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Der ehemalige britische Agent Quincy Radcliffe ist die Geheimwaffe der neu gegründeten Sicherheitsfirma Stark Security. Aber hinter der professionellen Fassade verbirgt Quincy tiefe Wunden. Als er ausgerechnet die Hilfe der Frau braucht, deren Herz er einst gebrochen hat, muss er sich entscheiden. Wird er sich erneut auf sie einlassen und damit riskieren, sein dunkelstes Geheimnis zu offenbaren?
Seit Jahren versucht die Schauspielerin Eliza Tucker, Quincy Radcliffe zu vergessen. Sie war betört von seiner heftigen Leidenschaft – bis er eines Tages einfach verschwand. Als sie Jahre später auf der Suche nach ihrer vermissten Schwester unversehens in eine turbulente Top-Secret-Mission hineingezogen wird, begegnet sie ihm wieder. Die Vergangenheit hat ihn verändert, und trotzdem ist sie fest entschlossen, ihm nicht wieder zu verfallen.
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Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2020
J. KENNER
SEXY SECURITY
Betörendes Feuer
Roman
Band 1
Aus dem Amerikanischen von Emma Ohlsen
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Copyright © 2019 by J. Kenner
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Shattered With You.
Stark Security 1 bei Martini & Olive.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Diana Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Anita Hirtreiter
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: © Finepic ®, München
Herstellung: Helga Schörnig
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-23967-1V002
www.diana-verlag.de
PROLOG
Ich weiß, dass ich ihn nicht begehren sollte.
Ich wünschte, ich würde mich nicht nach ihm verzehren.
Mit jedem Tag, der verstreicht, bete ich, dass meine Sehnsucht nachlässt, aber das tut sie nicht.
Im Wachzustand kann ich den Schmerz schüren. Mich auf das konzentrieren, was tiefe Wunden gerissen hat. Leidenschaft, die ausgelöscht, Liebe, die vernichtet wurde.
Einst hatte es einen Mann gegeben, der mich begehrte. Danach blieb nur noch ein dunkler Schemen, wie ein verkohlter Schatten in der Erde nach einer nuklearen Explosion.
Im Wachzustand kann ich mich an meinen Zorn klammern.
Doch im Schlaf bin ich verloren.
Ich rede mir ein, dass mein Leben ohne ihn besser ist. Aber ich brauche ihn. Seine Fähigkeiten. Seine Hilfe.
Für mich gibt es nichts mehr. Er vereint für mich Verlangen und Furcht. Und ich kann bloß noch beten, dass ich unter der Last meiner Trauer nicht zerberste wie Glas.
KAPITEL 1
Das historische Hollywood Terrace Hotel, gebaut im Jahre 1931, war einst unangefochten die erste Adresse auf dem berühmten Boulevard. Doch wie überall forderte die Zeit ihren Tribut, und wie die Schönheit der Stars von Hollywoods goldener Ära verblasste, so verfiel auch der Art-déco-Palast zusehends, während die Backfische den Hippies und die Hippies den Babyboomern Platz machten, bis die Millennials alle überrannten und das zwanzigste Jahrhundert unweigerlich ins einundzwanzigste überging.
Auch in den ersten zehn Jahren des neuen Jahrtausends erging es dem einstigen Prachtbau nicht besser. Die bröckelnde Stuckfassade hatte ein stumpfes Grau angenommen, die Fenster waren blind und gesprungen, und im ehemals berühmten Garten wucherte das Unkraut.
Im Inneren sah es ähnlich trostlos aus. Um die leckenden Rohre wuchs der Schimmel, Ratten huschten durch die Flure und versteckten sich allenfalls vor den verwilderten Katzen, die die dunklen Winkel für sich selbst beanspruchten. Die Teppiche verrotteten, die Tapeten lösten sich, und über allem lag eine Staubschicht wie eine Decke des Verfalls.
Mit der Entschlossenheit eines bedrängten Preisboxers wehrte das Gebäude sich dagegen, zu Boden zu gehen, obwohl Wetterkapriolen, Erdbeben und die monotone Parade des Fortschritts mit ihren polierten neuen Geschäftsfronten ihm immer härter zusetzten. Als eines Tages gelbes Flatterband mit der Aufschrift Nicht betreten – Lebensgefahr! die kostbaren Ätzglastüren verunzierten, waren die Anwohner sicher, dass dem Hotel das letzte Stündlein geschlagen hatte.
Aber dann eilte die Rettung in Gestalt Scott Lassiters herbei, und es stellte sich heraus, dass die Geschichte des Hollywood Terrace doch kein Boxfilm war. Es war die Story von Aschenputtel, dem hässlichen Entlein, ein My Fair Lady für ein verwahrlostes Hotel.
Der Bauunternehmer zog alle Register und machte aus dem Hotel das Schmuckstück, das es fast ein Jahrhundert zuvor gewesen war. Er baute das Zwischengeschoss mit den ehemaligen Konferenzräumen zu seiner Büroflucht um und machte aus der kompletten obersten Etage eine Privatresidenz, in der weder Schwimmbad noch Ballsaal fehlten.
Alles, was Rang und Namen hatte, nahm an der großen Wiedereröffnungsfeier fünf Jahre zuvor teil, und Lassiter wurde von den Machern der Stadt als Held gefeiert, der sich der Erhaltung eines Denkmals aus jener Zeit verschrieben hatte, als die Filmpioniere in Südkalifornien einfielen und den Sunshine State berühmt machten. Die Party hatte weltweit Schlagzeilen gemacht; die illustre Gästeliste aus Hollywood-Stars und internationalen VIPs ergab eine Story, die sich die Medien nicht entgehen lassen konnten.
Die Party des heutigen Abends war sogar noch rauschender. Zahlreiche gutbetuchte internationale Gäste füllten den mit starken Farben und geometrischen Stilelementen penibel restaurierten Art-déco-Ballsaal; gegen die hier versammelte Finanzkraft wirkte die Gage eines Hollywood-Superstars wie ein Taschengeld. Champagner seltener Jahrgänge sprudelte aus silbernen Brunnen. Die Frauen schwebten über den Marmorboden in edlen Roben, die herzeigten, was sie an nicht materialistischen Aktivposten zu bieten hatten, und jeder Mann in einem Anzug, der weniger als 25.000 Dollar gekostet hatte, war offensichtlich ein Blender.
