Süßer Tod - Sandra Brown - E-Book
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Süßer Tod E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Wenn aus tiefer Abneigung ein Feuer der Leidenschaft erwacht …

Britt Shelley wird aus der unbeschwerten Leichtigkeit ihres Seins gerissen und des Mordes an ihrem Ex-Liebhaber verdächtigt. Schnell ins Visier der Polizei geraten, sieht sich Britt mit jedoch noch gefährlicheren Gegnern konfrontiert. Allen voran der Ex-Feuerwehrmann Raley Gannon. Er war es, der bei dem Feuer damals Verdächtiges fand – und dann alles verlor. Seitdem sinnt er auf Rache und kidnappt Britt, um sie zu verhören. Doch sie werden gemeinsam zum Ziel von sehr mächtigen Feinden …

Wenn perfekte Harmonie mit einem Schlag vernichtet oder ein Leben durch genüsslich langsame Rache Schritt um Schritt zerstört wird, dann stecken Sie mittendrin in einem spannenden Thriller von Sandra Brown!

„Niemand schreibt so fesselnd, wie Sandra Brown!“ (Publishers Weekly)

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Seitenzahl: 683

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Buch

Vor fünf Jahren stieß der Feuerwehmann Raley Gannon bei Ermittlungen eines verheerenden Brandes auf Ungereimtheiten. Kurze Zeit später passierte das Unvorstellbare: Nach einer Party wurde eine junge Frau tot neben ihm im Bett gefunden, und Ralye konnte sich an nichts mehr erinnern ...

Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Die Journalistin Britt Shelley erwacht ohne Erinnerung neben einen toten Polizisten. Raley glaubt nicht an einen Zufall, denn ausgerechnet Britt hatte damals mit einer Rufmordkampagne seine Karriere und seine Verlobung ruiniert ... Er entführt Britt und schwört, nicht eher Ruhe zu geben, bis die dubiosen Machenschaften geklärt sind. Die beiden verbindet eine tiefe Abneigung, doch bald fachen der dramatische Wettlauf mit ihren zahlreichen Gegnern und die Suche nach der Wahrheit ein leidenschaftliches Feuer an ...

Autorin

Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman Trügerischer Spiegel auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher Spitzenplätze auf den Bestsellerlisten erobert. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Weitere Informationen finden Sie unter www.sandra-brown.de

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorinWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Copyright

18. Juni 2007Für die tapferen Neun

Prolog

Gott sei Dank schlief er noch tief und fest.

Aufzuwachen und zu entdecken, dass sie mit Jay Burgess im Bett lag, war schon peinlich genug, da wollte sie ihm nicht auch noch ins Gesicht sehen müssen. Wenigstens nicht, bevor sie Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln.

Zentimeter um Zentimeter schob sie sich an die Bettkante und schlüpfte unter der Decke hervor, um ihn nicht aufzuwecken. Am Matratzenrand setzte sie sich auf und schielte über ihre Schulter. Aus dem Lüftungsschlitz über dem Bett blies ein kalter Luftzug, unter dem sich die Härchen an ihren Armen aufstellten. Obwohl Jay nackt und nur bis zur Taille zugedeckt war, hatte ihn die Eiseskälte nicht geweckt. Ganz behutsam verlagerte sie ihr Gewicht vom Bett auf ihre Füße und stand auf.

Der Raum kippte zur Seite weg. Um nicht ihrerseits umzukippen, streckte sie instinktiv die Arme aus. Ihre Hand traf mit einem Klatschen auf der Wand auf, das wie ein Schellenschlag durch das stille Haus hallte. Ohne sich noch groß darum zu kümmern, ob sie Jay aufweckte, sondern nur noch fassungslos, wie viel sie gestern Abend getrunken hatte, atmete sie an die Wand gelehnt durch und fixierte einen festen Punkt, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

Wie durch ein Wunder hatte sie Jay mit ihrer Tollpatschigkeit nicht aufgeweckt. Sie erspähte ihren Slip, schlich zum Fußende des Bettes, holte ihn und arbeitete sich dann auf Zehenspitzen durch den Raum, um ihre übrigen Sachen einzusammeln, die sie züchtig an ihre Brust presste, auch wenn das unter den gegebenen Umständen eher lächerlich war.

Der Bußgang. Der Begriff aus dem College passte. Er bezeichnete Studentinnen, die sich nach einer Nacht mit einem Mitstudenten aus dessen Zimmer stahlen. Sie war längst übers Collegealter hinaus und außerdem Single, genau wie Jay, weshalb beide nach Belieben miteinander schlafen konnten, wenn sie sich dazu entschlossen.

Wenn sie sich dazu entschlossen.

Der Nebensatz peitschte ihr ins Genick wie ein straff gezogenes Gummiband.

Plötzlich wich das Entsetzen darüber, in Jays Bett aufgewacht zu sein, der erschreckenden Erkenntnis, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie dort hineingeraten war. Sie glaubte nicht, dass sie irgendwann den bewussten Entschluss gefasst hatte, mit ihm zu schlafen. Sie konnte sich nicht erinnern, Pro und Kontra abgewogen zu haben und zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass das Pro überwog. Sie konnte sich auch nicht erinnern, so lange umworben worden zu sein, bis die Vernunft von schierer Lust erdrückt worden war. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, im Geist mit den Achseln gezuckt und gedacht zu haben: Was soll’s? Wir sind erwachsen.

Sie konnte sich an überhaupt nichts erinnern.

Sie drehte eine langsame Pirouette und nahm dabei den Schnitt und die Einrichtung des Zimmers in sich auf. Es war ein angenehmer Raum, geschmackvoll möbliert und auf einen allein lebenden Mann zugeschnitten. Aber nichts hier drin kam ihr bekannt vor. Gar nichts. Es war, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.

Offenbar waren sie tatsächlich in Jays Wohnung; hier und da standen Bilder von ihm, größtenteils Ferienschnappschüsse mit verschiedenen Freunden beiderlei Geschlechts. Sie war ganz sicher noch nie in diesem Raum oder in diesem Haus gewesen. Sie hätte nicht einmal die Adresse gewusst, obwohl sie eine vage Erinnerung daran hatte, dass sie zu Fuß hierher gegangen war – aber von wo aus?

Genau, aus dem Wheelhouse. Dort hatte sie sich mit Jay auf einen Drink getroffen. Er hatte schon einiges intus gehabt, als sie angekommen war, aber das war nicht ungewöhnlich. Jay trank gern und vertrug erstaunlich viel Alkohol. Sie hatte ein Glas Weißwein bestellt. Anschließend hatten sie geplaudert und sich gegenseitig erzählt, was es Neues gab.

Dann hatte er gesagt… Als ihr wieder einfiel, was er ihr erzählt hatte, überlief sie eine Gänsehaut, die nichts mit der Kälte im Zimmer zu tun hatte. Die Hand auf den Mund gepresst, um ein leises Aufstöhnen zu unterdrücken, drehte sie sich zum Bett um. Sie hauchte ein bekümmertes »O Jay« und wiederholte damit die Worte, die sie ausgestoßen hatte, als er ihr gestern Abend die grauenvolle Neuigkeit eröffnet hatte.

Können wir zu mir gehen und dort weiterreden?, hatte er gefragt. Ich bin inzwischen umgezogen. Eine alte Tante ist gestorben und hat mir ihre weltlichen Güter hinterlassen. Einen Haufen Porzellan, Kristall, antike Möbel, lauter alten Krempel. Ich habe alles zu einem Antiquitätenhändler geschleppt und mir von dem Erlös ein Haus in der Stadt gekauft. Gleich hier in der Nähe.

Er plauderte fröhlich weiter, so als hätten sie nur über die nahende Hurrikan-Saison gesprochen, dabei hatte seine Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen. Grauenvoll. Nicht zu glauben. Es hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. War ihr Mitgefühl schließlich in ein anderes Gefühl umgeschlagen? Erklärte das die Liebesnacht?

Mein Gott, warum konnte sie sich nicht erinnern?

Auf der Suche nach Antworten und nach ihren restlichen Kleidern schlich sie weiter ins Wohnzimmer. Ihr Kleid und ihre Strickjacke lagen zusammengeknüllt auf einem Sessel, ihre Sandalen standen auf dem Boden. Auf dem Tisch vor dem Sofa sah sie eine offene Flasche Scotch und zwei Gläser. In der Flasche war nur noch ein Fingerbreit Flüssigkeit. Die Sofakissen waren eingedellt und verrutscht, so als hätte sich jemand darauf herumgewälzt.

Offenbar sie und Jay.

