhr und setzte sich. „Kein Problem, der Mensch kann warten. Augenblick nur."

Sie holte ihr Smartphone hervor, wählte eine Nummer und wartete. „Hallo, Herr Bergholz. Anna Severin hier. Es tut mir leid. Ich verspäte mich um eine halbe Stunde. Ist das okay für Sie? Sehr schön. Dann bis gleich." Anna steckte ihr Smartphone schmunzelnd wieder in ihre Handtasche. „Jetzt darfst du mir einen Milchkaffee ausgeben, Lindberg."

„War das der Mensch, der meinetwegen nun warten muss?", fragte Lindberg scheinheilig.

„Genau. So eine graue Büromaus im Rathaus. Es ist nur eine lästige Befragung. Wie du weißt, haben Ermittlungen ihre eigenen Gesetze."

„Und die bestimmst du wie immer ganz allein, oder?"

„Natürlich. Wer sonst?", antwortete Anna selbstbewusst.

So kannte Lindberg die Kommissarin. Von ihrem attraktiven Äußeren durfte man sich nicht täuschen lassen. Auch wenn sie den Menschen stets freundlich und aufgeschlossen begegnete, so konnte sie wenn nötig sehr schnell eine ganz andere Gangart einschalten. Chefermittlerin der Mordkommission in der Polizeidirektion Lübeck wurde man nicht durch Höflichkeit und Großmut. Anna Severin zählte zu den Beharrlichen und Unnachgiebigen. Personen, die ihr nicht ganz wohlgesonnen waren, verglichen sie mit einem Terrier. Sie konnte sich in einen Fall verbeißen, bis sie ihn gelöst hatte. Wer sich mit der Kommissarin anlegte, zog in den meisten Fällen den Kürzeren. Ihre Sportlichkeit und Reaktionsschnelligkeit hatten in der Vergangenheit schon so manchen schweren Jungen verblüfft. Ihre Ermittlungsfolge gaben ihr recht. Nur Lindberg wusste, dass sich hinter der Fassade der durchsetzungsfähigen und robusten Anna ein sensibles Wesen verbarg. Mit Sehnsüchten und Wünschen, die jeder auf seine Weise an das Leben stellte.

Lindberg beobachtete Anna aufmerksam, als sie gedankenverloren in ihrem Milchkaffee rührte. Kaum zu glauben, dass aus diesen rehbraunen ausdrucksvollen Augen in Bruchteilen von Sekunden gnadenlose Blitze schießen konnten. Die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen kannte Lindberg nur zu gut.

„Deine Kummerfalte ist wieder da", sagte er und strich ihr zärtlich mit dem Daumen darüber. „Wer ärgert dich, Anna? Doch nicht etwa der Mensch im Rathaus?"

„Nein, natürlich nicht. Du kennst mich viel zu gut, Lindberg. Das gefällt mir gar nicht. Ich glaube, du hast Hexen in deiner Familie gehabt."

„Wer weiß das schon so genau? Aber in deinem Gesicht kann ich lesen wie in einem Buch", antwortete Lindberg grinsend, „nun erzähl schon, was beunruhigt dich?"

Anna sah Lindberg eine Weile schweigend an. „Die Dienstaufsicht wird mir wohl in absehbarer Zeit auf den Zeh treten. Ich nehme an, es geht immer noch um den Fall der Toten auf dem Friedhof in Altenkrempe."

„Ich dachte, das wäre längst alles erledigt. Der Fall ist doch abgeschlossen. Da müsste in absehbarer Zeit auch die Gerichtsverhandlung anstehen. Oder steckt etwa Oberstaatsanwalt Reichenbach dahinter? Ist der es, der keine Ruhe gibt?"

„Ich weiß es nicht genau. Aber zu vermuten wäre es schon. Immerhin ist aufgrund seiner Freundschaft zum Vater der Toten auf ihn kein gutes Licht gefallen."

Lindberg runzelte die Stirn. „Und du meinst, jetzt versucht er sich reinzuwaschen und dir einen klebrigen Bonbon ans Hemd zu hängen?"

„Zuzutrauen wäre es ihm. Aber lassen wir uns den schönen Tag nicht von einem missgünstigen kleinen Glatzkopf verderben. Ich muss jetzt. Was hältst du übermorgen von einem zwanglosen Abendessen bei mir?" Anna erhob sich und küsste Lindberg auf die Wange.

„Ich bin da. Vielen Dank. Pünktlich um sieben. Wie immer?"

Anna nickte, drehte sich um und entschwand Richtung Rathaus.