Doch trotz der enormen Jetset-Dichte war an diesem Abend keinerlei Presse anwesend. Keine Fotografen, die eifrig die aufregendsten Bilder schossen, um sie in der Klatschspalte unterzubringen oder auf Instagram zu posten. Nein, dies war ein intimes Get-together, das sich ausschließlich in Lassiters privatem Machtbereich abspielte.
Und die geladene Klientel war nicht nur ausgesprochen exklusiv, sondern auch handverlesen.
Quincy Radcliffe von Stark Security stand nicht auf der Gästeliste. Nicht offiziell jedenfalls. Was ihn allerdings nicht davon abhielt, dem Kellner zu winken und sich vom Tablett einen Whisky Soda zu nehmen.
Gemächlich nippte er daran, während er unbeeindruckt die Schar von Männern in Maßanzügen und teuer frisierten Frauen beobachtete, die durch Lassiters Umlaufbahn zogen, als sei er ihre Sonne.
Wir kurzsichtig sie doch waren!
Im Grunde sahen sie bloß Lassiters Macht und sein Vermögen. Sie hatten keine Ahnung, dass das enorme Bankkonto ihres Gastgebers sich weniger durch Immobiliengeschäfte gefüllt hatte, sondern vielmehr durch den Prozentsatz, den er aus Geldwäscherei und anderen dubiosen Finanzgeschäften generierte.
Scott Lassiter war ein manipulativer Mistkerl, und noch dazu kriminell. Eines Tages würde Quincy das Vergnügen haben, dafür zu sorgen, dass Lassiter die spektakuläre Aussicht aus seinem Penthouse gegen eine andere eintauschte, die jedoch durch Eisenstäbe eingeschränkt wurde.
Allerdings war das nichts, was heute Abend auf dem Programm stand. Im Augenblick war Lassiter das geringere von zwei Übeln, und wenn alles lief wie geplant, würde dieser Flachwichser ihm unwissentlich jenen Menschenhändler ans Messer liefern, um den es bei der heutigen Mission ging. Corbu. Marius Corbu.
»Er ist unglaublich, nicht wahr?«
Die gehauchte Stimme gehörte zu einer Blondine mit braunen Augen, deren glattes Haar ihr bis zur Mitte des Rückens reichte. Der sorgfältig geschnittene Pony stieß auf makellos gezupfte Brauen. Sie trug ein hauchdünnes goldfarbenes Kleid und hatte so ein gekonntes Make-up, dass sie wie ungeschminkt ausgesehen hätte, wären da nicht der schwarze Lidstrich und der dunkelrote Lippenstift gewesen, bei dem er in der Tat an reife Kirschen denken musste.
»Reden Sie von unserem Gastgeber, Mr. Lassiter?«
Sie kicherte, und der Champagner schwappte in ihrem Glas, als sie so tat, als würde sie in die Hände klatschen. »O.M.G.« – Sie sagte tatsächlich O.M.G. –, »Sie sind Brite.«
»Na, so was. Bin ich das?«
Sie lachte wieder. »Und auch noch witzig. Nein. Wie heißt das Wort? Drollig. Sie sind ja richtig drollig.« Sie legte den Kopf schief und musterte ihn. Er wusste natürlich, was sie sah. Dunkles Haar, ein schmales Gesicht, tief liegende graue Augen. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug von Ermenegildo Zegna, der mehr gekostet hatte als sein Auto, und sah laut seiner Partnerin Denise »unwahrscheinlich geil« aus.
Die Blondine schien die Meinung zu teilen, denn er konnte sehen, wie der amüsierte Blick plötzlich einem raubtierhaften Ausdruck wich. »Ich mag witzige Männer«, sagte sie. Ihre Stimme klang nun tief, rauchig. »Ein Mann, der viel lacht, macht wahrscheinlich auch andere interessante Dinge mit seinem Mund.« Sie neigte provozierend den Kopf. »Desiree. Wie heißen Sie?«
»Canton«, nannte er ihr den Namen seiner Tarnexistenz als Hedgefondsmanager aus Hongkong. »Robert Canton.«
Sie rückte näher an ihn heran, und ihr Kleid, das eben noch blickdicht war, wurde im Licht durchsichtig. Darunter trug sie nichts, und er spürte, wie sein Körper sich reflexartig anspannte, doch mit echtem Verlangen hatte das nichts zu tun. Langsam fuhr sie mit den Fingern über das Revers seines Jacketts abwärts und setzte den Weg fort, bis ihre Hand sich auf seine Erektion legte – tot war er ja schließlich nicht. Überrascht natürlich auch nicht. Auf dieser Party ging es schließlich um Sex. Bezahlten, abseitigen, anonymen Sex. Und gegen den Charme einer schönen Frau war er weiß Gott nicht immun.
Sie legte ihm die andere Hand an die Schulter und beugte sich vor, um ihm ins Ohr zu flüstern. »Tja, ich gehöre ganz Ihnen, Mr. Canton. Wie immer es Ihnen beliebt und bis die Sonne wieder aufgeht.« Sie knabberte an seinem Ohrläppchen, und flüchtig kam ihm in den Sinn, wie einfach es doch wäre. Sie war gewillt, ihm jeden Wunsch zu erfüllen – das war schließlich der Sinn des Ganzen. Und ein wenig Entspannung hätte er bitter nötig gehabt.
Manche Operationen waren härter als andere, und diese war besonders übel. Sie beherrschte sein Denken. Ließ ihn nicht mehr los. Brannte in ihm wie ein langsam wirkendes Gift. Oder eher wie eine Lunte. Brannte sie zu lange, würde er explodieren. Die finsteren Erinnerungen würden Oberwasser bekommen, das Monster konnte übernehmen, und dann …
Verdammt!