Im nächsten Moment lief sie ins Schlafzimmer zurück und weiter in das dahinter liegende Bad. Sie drückte lautlos die Tür zu, aber diese Vorsichtsmaßnahme war angesichts der Tatsache, dass sie schon Sekunden später würgend über der Toilette hing, überflüssig. Ihr Magen wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt und stieß scheinbar literweise Scotch aus. Sie war noch nie eine große Scotch-Trinkerin gewesen, aber jetzt würde sie nie wieder einen Tropfen von diesem Gift anrühren, so viel stand fest.

In dem Spiegelschrank über dem Waschbecken stöberte sie etwas Zahnpasta auf, drückte sie auf ihren Zeigefinger und versuchte, den Schmutzfilm und den schlechten Geschmack von den Zähnen zu massieren. Danach fühlte sie sich zwar besser, aber immer noch so schmutzig, dass sie unbedingt duschen wollte. Wenn sie sauber war, würde sie Jay selbstbewusster gegenübertreten können, und die Exzesse der letzten Nacht wären ihr nicht mehr ganz so peinlich.

Die Duschkabine war bis unter die Decke gefliest und mit einer fest montierten Regendusche ausgestattet. Direkt unter dem Pseudoregen stehend, seifte und spülte sie sich mehrmals ab. Besonders sorgsam und gründlich wusch sie den Bereich zwischen ihren Beinen. Sie shampoonierte sich auch die Haare.

Nachdem sie fertig geduscht hatte, verlor sie keine unnötige Zeit. Bestimmt hatte ihn der Lärm, den sie veranstaltet hatte, inzwischen aufgeweckt. Sie zog sich wieder an, glättete ihr Haar mit seiner Bürste, holte tief Luft, um ihren ganzen Mut zusammenzunehmen, und riss die Badezimmertür auf.

Jay schlief immer noch. Wie war das möglich? Er war ein trainierter Trinker, offenbar hatte die vergangene Nacht sogar ihm zugesetzt. Wie viel Scotch war in der Flasche gewesen, als sie zu trinken angefangen hatten? Hatten sie tatsächlich zu zweit einen knappen Liter geleert?

Allem Anschein nach. Warum konnte sie sich sonst nicht erinnern, wie sie sich ausgezogen hatte und mit Jay Burgess ins Bett gehüpft war? Sie hatten vor Jahren eine kurze Affäre gehabt, die aber schnell erkaltete und geendet hatte, bevor sie sich zu einer echten Beziehung auswachsen konnte. Beide waren mit ungebrochenem Herzen daraus hervorgegangen. Es hatte keine Szene gegeben, keiner hatte offiziell Schluss gemacht. Sie hatten einfach aufgehört, miteinander auszugehen, und waren dennoch Freunde geblieben.

Nichtsdestotrotz hatte Jay, der charmante und unverbesserliche Jay, jedes Mal versucht, sie ins Bett zu locken, wenn sich ihre Wege gekreuzt hatten. »Man kann auch nur befreundet sein und trotzdem hin und wieder miteinander in die Kiste gehen«, hatte er ihr mit seinem verführerischsten Lächeln versichert.

Sie sah das anders, und genau das hatte sie ihm immer erklärt, wenn er sie überreden wollte, um der alten Zeiten willen bei ihm zu übernachten.

Gestern Nacht hatte sie sich offensichtlich breitschlagen lassen.

Sie hätte erwartet, dass er in aller Frühe aus dem Bett springen würde, um mit seiner Eroberung zu prahlen, oder dass er sie mit einem Kuss wecken und sie ironisch zu einem Frühstück im Bett einladen würde. Sie konnte ihn fast auftrumpfen hören: »Wenn du schon hier bist, kannst du die Burgess-Behandlung auch bis zum Schluss genießen.«

Warum war er eigentlich nicht zu ihr unter die Dusche gehüpft? Das wäre typisch Jay. Eigentlich hätte er sich zu ihr stellen und erklären müssen: Du hast eine Stelle auf deinem Rücken vergessen. Huch, und da vorne auch. Aber nicht einmal die Dusche hatte ihn geweckt. Genauso wenig wie das mehrmalige Spülen der Toilette.

Wie konnte er all das verschlafen? Er hatte sich nicht einmal …

Bewegt.

Ihr Magen hob sich wie auf einer Flutwelle. Ätzender Schleim schoss ihr in die Kehle, und sie hatte Angst, sich gleich wieder zu übergeben. Sie schluckte schwer. »Jay?«, fragte sie zaghaft. Dann lauter: »Jay?«

Nichts. Kein Seufzen und kein Schniefen. Nicht die leiseste Bewegung.

Wie angewurzelt stand sie da und spürte ihr Herz klopfen. Dann setzte sie sich widerstrebend in Bewegung, trat ans Bett, legte die ausgestreckte Hand an seine Schulter und rüttelte sie mit aller Kraft. »Jay!«

Unter dem quietschenden Protest der Scharniere zog Raley die verrostete Fliegentür auf. »Hey! Bist du da?«

»Bin ich doch immer!«

Ein ausgeblichener roter Lacksplitter löste sich, als der Holzrahmen hinter Raley zuschlug und er in die winzige Hütte trat. Es roch nach gebratenem Schweinefleisch und nach der mäuselöchrigen Armeedecke auf der Pritsche in der Ecke.

Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt und den Alten entdeckt hatten. Er saß an seinem dreibeinigen Tisch, über seine Kaffeetasse gekrümmt wie ein bissiger Hund, der einen mühsam erkämpften Knochen bewacht, und starrte auf den verschneiten Bildschirm eines Schwarz-Weiß-Fernsehers. Geisterhafte Schemen zogen über das Bild. Aus dem Lautsprecher kam nur statisches Rauschen.

»Guten Morgen.«

Der Alte schnaubte einen Willkommensgruß durch die buschigen Nasenhaare. »Nimm dir ein’.« Er nickte zu der Emailkanne auf dem Herd hin. »Aber besser ohne Sahne. Die hat über Nacht einen Stich gekriegt.«

Raley stieg über die drei reglos am Boden liegenden Jagdhunde hinweg und trat an den Kühlschrank, der eingeklemmt zwischen einer zur Speisekammer zweckentfremdeten antiquierten Kuchenvitrine und einem Werktisch stand, der keinerlei Zweck erfüllte, außer Staub anzusammeln und den verfügbaren Platz in der übervollen Hütte zu verstellen.

Der Griff am Kühlschrank war abgerissen, wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten, aber wenn man die Finger an der richtigen Stelle in die weiche Gummidichtung bohrte, konnte man die Tür aufbekommen. »Ich habe dir Fisch mitgebracht.« Raley legte den in Zeitungspapier eingewickelten Katzenwels auf ein rostiges Kühlschrankgitter und schloss hastig die Tür vor dem Duftgemisch aus saurer Sahne und allgemeiner Verwesung.

»Hab zu danken.«

»Gern geschehen.« Der Kaffee war wahrscheinlich mehrmals aufgekocht worden und hatte mittlerweile die Konsistenz von frischem Asphalt angenommen. Ohne Sahne zur Verdünnung verzichtete Raley dankend.

Er warf einen Blick auf den stummen Fernseher. »Du musst deine Hasenohren neu ausrichten.« Dabei streckte er eine Hand nach der schleifenförmigen Zimmerantenne aus.

»Das sind nicht die Hasenohren. Ich hab den Ton abgestellt.«

»Wieso das?«

Der alte Mann reagierte mit einem rituellen Schnauben, das heißen sollte, dass er sich nicht zu einer Antwort herablassen würde. Der selbst ernannte Eremit hauste seit »dem Krieg« im frei gewählten Exil, wobei er sich nie genauer darüber ausgelassen hatte, welchen Krieg er meinte. Er wollte so wenig wie möglich mit anderen Homo sapiens zu tun haben.

Kurz nachdem Raley in seine Nachbarschaft gezogen war, hatten sich ihre Wege im Wald gekreuzt. Raley hatte gerade in die Knopfaugen einer toten Beutelratte gestarrt, als der alte Mann durchs Unterholz gekracht kam und ihn angegeifert hatte: »Denk nicht mal dran!«

»Woran?«

»Mir mein Opossum wegzunehmen.«

Den grauenvoll stinkenden, aufgedunsenen und mit Fliegen übersäten Kadaver mit dem rosa Schwanz anzurühren war so ziemlich das Letzte, was Raley in den Sinn gekommen wäre. Er hob kapitulierend die Hände und trat beiseite, damit der barfüßige alte Mann im fleckigen Overall seine Beute aus dem Metallkiefer der kleinen Falle lösen konnte.

»So wie du hier rumtrampelst, hätt’s mich nicht gewundert, wenn du in meiner Falle gelandet wärst und nicht das Opossum«, grummelte er.