Es war nicht das erste Mal, dass er die Gastfreundschaft von Anna genoss. Von ihrer Dachterrasse in dem Haus an der Untertrave konnte man nicht nur die Kirchtürme der Stadt sehen, sondern ganz beschauliche Abende bei einem Glas Wein verbringen. Zudem war Anna eine ausgezeichnete Köchin. Lindberg freute sich auf den übernächsten Tag.

„Lindberg, Sie kommen wie gerufen", begrüßte Anton Eberhard den Schriftsteller überschwänglich, als er das Antiquariat in der Beckergrube betrat.

„Womit habe ich den roten Teppich verdient, Professor? Sie werden doch wohl nicht behaupten, dass meine Bücher jetzt auch schon bei Ihnen zu finden sind?", entgegnete Lindberg lachend.

Er war seit Jahren ein gern gesehener Kunde in dem renommierten Antiquariat. Anton Eberhard, den alle Professor nannten, obwohl keiner genau wusste, ob der alte Mann wirklich einmal eine Professur inne gehabt hatte. Möglicherweise wurde er auch nur aufgrund seines unerschöpflichen Wissens so genannt. Niemand wollte diese Illusion zerstören, deshalb fragte ihn auch niemand danach. Der Professor und Lindberg mochten sich. Sie verband die grundsätzliche Begeisterung für die Literatur. Aber der Professor wusste auch um die unablässige Suche Lindbergs nach antiquarischen Besonderheiten. Eine Leidenschaft, die sich bei ihm nach einigen Semestern Literaturwissenschaft entwickelt hatte.

„Sie wollen doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass ihre intellektuell begrenzten Kriminalromane jemals den Weg in ein Antiquariat finden werden", entrüstete sich der Professor gespielt kopfschüttelnd.

„Ich weiß gar nicht, Professor, weshalb ich regelmäßig Ihren verstaubten Mottenkäfig aufsuche, wenn meine Arbeit hier nie anerkannt wird?", entgegnete Lindberg demonstrativ beleidigt.

„Wie ich sehe, geht es uns beiden gut", stellte Anton Eberhard lachend fest, „aber jetzt im Ernst. Ich glaube, ich habe einen interessanten Auftrag für Sie. Gehen wir in mein Büro."

Das, was der Professor als Büro bezeichnete, war für den Besucher nicht erkennbar. Der Raum bestand nur aus Büchern. Erst, wer genau hinsah, konnte unter der ungeordnet wirkenden Wucht des geschriebenen Wortes mühsam die Konturen eines Schreibtisches erkennen. Der Stuhl dahinter, auf den sich der Professor setzte, war nicht mit Büchern belegt.

„Nehmen Sie doch Platz!", forderte er Lindberg auf, in dem er auf einen Stapel Bücher vor dem Schreibtisch zeigte, unter dem verzweifelt die Rückenlehne eines Stuhls auf sich aufmerksam machte. Lindberg befreite das Sitzmöbel von seiner Last und setzte sich.

„Was gibt es denn so Aufregendes, Professor, dass Sie mich in Ihr Heiligtum eindringen lassen?", fragte Lindberg gespannt. Er war sich der Ehre bewusst, die ihm der Professor zuteilwerden ließ, wenn er ihn in seinen Hort des Wissens einlud. Ein Privileg, dessen sich nur wenige rühmen konnten, denn der Professor fürchtete nichts mehr, als das ein Unbesonnener Unordnung in sein Reich bringen könnte.

Der Professor faltete die Hände und sah Lindberg bedeutungsvoll an. „Sagt Ihnen der Name Alexander Hardenberg etwas?"

„Ja. Schon. Das ist doch der Besitzer der Hardenberg Hotelkette. Was ist mit ihm?"

„Herr Hardenberg ist seit Jahren ein treuer Kunde. Jetzt benötigt er Hilfe, die neben Fachwissen auch eine gewisse Diskretion erwartet. Und dabei kommen Sie ins Spiel, verehrter Lindberg."

„Welch eine Ehre für mich, aber wie darf ich das verstehen?"

Der Professor lächelte sein Gegenüber an, als würde er ihm nun ein wohlgehütetes Geheimnis anvertrauen. Lindberg hätte sich nicht gewundert, wenn der Professor sich auch noch verschwörerisch umgeguckt hätte, um ganz sicher zu sein, dass keiner sie belauschen würde.

„Herr Hardenberg verfügt über eine einmalige Sammlung antiquarischer Bücher aus dem 18. Jahrhundert. Vor einigen Tagen ist das St. Annen-Museum an ihn herangetreten, da dort in absehbarer Zeit eine Ausstellung stattfinden soll. ,Lübeck 1800' wird sie wohl heißen und soll unsere liebe Hansestadt als damalige Kunstmetropole des Ostseeraumes präsentieren."