»Oh, das fühlt sich an wie ein Ja.« Sie hatte angefangen, ihn zu streicheln. »Ich war noch nie mit einem Engländer im Bett, und ich kann dir versprechen, dass ich es wert bin. Bitte sag mir nicht, dass du deinen Schlüssel schon einer anderen gegeben hast.«
Er brachte ein dünnes Lächeln zustande und entfernte behutsam ihre Hand aus seinem Schritt. »Tut mir leid, Süße. Ich bin sicher, dass du mir viel Aufregendes zu bieten hast, aber mein Schlüssel ist tatsächlich bereits einer anderen versprochen.«
»Oder auch nicht«, sagte eine weibliche Stimme in seinem Ohr. Es war die von Denise, die sich in diesem Augenblick auf dem Dach des Gebäudes auf der anderen Straßenseite befand. Und gleichzeitig in seinem Ohr. Sie hörte jedes einzelne Wort, da ihr Kommunikationssystem auf Sprechfunk geschaltet war. »Ich kann den Transmitter nicht richtig befestigen. Ich werde hier oben bleiben und ihn manuell ausrichten müssen.«
»Verdammt.«
»Was ist?«, fragte Desiree.
»Ärgerlich, dass du heute nicht in meinem Bett landest. Aber so sind die Regeln nun einmal.« Und die Regeln dieser Party wollten es, dass ein Mann seiner Erwählten den Schlüssel gab, sie in sein Zimmer ging und er die ganze Nacht mit ihr Spaß haben konnte, wie auch immer es ihm beliebte und bis die Sonne wieder aufging, wie Desiree es so treffend ausgedrückt hatte.
Aus der Perspektive der Männer war das Schöne an dieser Party, dass sie keine Niete ziehen konnten: Alle anwesenden Frauen waren hochpreisige Callgirls, die für ihre Teilnahme von Lassiter fürstlich entlohnt wurden. Denise übrigens eingeschlossen, obwohl es natürlich ihr Alter Ego Candy war, die die offizielle Gage erhielt.
Die anwesenden Herren dagegen hatten Lassiter bereits eine stattliche Summe gezahlt – vorgeblich für das Hotelzimmer. In Wirklichkeit jedoch hatten sie sich das Privileg erkauft, unter den anwesenden Damen eine Favoritin für den Abend zu finden, die anschließend jede Vorliebe, jeden Wunsch und jede Perversion befriedigte. Der Bonus dabei war die Genugtuung, Sex zu kaufen, ohne tatsächlich dafür zu bezahlen.
Quince brauchte kein Callgirl in seinem Zimmer. Er brauchte eine Partnerin, die nicht nur Wache stand, sondern auch dafür sorgte, dass der Transmitter und Lassiters Computer über einen gewissen Zeitraum miteinander verbunden blieben. Der Transmitter, mit dem Denny gegenwärtig auf dem Hausdach gegenüber zu kämpfen hatte, hatte keinerlei Nutzen, wenn der Repeater in seinem Zimmer im vierten Stock das Signal nicht auffangen und in die Büroetage weiterleiten konnte, wo Quince Lassiters Computer hacken würde.
Und obwohl Desiree vermutlich ohne Bedenken seine abartigsten Fantasien umsetzen würde, hatte er starke Zweifel, dass er ihr den Datenklau als schmutzig-schöne Perversion verkaufen konnte. Im Übrigen war sie auf der Suche nach einem anderen Schlüsselmeister bereits weitergezogen.
Wie gewonnen, so zerronnen.
»Du bist dir schon darüber im Klaren, dass das ein Problem ist, oder?«, murmelte er an seinem Glasrand, damit niemand seine Lippenbewegung sah. Dann nahm er einen tiefen Schluck, denn er hatte ihn verdammt noch mal nötig.
»Nein! Im Ernst jetzt? Bin ich froh, dass du an meiner Seite bist, um mir die Welt zu erklären.«
Er verbiss sich ein Lachen. »Ist da jemand etwas gereizt?«
»Leider siehst du’s gerade nicht, aber ich zeige dir den Stinkefinger.«
»Irgendwie habe ich nichts anderes erwartet.« Er schlenderte zum Fenster, wo es sich unauffälliger sprechen ließ, tat, als würde er Hollywood bei Nacht betrachten, und beobachtete derweil die Gäste in der Spiegelung der Scheibe. Denny hockte da draußen auf dem Dach eines alten Kaufhauses, das zu einer Bürofläche umgebaut worden war.
»Ach, was soll’s. Ich versuch’s nun einfach mit Klebeband, um das Ding so exakt wie möglich auszurichten. Ich kann gleich wieder bei dir sein. Du brauchst mich dort unten.«
Das tat er, verdammt, aber er brauchte auch die Gewissheit in Bezug auf den Transmitter. Diese Mission war Dreh- und Angelpunkt einer von der EU gesteuerten Gemeinschaftsoperation mit dem Ziel, Corbu und seinem Mädchenhändlerring das Handwerk zu legen. Stark Security hatte den Auftrag bekommen, dieses eine entscheidende Puzzleteil beizusteuern: Sie mussten sich Lassiters Kontaktdaten verschaffen, sie entschlüsseln und das Kommunikationsprotokoll an die EU-Taskforce weiterleiten.
Verpatzten sie es, würde der Ruf von Stark Security in der internationalen Geheimdienstbranche Schaden nehmen, noch ehe sie sich dort richtig etabliert hatten. Wichtiger noch aber war das Leben der vielen unschuldigen Opfer, und der Spielraum dieser einmalig günstigen Gelegenheit war ausgesprochen gering. Wie man so schön bei der amerikanischen NASA sagte: Scheitern war keine Option.
»Ich komme zu dir.« Er wusste sehr gut, dass sie mehr als kompetent war, aber er musste es wenigstens versuchen. »Vielleicht kann ich den Transmitter ja irgendwie sichern.«
»Dazu ist nicht mehr genug Zeit. Ich muss das Signal in fünfzehn Minuten auffangen und du in zwanzig in Stellung gehen. Wenn wir das Zeitfenster sprengen, können wir einpacken.«
Er zog die antike Patek-Philippe-Taschenuhr hervor, ein Erbe seines Vaters, den er kaum gekannt hatte. Da sie meisterhaft angefertigt worden war, funktionierte sie immer noch tadellos, aber es lag nicht an ihrer Genauigkeit, dass Quince sie stets wie einen Talisman mit sich führte.
