Sündige Rache - J.D. Robb - E-Book

Sündige Rache E-Book

J.D. Robb

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Beschreibung

Nora Roberts schreibt als J. D. Robb!

Die brutale Ermordung eines Polizisten in einem Nachtclub führt Eve Dallas in die gefährlichen Abgründe New Yorks. Was hat der Mann bei seinem Undercover-Einsatz herausgefunden, dass er sterben musste? Als ein weiterer Kollege tot aufgefunden wird, entdeckt Eve eine Spur, die zu dem König der Unterwelt, Max Ricker, führt. Ricker schreckt vor nichts zurück, doch ist er größenwahnsinnig genug, es mit der gesamten Polizei New Yorks aufzunehmen? Eve vermutet einen ganz anderen Drahtzieher hinter den Morden, der jetzt anscheinend sie selbst ins Visier genommen hat. Oder gilt seine eiskalte Blutspur einem anderen – ihrem Ehemann Roarke, dem der Nachtclub gehört?

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J. D. Robb

Sündige Rache

Roman

Aus dem Amerikanischen von Uta Hege

Buch

 

Niemals hat ein Tatort Lieutenant Eve Dallas so sehr interessiert wie bei diesem Fall. Denn der Ermordete ist ein Cop. Und damit ist die gesamte Polizeitruppe New Yorks in höchstem Aufruhr. Allerdings wurde der Mann in einem zwielichtigen Nachtclub gefunden. Und daher stellt sich Eve nicht nur die Frage nach dem Copkiller. Sie muss auch klären: War der Mann ein korrupter Cop? Oder arbeitete er undercover? Dann aber wird ein zweiter Polizist tot aufgefunden, und ins Visier gerät der König der Unterwelt, Max Ricker. Ricker ist ein mächtiger Mann, doch ist er so größenwahnsinnig, eine ganze Polizeitruppe gegen sich aufzubringen? Oder gibt es im Hintergrund einen ganz anderen Drahtzieher, der eiskalt seine Spur aus Blut und Rache legt - und anscheinend jetzt Eve selbst ins Visier genommen hat. Oder gilt die Aufmerksamkeit eigentlich einem ganz anderen Ziel, nämlich Eves Ehemann Roarke, dem der Nachtclub gehört?

 

Autorin

 

J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts, einer der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren erfolgreich Kriminalromane.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel „Judgement in Death“ bei Berkley Books, The Berkley Publishing Group, a division of Penguin Putnam Inc., New York.

Copyright © by Nora Roberts 2000 Published by arrangement with Eleanor Wilder Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, Garbsen. Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de MD · Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling E-Book-Umsetzung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-641-04040-6V005www.blanvalet-verlag.de

The vices of authority are chiefly four:Delays, corruption, roughness and facility. Der Untugenden der Herrschaft sind vor allem vier: Unpünktlichkeit, Bestechlichkeit, übertriebene Härte sowie, dass sie Vergünstigungen schafft.

Francis Bacon, Essays, Of Great Places

More things belong to marriage than four bare legs in a bed.Mehr Dinge gehören zu einer Ehe als vier nackte Beine in einem Bett.

1

Sie stand im Purgatorium und betrachtete den Tod. Das vergossene Blut, die hervorquellenden Gedärme, die ein Zeichen waren für die grausam wilde Schadenfreude, mit der er über einen Menschen hereingebrochen war. Mit dem Jähzorn eines Kindes, voller Hitze, blinder Leidenschaft und gleichgültiger Brutalität.

Mord war kaum jemals ein sauberes Geschäft. Egal, ob der Täter planvoll vorgegangen war oder wild und impulsiv. Er hinterließ jedes Mal Unordnung und Dreck, den zu beseitigen die Aufgabe von anderen war.

Ihre Aufgabe war es, den Trümmerhaufen zu besteigen, die Einzelteile aufzuheben, sorgfältig zu prüfen, wie sie zueinander passten, und ein Bild des Lebens zusammenzusetzen, das gestohlen worden war. Weil sich nur auf diesem Weg ein Bild des Mörders finden ließ.