Raley war davon ausgegangen, dass um die Hütte, die er kürzlich erworben hatte, meilenweit niemand lebte. Er brauchte keinen Nachbarn, schon gar keinen, der über sein Kommen und Gehen Buch führte.

Als der alte Mann aufstand, protestierten seine Knie mit so lautem Knacken und Knirschen, dass er unter Schmerzen das Gesicht verzog und einen Schwall von Flüchen ausstieß. Den baumelnden Kadaver in der Hand haltend, taxierte der Alte Raley von der Baseballkappe und dem bärtigen Gesicht abwärts bis zu den Wanderschuhen. Nach abgeschlossener Inspektion spuckte er einen Strahl Tabaksaft in den Dreck, um seine Meinung über diesen Anblick kundzutun. »Is’ schließlich nicht verboten, im Wald rumzulaufen«, sagte er. »Aber lass bloß die Finger von meinen Fallen.«

»Es würde die Sache vereinfachen, wenn ich wüsste, wo sie stehen.«

Die Lippen des Alten verzogen sich zu einem breiten Grinsen, bei dem er tabakfleckige Stummel entblößte, wo früher einmal Zähne gewesen sein mussten. »Kann ich mir vorstellen.« Immer noch keckernd wandte er sich ab. »Die findest du schon, da wette ich drauf.« Noch lange nachdem er im dichten Unterholz verschwunden war, hörte Raley sein meckerndes Lachen.

Während der folgenden Monate waren sie sich immer wieder zufällig im Wald begegnet. Zumindest waren es für Raley zufällige Begegnungen gewesen. Er nahm an, dass sich der Alte nur zeigte, wenn ihm danach war, und unsichtbar blieb, wenn er keine Lust hatte, seinem neuen Nachbarn einen Gruß zuzugrunzen.

An einem heißen Nachmittag trafen sie in der Tür des Lebensmittelladens im nächsten Ort aufeinander. Raley wollte gerade hinein, der alte Mann heraus. Sie nickten einander zu. Als Raley später mit mehreren Einkaufstüten wieder nach draußen kam, sah er den Alten in einem Korbsessel auf der schattigen Veranda vor dem Laden sitzen und sich mit dem Hut Luft zufächeln. Aus einem Impuls heraus zerrte Raley eine gekühlte Bierdose aus dem Sixpack und warf sie dem Alten zu, der sie in einem exzellenten Reflex mit einer Hand auffing.

Raley lud die Einkäufe auf der Ladefläche des Pick-ups ab und kletterte hinter das Steuer. Der Alte beobachtete mit sichtlichem Misstrauen, wie er den Rückwärtsgang einlegte und aus der Parklücke setzte, aber Raley war aufgefallen, dass er die Dose geöffnet hatte.

Am nächsten Morgen klopfte jemand an Raleys Hütte. Nachdem er noch nie Besuch bekommen hatte, näherte er sich argwöhnisch der Tür. Vor ihm stand der Alte, in der Hand hielt er eine gesprungene Keramikschüssel mit einem Berg von rohem Fleisch unbekannter Herkunft. Es sah aus wie Aas, das sogar das Jagdhundetrio verschmäht hatte.

»Für das Bier. Ich mag keine Schulden bei niemand haben.« Raley nahm die Schüssel entgegen, die ihm an die Brust gedrückt wurde. »Danke.« Sein Besucher machte kehrt und stapfte die Stufen hinab. Raley rief ihm nach: »Wie heißen Sie eigentlich?«

»Wer will das wissen?«

»Raley Gannon.«

Der Alte zögerte und brummelte dann: »Delno Pickens.«

Von jenem Morgen an hatte sich zwischen ihnen eine Art Freundschaft entwickelt, die auf Einsamkeit und dem gemeinsamen Widerwillen beruhte, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen.

Alles in allem waren Delnos Besitztümer keine hundert Dollar wert. Ständig schleifte er Sachen nach Hause, die er weiß Gott wo aufgetrieben und für die er keine Verwendung hatte. Seine Hütte stand auf Pfählen, zum Schutz vor Überschwemmungen, wenn der Combahee über die Ufer trat. Doch der Hohlraum unter dem Boden war mit Sperrmüll vollgestopft, wie um der Hütte ein solideres Fundament zu geben. Das Gelände um die Hütte war ebenfalls mit Schrott übersät, der nie auch nur zentimeterweise bewegt wurde, soweit Raley feststellen konnte. Das Sammeln schien Delno wichtiger zu sein als die Fundstücke selbst.

Er fuhr einen Pick-up, den Raley insgeheim »Frankenstein« getauft hatte, weil er aus den verschiedensten Einzelteilen bestand, die Delno im Lauf der Zeit zusammengetragen hatte, und hauptsächlich von Draht und Klebeband in Form gehalten wurde. Raley empfand es jedes Mal als Wunder, dass Delno das Gefährt überhaupt in Gang brachte, aber wie Delno sagte: »Es ist nicht schön, aber es bringt mich hin, wo ich hin will.«

Er aß alles. Wirklich alles. Alles, was er aus dem Wald, aus einer Falle oder aus dem Fluss zerren konnte. Aber was es auch war, er war stets bereit, es mit Raley zu teilen, seit sie Freundschaft geschlossen hatten.

Überraschenderweise war er sehr belesen und konnte sich fundiert über Themen unterhalten, bei denen man ihm das nie zugetraut hätte. Im Lauf der Zeit begann Raley zu argwöhnen, dass der Hillbilly-Akzent und das dazugehörige Vokabular nur zur Tarnung dienten. Genau wie das Elend, in dem er hauste, waren sie ein Protest gegen sein früheres Leben.

Aber was das für ein Leben gewesen war, blieb Delnos Geheimnis. Niemals erwähnte er eine Heimatstadt, seine Kindheit oder seine Eltern, eine frühere Beschäftigung, Kinder oder eine Ehefrau. Er redete ausschließlich mit seinen Hunden und mit Raley. Seine Intimbeziehungen beschränkten sich auf einen Stapel zerlesener Nackedei-Heftchen, die er unter seiner Pritsche versteckt hatte.

Auch Raley erzählte Delno nichts aus seinem Leben. Wenigstens nicht während der ersten zwei Jahre ihrer Bekanntschaft. Bis Delno eines Abends bei Sonnenuntergang vor Raleys Hütte stand, unter die Arme zwei Einmachgläser mit einer schlammigen Flüssigkeit geklemmt, die er selbst fermentiert hatte.

»Hab dich die ganze Woche nicht gesehen. Wo hast du gesteckt?«

»Hier.«

Raley wäre lieber allein geblieben, aber Delno hatte sich schon in seine Hütte gedrängt. »Dachte, du könntest vielleicht einen Schluck vertragen.« Er musterte Raley abfällig. »Wenn ich dich so sehe, hab ich wohl richtig gedacht. Du siehst wirklich übel aus. Konnte dich schon unten an der Veranda riechen.«

»Ausgerechnet du willst das Aussehen und die Körperhygiene anderer Leute kritisieren?«

»Wen hast du angerufen?«

»Wie bitte?«

»Dieses Plappermaul an der Kasse im Laden? Die mit der Zuckerwattefrisur und dem Gehänge an den Ohren? Die hat mir erzählt, du bist letzte Woche reingekommen, hast dir eine Handvoll Münzen geben lassen und damit das Telefon vor dem Laden gefüttert. Sie hat gesagt, du hast kurz telefoniert, dann hast du aufgelegt, und danach hast du ausgesehen, als wolltest du gleich wen umbringen. Dann bist du in deinen Truck gestiegen und losgerast, ohne deinen Einkauf zu zahlen, sagt sie.«

Er öffnete eines der Gläser und reichte es Raley, der kurz daran schnüffelte und es dann kopfschüttelnd zurückgab. »Darum frage ich«, fuhr Delno nach einem tiefen Schluck aus dem Glas fort, »wen hast du angerufen?«

Der Morgen dämmerte schon, als Raley fertig erzählt hatte. Bis dahin hatte Delno beide Gläser geleert. Raley fühlte sich ebenfalls leer – emotional, mental, körperlich. Es war eine schmerzhafte, aber therapeutische Katharsis gewesen. Ein ganzes Dutzend eitriger Wunden hatte er dabei aufgestochen.

Als alles gesagt war und Raley keine Kraft mehr zum Reden hatte, sah er den alten Mann an, der stundenlang zugehört hatte, ohne einen Ton von sich zu geben. Das faltige, lederige Gesicht zeigte tiefe Trauer. Zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, sahen ihn die alten Augen offen und ohne Argwohn an, und Raley begriff, dass er in die Seele eines Menschen blickte, der unaussprechlichen Kummer durchgemacht hatte. Es schien, als hätte Delno Pickens alles Leid und alle Ungerechtigkeit der Welt in diesen einen hoffnungslosen Blick gepackt.