„Und was hat das nun mit dem Hotelier und seinen Büchern zu tun?", unterbrach Lindberg den Professor, da er einen längeren Vortrag ähnlich einer Vorlesung über die Bedeutung der Kunst im Ostseeraum im Allgemeinen und im Besonderen befürchtete.

„Nicht so ungeduldig, junger Freund. Neben prächtigen Skulpturen und Gemälden sowie exklusiven Goldschmiedearbeiten sollen auch aufwändig gestaltete Buchdrucke aus dem Ostseeraum ausgestellt werden. Herr Hardenberg wünscht nun eine Expertise darüber, welches Buch seiner Sammlung diesem Zweck am ehesten nahekommt und den hohen Ansprüchen eines bedeutungsvollen Hauses wie dem St. Annen-Museum entsprechen kann."

„Wenn ich Sie richtig verstehe, weiß der Hotelier nicht, was in seinem Bücherregal steht und ich soll nun für ihn eine Entscheidung treffen." Lindberg schüttelte ungläubig den Kopf.

„Es ist etwas banal ausgedrückt, wie ich es von Ihnen ja nicht anders erwarte, aber es kommt der Realität doch sehr nahe. Was sagen Sie dazu?"

Lindberg runzelte die Stirn. „Wie Sie wissen, Professor, betrachte ich Menschen mit einer gewissen Skepsis, die sich einer vermeintlichen Passion zuwenden, nur weil sie das nötige Kleingeld dafür übrig, aber von der Sache keine Ahnung haben."

„Seien Sie nicht so gnadenlos und anspruchsvoll in Ihrem Urteil. Alexander Hardenberg ist durchaus bewandert auf dem Gebiet antiquarischer Kostbarkeiten. Er braucht lediglich einen fachlichen Rat. Außerdem würden Sie mir persönlich einen großen Gefallen tun, wenn Sie diesen kleinen Auftrag annehmen könnten. Der übrigens auch großzügig honoriert werden soll. Was angesichts Ihres beschränkten Autorenhonorars vermutlich nicht ungelegen kommt."

„Mit zwei Übernachtungen in seinem Hotel in New York bei eigener Anreise oder ähnlich?"

Anton Eberhard fing meckernd an zu lachen. „Sie sind ein hoffnungsloser Zyniker, Lindberg. Ich schreibe Ihnen hier einmal die Telefonnummer von Hardenberg auf. Die meiste Zeit befindet er sich in seinem Haus in Travemünde. In seiner Villa am Stadtpark hier in Lübeck trifft man ihn eher selten an." Der Professor kramte einen Zettel unter den Büchern hervor, kritzelte eine Nummer darauf und reichte ihn Lindberg, der ihn ungelesen in die Jackentasche steckte.

„Kümmert er sich denn nicht um seine Hotels?"

„Man erzählt sich, dass er sich aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen haben soll. Aber das ist die offizielle Version. Das glaubt in der Branche keiner so recht. Sein Sohn und seine Tochter mischen zwar im Management der Hotels mit, aber die Fäden hat der Alte nach wie vor in der Hand, wissen Insider zu berichten."

„Alle Achtung, Professor, Sie sind gut informiert. Man könnte meinen, Sie lesen regelmäßig ,Gala' und ,Bunte'."

Der Professor blinzelte Lindberg missmutig an. „Eigentlich hatte ich vor, Ihnen jetzt ein Glas Sherry anzubieten. Da Sie jedoch meine Gastfreundschaft verbal derart mit Füßen treten, werde ich darauf verzichten."

„Das trifft mich zwar tief, verehrter Professor, aber ich glaube für einen solchen Tropfen ist es ein bisschen zu früh für mich." Lindberg verabschiedete sich von dem Professor mit der Zusicherung, ihn über das Gespräch mit dem Hotelier umfassend zu informieren.

Noch am selben Nachmittag wählte Lindberg die Telefonnummer, die der Professor ihm gegeben hatte. Nach viermaligem Klingeln wurde abgehoben und es meldete sich eine Frauenstimme. „Bei Hardenberg."

„Hier spricht Karl-Magnus Lindberg. Guten Tag. Ich hätte gern Herrn Hardenberg gesprochen."

„Erwartet Herr Hardenberg Ihren Anruf?", fragte die weibliche Stimme nach.

„Ich denke schon. Richten Sie ihm bitte aus, es geht um die Bücher. Dann weiß er schon Bescheid."