Jetzt, in den frühen Morgenstunden eines Frühlingstags im Jahr 2059, knirschte unter ihren Stiefeln ein Meer aus gesplittertem Glas. Ihre kühlen, braunen Augen nahmen die geborstenen Spiegel, die zerbrochenen Flaschen, das gesplitterte Holz, die eingeschlagenen Wandbildschirme und die verkratzten, verbogenen Trennwände zwischen den Tischen wahr. Das kostbare Leder und die teuren Stoffe, mit denen die Barhocker und die bequemen Stühle bezogen gewesen waren, hingen in bunten Fetzen auf den Boden herab.

Was einmal ein luxuriöses Striplokal gewesen war, war nur noch ein wirres Durcheinander teuren Mülls.

Was einmal ein Mensch gewesen war, lag als Opfer hinter der breiten, geschwungenen Bar in seinem eigenen Blut.

Lieutenant Eve Dallas ging neben ihm in die Hocke. Sie war Polizistin, und deswegen gehörte er jetzt ihr.

»Männlich. Schwarz. Ende dreißig. Massive Traumata an Kopf und Körper. Mehrfache Knochenbrüche.« Sie nahm ein Thermometer aus dem Untersuchungsbeutel und maß die Körpertemperatur des Toten sowie die Temperatur im Raum. »Sieht aus, als hätte ihn schon der Schädelbruch das Leben gekostet, aber das hat dem Täter offensichtlich nicht genügt.«

»Er hat regelrechtes Kleinholz aus dem armen Kerl gemacht.«

Eve quittierte diesen Einwurf ihrer Assistentin mit einem leisen Knurren. Sie schaute auf die Überreste eines gut gebauten Mannes in den besten Jahren, der einen guten Meter fünfundachtzig groß, um die hundert Kilo schwer und anscheinend ziemlich durchtrainiert gewesen war.

»Was sehen Sie, Peabody?«

Automatisch wechselte der Officer das Standbein, blickte nachdenklich auf das Tohuwabohu und erklärte: »Das Opfer … nun, es hat den Anschein, als wäre das Opfer von hinten angegriffen worden. Wenn er nicht bereits beim ersten Schlag umgefallen ist, war er zumindest betäubt. Dann hat der Killer weiter auf ihn eingedroschen, unkontrolliert. Dem verspritzten Blut und der Hirnmasse zufolge wurde er zunächst mit Schlägen auf den Kopf traktiert. Dann, während er vermutlich ohnmächtig am Boden lag, weiter malträtiert. Ein paar von den Verletzungen wurden ihm auf jeden Fall nach Eintreten des Todes zugefügt. Wahrscheinlich ist der Metallschläger, der auf dem Boden liegt, die Mordwaffe gewesen. Der Täter muss sehr stark gewesen sein und stand möglicherweise unter Drogen. Leute, die zum Beispiel Zeus genommen haben, neigen zu Gewaltexzessen, wie hier anscheinend einer stattgefunden hat.«

»Ungefährer Todeszeitpunkt war vier Uhr«, erklärte Eve, wandte den Kopf und musterte ihre Assistentin.

Wie üblich war Peabodys Uniform frisch gestärkt und ordentlich gebügelt, und ihre Kopfbedeckung saß genau im rechten Winkel auf ihrem dunklen Haar. Sie hat gute Augen, dachte Eve, und obwohl sie angesichts der Szene, die sich ihnen nach Betreten des Lokals geboten hatte, etwas bleich geworden war, hielt sie tapfer durch.

»Motiv?«

»Sieht wie ein Raubmord aus.«

»Warum?«

»Die Kasse wurde aufgebrochen, und es ist nichts mehr drin.«

»Mmm-hmm. Wahrscheinlich wird an einem schicken Ort wie diesem überwiegend mit Kreditkarte bezahlt, aber ein bisschen Bargeld war bestimmt im Haus.«

»Zeus-Süchtige begehen schon für ein paar Münzen einen Mord.«

»Das ist natürlich richtig. Aber was hat unser Opfer in einem Privatclub allein mit einem Süchtigen gemacht? Weshalb hätte er jemanden, der auf Zeus ist, hinter die Theke lassen sollen? Und …« Sie hob mit ihren versiegelten Fingern eine kleine Silbermünze auf, die in der Blutlache neben dem Toten schwamm, »weshalb hätte ein Süchtiger das hier liegen lassen sollen? Rund um das Opfer sind eine ganze Reihe Münzen auf dem Fußboden verstreut.«

»Vielleicht hat er sie fallen gelassen.« Gleichzeitig jedoch kam Peabody auf den Gedanken, dass sie irgendetwas übersah.