Die Patek Philippe war eine Erinnerung an die Vergangenheit und eine Warnung für die Zukunft.
Sie würde ihn niemals irreleiten, und genau jetzt sagte sie ihm, dass Denny recht hatte.
Verdammter Mist.
»Also schön«, sagte er, »dann komm her.« Es war ein gewaltiges Risiko, doch der kraftvolle Transmitter war in der Lage, die riesigen Datenmengen, die die innovative Dekodierungssoftware drüben bei der SSA bedurfte, zu übermitteln und zu empfangen. Mit etwas Glück würde Dennys zurechtgebastelte Halterung dafür sorgen, dass der Transmitter genug von dem Signal auffing und an den Booster in Quincys Zimmer weiterleitete. Das Gerät funktionierte ähnlich wie ein WLAN-Router und schickte das Signal ins Innere des Hotels, wo es in die Technik eingespeist werden sollte, mit der Quince sich in Lassiters System hacken würde.
Damit das funktionierte, musste das Transmittersignal den Booster jedoch mit hundertprozentiger Genauigkeit treffen.
Wenn nicht, würde Quince statt der Top-Hacker-Software, die von Stark Applied Technology entwickelt worden war, nur Schrott empfangen.
Er wandte sich wieder dem Ballsaal zu. Er musste wissen, wo Lassiter war, damit er unbemerkt zu seinem ihm zugewiesenen Hotelzimmer im vierten Stock verschwinden konnte, ohne dass es auffiel. Da war er.
Lassiter stand in einem Grüppchen von Gästen; eine Hand lag auf dem unteren Rücken einer schlanken Frau mit langem kastanienbraunen Haar, deren Kleid hinten so tief ausgeschnitten war, dass man beinahe den Spalt am Ansatz ihres apfelförmigen Hinterteils sehen konnte. Irgendetwas kam ihm vertraut an ihr vor, aber …
Er verwarf den Gedanken als lächerlich. »Okay, ich habe Lassiter ausgemacht. Jetzt mache ich mich auf …«
Und dann drehte sie sich um, und er sah ihr Gesicht.
Und erstarrte. Erstarrte vollkommen.
Eliza? Unmöglich. Das konnte nicht sein.
»Quince?« Dennys Stimme klang alarmiert. »Was ist los? Ist was mit Lassiter? Oder hast du jemanden gesehen?«
»Ja, einen Geist.«
»Was?«
Sie musste ein Geist sein, diese Frau mit dem kastanienbraunen Haar, den himmelblauen Augen und den süßen Grübchen. Die Frau, bei deren Anblick ihm einst das Herz aufgegangen war.
Die Frau, die er auf Händen getragen hatte. Deren Duft er in seinen Träumen noch immer wahrnahm.
Jene Frau, die er mit mehr Leidenschaft geliebt hatte, als er es je für möglich gehalten hätte. Und die ihn nun mit Sicherheit mehr hasste, als er es sich vorstellen konnte.
Nie und immer konnte diese Frau an einer solchen Party teilnehmen. Niemals.
Oder doch?
Lieber Gott, in was war sie da bloß hineingeraten?
Ehe er noch eine bewusste Entscheidung treffen konnte, hatte er sich schon in Bewegung gesetzt und ging mit ausgreifenden Schritten auf sie zu.
»Was ist los? Verdammt noch mal, Quince. Ich bin auf dem Weg. Wir treffen uns in vier Minuten am Zimmer.«
Er wusste, dass er umkehren sollte. Zu viel hing von dieser Mission ab. Leben und Freiheit vieler Tausend unschuldiger in die Prostitution gezwungener Opfer, die in die Fänge der rumänischen Menschenhandelsorganisation geraten waren, standen auf dem Spiel, und das verängstigte, erst dreizehnjährige Mädchen, dessen Entführung die Taskforce zu sofortigem Handeln bewegt hatte, war vermutlich nicht das einzige Kind, das Corbu in seiner Gewalt hatte.
Das Mädchen, die Tochter des Regenten einer kleinen europäischen Monarchie, war auf einem Schulausflug gekidnappt worden. Ihr Vater hatte sich umgehend zur Leitung der Einsatzgruppe begeben und die gut gefüllten Schatztruhen des Reichs geöffnet, um die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, seine Tochter zurückzuholen und Corbus Organisation das Handwerk zu legen.
Quince schauderte, als er das Bild eines anderen jungen Mädchens vor seinem geistigen Auge sah. Shelley. Das grenzenlose Vertrauen in ihren Augen. Das erstickte Schluchzen. Und seine eigenen hilflosen Schreie, als der reißende Schmerz ihn durchfuhr und die Welt um ihn herum zusammenbrach.
Und in diesem Moment wusste er, was er zu tun hatte.
»Bleib auf dem Dach«, befahl er Denny.
»Was? Aber …«
»Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue.«
Er war damals zu schwach gewesen, um Shelley zu retten.
Er hatte sie im Stich gelassen. Ja, verflucht, er hatte auch sich selbst im Stich gelassen.
Noch einmal würde das nicht geschehen.
Selbst wenn das bedeutete, Eliza Tucker in diesen wahnwitzigen Plan mit hineinzuziehen.
KAPITEL 2
Er fasst mich an.
Dieser schmierige, schleimige Fiesling hat es tatsächlich gewagt, mir die Hand auf den unteren Rücken zu legen und mit dem Daumen über meine Haut zu streichen. Unverschämt und übergriffig. Einfach widerlich.
Und meine eigene Schuld.
Ich musste meinen Busen ja in dieses viel zu enge Kleid zwängen. Und Scott Lassiters Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Und jetzt sieht es so aus, als müsste ich auch noch eine Nacht mit ihm ertragen, wenn ich nicht riskieren will, dass meine Deckung auffliegt.
Meine Deckung.