Bitte warten Sie einen Augenblick." Nach kurzer Zeit meldete sich der Hotelier. „Wer sind Sie?", blaffte er ins Telefon, ohne seinen Namen zu nennen.

Lindberg atmete tief durch. „Mein Name ist Karl-Magnus Lindberg. Der Antiquar Anton Eberhard sagte mir, sie benötigen einen fachlichen Rat im Zusammenhang mit antiquarischen Büchern."

„Und Sie halten sich dafür kompetent oder wie darf ich Ihren Anruf verstehen?"

Lindberg musste sich entscheiden. Sollte er dem unfreundlichen Knurrhahn kurzerhand sagen, dass er sich offensichtlich verwählt hatte oder wollte er den Kampf gegen Anmaßung und Arroganz aufnehmen? „Herr Hardenberg. Kompetenz ist relativ und manifestiert sich ausschließlich im Auge des Betrachters. In dieser Hinsicht unterwerfe ich mich gänzlich Ihrem Urteil. Vorausgesetzt, Sie dulden mich in Ihrer Nähe."

Für einen Augenblick herrschte Stille in der Leitung. Wie es schien, musste der Hotelier Lindbergs irritierende Replik erst einmal erfassen und verdauen.

„Ich erwarte Sie morgen früh um zehn Uhr in meinem Haus in Travemünde. Auf Wiederhören." Die Verbindung war unterbrochen. Lindberg sah den Telefonhörer an, als ob er noch andere wundersame Dinge aus ihm erwarten würde. Was war das denn für ein seltsamer Heiliger? Diesen komischen Kauz wollte er sich unbedingt genauer ansehen.

Auch am nächsten Tag machte der Sommer seinem Namen alle Ehre. Blauer Himmel und Schäfchenwolken. Lindberg entschloss sich, den Ausflug an die Küste mit einer kleinen Motorradtour zu verbinden. Rechtzeitig warf er sich am Morgen ins Leder und brummte auf seiner Kawasaki VN 1500 Classic Tourer Richtung Travemünde.

Zielgerichtet lenkte Lindberg sein Motorrad zur Segelschule Mövenstein. Das Haus des Hoteliers hatte er sich schon am Abend vorher auf Google Earth angesehen. Helldahl hieß die Straße, über die man auch auf den Wanderweg gelangte, der über das Brodtener Steilufer bis zum Ostseebad Niendorf führte. Er stellte seine Maschine vor der weißen Villa ab, erklomm die Stufen zum Eingang und klingelte.

„Ja, bitte", erklang sehr bald eine weibliche Stimme durch die Sprechanlage.

„Hier ist Lindberg", meldete er sich.

„Treten Sie bitte ein", hörte er, während gleichzeitig der Türsummer ertönte. In einer offenen Glastür erwartete ihn eine Frau mittleren Alters, die ihn lächelnd empfing. „Ich bin Frau Carstensen, die Haushälterin", begrüßte sie Lindberg, „Herr Hardenberg erwartet Sie bereits."

„Ich bin doch nicht zu spät?" Lindberg guckte auf seine Uhr.

„Nein, nein. Es ist alles in Ordnung", versicherte die Haushälterin eilig. „Ich gehe dann mal vor."

Nachdem sie durch ein großzügiges Foyer gegangen waren, betraten sie einen zweigeteilten Wohnraum. Zur Rechten lud eine lederne Sitzgarnitur zum gemütlichen Verweilen ein, während die linke Seite des Raumes einer Bibliothek ähnelte. Bücherregale reichten vom Boden bis zur Decke. In der Mitte dieses Teils des Raumes stand ein überdimensionaler Schreibtisch mit umfangreichen geschnitzten Verzierungen, den Lindberg dem Neobarock zuordnete und der ihm auf Anhieb nicht gefiel. Beindruckt war er hingegen von dem gepflegten Rasen mit den kugelförmigen Buchsbäumen. Die Panoramafenster erlaubten einen freien Ausblick in den geschmackvoll gestalteten Garten.

„Wie sehen Sie denn aus?", wurde Lindberg in seinen Betrachtungen unterbrochen. Aus dem Nebenzimmer war Alexander Hardenberg getreten und musterte Lindberg mit abfälligem Blick. „Halten Sie diese Kleidung für angemessen?"

„Auch ich wünsche Ihnen einen schönen guten Morgen, Herr Hardenberg. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Karl-Magnus Lindberg."