»Vielleicht.«

Nacheinander hob Eve dreißig Münzen von der Erde auf, gab sie in eine Tüte und drückte diese ihrer Assistentin in die Hand. Dann griff sie nach dem Schläger. Blut und Hirnmasse besudelten das zirka sechzig Zentimeter lange, solide gearbeitete Stück.

Dies war kein Spielzeug, dachte sie. Dies war als Waffe gedacht.

»Das Ding ist aus gutem, solide verarbeitetem Metall. So etwas liegt garantiert nicht irgendwo herum, wo ein Süchtiger es findet. Wahrscheinlich hat es ständig hier gelegen, und zwar hinter der Bar. Das hat der Täter offenbar gewusst. Wahrscheinlich hat unser Opfer seinen Mörder gekannt. Eventuell haben sie noch etwas zusammen getrunken, nachdem der Laden bereits offiziell geschlossen war.«

Sie kniff die Augen zusammen und stellte sich die Szene vor. »Vielleicht haben sie Streit miteinander bekommen, und dieser Streit ist eskaliert. Vielleicht aber war unser Killer auch schon wütend, als er hier erschien. Er wusste, wo der Schläger lag. Kam hinter die Bar. Das hatte er auch vorher schon ab und zu gemacht, weshalb sich unser Freund hier nichts Schlimmes dabei denkt. Er ist völlig sorglos, er kehrt seinem Mörder den Rücken zu …«

Sie nahm selbst die Position ein, die das Opfer seiner Lage und den Blutspritzern zufolge innegehabt zu haben schien. »Beim ersten Schlag kracht er mit dem Gesicht gegen den Spiegel an der Wand. Sehen Sie sich die Schnittwunden in seiner Stirn und seinen Wangen an. Sie stammen eindeutig nicht von umherfliegenden Splittern. Dafür sind sie viel zu lang und viel zu tief. Er schafft es, sich noch mal umzudrehen, und deshalb trifft der Killer ihn beim zweiten Mal von vorn. Die Wucht des Schlags schleudert ihn wieder herum, er klammert sich an die Regale, reißt sie mit sich herunter, und die Flaschen krachen auf den Boden. In diesem Moment trifft ihn der dritte Schlag, der seinen Schädel platzen lässt wie die Schale von einem Ei.«

Sie ging abermals in die Hocke, setzte sich auf die Fersen und fuhr mit ihren Überlegungen fort. »Danach drischt der Killer wie ein Wahnsinniger weiter auf ihn ein und verwüstet anschließend das Lokal. Entweder aus Wut oder weil er Spuren verwischen will. Aber er war selbstbeherrscht genug, um dann noch mal hierher zurückzukommen, sein Werk zu betrachten und den Schläger dort fallen zu lassen, wo alles begonnen hat.«

»Er wollte, dass es aussah wie ein Raub? Er wollte, dass wir denken, dass irgendein Junkie im Vollrausch auf das Opfer eingedroschen hat?«

»Nur kann es, falls unser Opfer kein totaler Idiot gewesen ist, unmöglich so gewesen sein. Haben Sie die Leiche und den Tatort schon gefilmt?«

»Ja, Madam.«

»Dann drehen wir den Toten jetzt mal um.«

Als Eve den Leichnam wendete, klirrten die gebrochenen Knochen wie zerbrochenes Geschirr. »O verdammt. Gott verdammt.«

Sie zog einen verschmierten Dienstausweis aus der Pfütze halb trockenen Bluts, wischte ihn mit ihrem Daumen ab und erklärte tonlos: »Er war einer von uns.«

»Er war Polizist?« Peabody trat einen Schritt nach vorn, und plötzlich senkte sich vollkommene Stille über den zuvor mit leisem Murmeln angefüllten Raum. Die Leute von der Spurensicherung, die den Bereich hinter der Theke untersuchten, hielten in der Arbeit inne.