Die Ironie der Sache entgeht mir nicht. Mein ganzes bisheriges Leben lang ist meine Schwester Emma meine Beschützerin gewesen. Wie ein Schutzengel stand sie stets zwischen mir und den Gefahren dieser Welt, ob es sich um gemeine Lehrer, Kleinkriminelle auf der Straße oder unseren eigenen Dreckskerl von Vater handelte. Sie war stets zur Stelle und tat, was immer nötig war, um mich zu beschützen.
Und nun bin ich hier inmitten einer Situation, die ich nicht ganz durchschaue, und gebe vor, meine Schwester zu sein. Oder genauer: Ich gebe vor, meine Schwester zu sein, die vorgibt, ein Callgirl zu sein.
Zum Glück schlage ich mich schon mein halbes Leben lang mehr oder weniger erfolgreich als Schauspielerin durch. Mit ganz unterschiedlichen Engagements. Werbung, Laientheater, hier und da mal eine Soap für eine längere Zeitspanne oder kleine Casts in Kinofilmen, die in New York gedreht werden.
Ich habe noch nie versucht, eine Serienrolle oder einen Langzeitvertrag an einem Theater zu ergattern. Das reizt mich nicht. Ich will Erfolg, klar. Aber ich finde die Vielfalt faszinierend. Denn je öfter ich mich im Leben einer anderen Person zurechtfinden muss, umso weniger muss ich mich mit meinem eigenen beschäftigen.
Weswegen ich als Chamäleon verdammt gut bin. Was wahrscheinlich der einzige Grund dafür ist, dass noch niemand wie in Die Körperfresser kommen mit dem Finger auf mich gezeigt und gekreischt hat, dass ich eine Betrügerin sei, die hier nichts zu suchen hat.
Obwohl es ja stimmt. Absolut.
Und wenn Emma herausfindet, dass ich mich nicht nur als sie ausgebe, sondern auch noch in Gefahr gebracht habe, wird sie fuchsteufelswild werden. Doch das stört mich gar nicht. Denn fuchsteufelswild bedeutet, dass sie noch am Leben ist. Ja, ich will, dass sie tobt, mich anbrüllt, mit mir schimpft. Denn die Alternative ist zu schrecklich, als dass ich auch nur daran denken will.
Ich hole tief Luft. Seit exakt vierundzwanzig Stunden – seit ich kapiert habe, dass sie verschwunden ist – beherrscht meine Sorge um Emma mein Denken, aber ich muss mich zusammenreißen, da ich momentan sehr viel unmittelbarere Probleme habe. Zum Beispiel muss ich mich von diesem Perversling befreien, der beschlossen hat, dass ich heute Nacht ihm gehöre. Schließlich ist jede Minute, die ich an Scott Lassiter verschwende, eine, die ich nicht nach Antworten suchen kann.
Ich trete vorsichtig von einem Fuß auf den anderen, um mich im Saal umzusehen. Ich habe keine Ahnung, wie meine Kontaktperson aussieht.
Laut Emmas Partner hat sich ein anonymer Informant ein paar Tage vor ihrem Verschwinden bei ihr gemeldet. Er habe sich Mr. X genannt und ihr brisantes Material zu einem Fall versprochen, an dem sie gerade arbeitet, sofern sie sich mit ihm hier auf dieser Party träfe.
»Hätte eine Ecknische bei McDonald’s es denn nicht auch getan?«, hatte ich gefragt.
Ein breites Grinsen hatte sich auf Lorenzos rotem Gesicht ausgebreitet. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, schob ein Büschel Haar zur Seite und enthüllte dabei versehentlich die immer größer werdende kahle Stelle. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht zur Debatte stand, Kleines.«
Bei dem Kosenamen verschränkte ich die Arme vor der Brust, aber so brauchte ich Lorenzo natürlich nicht zu kommen. Wir kennen uns, seit ich neun Jahre alt gewesen und er in Venice Beach auf Streife gegangen war und bereitwillig weggeschaut hatte, wenn er Emma und mich wieder einmal schlafend in einem verlassenen Auto ertappt hatte.
Jedenfalls wusste Lorenzo nicht viel mehr, als dass Emma an einem ihrer Pro-bono-Fälle arbeitete. Nach fast zehn Jahren im Dienst der Regierung ist sie vor wenigen Jahren ausgestiegen, um als Privatermittlerin weiterzumachen. Ihr Hauptanliegen ist es, Ausreißern oder gefährdeten Kindern zu helfen, und Lorenzo wusste zu berichten, dass sie über irgendeine groß angelegte Ausbeutungsgeschichte gestolpert ist, die in Foren des Darknet organisiert wird.
»Ich vermute, dass Mr. X irgendwie beteiligt ist, aber aussteigen will«, hatte Lorenzo gesagt.
»Und deshalb hat er Emma kontaktiert und ein Treffen arrangiert«, folgerte ich. »Aber bevor es geschehen konnte, haben die echten Schurken erkannt, dass sie in den Foren herumschnüffelte. Sie haben irgendwie herausgefunden, wer sie ist, und sie sich geschnappt.«
»Genau. So sieht es für mich auch aus.«
Es schnürte mir die Kehle zu, als ich mich zwang, die nächsten Worte auszusprechen. »Denkst du, dass … glaubst du, sie haben sie getötet?«
Er blickte mich traurig an. »Ich hoffe nicht.«
»Ich muss zur Polizei.«
»Und was sollen die tun? Zuerst wird es heißen, dass du warten sollst. Ihre Wohnung sieht ziemlich ordentlich aus …«
»Jemand war dort!«, sagte ich im Brustton der Überzeugung.
»Das sagst du. Es ist nichts durchwühlt worden. Du behauptest, dass ihre Sachen anders angeordnet sind, aber das muss ja nicht unbedingt etwas Schlimmes heißen. Letztendlich weißt du nur, dass sie weg ist und dir nicht Bescheid gesagt hat. Aber sie ist erwachsen. Sie kann sich einfach eine Auszeit genommen haben. Mit einem Mann verreist sein. Beschlossen haben, endlich mal Angeln zu fahren.«
»Sie sagt mir immer, wohin sie geht. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.« Sie hat mir so vieles erzählt, was sie eigentlich für sich hätte behalten müssen. Mir Informationen gegeben, die gefährlich werden könnten, wenn jemand davon erführe.