„Sie schreiben Kriminalromane. Ich habe mich über Sie erkundigt. Und Sie sind der Meinung, das prädestiniert Sie, fachliche Expertisen über antiquarische Werke abzugeben? Etwas hoch gegriffen oder nicht?"

„Herr Hardenberg. Wir beide haben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder wir bewegen uns ab sofort auf Augenhöhe mit dem gebührenden Respekt voreinander. Unbeeinflusst von meinem Outfit und meiner Profession. Oder Sie suchen sich einen anderen Scheuerpfahl, an dem Sie Ihren offensichtlichen Frust an der Menschheit uneingeschränkt austoben können. Sie haben die Wahl."

„Sie kommen hier in mein Haus und bilden sich ein ..."

„Stopp!", unterbrach Lindberg den aufbrausenden Hotelier in scharfem Ton. „Nur zu Ihrer Erinnerung. Sie haben um Hilfe gebeten. Hier bin ich. Auch ich weiß meine Zeit anders zu nutzen, als mir unqualifizierte Anzüglichkeiten und Beleidigungen anzuhören. Können wir zur Sache kommen?"

Alexander Hardenberg starrte sein Gegenüber fassungslos an. Wie es schien, war er es nicht gewohnt, dass ihm jemand in diesem Ton begegnete. Lindberg kannte solche Menschen nur zu gut, die aufgrund von Geld und Macht der Auffassung waren, alle anderen nach ihrer Pfeife tanzen lassen zu können. Nicht mit ihm. Herausfordernd sah er den Hotelier an und wartete auf seine Reaktion. Mit einer gewissen Genugtuung registrierte er, dass Hardenberg kurzzeitig mit sich rang, aber dann doch widerwillig klein beigab. Er nickte kurz, wandte sich um und ging auf den Schreibtisch zu.

„Es geht um diese Bücher hier." Der Hotelier zeigte auf drei Exemplare, die auf dem Schreibtisch lagen. „Eines davon soll eine Ausstellung im St. Annen-Museum zum Thema Lübeck als Kunstmetropole im 18. Jahrhundert' ergänzen. Ich gehe davon aus, dass Ihnen diese kunsthistorischen Zusammenhänge geläufig sind."

Lindberg reagierte nicht auf diese erneute Provokation, sondern trat näher und betrachtete die drei alten Bücher genauer. Lederrücken, Einbände und Goldschnitt ließen bei oberflächlicher Betrachtung bereits erkennen, dass es sich um Kostbarkeiten handelte.

„Wenn es Ihnen recht ist, Herr Hardenberg, werde ich Ihre Schätze erst einmal genauer unter die Lupe nehmen, um mich über den Inhalt der jeweiligen Werke zu informieren", stellte Lindberg fest, während er eines der Bücher in die Hand nahm.

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Frau Carstensen kann Sie mit Kaffee, Tee oder was immer Sie wollen versorgen. Wie lange werden Sie brauchen?" Lindberg konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. Hardenberg schien wirklich einer dieser äußerst liebenswerten Zeitgenossen zu sein, die sich für den Nabel der Welt hielten und denen man möglichst aus dem Weg ging.

„Wie schon gesagt, ich werde mir einen ersten Überblick verschaffen. Eine konkrete Empfehlung ist erst nach weiteren sorgfältigen Recherchen möglich. Ich muss den Kontext der Bücher ins Verhältnis zur Epoche bringen, zudem eine Expertise erstellen, die dem Thema der Ausstellung gerecht wird. Das dauert ein paar Tage."

„Dafür habe ich keine Zeit. Das Museum erwarten von mir bis spätestens übermorgen ein Antwort, da sie ihre Werbeflyer für die Ausstellung drucken müssen."

Lindberg zögerte nur kurz. „Nun denn. Dann eben ein Schnellschuss. Ich werde eine Nachtschicht einlegen und Ihnen morgen das Ergebnis präsentieren."

„Ich erwarte Sie morgen spätestens um zehn Uhr hier. Jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss noch dringende Telefonate führen." Ohne ein weiteres Wort drehte sich Alexander Hardenberg um und verließ den Raum. Lindberg schüttelte den Kopf und wandte sich den Büchern auf dem Schreibtisch zu.

Kapitel 2

Als Anna Severin am frühen Morgen ihr Büro im Hochhaus der Polizeidirektion in Lübeck betrat, stellte sie erstaunt fest, dass ihre beiden unmittelbaren Mitarbeiter bereits an ihren Schreibtischen saßen und sie freudig anstrahlten.

„Mein Gott, was ist denn passiert? Seid ihr aus dem Bett gefallen?"