Ein halbes Dutzend Gesichter wandte sich den beiden Frauen zu.

»Detective Taj Kohli.« Grimmig stand Eve auf und wiederholte: »Er war einer von uns.«

Peabody ging durch den verwüsteten Raum zu Eve, die zusah, wie der Leichnam von Detective Kohli für den Transport ins Leichenschauhaus in einen schwarzen Beutel umgebettet wurde. »Ich habe ein paar erste Informationen eingeholt, Dallas. Er war auf dem hundertachtundzwanzigsten Revier und dort bei der Drogenfahndung eingesetzt. War seit acht Jahren dabei. Kam vom Militär. Siebenunddreißig Jahre. Verheiratet. Zwei Kinder.«

»Irgendwelche Auffälligkeiten in Zusammenhang mit seiner Arbeit?«

»Nein, Madam. Seine Akte ist völlig sauber.«

»Lassen Sie uns rausfinden, ob er undercover hier war oder ob dies nur ein normaler Nebenjob für ihn gewesen ist. Elliott? Ich will die Disketten aus sämtlichen Überwachungskameras.«

»Es gibt keine«, erklärte der Mann von der Spurensicherung ihr aufgebracht. »Sie sind alle weg. Es gibt jede Menge Kameras in diesem Haus, aber dieser Hurensohn hat keine übersehen. Wir haben also nicht das Geringste in der Hand.«

»Hat seine Spuren gut verwischt.« Eve stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich einmal um sich selbst. Das Lokal erstreckte sich über drei Etagen. Ganz unten gab es eine Bühne, und die größere der beiden Tanzflächen in den beiden oberen Geschossen wurde von einer Reihe von Separees gesäumt. Für eine vollständige Überwachung würden also mindestens ein Dutzend Kameras gebraucht.

»Er hat das Lokal gekannt«, schloss sie aus der Information, dass keine dieser Kameras von dem Täter übersehen worden war. »Oder er ist ein Sicherheitsexperte. Tarnung«, murmelte sie nachdenklich. »All die Zerstörung dient lediglich der Tarnung. Er wusste, was er tat. Er war total beherrscht. Peabody, finden Sie heraus, wem das Lokal gehört und wer es leitet. Ich will die Namen aller Leute, die hier beschäftigt sind. Ich will wissen, was das Purgatorium für ein Laden ist.«

»Lieutenant?« Einer der Männer von der Spurensicherung bahnte sich mit gequälter Miene einen Weg durch die Verwüstung und trat auf die beiden Frauen zu. »Draußen steht ein Mann.«

»Draußen stehen jede Menge Leute. Sorgen Sie dafür, dass sie auch weiter draußen bleiben.«

»Zu Befehl, Madam, aber dieser Mann besteht darauf, mit Ihnen zu sprechen. Er sagt, dass ihm das Lokal gehört und, äh …«

»Und, äh, was?«

»Und, dass Sie seine Frau sind.«

»Roarke Entertainment«, las in dieser Sekunde Peabody vom Bildschirm ihres Handcomputers ab und fragte mit einem vorsichtigen Lächeln: »Raten Sie mal, wem das Purgatorium gehört?«

»Ich hätte es mir denken sollen.« Resigniert marschierte Eve in Richtung Tür.

Er sah noch genauso aus wie vor zwei Stunden, als sie zu Hause aufgebrochen war. Geschmeidig, prachtvoll, elegant. Der leichte Mantel, den er über seinem dunklen Anzug trug, flatterte in der frühmorgendlichen Brise. Derselben Brise, die auch seine dichten, schwarzen Haare um das verrucht poetische Gesicht mit den markanten Wangenknochen wehen ließ. Durch die dunkle Sonnenbrille, die er trug, wurde die maskuline Eleganz, die er verströmte, tatsächlich noch verstärkt.

Dann aber nahm er die Brille ab und betrachtete seine Frau, als sie zu ihm auf die Straße trat, mit hochgezogenen Brauen aus leuchtend blauen Augen.