Nein. So etwas Wichtiges würde sie mir nicht vorenthalten.
»Soweit ich weiß, solltest du eigentlich gerade auf irgendeinem Kreuzfahrtschiff sein«, sagte Lorenzo, als ich ihn darauf hinwies. »Emma meinte, du hättest ihr gesagt, sie solle nicht versuchen, dich anzurufen, aber du würdest dich in regelmäßigen Abständen melden.«
Ich schnitt eine Grimasse. Er hatte natürlich recht. So war es geplant gewesen, nur war nichts daraus geworden.
Ich hatte eine Rolle in einem Bordmusical ergattert. Ein Vierteljahr auf See, Stopps in unterschiedlichen Hafenstädten, drei Monate gestaffelt in ein- bis zweiwöchige Fahrten mit jeweils neuen Passagieren. Ganze drei Monate ohne Menschen aus meiner Vergangenheit, stattdessen unterwegs mit Fremden, die kein Teil meiner Zukunft werden würden. Es hatte sich himmlisch angehört, und ich hatte das Angebot sofort angenommen.
Doch dann cancelte die Reederei das Musical und ersetzte die Show durch einen einzelnen Komiker. Budgetkürzungen. Und ich war nicht nur plötzlich arbeitslos, sondern wusste auch nichts mit meiner Zeit anzufangen.
Weswegen ich beschlossen hatte, nach L. A. zu fliegen, um meine Schwester zu besuchen.
Doch Emma war nicht da.
»Sie hätte wenigstens eine Mail geschickt, wenn sie kurzfristig Urlaub genommen hätte«, sagte ich. »Das weißt du.« Emma und ich sind mehr als bloß Schwestern. Sie hat mich praktisch aufgezogen. Und seit jenem schrecklichen Tag, an dem sie mich aus dem Haus gezerrt hat, das wirklich niemals ein richtiges Zuhause für uns gewesen war, verbündeten wir uns stets gemeinsam gegen den Rest der Welt.
Lorenzo nickte traurig. »Ich weiß es. Du weißt es. Die Polizei aber nicht. Wenn du Hilfe bekommen willst, musst du schon mehr in der Hand haben. Müssen wir schon mehr in der Hand haben. Meinst du etwa, ich mache mir keine Sorgen? Hier geht es ja schließlich um Emma. Die wie eine Tochter für mich ist. Genau wie du.«
»Und du glaubst, dieser Mr. X weiß etwas?«
»Zumindest ist er die einzige Spur, die wir haben. Ich würde ja auf diese Party gehen, aber ich fürchte, in einem tief ausgeschnittenen Ballkleid will mich keiner sehen.«
Er hatte ja recht. Und nicht nur, was seine Erscheinung im Fummel betraf.
Entweder ging ich zu dieser Party oder ich vergeudete möglicherweise wertvolle Zeit, bis die Cops bereit waren, etwas zu unternehmen.
So betrachtet hatte ich gar keine Wahl. Emma steckte offensichtlich in Schwierigkeiten, und das war alles, was im Augenblick zählte. Denn das Einzige, was für mich zählt, ist sie. Nun, sie und Lorenzo. Die beiden sind alles, was ich habe. Was ich je hatte.
Es hat eine Zeit gegeben, als ich glaubte, es gäbe noch jemand anderen. Quincy Radcliffe, finster und exzentrisch, zärtlich und sinnlich, strahlte eine Intensität aus, die mich wie ein Magnet anzog, und seine Stärke faszinierte mich. So sicher wie in seinen Armen hatte ich mich nicht mehr gefühlt, seit ich Emma und Los Angeles verlassen hatte. Und aus diesen Gründen schloss ich den Stahlkäfig um mein Herz auf und ließ ihn ein.
Wir waren fast drei Monate zusammen, und in dieser Zeit öffnete ich mich ihm vollkommen. Ich erlaubte mir, ihn mit allem, was ich hatte, zu lieben, und ich war sicher, dass auch er mich liebte.
Was ein schwerer Fehler war.
Denn am Ende war ich im wahrsten Sinne des Wortes am Boden zerstört.
Und das werde ich ihm niemals verzeihen.
Aber ich muss ihm tatsächlich auch dankbar sein. Da ich in jenem Frühling in London eines begriffen habe. Ich hatte damals gedacht, dass ich mich vielleicht ändern konnte. Dass der Schutzwall, den ich um mich herum errichtet hatte, nicht für ewig dort bleiben musste. Dass ich ihn Stück für Stück abtragen konnte, um einen anderen Menschen in mein Herz zu lassen.
Durch Quince wollte ich es versuchen. Durch ihn schöpfte ich Hoffnung.
Doch sein Verrat hat mich gelehrt, dass ich den Schutzwall brauche. Weil ich darin in Sicherheit bin.
In diesen Mauern lebt außer mir nur Emma. Und Lorenzo.
Bloß die beiden.
Sie sind alles, was ich habe.
Deswegen befinde ich mich hier in dem Art-déco-Ballsaal des restaurierten Hollywood Terrace Hotel.
Deswegen habe ich Mr. X’ Anweisungen für dieses Treffen minutiös befolgt. Und deswegen tue ich so, als gehörte ich zu den vielen Callgirls, die für diesen Abend engagiert worden sind. Wie abgesprochen trage ich das äußerst knappe schwarze Kleid und ein rotes Band ums Handgelenk, damit Mr. X weiß, wer jene Frau ist, die im Netz unter dem Spitznamen BAB firmiert. Nur dass es sich statt Emma um mich handelt.
BAB steht für Bad Ass Bitch, obwohl ich vermutlich die Einzige bin, die das weiß. Und leider fühle ich mich im Augenblick ganz und gar nicht nach dem, was der Name suggeriert. Denn ein knallhartes Miststück wüsste wahrscheinlich, wie man einen Kerl loswird, der wie eine Klette an einem klebt. Ich dagegen bin ratlos.