„Nein, wir waren bloß der Meinung, dass Feste gefeiert werden müssen, wie sie fallen." Kriminaloberkommissar Clemens Korthals zauberte hinter seinem Schreibtisch einen bunten Sommerstrauß hervor.

Anna sah ihren Kollegen fragend an. „Womit habe ich das verdient? Geburtstag habe ich nicht."

„Du bist heute auf den Tag genau fünf Jahre meine Chefin. Bockmann und ich sind uns darüber einig, es hätte uns schlechter treffen können. Und deshalb wollten wir dir auf diesem Weg einfach nur einmal Danke sagen." Clemens Korthals streckte ihr den Blumenstrauß mit schelmischem Grinsen entgegen.

„Ihr seid vollkommen verrückt." Anna musste schlucken. So kannte sie ihren Kollegen. Kriminaloberkommissar Clemens Korthals war ein absolut zuverlässiger Kollege, ein unnachgiebiger Ermittler, aber auch ein Mann mit Ecken und Kanten, der sich nicht in ein Schema pressen ließ. Zudem war er immer wieder für Überraschungen gut. So wie auch an diesem Morgen.

„Ist nicht ein bisschen verrückt eine Grundvoraussetzung für unseren Beruf, Frau Severin?", wagte sich jetzt auch Kommissar Bockmann vor. Er gehörte noch nicht sehr lange zum Team, ergänzte die beiden aber durch seine Akribie und Beharrlichkeit sehr gut.

„Ich danke euch ganz herzlich. Ihr versteht es wirklich, diesen sonnigen Morgen noch ein wenig mehr strahlen zu lassen." Anna nahm den Strauß lächelnd entgegen und setzte sich hinter ihren Schreibtisch. „Gibt es denn auch irgendwo eine Vase?"

„Kommt sofort." Malte Bockmann eilte davon.

Anna sah den Oberkommissar mit kritischem Blick an. „Ich dachte schon, Clemens, du hattest wieder etwas ausgefressen und musstest um gutes Wetter betteln."

„Ich bin erschüttert, Chefin, wie du über mich denkst", zeigte sich Clemens Korthals gespielt entrüstet, „aber ich glaube unsere fröhliche Stimmung wird heute Morgen nicht von Dauer sein."

„Was gibt es denn? Haben wir 'ne Leiche, von der ich noch nichts weiß?"

„Nein, nein. Aber die Sekretärin von Oberstaatsanwalt Reichenbach hat bereits vor Acht angerufen und gefragt, wann du voraussichtlich im Büro sein wirst."

Anna schüttelte missmutig den Kopf. „Er lässt einfach nicht locker. Wie ein tollwütiger Hund. Was verspricht er sich davon?"

„Geht es immer noch um die Leiche vom Friedhof in Altenkrempe und seine Freundschaft zum Vater der Toten?", wollte Clemens Korthals wissen.

„Ich vermute ja. Lassen wir uns überraschen. Wir haben uns nichts vorzuwerfen."

Malte Bockmann unterbrach ihr Gespräch mit einer Vase im Arm. „Gefüllt mit frischem Quellwasser aus der Leitung."

Noch während sie die Blumen in die Vase stellte, klingelte Annas Telefon. Auf dem Display sah sie, dass es der Anschluss von Lieselotte Pantaenius, der Vorzimmerdame von Kriminaldirektor Mertens, war. Sie griff zum Hörer und meldete sich.

„Der Chef möchte Sie sprechen, Frau Severin. Könnten Sie es einrichten?"

„Ich komme sofort, Frau Pantaenius. Ein paar Minuten nur." Den Chef der Lübecker Kriminalpolizei konnte sie nicht warten lassen.

„Ich überfalle Sie ungern so früh am Morgen, Frau Severin, aber es gibt unerfreuliche Nachrichten", begrüßte Kriminaldirektor Wolfgang Mertens wenig später die Chefermittlerin der Mordkommission. „Ich habe einen Anruf von Oberstaatsanwalt Reichenbach erhalten. Er wird noch heute mit einem internen Ermittler der Dienstaufsicht aus dem Innenministerium auftauchen, um ungeklärte Fragen im Fall Henriette von Bahrenfeld aufzuklären."

„Ich habe schon so etwas befürchtet. Die Spatzen haben es bereits von den Dächern gepfiffen."

„Sie müssen sich keine Sorgen machen, Frau Severin. Der Fall ist ordnungsgemäß abgeschlossen worden. Ich habe mir noch einmal die Mühe gemacht, die Akte zu studieren. Es gibt nicht den geringsten Zweifel. Der Mord an der Toten vom Friedhof ist aufgeklärt. Wir haben den Täter überführt. Es liegt ein unterschriebenes Geständnis vor. Sie und ihr Team haben wie immer gute Arbeit geleistet."