»Guten Morgen, Lieutenant.«

»Ich hatte schon ein ungutes Gefühl, als ich vorhin hier eintraf. Ich hätte mir denken sollen, dass als Eigentümer eines solchen Ladens nur du in Frage kommst. Warum zum Teufel musst du so viel besitzen?«

»Mit dem Lokal habe ich mir einen Traum aus meiner Jugendzeit erfüllt.« Wie immer, wenn er in den irischen Akzent, mit dem er aufgewachsen war, zurückfiel, klang seine Stimme wie Musik. Er spähte an ihr vorbei auf das Polizeisiegel, das am Eingang seines Etablissements befestigt worden war. »Sieht aus, als hätte man uns beiden Ungelegenheiten gemacht.«

»Musstest du dem Typen von der Spurensicherung unbedingt erklären, dass ich deine Frau bin?«

»Du bist doch meine Frau«, erklärte er ihr vergnügt, »was mich jeden Tag aufs Neue freut.« Er griff nach ihrer Hand und strich mit seinem Daumen über ihren Ehering, bevor es ihr gelang, sich ihm wieder zu entziehen.

»Rühr mich nicht an«, zischte sie, und er sah sie lächelnd an.

»Vor ein paar Stunden hast du noch etwas völlig anderes gesagt. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass -«

»Halt die Klappe, Roarke.« Obwohl keiner der Kollegen in der Nähe war, sah sie sich ängstlich um. »Wir ermitteln hier in einem Mordfall.«

»Das wurde mir bereits verraten.«

»Und von wem?«

»Vom Leiter der Putzkolonne, der die Leiche gefunden hat. Er hat erst die Polizei verständigt«, klärte er seine Gattin auf. »Aber es ist ja wohl normal, dass er mich ebenfalls angerufen hat. Was ist passiert?«

Es wäre sinnlos, sich darüber aufzuregen, dass sich ihrer beider Arbeitsfelder wieder einmal überschnitten.

Also tröstete sie sich damit, dass er ihr zumindest bei all dem Papierkram würde helfen können, der mit einem solchen Fall verbunden war.

»War ein Theker namens Kohli in dem Laden beschäftigt? Taj Kohli?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber ich finde es gern für dich heraus.« Er zog einen schlanken Handcomputer aus der Brusttasche seines Jacketts und gab die Anfrage dort ein. »Ist er tot?«

»So tot, wie man nur sein kann.«

»Ja, er war bei mir angestellt«, bestätigte Roarke, und seine Stimme bekam einen nüchternen, kalten Klang. »Seit drei Monaten. Als Teilzeitkraft. Vier Abende pro Woche. Er hatte Familie.«

»Ja, ich weiß.« Regelmäßig rief es ein Gefühl der Rührung in ihr wach, dass er solche Dinge derart wichtig nahm. »Er war Polizist«, erklärte sie, und er zog überrascht die Brauen hoch. »Hast du das nicht gewusst?«

»Nein. Scheint, als wäre die Geschäftsführerin ein wenig nachlässig gewesen. So etwas kommt nicht noch einmal vor. Darf ich das Haus betreten?«

»Ja, gleich. Wie lange gehört dir dieser Laden schon?«

»Ungefähr vier Jahre.«

»Und wie viele Leute sind dort als Voll- oder Teilzeitkräfte angestellt?«

»Ich werde alle deine Fragen beantworten, Lieutenant.« Verärgert legte er die Hand auf den Griff der Tür. »Aber erst mal würde ich mich gerne drinnen umsehen.«

Er ging hinein, sah sich in dem Durcheinander um und blickte auf den dicken, schwarzen Sack, den man auf eine schmale Bahre lud.