Andererseits sollte ich wohl in meiner Rolle bleiben. Immerhin heiße ich Bunny, und wer Bunny heißt, ist nicht knallhart. Im Gegenteil: Bunnys lassen sich auf Kommando auf die Knie sinken oder spreizen die Beine. Ich weiß, was Bunnys sind, weswegen ich nicht scharf darauf bin, heute Abend mein Schauspieltalent auszureizen.
Vielleicht wäre das anders, wenn ich als Amber oder Domino oder Serena hier wäre und eine Reitgerte schwingen würde. Ja, ich könnte mir vorstellen, dann ganz in meiner Rolle aufzugehen und die knallharte Schlampe herauszukehren. Aber so ist es nicht – ich bin Bunny, und basta!
Schon okay, denn so, wie es hier aussieht, herrschen die Bunnys vor. Weit und breit keine Serena.
Mit anderen Worten: Ich habe eine Welt betreten, die ganz und gar von Männern regiert wird. Reiche, mächtige, herrische Männer mit finsteren Vorlieben und gefährlichen Wünschen.
Oh, Emma, in was bist du da bloß hineingeraten?
Diese Frage stelle ich mir schon, seit Lassiter ein Auge auf mich geworfen hat, was prompt geschah, als ich das Penthouse betrat. Zuerst dachte ich, er habe mich durchschaut, doch als er später eine Bemerkung zu meinem ungewöhnlichen Armschmuck – das rote Band – machte, war ich unendlich erleichtert, nahm ich doch an, dass er der mysteriöse Mr. X war. Dummerweise musste ich bald erkennen, dass er mich einfach nur in seinem Bett haben wollte.
Und jetzt hänge ich hier fest, obwohl ich mich unter die Gäste mischen muss. Ich muss nach Gläsern auf den Tabletts der Kellner greifen, damit Mr. X genügend Möglichkeiten hat, das rote Band zu sehen. Leider Gottes ist weibliche Autonomie heute nicht das Gebot der Stunde, und wenn Lassiter mich an seiner Seite will, werde ich dort wohl bleiben müssen, bis er geruht, mich gehen zu lassen.
Verdammt.
»Tatsächlich entwickeln wir gerade ähnliche Restaurierungsprojekte in Chicago, Houston und Manhattan«, sagt Lassiter gerade zu irgendeinem milliardenschweren Kerl mit starkem italienischem Akzent, der wissen wollte, ob Lassiter vorhat, mit seinem »Geschäftsmodell« zu expandieren. Da mich das ganze Szenario hier anwidert, blende ich die Stimme aus, nur um zusammenzuzucken, als ich meinen Namen höre. Oder besser, meinen Nuttennamen.
»… wie Bunny hier.«
»Verzeihung – wie bitte?«
Lassiter lächelt nachsichtig und drückt meinen Hintern. Leider darf ich ihm keine scheuern, denn das entspräche definitiv nicht meiner Rolle. »Ich sagte Mr. Scutari gerade, dass alle Frauen auf meinen Soirées entzückend sind. Aber einige von ihnen haben etwas Besonderes, eine seltene Ausstrahlung.« Er schiebt mir eine Strähne hinter das Ohr, und ich muss mich zusammenreißen, um zu lächeln statt zurückzufahren. Nicht dass ich rein und brav wie ein Engel wäre – weit davon entfernt. Schließlich gehe ich mit manchen Männern ins Bett, mit anderen dagegen nicht.
Lassiter gehört in die »Nicht«-Kategorie. Ich kann nur beten, dass Mr. X mich bald findet. Ich hätte sogar nichts dagegen, wenn eines dieser verheerenden Erdbeben sich ereignen würde, vor denen in dieser Gegend immer gewarnt wird, solange es Lassiter davon abhält, mir seinen Schlüssel in die Hand zu drücken und mich Richtung Zimmer zu schicken. Denn ich bin ziemlich sicher, dass der Kerl es bisher nur deshalb noch nicht getan hat, weil er der Gastgeber ist und aus Höflichkeit wartet, bis jeder Gast sich eine Frau ausgesucht hat.
Ich erwarte, dass Lassiter weiterhin von der Qualität seiner Ware schwärmt, doch tatsächlich wendet sich das Gespräch dem internationalen Finanzmarkt zu, als sei das hier eine x-beliebige Cocktailparty und ich bloß seine pflichtbewusste Freundin.
Die ganze Situation hat etwas höchst Surreales, und mir drängt sich langsam der Verdacht auf, dass es ein Fehler war herzukommen. Ich weiß noch immer nicht mehr über Emmas Verbleib, und mit jeder Minute, die verstreicht, wächst das Risiko, in Lassiters Bett zu landen. Mir war natürlich von vornherein klar, dass die Gefahr bestand. Aber ich bin davon ausgegangen, dass Mr. X mich vorher abfangen und vermeintlich zu einem mehr oder weniger ausgedehnten Techtelmechtel mit in sein Zimmer nehmen würde, um dann aber in Wirklichkeit mit mir darüber zu reden, wo meine Schwester sich aufhält und wie wir ihr helfen können.
Wo in aller Welt ist dieser Kerl also?
Um dem Gedanken mehr Nachdruck zu verleihen, wende ich mich um, um den Saal zu überblicken. Lassiters Hand bleibt auf meinem Rücken, und ich muss mich beherrschen, um keine Grimasse zu schneiden. Ich bin so sehr darauf konzentriert, mich nicht aus seinem Griff zu befreien, dass ich kaum wahrnehme, was um mich herum geschieht.
Was erklärt, warum ich nicht sofort realisiere, wer da mit ausgreifenden Schritten quer durch den Raum auf uns zukommt.
Quincy Radcliffe.
Der Mann, der mich verlassen und mir das Herz gebrochen hat.
Plötzlich ist mein Mund wie ausgetrocknet, und ich habe Herzklopfen.
Meine Hand prickelt; am liebsten würde ich zuschlagen. Doch als unsere Blicke sich begegnen, flehe ich ihn nur stumm an, nicht meinen Namen auszusprechen.
Und dann begreife ich.
Mit einem Schlag wird mir alles klar.