„Vielen Dank für die Blumen. Aber was bezweckt der Oberstaatsanwalt denn mit dieser Aktion?"

„Nun, der Oberstaatsanwalt gehört ja bereits seit geraumer Zeit nicht unbedingt zu ihren Freunden. Vermutlich will er ganz sicher gehen, dass seine enge persönliche Bindung an die Familie der Toten und die etwas undurchsichtigen Ereignisse in seiner Vergangenheit ihm in der Zukunft nicht noch das Genick brechen könnten."

„Es ist einfach nur lästig, sich mit solchen Nichtigkeiten beschäftigen zu müssen. Ich würde lieber ungestört meine Arbeit machen."

„Ich verstehe Sie nur zu gut, Frau Severin. Sollte es nur ansatzweise Probleme geben, Sie wissen, wo Sie mich finden." Kriminaldirektor Mertens erhob sich und nickte seiner Chefermittlerin ermutigend zu. Anna mochte ihren Vorgesetzten. Hinter seiner väterlichen Art steckte ein brillanter Kriminalist, aber auch ein feiner Mensch, der seine Mitarbeiter mit Respekt und Anerkennung für ihre nicht immer ganz leichte Arbeit behandelte.

Anna hatte kaum wieder in ihrem Büro Platz genommen, als Oberstaatsanwalt Reichenbach mit einem Mann in seinem Schatten herein gerauscht kam.

„Frau Severin, ich darf Ihnen Herrn Polizeioberrat Bartsch vom Innenministerium aus Kiel vorstellen. Er wird unter meiner Aufsicht die internen Ermittlungen in der Angelegenheit Henriette von Bahrenfeld leiten ..."

„Moment, Moment, Herr Oberstaatsanwalt!" Anna stand auf und erhob abwehrend die Hände. „Für einen ,Guten Morgen' wird ja wohl noch Zeit sein."

Oberstaatsanwalt Reichenbach starrte die Kommissarin verstört an. Eine solche respektlose Unterbrechung schien er nicht gewöhnt zu sein. Auch der Polizeioberrat hob irritiert die Augenbrauen.

„Außerdem habe ich hier ein Kommissariat zu leiten", fuhr Anna fort, „das wahrhaftig nicht auf zeitraubende und überflüssige Unterbrechungen wartet."

Der Oberstaatsanwalt holte tief Luft. „Frau Severin, Sie überschätzen Ihre Position", stieß er entrüstet hervor. Gleichzeitig erhob er sich auf die Zehenspitzen. Ein Imponiergehabe, das er sich aufgrund seiner begrenzten Körpergröße angewöhnt hatte. Für Anna kam der kleine, glatzköpfige Mann, den sie ohne Mühe um eine Haupteslänge überragte, wie eine Witzblattfigur vor. „Für mich genügte ein winziger Fingerzeig und Sie würden in Kürze wieder den Verkehr auf der Straßenkreuzung regeln ..."

„Und um dieses Ziel zu erreichen, hetzen Sie mir jetzt die Dienstaufsicht auf den Hals?", unterbrach Anna den aufbrausenden Oberstaatsanwalt erneut. „Welch eine Ehre für mich."

„Könnten wir uns doch bitte um einen sachlicheren Ton bemühen", schaltete sich jetzt der Polizeioberrat ein.

„Nein, das können wir nicht, da es schon seit längerem nicht mehr nur um die Sache geht", fuhr Anna ihn an. „Aber um das Ganze klarzustellen, bedarf es wohl einiger grundsätzlicher Erörterungen. Nehmen Sie Platz, meine Herren." Anna zeigte einladend auf ihren Besprechungstisch. Die beiden Männer sahen sich verblüfft an, folgten aber dann doch der Aufforderung.

Anna fixierte den Oberstaatsanwalt. „Nun Klartext, Herr Reichenbach, welchen sachlichen Grund gibt es, den Fall Henriette von Bahrenfeld nachträglich untersuchen zu lassen?"

„Ich muss Ihnen gegenüber doch wohl keine Rechenschaft ablegen", plusterte sich der Oberstaatsanwalt erneut auf, kaum nachdem er sich gesetzt hatte.

„Vielleicht darf ich da einmal eingreifen." Polizeioberrat Bartsch versuchte, zu vermitteln. „Nach meinen Kenntnissen gibt es einige Unstimmigkeiten und Fragen zum allgemeinen Ermittlungsvorgang in der besagten Angelegenheit."