Dann seufzte er und streckte, obwohl sie sich noch nie berührt hatten, die Hand aus, um Raleys Knie zu tätscheln. »Geh und wasch dich unter den Armen, sonst kotz ich den ganzen guten Schnaps wieder aus, weil du so stinkst. Ich mach dir solange Frühstück.«

Sie sprachen nie wieder über das, was Raley in jener Nacht erzählt hatte. Es war, als hätte es diese Nacht nie gegeben. Aber Raley hatte nie vergessen, wie leidgeprüft Delno ihn damals angesehen hatte.

»Was ist?« Raleys Herz setzte einen Schlag aus, und ihm schoss automatisch das Wort Katastrophe durch den Kopf. Eine vollbesetzte 747, die in einen Berg gekracht war. Ein Anschlag auf den Präsidenten. Ein terroristisches Attentat wie der Angriff auf das World Trade Center.

»Mach jetzt bloß keine Dummheiten, okay?«, warnte ihn Delno.

»Was ist denn los?«

Unter griesgrämigen Flüchen über das »beschissene Programm da« nickte Delno zum Fernseher hin.

Raley trat an den uralten Apparat, drehte die Lautstärke auf und hantierte an der Zimmerantenne herum, um ein besseres Bild zu bekommen.

Das Bild blieb verschneit und der Ton kratzig, trotzdem war ihm Sekunden später klar, was passiert war und warum Delno nicht den Mut aufgebracht hatte, es ihm zu erzählen.

Jay Burgess war tot.

Die glauben mir nicht, stimmt’s?«

Britt richtete die Frage an den Fremden, den sie als Anwalt engagiert hatte. Seit sie entdeckt hatte, dass Jay neben ihr im Bett gestorben war, waren vierundzwanzig Stunden vergangen, trotzdem gab sie die Hoffnung nicht auf, dass alles nur ein schrecklicher Traum sein möge, aus dem sie bald wieder erwachen würde.

Leider war alles absolut real.

Kurz nach ihrem hektischen Anruf in der Notrufzentrale waren ein Notarzt und zwei Polizisten in Jays Stadthaus erschienen. Wenig später folgten ein Gerichtsmediziner und zwei Detectives, die sich als Clark und Javier vorstellten. Die beiden hatten sie in Jays Wohnzimmer vernommen, während im Schlafzimmer der Leichnam untersucht und für den Abtransport in die Pathologie vorbereitet worden war. Dann war sie mit den Detectives in die Polizeizentrale gefahren, um ihre formelle Aussage zu machen. Nachdem das letzte i-Pünktchen gesetzt und der letzte t-Strich gezogen war, hatte sie geglaubt, alles überstanden zu haben – bis auf das Trauern.

Aber heute Morgen hatte Clark sie zu Hause angerufen. Nachdem er sich für die frühe Störung entschuldigt hatte, hatte er ihr eröffnet, er und Javier wollten noch ein paar Details klären, ob sie noch einmal in die Polizeizentrale kommen könne.

Die Bitte war freundlich, fast beiläufig geäußert worden, dennoch hatte sie Britt Unbehagen bereitet, und zwar so großes, dass sie es für ratsam gehalten hatte, sich von einem Anwalt begleiten zu lassen. Wenn sie bislang mit Anwälten zu tun gehabt hatte, dann nur bei Steuerfragen, in Immobilienangelegenheiten und wegen der Hinterlassenschaft ihrer Eltern. Sie bezweifelte, dass Anwälte, die solche Dinge regelten, je auf einem Polizeirevier gewesen waren.

Auf der Suche nach einer Empfehlung hatte sie den Manager des Senders angerufen.

Natürlich hatte jeder Sender gestern Abend ausführlich über Jay Burgess’ schockierenden Tod berichtet. Ihre Kollegen hatten sich nur zurückhaltend über ihre Verwicklung in diesen Todesfall geäußert, aber auch wenn sie sich gebremst hatten, war es eine heiße Story: Britt Shelley, die renommierteste Reporterin auf dem Markt, machte plötzlich selbst Schlagzeilen.

Vom Standpunkt eines Fernsehreporters aus musste sie zugeben, dass das eine pikante Ironie und gleichzeitig eine Sensationsmeldung war.

Der Manager hatte ihr Trost zugesprochen. »Das muss wirklich schrecklich für dich gewesen sein, Britt.«

»Ja, das war es. Ist es, genauer gesagt. Darum rufe ich dich auch zu Hause an.«

»Ich bin für dich da. Ich helfe dir, wo ich kann«, hatte er beteuert. Dann hatte sie ihn gefragt, ob er ihr einen Anwalt empfehlen könne.

»Einen Strafverteidiger?«

Sie hatte ihm sofort versichert, dass das eine reine Vorsichtsmaßnahme sei, dass das Gespräch – sie vermied den Ausdruck »Vernehmung« – nur Routine und eine reine Formalität sei. »Trotzdem möchte ich einen Rechtsbeistand dabeihaben.« Er hatte sofort zugestimmt und versprochen, sich telefonisch für sie umzuhören.

Als Bill Alexander auf dem Revier erschienen war, hatte er sich atemlos entschuldigt, weil er zehn Minuten zu spät gekommen war. »Ich stand im Stau.«

Sie hatte auf einen imposanten, gebieterischen und charismatischen Gentleman gehofft und konnte ihre Enttäuschung nur schwer verhehlen, als der schmächtige, unaufdringliche und fahrig wirkende Alexander ihr seine Karte entgegenstreckte. Er hatte gerade noch Zeit, sich vorzustellen, bevor die beiden Detectives ins Zimmer kamen.

Im Gegensatz zu ihm personifizierten Clark und Javier das Klischee der hartgesottenen Detectives.

Als die beiden am Vortag in Jays Stadthaus erschienen waren und erkannt hatten, dass sie mit der Britt Shelley von den Channel Seven News sprachen, hatten sie kurz ehrfürchtig und verlegen herumgedruckst, wie es die Menschen manchmal taten, wenn sie einer Persönlichkeit aus dem Fernsehen in Fleisch und Blut begegneten.

Die Detectives hatten sich dafür entschuldigt, dass sie Britt direkt nach einem so traumatischen Erlebnis am Tatort aufhalten und sie einer Befragung unterziehen müssten, aber leider sei es ihr Job herauszufinden, was genau vorgefallen war. Britt hatte alle Fragen nach bestem Vermögen beantwortet, und allem Anschein nach hatten die beiden nichts an ihrer Darstellung auszusetzen gehabt.

Heute Morgen hatte sich der Tenor der Befragung leicht, aber spürbar verändert. Inzwischen wirkten Clark und Javier ganz und gar nicht mehr verlegen. Verglichen mit gestern kamen die Fragen wesentlich schärfer.

Britt kooperierte, so gut sie konnte, denn sie wusste, dass die Weigerung, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, gewöhnlich als Schuldeingeständnis gedeutet wurde. Dabei war sie höchstens schuldig, mit einem Mann geschlafen zu haben, der danach im Schlaf gestorben war. Die Geschichte bot Stoff für unzählige Scherze über Jays sexuelle Fähigkeiten – und natürlich ihre.

Die hat ihn definitiv flachgelegt. Zwinker, zwinker.

Aber er ist mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben. Zwinker, zwinker.

Er ist im selben Atemzug gekommen und gegangen. Zwinker, zwinker.

Falls diese Detectives auf erotische Details aus waren, musste Britt sie enttäuschen. Sie konnte sich nur daran erinnern, wie sie aufgewacht war und Jay tot neben ihr im Bett gelegen hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, was in diesem Bett passiert war. Doch sie hatte nicht den Eindruck, dass ihr die Detectives glaubten, nicht einmal, nachdem sie Britt eine Stunde lang eingehend befragt hatten.

Gerade hatten Clark und Javier vorgeschlagen, eine kurze Pause einzulegen, und sie dabei mit ihrem eben erst verpflichteten Anwalt allein gelassen, was ihr Gelegenheit gab, sich mit ihm bekannt zu machen und ihn vor allem zu fragen, wie er die Situation interpretierte.

»Die glauben mir nicht, stimmt’s?«, wiederholte sie ihre Frage, nachdem sie ihm beim ersten Mal keine Antwort entlockt hatte.