»Wie wurde er umgebracht?«

»Gründlich«, antwortete Eve und seufzte, als Roarke sie auffordernd ansah, leise auf. »Es war ziemlich hässlich, okay? Jemand hat mit einem Metallknüppel Brei aus ihm gemacht.« Sie merkte, dass Roarke zu den Blutspritzern auf dem Glas hinter dem Tresen sah. Sie wirkten wie ein abstraktes Gemälde. »Nach den ersten Schlägen hat er bestimmt nichts mehr gespürt.«

»Hat man dich jemals mit einem Metallschläger verdroschen? Mich schon«, erklärte er, ohne abzuwarten, ob sie ihm eine Antwort gab. »Das ist alles andere als angenehm. Tja, ein Raubüberfall war das sicher nicht.«

»Warum?«

»Hier in diesem Laden gab es jede Menge teurer Alkoholika. Weshalb also hätte jemand, der Beute machen wollte, die Flaschen zerbrechen sollen, statt sie einzusacken und sie zu verkaufen? Wenn man ein Lokal wie das hier überfällt, dann bestimmt nicht wegen der paar Kröten, die es möglicherweise abzustauben gibt. Ein Räuber hätte es bestimmt nicht auf das bisschen Kohle, sondern auf das Inventar und vielleicht auf ein paar technische Geräte abgesehen.«

»Spricht da etwa die Stimme der Erfahrung?«, fragte Eve und entlockte ihm ein, wenn auch schmales, Grinsen.

»Natürlich. Und zwar meine Erfahrung als Eigentümer und gesetzestreuer Bürger.«

»Genau.«

»Was ist mit den Disketten aus den Überwachungskameras?«

»Weg. Er hat sie alle mitgenommen.«

»Woraus folgt, dass er sich vorher schon mal gründlich umgesehen hat.«

»Wie viele Kameras sind insgesamt in dem Laden installiert?«

Erneut zog Roarke seinen kleinen Computer aus der Tasche und gab die Frage ein. »Achtzehn. Neun hier in der untersten Etage, sechs in der ersten und die anderen drei oben unterm Dach. Bevor du fragst: Geschlossen wird um drei, was heißt, dass die Angestellten für gewöhnlich spätestens halb vier gegangen sind. Die letzte Show endet um zwei. Die Musiker und Entertainer -«

»Stripper -«

»Meinetwegen«, erwiderte er milde. »Sie hören um dieselbe Zeit mit ihrer Arbeit auf. Sämtliche Namen und Arbeitszeiten liegen innerhalb der nächsten Stunde auf dem Schreibtisch in deinem Büro.«

»Danke. Warum Purgatorium?«

»Der Name?« Der Hauch eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Er hat mir gefallen. Das Purgatorium ist ein Ort der Sühne, vielleicht der Rehabilitation. Ein bisschen wie ein Gefängnis. Ich habe ihn immer als die letzte Möglichkeit zum Mensch-Sein angesehen«, antwortete er. »Bevor man entweder Flügel und einen Heiligenschein verpasst bekommt – oder im ewigen Feuer der Verdammnis schmort.«

»Was wäre dir lieber?« Sie sah ihn leicht lächelnd an. »Die Flügel oder das Feuer?«

»Weißt du, genau das ist die große Frage. Ich bin am liebsten Mensch.« Als die Bahre an ihnen vorbeigetragen wurde, strich er mit einer Hand über ihr kurzes braunes Haar. »Das hier tut mir Leid.«

»Mir auch. Gibt es einen Grund, aus dem ein Detective der New Yorker Polizei undercover im Purgatorium hätte ermitteln können?«

»Keine Ahnung. Es wäre natürlich möglich, dass ein paar von unseren Gästen irgendwelche Dinge tun, die der Polizei nicht unbedingt gefallen, aber mir ist nichts davon bekannt. Vielleicht wechseln in den Separees manchmal ein paar Drogen den Besitzer, aber größere Geschäfte finden hier nicht statt. Davon hätte ich gehört. Und nur diejenigen von unseren Stripperinnen, die eine Lizenz dafür besitzen, lassen sich näher mit den Gästen ein. Minderjährige kommen weder als Gäste noch als Angestellte hier herein. Selbst wenn du das eventuell nicht glaubst, habe ich gewisse Standards, und von denen weiche ich nicht ab.«

»Niemand macht dir irgendwelche Vorhaltungen, Roarke. Ich brauche lediglich eine Vorstellung davon, was hier in diesem Laden läuft.«

»Es nervt dich, dass ich in die Sache involviert bin.«

Sie wartete einen Moment. Und als die Tür geöffnet wurde, um die Bahre mit dem toten Kohli aus dem Haus tragen zu können, drangen die Geräusche des anbrechenden Tages zu ihnen ins Lokal.