Quincy Radcliffe ist der Grund, warum ich hier bin. Mein Quincy ist Mr. X.
Und jetzt?
KAPITEL 3
Während er sich nähert, mustere ich sein Gesicht. Suche nach einem Anzeichen von Schuld. Einem Hauch von Reue.
Aber da ist nichts. Er könnte auch eine Statue sein, denn seine Miene ist vollkommen ausdruckslos. Wenn ich es nicht besser wüsste, müsste ich annehmen, dass er mich nicht erkannt hat.
Doch das hat er.
Drei wundervolle Monate lang war Quincy Radcliffe mein Ein und Alles. Mein Held. Mein Ritter. Er war an meiner Seite, focht mit meinen Dämonen und rang mit meinen Ängsten, und ich gab mich ihm mit Haut und Haaren hin. Ich ließ sogar eine gewisse Hoffnung zu.
Er war die Liebe meines Lebens. Mein Herz und meine Seele.
Der Mann, der mich zum Lachen brachte, mein Verlangen weckte, mein Vertrauen hatte und meine Geheimnisse teilte.
Er kannte mich besser als jeder andere Mann zuvor und danach und schlug mir eine tiefere Wunde, als es ein anderer jemals tun könnte.
Am liebsten würde ich Lassiter meinen Arm entreißen. Auf den Stilettos aus dem Ballsaal laufen und alles vergessen – Quincy, Mr. X, Emma, mich selbst.
Aber das geht nicht. Und während ich diesem verdammt attraktiven Mistkerl, der auf mich zukommt, entgegenblicke, tut sich der Boden unter mir auf und ich stürze vier Jahre zurück in die Vergangenheit … und mitten hinein in die Zeit, die ich so gerne vergessen möchte.
Als mein Flug in Heathrow landete, war ich so aufgeregt gewesen über die Aussicht, ein halbes Jahr in England zu leben. Ich war Teil einer einzigartigen Impro-Company, die moderne Versionen klassischer Shakespeare-Stücke aufführte. Bei dem Gedanken daran, jeden Abend eine andere Rolle zu spielen und mich kreativ austoben zu können, war mir das Herz aufgegangen. Das Engagement sollte fünf Monate dauern, danach wollte ich mir die restliche Zeit alles ansehen, ehe ich nach Manhattan zurückkehren und dort im Anschluss eine kleine Rolle als Mordopfer in einer beliebten TV-Serie übernehmen würde.
Tja, wie so oft im Leben kam es anders. Unsere Vorführung wurde schon nach einer Woche eingestellt, wodurch ich plötzlich ohne Einkommen in einem fremden Land hockte. Ich überlegte, wieder nach Hause zu fliegen; zwar hatte ich auch da nicht sofort wieder Arbeit, aber wenigstens wusste ich, wie Casting-Termine in New York abliefen, und kannte die besten Zeitarbeitsfirmen.
Emma war wie immer meine Rettung in der Not. Sie rief mir in Erinnerung, dass ich meine Wohnung für das halbe Jahr schließlich mit einem britischen Autor getauscht hatte, der in New York sein gegenwärtiges Projekt beendete, was bedeutete, dass ich zu Hause kein Dach über den Kopf hatte. »Du hast die Wohnung in London doch schon. Das Einzige, was dir fehlt, ist eine Finanzspritze, um über die Runden zu kommen.«
Da sie aber genau wusste, dass ich kein Geld von ihr nehmen würde, bot sie mir an, aus der Ferne für Lorenzo und sie das Backoffice zu organisieren. Es war natürlich fast geschenktes Geld, aber eben doch nicht ganz, denn den beiden fehlte es an strukturellem Talent. Sie hatten keine Probleme damit, Informationen aller Art zu scannen, runterzuladen, abzufotografieren oder einzutippen, aber dann blieb das ganze Zeug einfach auf der Festplatte liegen. Mein Job war es nun, aus dem ganzen Durcheinander Wichtiges zu extrahieren und in verschiedene Ordner zu archivieren. Mir machte es Spaß, und Lorenzo und Emma war ich eine echte Hilfe.
Folglich lebte ich erwerbstätig in der britischen Metropole und hatte genügend Freizeit, um die Stadt zu erkunden und so zu tun, als sei ich Londonerin oder eine entlaufene Millionenerbin – oder eine Reisefotografin, denn ich knipste mit meiner uralten Canon, was das Zeug hielt.
Und tatsächlich war es auch meine Kamera, die mich mit Quincy bekannt machte.
Es war ein ungewöhnlich warmer Tag im März, der zehnte Tag, den ich in England war, und außerdem mein vierundzwanzigster Geburtstag. Da ich niemanden vor Ort kannte, mit dem ich ihn hätte feiern können, wanderte ich auf der Suche nach schönen Motiven mit meiner Kamera durch London. Gegen Mittag fotografierte ich die Enten im Hyde Park – niedliche Tierfotos konnte man schließlich nie genug haben –, und wich gerade, die Linse vor dem Auge, langsam zurück, um den richtigen Rahmen zu finden. Gleichzeitig ging Quincy telefonierend hinter mir den Weg entlang und nippte an seinem Kaffee. Er blickte zu Boden, ich ging rückwärts und – Bumm! – war sein gestärktes weißes Hemd mit Kaffee durchtränkt.
»Was soll das?!«, brüllte er, blickte aber sofort zerknirscht drein, als ich mich umdrehte und total verlegen auf sein Hemd starrte. »Oh, verdammter Mist, es tut mir leid.«
»Nein, nein. Es war mein Fehler. Ich … na ja, ich fürchte, die Enten sind schuld.«
»Ah. Ich hab mir schon immer gedacht, dass sie etwas im Schilde führen. Sie haben so einen komischen Zug um den Schnabel.«
Ich nickte weise und freute mich, dass ein derart attraktiver Kerl meinen Sinn für Humor teilte. »Genau. Sehen Sie nur, wie sie da auf dem Teich herumtreiben und total unschuldig tun. Aber wir beide wissen Bescheid. Wir durchschauen die Fassade aus kuschelweichen Daunen und lustigem Quaken und erkennen das verschlagene Entenwesen dahinter.«