Diesmal lächelte er sie arglos an. »Das Gefühl habe ich ganz und gar nicht, Ms Shelley.« Er klang, als würde er einem verängstigten Kätzchen Mut zusprechen. »Sie sind gründlich, aber das müssen sie auch sein, wenn jemand unter so ungewöhnlichen Umständen stirbt.«

»Jay Burgess litt an unheilbarem Krebs.«

»Ja, aber…«

»Er hatte viel getrunken. Wahrscheinlich hat sich der Alkohol nicht mit den starken Medikamenten vertragen.«

»Ganz zweifellos.«

»Es kommt oft vor, dass jemand stirbt, weil er starke Medikamente eingenommen und Alkohol dazu getrunken hat. Jay ist bestimmt an einem Herzstillstand oder Atemstillstand gestorben. Irgendwas in der Richtung.«

»Da haben Sie bestimmt recht.«

»Dann erklären Sie mir, warum ich so lange vernommen werde.«

»Zum Teil ist das ein Reflex auf den plötzlichen Tod eines Kollegen«, erklärte er ihr. »Jay Burgess war ein mehrfach ausgezeichneter Polizist, er war für die Männer in diesem Department und auch für die Öffentlichkeit ein Held. Da versteht es sich von selbst, dass seine Kollegen wissen wollen, was in den Stunden vor seinem Tod geschah.«

Sie hatte schon öfter über Beisetzungen getöteter Polizisten berichtet und war jedes Mal beeindruckt gewesen, wie eng die Polizisten überall auf der Welt zusammenrückten, sobald einer der ihren starb.

Sie massierte ihre Stirn und gab sich mit einem müden Seufzen geschlagen. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber jetzt reicht es. Ich weiß wirklich nichts. Ich habe den beiden doch erklärt, dass ich mich nicht erinnern kann! Und das ist die Wahrheit, auch wenn ich nicht den Eindruck habe, dass man mir glaubt.«

»Genau so müssen Sie das den beiden sagen!«, lobte er sie, als wolle er ihr zu ihrer leidenschaftlichen Darbietung gratulieren. »Oder sagen Sie am besten gar nichts mehr.«

Sie schoss ihm einen verächtlichen Blick zu und begann, in dem winzigen Vernehmungsraum auf und ab zu gehen. »Alle, vor allem alle Anwälte, behaupten immer, es sei besser, nichts zu sagen. Aber als Reporterin weiß ich, dass Menschen, die verstockt schweigen, so wirken, als hätten sie etwas zu verbergen.«

»Dann bleiben Sie auf jeden Fall bei Ihrer Geschichte.«

Sie schoss herum und wollte ihn schon anschnauzen, weil er ihre Schilderung von Jays Tod als »Geschichte« bezeichnete, aber in diesem Augenblick kehrten die Detectives zurück.

»Möchten Sie noch auf die Toilette, Ms Shelley?«, fragte Clark.

»Nein danke.«

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen?«

»Nein danke.«

Clark war groß, kantig und hatte dünnes, rötliches Haar. Javier war klein und untersetzt, sein schwarzes Haar war dicht wie ein Teppich. Sie hätten nicht unterschiedlicher aussehen können, aber sie misstraute beiden gleichermaßen. Sie misstraute Clarks Höflichkeit, weil sie den Verdacht hatte, dass er damit seine erzkonservativen Ansichten überspielen wollte. Javiers narbige Wangen ließen sie an erbitterte Messerstechereien denken. Clarks Augen waren blau, Javiers Augen so dunkel, dass man die Pupillen nicht sah, aber beide Augenpaare wirkten hellwach und immer aufmerksam.

Nachdem der Höflichkeit Genüge getan war, nahm Javier die Befragung wieder auf. »Bevor wir die Befragung unterbrochen haben, hatten Sie erklärt, dass Ihre Erinnerung verschwimmt, nachdem Sie im Wheelhouse ein Glas Wein getrunken hatten.«

»Genau.« Alles, was sich nach diesem einen Glas Chardonnay ereignet hatte, schien zusammenhanglos im Nebel zu treiben. Jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Danach waren ihre Erinnerungen komplett gelöscht. Wie konnte ein einziges Glas Wein ihr Erinnerungsvermögen auslöschen? Das war nicht möglich. Es sei denn … es sei denn …

»K.-o.-Tropfen.«

Erst als die drei Männer sie mit offenem Mund ansahen, begriff sie, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Sie trat innerlich einen Schritt zurück, ließ sich noch einmal durch den Kopf gehen, was sie eben gesagt hatte, und erkannte, dass sie möglicherweise – nein, höchstwahrscheinlich – den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

»Offenbar hat man mir eine der Substanzen verabreicht, die man gemeinhin als Vergewaltigungsdrogen bezeichnet.« Die beiden Polizisten und der Anwalt standen vor ihr und starrten sie an, als würde sie Chinesisch sprechen. »Sie lösen einen temporären Gedächtnisverlust aus«, erklärte sie schon etwas ungeduldig. »Ich habe eine Reportage über diese Mittel gemacht. Nach einem Vorfall an der Clemson University machten sich viele Menschen Sorgen, denn diese Drogen tauchen immer öfter bei Partys oder in Bars auf, in denen sich junge Leute treffen. Sie löschen vorübergehend das Gedächtnis. Manchmal kommt die Erinnerung nicht wieder. In jedem Fall wurde der Schaden angerichtet, bevor die Wirkung wieder nachlässt.«

Sie sah die Männer nacheinander an und wartete darauf, dass sie ihre Begeisterung über diese glaubwürdige Erklärung für ihren Blackout teilten. Stattdessen starrten alle drei sie wie vom Blitz getroffen an. Sie bemerkte bitter: »Blinzeln Sie, wenn Sie mich hören können.«

»Wir können Sie hören, Ms Shelley«, bestätigte Clark.

»Und? Begreifen Sie nicht? Man hat so eine Droge in meinen Wein gegeben. Die Wirkung setzt sehr schnell ein. Das würde erklären, warum ich mich an nichts erinnern kann, nachdem wir in Jays Wohnung kamen.«

»Was ist mit der leeren Flasche Scotch?«, fragte Javier.

»Ich kann Scotch nicht ausstehen. Ich trinke nie Scotch. Wenn Jay mir welchen angeboten hätte, hätte ich ihn abgelehnt, vor allem, nachdem ich mich sowieso nicht gut fühlte.«

»Wir haben Ihre Fingerabdrücke an einem der Gläser gefunden. Und Spuren Ihres Lippenstifts am Glasrand.«

»Sie haben die Gläser untersucht? Warum das?«

Die beiden Detectives wechselten einen Blick. Clark sagte: »Fangen wir ganz von vorne an und gehen alles noch einmal durch. Erzählen Sie uns, was passiert ist.«

»Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich kann Ihnen nur erzählen, woran ich mich erinnere.«

»Okay, dann erzählen Sie uns, woran Sie sich erinnern. Es stört Sie doch nicht, wenn wir Ihre Aussage diesmal aufzeichnen, oder?«

Clarks beiläufiger Tonfall alarmierte sie. »Warum möchten Sie das?«

»Damit wir es auf Band haben und nötigenfalls darauf zurückgreifen können, um uns die Details in Erinnerung zu rufen.«

Sie misstraute seiner Erklärung genauso wie seinem strahlenden Autoverkäuferlächeln und sah ihren Anwalt an, der daraufhin erklärte: »Das ist so üblich, Ms Shelley. Sie können trotzdem auf jede Frage die Antwort verweigern.«

»Ich will die Fragen ja beantworten. Ich wüsste die Antworten selbst gern. Wahrscheinlich noch lieber als die beiden.«

Sobald sie den Notruf gewählt hatte, war sie in das zermürbende Mahlwerk geraten, das sich nach einem plötzlichen Todesfall in Bewegung setzt – die Erklärung des Gerichtsmediziners, dass Jay tatsächlich tot war, die Befragung durch die Polizei, der Papierkram. Bis jetzt hatte sie noch keine Zeit gehabt, sich zu fragen, was das alles für sie persönlich bedeutete. Sie war noch nicht einmal dazu gekommen, den Verlust ihres Freundes zu betrauern.

Auch jetzt ging das nicht. Nicht bevor sie diese Unannehmlichkeiten hinter sich gebracht hatte. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, wiederholte sie: »Ich will um jeden Preis erfahren, was mit Jay passiert ist.«

»Dann sind wir uns ja einig.« Javier setzte sich an den kleinen Tisch und winkte sie zu dem Stuhl vor der Videokamera. »Kamerascheu sind Sie wohl nicht.«

Auch diesmal musste sie bei seinem Grinsen an scharfe Klingen denken, die sich durch weichen Samt bohrten. Sie wandte den Blick ab und setzte sich. Clark stellte die Kamera scharf, nannte Uhrzeit, Datum und die Namen aller Anwesenden und setzte sich dann an die Tischkante, wo er sein dünnes Bein vor und zurück baumeln ließ. »Wer hat wen angerufen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wer hat das Treffen angeregt?«

»Jay, das habe ich Ihnen doch schon erklärt.«

»Wir können die Telefonate überprüfen.« Javiers Anmerkung war mehr als nur das. Es war eine verschleierte Drohung.