Anna schüttelte den Kopf. „Das macht doch alles keinen Sinn. Die Ermittlungen sind abgeschlossen. Die Akte liegt der Staatsanwaltschaft vor. Die Anklage ist bereits erhoben worden. Selbst der Gerichtstermin steht schon fest. Was gibt es denn da noch intern zu ermitteln?"

„Darüber haben Sie nicht zu befinden", schaltete sich jetzt der Oberstaatsanwalt wieder ein, „das wird das Ergebnis der internen Ermittlung zweifelsfrei ergeben. Fehler werden hier gnadenlos aufgedeckt."

Anna schüttelte erneut den Kopf und lächelte den Oberstaatsanwalt mitleidig an. „Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mir vorwerfen werden, Herr Reichenbach, dass ich keine Juristin bin, gebe ich eines zu bedenken. Sollte die Verteidigung davon Wind bekommen, dass in dieser Sache intern ermittelt wird, während der Angeklagte bereits vor Gericht steht, können Sie ihre gesamte Anklageschrift in die Mülltonne werfen."

Polizeioberrat Bartsch runzelte die Stirn und sah den Oberstaatanwalt fragend an. Doch der ließ sich nicht beirren. „Sie haben absolut recht, Frau Severin, Sie sind keine Juristin. Die Staatsanwaltschaft ist die Herrin des Verfahrens. Wenn in dieser Sache noch Fragen sind, haben Sie sie zu beantworten. So einfach ist das Prozedere. Und um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, werden wir damit unverzüglich beginnen. Bitte, Herr Bartsch." Oberstaatsanwalt Reichenbach lehnte sich demonstrative zurück, um seiner Aussage den nötigen Nachdruck zu verleihen.

Anna schmunzelte. „Sie wollen diese Posse ernsthaft spielen? Sie poltern unangemeldet in mein Büro und sind der Auffassung, dass ich die Hacken zusammenschlage und Ihre Fragen demütig beantworte? Ohne mich, meine Herren. Alles was Sie wissen müssen, steht umfassend in den Ermittlungsakten. Ich habe für solche kindischen Spielchen keine Zeit."

„Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?" Oberstaatsanwalt Reichenbach sprang auf und erhob drohend seinen Zeigefinger gegen die Kommissarin. „Sie werden unverzüglich meinen dienstlichen Weisungen folgen, sonst sehe ich mich gezwungen ..."

„Ich muss mal stören, Chefin!" In der Tür stand Oberkommissar Korthals. „Aber wir werden gebraucht. Wir haben einen Toten."

Anna nickte ihm zu. Sie musste sich ein Lächeln verkneifen. Auf Clemens konnte sie sich verlassen und sein Timing war geradezu brillant. „Ist gut, Clemens, ich komme gleich. Informiere schon mal KTU und die Rechtsmedizin."

„Schon erledigt. Wir können gleich los."

Anna wandte sich dem Oberstaatsanwalt und dem Polizeioberrat zu. „Sie sehen, meine Herren, die Pflicht ruft. Sie entschuldigen mich." Anna stand auf, ging hinter den Schreibtisch, ergriff ihre Jacke und wandte sich dem Ausgang zu.

„So kommen Sie mir nicht davon, Frau Severin", hörte sie noch die Stimme des Oberstaatsanwalts hinter sich.

Lindberg schlürfte genussvoll seinen Kaffee. Er brauchte den morgendlichen Wachmacher unbedingt, denn in der Nacht hatte er kein Auge zugemacht. Nach ausführlichem Studium und akribischer Bestandsaufnahme der alten Bücher in Travemünde, hatte er sich zu Hause noch am Nachmittag hinter seinen Laptop geklemmt. Er konnte sich der Faszination dieser literarischen Kostbarkeiten nicht entziehen. Eine Erstausgabe sämtlicher Schriften des Dichters Christian Fürchtegott Gellert von 1775 gehörte ebenso dazu wie auch ein Lesebuch für Kinder des Schriftstellers Karl Philipp Moritz von 1792. Doch in erster Linie konzentrierte er sich auf das Kleinste der drei Werke. Es handelte sich um den Abdruck einiger Briefe von 1784, die Katharina die Große mit dem französischen Philosophen und Dramatiker Voltaire geführt hatte. Auffällig war, dass in diesem Buch nur die ersten Briefe abgedruckt waren, während man in späteren Werken die umfassende Korrespondenz der beiden finden konnte. Zudem verfügte das Büchlein auch über zahlreiche kritische handschriftliche Randnotizen zu den Briefen Voltaires.