Sie sah ihm offen ins Gesicht. »Jay rief mich im Lauf des Tages an und fragte mich, ob ich mich mit ihm im Wheelhouse treffen wollte. Er sagte, er wolle mit mir reden.«

»Wann hatten Sie ihn davor das letzte Mal gesehen?«

»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Vor ein paar Monaten. Als der Mann verhaftet wurde, dem vorgeworfen wurde, die Kindergartenkinder in North Charleston belästigt zu haben. Jay war auf der Pressekonferenz und beantwortete die Fragen nach den polizeilichen Ermittlungen. Ich war als Journalistin dort. Wir winkten einander zu, aber wir sprachen nicht miteinander. Ich hatte für meine Story mit einem der Polizisten gesprochen, die den Mann verhaftet hatten, nicht mit Jay.«

»Aber Sie waren mit Burgess befreundet.«

»Ja.«

»Eng?«

»Nein.«

Die beiden Detectives wechselten einen weiteren vielsagenden Blick. Alexander beugte sich in seinem Stuhl vor, als wollte er sie warnen, nicht zu viel zu sagen.

»Nie?«, fragte Clark.

»Vor Jahren schon«, erwiderte sie gleichmütig. Ihre kurze Affäre mit Jay war nie ein Geheimnis gewesen. »Damals war ich gerade nach Charleston gezogen, um den Job bei Channel Seven anzutreten. Jay war einer der Ersten, die ich hier kennenlernte. Wir gingen ein paar Mal miteinander aus, aber unsere Freundschaft blieb immer mehr oder weniger platonisch.«

»Mehr oder weniger?« Javiers erhobene Augenbraue unterstellte wohl eher weniger.

»Während der letzten Jahre waren wir nur Freunde.«

»Bis sie vorgestern Abend wieder zum Liebespaar wurden.«

»Ich…« Sie zögerte. Alexander hob den Zeigefinger, als wollte er ihr von einer Antwort abraten. Sie senkte den Blick in den Schoß. »Ich weiß nicht, ob wir in dieser Nacht intim waren oder nicht. Ich bin mir nicht sicher. Ich kann mich nicht erinnern.«

Clark seufzte, als könne er das kaum glauben, und sagte dann: »Sie haben sich also im Wheelhouse getroffen.«

»Ich kam um sieben wie vereinbart. Jay war schon dort. Er hatte bereits etwas getrunken.«

»Woher wissen Sie das?«

»Auf dem Tisch standen mehrere leere Gläser. Haben Sie die Bedienung befragt?«

Ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, fuhr Clark fort: »Sie haben ein Glas Weißwein bestellt.«

»Genau. Der Wein war nicht besonders gut.« Sie sprach direkt in die Kameralinse. »Ich glaube, jemand hatte etwas hineingerührt.«

»Jay?«

Was das betraf, teilte Britt Javiers offene Skepsis. »Ich weiß nicht, wie er das hätte anstellen sollen, ohne dass ich es bemerke. Ich glaube, er hat mein Weinglas nicht einmal angerührt. Und wieso sollte er mich unter Drogen setzen?«

Clark zupfte an seiner Unterlippe. Javier rührte sich nicht. Beide sahen sie erwartungsvoll an. Ihr war bewusst, dass die Kamera jedes Blinzeln, jedes Luftholen aufzeichnete. Würde sie auf jemanden, der das Band später ansah, wohl schuldbewusst wirken? Sie wusste, dass Ermittler auf verräterische Anzeichen achteten, wenn sie nach Lügen suchten. Sie versuchte, sich ganz stillzuhalten und möglichst ausdruckslos in die Kamera zu blicken.

»Worüber haben Sie gesprochen?«, fragte Javier.

»Das habe ich Ihnen schon erzählt«, erklärte sie erschöpft. »Über dies und das. ›Wie geht es dir in deinem Job? Sehr gut. Und dir in deinem? Hast du Ferienpläne?‹ Solche Sachen.«

»Nichts Persönliches?«

»Er fragte mich, ob ich mit jemandem zusammen bin. Ich sagte nein, eigentlich nicht. Er sagte: ›Gut. Es würde mir gar nicht gefallen, dich an irgendeinen glücklichen Bastard zu verlieren, der dich gar nicht verdient hat, wenn ich hier abtrete.‹ Er grinste, es war die Art von neckischem Flirt, für die er berühmt war. Ich lachte. Dann ging mir auf, was er gerade gesagt hatte, und ich fragte ihn, was er mit abtreten meinte. Er sagte: ›Ich sterbe bald, Britt.‹«

Ihre Stimme wurde rau, als sie sich den Augenblick und Jays ernste Miene ins Gedächtnis rief. »Dann erzählte er mir, dass er Krebs hatte.«

Pankreas. Im fortgeschrittenen Stadium. Keine Aussicht auf Heilung, darum spare ich mir die Chemo und den ganzen Scheiß. Wenigstens habe ich dann noch meine Haare, wenn ich im Sarg liege.

Nach einem Moment der Stille sagte Javier: »Dem Onkologen zufolge hatte Jay nur noch ein paar Wochen zu leben. Einen Monat oder zwei bestenfalls. Alle im Department waren geschockt, als er es erzählte. Manche haben tagelang geweint. Jay bot an, seine Marke abzugeben, aber der Chief sagte, er könnte noch arbeiten, bis … na ja, bis zum Ende.«

Britt nickte und bestätigte damit, dass Jay ihr das Gleiche erzählt hatte. »Er war ein so vitaler Mensch. Er schuf sein eigenes Energiefeld. Ich konnte es nicht glauben, als er es mir erzählte.«

Clark räusperte sich. »Glauben Sie, dass er möglicherweise versucht hat, noch einmal alle Frauen ins Bett zu bekommen, mit denen er schlafen wollte, bevor er…«

»Nein«, erklärte sie energisch. »Als er mich ins Wheelhouse einlud, sagte er, er müsse mit mir reden. Ich hatte den Eindruck, dass es dabei um etwas Ernstes ging.«

Javier schnaubte. »Ernster als Krebs im Endstadium?«

Ihr riss der Geduldsfaden. »In meinem Job muss ich Menschen einschätzen können, Detective. Ich kann es spüren, wenn jemand das entscheidende Element einer Story zu verschweigen versucht, weil er oder sie nicht in die Nachrichten kommen will, oder wenn jemand seine Rolle aufbläst, damit er bedeutsamer erscheint, als er in Wahrheit ist.

Jay wehrte meine tröstenden Worte ab und sagte, dass er über etwas Wichtigeres reden wollte. Er sagte, er würde mir eine Exklusivstory verschaffen, mit der ich ganz groß rauskommen könne. Und das war weder ein Flirt noch eine Anmache. Ich hätte das erkannt. Jay meinte es ernst. Was er mir erzählen wollte, lag ihm wirklich am Herzen.«

Dann hielt sie inne. Clark beugte sich erwartungsvoll vor. »Und? Was hat er Ihnen erzählt?«

»Das weiß ich nicht mehr. Genau da schlug Jay vor, zu ihm nach Hause zu gehen, damit wir uns ungestört unterhalten konnten.« Sie wollte ihnen lieber nicht erzählen, dass Jay plötzlich nervös zu werden schien. Ihre Aufrichtigkeit wurde ohnehin angezweifelt. Wer würde ihr glauben, dass Jay Burgess nervös werden konnte?

Offenbar spürten die Detectives, dass sie etwas verschwieg. Clark beugte sich noch einmal vor. »Im Wheelhouse waren Sie auch ungestört, Ms Shelley. Sie und Jay saßen in einer abgeschiedenen, gemütlichen Ecke. Man hat Sie dort gesehen. Mehrere Zeugen meinten, Sie hätten die Köpfe zusammengesteckt, als gäbe es niemanden außer Ihnen auf der Welt.«

Zeugen? Das Wort hatte einen kriminellen Beigeschmack, der ihr gar nicht gefiel. »Das ist eine grobe Verzerrung«, widersprach sie. »Jay und ich hatten die Köpfe zusammengesteckt, um uns über dem Lärm verständlich zu machen.«

»Oder weil Sie sich heiße Liebesschwüre ins Ohr flüstern wollten.«

Sie sah Javier wütend an. »Das werde ich keiner Antwort würdigen.«

»Okay, okay. Das war unpassend.«

Er überließ es Clark weiterzureden. »Jay bat Sie also, mit ihm nach Hause zu gehen.«

»Um dort das Gespräch fortzusetzen, genau.«

»Und Sie sind freiwillig mitgegangen?«

»Freiwillig? Natürlich. Ich hoffte, dass er mir eine Riesenstory verschaffen würde.«

»Gehen Sie mit jedem Mann mit, der Ihnen eine Exklusivstory verspricht?«

»Mr Javier!«, rief Alexander aus. »Ich lasse nicht zu, dass meine Mandantin beleidigt wird.«

»Die Frage ergab sich aus ihrer eigenen Aussage.«

»Lassen Sie es gut sein«, sagte sie zu ihrem Anwalt. Tatsächlich war sie froh, dass er noch wach war, denn er hatte seit Minuten kein Wort mehr gesagt. Javiers Bemerkung war ein Schlag unter die Gürtellinie, aber sie war jetzt beim entscheidenden Punkt ihrer Schilderung angekommen und wollte möglichst schnell weitererzählen. »Als wir das Wheelhouse verließen, war mir schwindlig.«

»Hatten Sie schon etwas getrunken, bevor Sie sich mit Jay trafen?«

»Das habe ich schon beantwortet. Nein.«

»Haben Sie irgendwelche … Medikamente genommen? Schnupfenmittel, Antihistamine?«

»Nein.«

»Sie waren schon nach einem Glas Wein beschwipst?«

»Offenbar, Mr Clark. Kommt Ihnen das nicht auch eigenartig vor?«

»Nicht besonders. Nicht, wenn eine Lady sonst keinen Scotch trinkt. Sie könnten durchaus von einem Glas Wein betrunken werden.«

»So hat mir ein Glas Wein noch nie zugesetzt.«

»Es gibt für alles ein erstes Mal.« Javier versuchte, es sich in seinem Stuhl aus Spritzplastik gemütlich zu machen.

Ohne auf ihn einzugehen, sprach sie in die Kamera: »Als wir aus dem Wheelhouse kamen, fühlte ich mich unwohl.«

»Inwiefern?«

»Ich fühlte mich betrunken. Mir war übel. Ich hatte den Faden verloren.«

»Geschah irgendetwas Ungewöhnliches auf dem Weg von der Bar zu Jays Stadthaus?«

»Noch einmal, ich kann mich nur verschwommen erinnern, aber ich glaube nicht.«

»Ihnen ist unterwegs niemand begegnet?«

»Nein.«

»Hat Jay Sie gefragt, ob Sie bei ihm übernachten wollen?«

Sie sah Javier direkt an. »Nicht soweit ich mich erinnere.«

»Wusste Jay, dass Sie sich nicht wohlfühlten?«

Das war eine gute Frage, und sie wünschte, sie hätte eine Antwort darauf. »Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube nicht, dass ich etwas in der Richtung gesagt habe. Möglich wäre es. Möglicherweise hat er mich auch gefragt, ob mir schlecht ist. Ehrlich gesagt kann ich mich überhaupt nicht erinnern, worüber wir geredet haben. Nur, dass wir zu seinem Haus kamen und hineingingen.«

»Und was dann? Was haben Sie als Erstes getan, als Sie ins Haus kamen?«

»Ich weiß noch, dass mir mein Zustand peinlich war.«

»Weil Sie so viel getrunken hatten?«

»Wahrscheinlich, weil man mir Drogen verabreicht hatte«, stellte sie mit Nachdruck klar. »Ich weiß noch, dass ich sofort zum Sofa gegangen bin.«

»Sie wussten also, wo sein Sofa steht?«

»Nein. Ich war noch nie in diesem Haus. Ich habe einfach das Sofa gesehen und wusste, dass ich mich hinsetzen musste.«

»Haben Sie sich zuerst die Schuhe ausgezogen?«

»Nein.«

»Ihr Kleid?«

»Nein.«

»Haben Sie sich ausgezogen, bevor oder nachdem Jay den Scotch eingeschenkt hatte?«

»Ich habe mich überhaupt nicht ausgezogen.«

»Also hat Jay Sie ausgezogen.«

»Nein!«

Clark hakte sofort ein. »Woher wissen Sie das, wenn Sie sich nicht erinnern können?«

Bevor sie darauf antworten konnte, sagte Javier: »Wie kommt es, dass Sie nackt neben Jay im Bett aufgewacht sind, wie Sie selbst zugegeben haben, wenn Sie sich nicht selbst ausgezogen haben und auch Jay Sie nicht ausgezogen hat? Soll ich Ihnen noch einmal vorlesen, was Sie gestern Vormittag ausgesagt haben, während Jays Leichnam in die Pathologie gebracht wurde?«

»Nein, nein! Ich weiß, was ich ausgesagt habe, weil es die Wahrheit ist. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, wie wir uns ausgezogen haben und ins Bett kamen.«

»Sie erinnern sich nicht, gemeinsam Scotch getrunken zu haben?«

»Nein.«

»Oder Ihre Kleider abgelegt zu haben?«

»Nein.«

»Oder Sex mit ihm gehabt zu haben?«

»Ich glaube nicht, dass wir welchen hatten.«

Javier fasste in die Tasche seines Sportsakkos und zog einen kleinen Plastikbeutel heraus. Darin lag eine Kondomverpackung. Sie war leer. »Das haben wir zwischen den Sofapolstern gefunden.«

Britt starrte die Verpackung an und durchforstete ebenso angestrengt wie ergebnislos ihr Gedächtnis.

»Tragen Sie gewöhnlich ein Kondom in Ihrer Handtasche, Ms Shelley?«

Sie stellte sich seinem anzüglichen Blick und erwiderte kühl: »Das muss Jay gehört haben. Wer weiß, wann er das benutzt hat.«

Clark schüttelte den Kopf und sah sie beinahe bedauernd an. »Seine Putzfrau hatte erst am Vormittag sauber gemacht. Sie sagte, sie hätte das Wohnzimmer gründlich gereinigt und dabei auch die Polster vom Sofa genommen, um darunter zu saugen. Sie schwört, dass die Verpackung zu dem Zeitpunkt nicht da war.«

Britt fragte: »Haben Sie das Kondom dazu gefunden?«

»Nein. Wir gehen davon aus, dass Jay es in der Toilette heruntergespült hat.«

»Vielleicht hat er es tagsüber verwendet. Nachdem die Putzfrau sauber gemacht hatte und bevor er sich mit mir getroffen hat.«

Clark schüttelte den Kopf. »Jay war den ganzen Tag hier in der Zentrale. Er war nicht mal zum Mittagessen draußen. Und er ist erst um sechs Uhr gegangen. Da bleibt kaum Zeit, um nach Hause zu fahren, mit einer Frau zu schlafen, dann ins Wheelhouse zu gehen und mehrere Drinks zu bestellen, bevor Sie sich um sieben mit ihm trafen.« Er schmunzelte, und Javier gluckste leise, weil er schon ahnte, was sein Kollege gleich sagen würde. »So schnell war nicht einmal Jay.«

George McGowan öffnete die Schlafzimmertür und bekam gerade noch mit, wie seine seit vier Jahren mit ihm verheiratete Ehefrau Miranda ihren nackten Körper in einen Frotteebademantel hüllte. Der junge Mann hinter ihr zog eben den Reißverschluss an der Hülle für den tragbaren Massagetisch zu.

Miranda ließ sich von dem unerwarteten Auftritt ihres Mannes nicht aus der Fassung bringen: »Ach, Darling, hi! Ich wusste gar nicht, dass du schon zu Hause bist. Soll Drake noch länger bleiben? Wir sind gerade fertig geworden.« Ihre Lider senkten sich verträumt. »Heute war es ganz besonders intensiv.«

George spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Seine Finger schlossen sich fester um das Glas mit Bloody Mary. »Nein danke.«

Drake wuchtete den Massagetisch hoch und spannte dabei angeberisch die Bizepse an. »Am Mittwoch wieder, Mrs McGowan?«

»Dann kommen Sie aber neunzig Minuten statt der üblichen sechzig.«

Er lächelte schleimig. »Ich komme, wann und wie es Ihnen gefällt.«

George war die Zweideutigkeit der Bemerkung nicht entgangen. Genauso wenig wie der heiße Moschusgeruch, der den Raum durchdrang, oder das zerwühlte Doppelbett. Drake hatte sein Arbeitsfeld nicht auf den Massagetisch beschränkt, das verriet auch der scheele Blick, den er George zuwarf, als er sich an ihm vorbeidrückte.

Eigentlich hätte er der Schmierfresse nachrennen, dem Kerl die Kniescheibe zertrümmern, die Handknochen zerschlagen, das Gesicht zu Brei prügeln und ihn ein für alle Mal um sein Geschäft bringen sollen. Der ölige, südländisch aussehende Stenz hatte zwar ordentlich Muskeln aufgepackt, aber George wäre jederzeit mit ihm fertiggeworden. Auch wenn er um die Mitte herum etwas Speck angesetzt hatte, konnte er immer noch dafür sorgen, dass sich dieser Kerl wünschte, seine Vorfahren wären in Sizilien geblieben oder wo zum Teufel sie auch hergekommen waren.

Stattdessen schloss George kraftvoll die Schlafzimmertür und sah seine Frau finster an. Sein stillschweigender Rüffel verpuffte allerdings, weil sie ihn ignorierte. Sie saß inzwischen an ihrem Frisiertisch, wo sie die Bürste durch ihre kastanienbraune Mähne zog und dabei ihr Spiegelbild bewunderte.

Sie wartete nur darauf, dass er ihr eine Szene machte, weil sie in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer den Masseur gebumst hatte. Doch diese Befriedigung würde er ihr keinesfalls gönnen. Außerdem gab es Wichtigeres.

»Das musst du dir ansehen.« Er öffnete die Türen des hohen Schrankes und schaltete den eingebauten Fernseher ein. »Britt Shelley gibt eine Pressekonferenz wegen der Sache mit ihr und Jay.«

»Das klingt interessant.«

»Ist es auch. Sie behauptet, sie sei unter Drogen gesetzt worden.«

Miranda McGowans erhobener Arm erstarrte mitten in der Bewegung. Sie senkte ihn ganz langsam. »Von Jay?«

George zuckte mit den Achseln, drehte den Ton lauter und bekam zu hören, wie die bekannte Reporterin eine Frage nach ihrer Beziehung zu dem verstorbenen Jay Burgess beantwortete. »Wir waren befreundet.«

»Und wie!« Miranda war vom Frisiertisch aufgestanden und setzte sich auf das Fußende des zerwühlten Bettes.

»Pst!«

»Du hast mir nicht den Mund zu verbieten!«

»Bist du jetzt still und hörst zu?«

George blieb stehen, hielt die Fernbedienung in der Hand und war ganz und gar auf den Plasmaschirm und die Großaufnahme von Britt Shelley konzentriert, die eben beteuerte, dass sie sich nicht mehr an die Ereignisse vor Jays Tod erinnern könne. »Ich kann mich vage entsinnen, dass ich zusammen mit ihm sein Haus betreten habe. Danach fehlt mir alles.«

»Wollen Sie Jay Burgess beschuldigen, er hätte Sie unter Drogen gesetzt?«, fragte ein Reporter.

»Nein. Aber ich glaube, dass man mir eine sogenannte Vergewaltigungsdroge verabreicht hat. Meine Erlebnisse decken sich mit denen anderer Frauen, denen solche Drogen gegeben wurden.« George drehte sich um und sah seine Frau an. Sie wandte den Blick vom Fernseher ab und sah ihm in die Augen, ohne dass einer ein Wort gesagt hätte.

George wandte sich wieder dem Fernseher zu, in dem jetzt Britt Shelleys Anwalt auf eine Frage antwortete. Der Mann hielt sich die Faust vor den Mund und räusperte sich. Als ehemaliger Polizist wusste George, dass diese Geste auf tiefe Verunsicherung schließen ließ. Entweder würde der Mann gleich versuchen, sich um die Antwort herumzuwinden, oder er würde schlicht und ergreifend lügen.

»Ms Shelley hat eine Urinprobe abgegeben, die zurzeit auf verschiedene Substanzen analysiert wird. Leider sind diese Drogen nur sehr kurzfristig nachweisbar. Je nachdem, welches Mittel Ms Shelley verabreicht wurde, ist es möglich, dass schon zu viel Zeit verstrichen ist, um es noch nachweisen zu können.«

Eine Reporterin in der ersten Reihe meinte: »Sie können also nicht beweisen, dass sie unter Drogen stand.«

»Ich kann zu dieser Frage erst Stellung nehmen, wenn die Urinanalyse vorliegt.«

»Bedauerlicherweise habe ich alles falsch gemacht«, warf Britt Shelley zum Entsetzen ihres Anwalts ein, der sie sofort mit einem strengen Blick zum Schweigen brachte.

Ehe sie noch mehr sagen konnte, warf er sich in die Bresche. »Ms Shelley begriff erst später, dass sie Opfer eines Verbrechens geworden war. Andernfalls hätte sie nicht geduscht und wäre nicht auf die Toilette gegangen, bevor sie eine Urinprobe abgeben konnte.«

»Mit anderen Worten«, kommentierte Miranda, »sie stellt Behauptungen auf, die sie nicht beweisen kann.«

Ohne sich umzudrehen, gebot George ihr mit einem Handwedeln zu schweigen.

»Nein, ich habe keine Ahnung, was zu Jay Burgess’ Tod geführt hat«, beantwortete Britt Shelley eben die Frage eines anderen Reporters. »Man hatte bei ihm einen unheilbaren Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Man nimmt an, dass der Tod etwas mit seiner Erkrankung zu tun hat, aber man wird den Leichnam obduzieren…«

»Wissen Sie, wann?«

»Diese Frage sollten Sie dem Gerichtsmediziner stellen. Hoffentlich möglichst bald. Ich hoffe mehr als jeder andere auf eine Erklärung für Jays Tod.«

»Vermutet die Polizei einen unnatürlichen Tod?«

Ehe Britt Shelley darauf antworten konnte, flüsterte ihr der Anwalt etwas ins Ohr, und sie nickte. »Mehr habe ich im Moment nicht zu sagen.«

»Will die Polizei…«

»Waren Sie und Burgess …«

»Was haben Sie im Wheelhouse getrunken?«

Die Fragen der Reporter hallten durch den Raum, während sie und ihr Anwalt vom Podium stiegen.

»Schalt das ab.«

George kam Mirandas Wunsch nach. Schlagartig war es so still im Raum, dass man die Eiswürfel in seinem Glas klirren hörte, als er einen Schluck Bloody Mary nahm. »Der Wievielte ist das heute?«, wollte Miranda wissen.

»Interessiert dich das wirklich?«

»Und ob mich das interessiert!«, schoss sie zurück. »Weil du ständig betrunken bist, seit wir von dieser Sache erfahren haben.«

»Jay war mein Freund. Trinken gehört für mich zur Trauerarbeit.«

»Es macht keinen guten Eindruck.«

»Auf wen?«

»Auf jeden, den es interessiert und der die Augen offen hält.« Sie betonte wütend jedes einzelne Wort.

»Es interessiert alle, und alle halten die Augen offen. Dass Jay gestorben ist, macht Schlagzeilen. Er war ein Held.«

»Genau wie du.«

Er starrte sekundenlang in sein Glas und kippte dann den Cocktail hinunter. »Ja. Ein richtiger Held. Darum hast du mich geheiratet.«

Sie lachte leise. »Ganz recht, Süßer, ich wollte einen Helden«, sie öffnete den Bademantel unterhalb der Taille, »und du wolltest das hier.«

Früher wäre er sofort auf die Knie gefallen, zu ihr hingekrochen und hätte sein Gesicht in ihrem Schoß vergraben. Er hätte seine Zunge forschend in ihr Geschlecht gebohrt, auf der Suche nach dem winzigen Goldanhänger, der ihr Fleisch durchbohrte, nach diesem verführerischen Juwel, das verborgen blieb, bis sie wirklich erregt war. Früher hatte er sie damit verrückt gemacht.

Doch dann hatte er herausgefunden, wer ihr dieses Schmuckstück geschenkt hatte. Das hatte seine Lust abgetötet.

Sie schlug lachend den Bademantel zu. »Armer George. So aufgebracht über Jays Tod, dass er nicht einmal mit seiner Frau schlafen kann.«

»Nicht, wenn sie noch nach Drake stinkt.«

»Ach bitte. Spiel dich nicht so auf. Schließlich machst du dich immer noch mit dieser Teeniegöre lächerlich, die im Country Klub kellnert.«

»Sie ist sechsundzwanzig. Sie sieht nur wie achtzehn aus.«

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Smoke Screen« bei Simon & Schuster, New York.

1. Auflage Taschenbuchausgabe Juni 2012 im Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2008by Sandra Brown Management Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: bürosüd°, München Umschlagmotiv: © plainpicture / Lasse Pettersson Redaktion: Regine Kirtschig wr ∙ Herstellung: sam Satz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-10320-0

www.blanvalet.de

www.randomhouse.de

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