Der Verkehr nahm bereits merklich zu. Autos verstopften die Straßen, Flugzeuge den Himmel, und sie hörte, wie ein neugieriger Schwebegrillbetreiber von den Bahrenträgern wissen wollte: »Wer zum Teufel ist das?«

»Okay, es nervt mich, dass du in die Sache involviert bist. Aber ich werde mich damit arrangieren. Wann warst du zuletzt hier?«

»Vor zig Monaten. Der Laden lief gut, weshalb ich mich nicht persönlich darum kümmern musste.«

»Wer ist der Geschäftsführer?«

»Rue MacLean. Ich drucke dir gerne ihre Daten aus.«

»Und zwar so schnell wie möglich. Willst du dir den Laden jetzt genauer ansehen?«

»Das macht keinen großen Sinn, denn schließlich weiß ich kaum noch, wie er ausgesehen hat. Aber wenn ich meine Erinnerung aufgefrischt habe, lasst ihr mich hoffentlich noch mal herein.«

»Ich werde eine diesbezügliche Anweisung erteilen. Ja, Peabody?«, fragte sie, als ihre Assistentin zögernd näher kam.

»Entschuldigung, Madam, aber ich dachte, Sie wollten sicher wissen, dass ich die Vorgesetzte des Opfers erreicht habe. Sie schicken ein Mitglied seiner Einheit und einen psychologischen Beistand zu seinen nächsten Verwandten. Und sie wollen wissen, ob sie auf Sie warten sollen oder ob es in Ordnung ist, wenn sie schon mal allein zu seiner Witwe gehen.«

»Sagen Sie ihnen, sie sollen auf uns warten. Wir fahren sofort los und treffen sie dort vor der Tür. Ich muss gehen«, sagte sie zu Roarke.

»Ich beneide dich nicht um deinen Job, Lieutenant.« Weil er es selber brauchte, ergriff er ihre Hand. »Aber ich lasse dich am besten jetzt in Ruhe. Die gewünschten Informationen schicke ich dir so schnell wie möglich zu.«

»Roarke?«, rief sie ihm, als er sich zum Gehen wandte, hinterher. »Tut mir Leid, dass dein Laden nur noch ein Scherbenhaufen ist.«

»Holz und Glas. Das kann man ersetzen«, antwortete er und sah sie über die Schulter hinweg an.

»Das meint er nicht ernst«, murmelte Eve und schloss hinter ihm die Tür.

»Madam?«

»Sie haben ihm ans Bein gepinkelt. Das wird er sich nicht gefallen lassen.« Sie seufzte hörbar. »Kommen Sie, Peabody, fahren wir zu Kohlis Frau und bringen das Elend so rasch es geht hinter uns.«

Die Kohlis lebten in einem ordentlichen, mittelgroßen Gebäude in der East Side. Der Art von Gebäude, überlegte Eve, in der man überwiegend junge Familien und Pensionäre fand. Nicht schick genug für erfolgreiche Singles und nicht billig genug für Menschen ohne festes Gehalt.

Es war ein hübsches, ja sogar ein wenig elegantes, nach den Innerstädtischen Revolten wiederhergestelltes Mehrfamilienhaus.

Gesichert war die Tür durch einen schlichten Eingangscode.

Noch bevor Eve in der zweiten Reihe parkte und durch Einschalten des Blaulichts kenntlich machte, dass sie dienstlich hier war, hatte sie ihre Kollegen schon entdeckt.

Die Frau wirkte mit ihrem blonden, kinnlangen, glatt geföhnten Haar, ihrer Sonnenbrille und dem dezenten, marineblauen Kostüm durch und durch gepflegt. Ihre eleganten, hochhackigen Pumps verrieten, dass sie für gewöhnlich hinter einem Schreibtisch saß.

Sie war eindeutig ein ziemlich hohes Tier.

Der Mann hatte breite Schultern, einen leichten Bauchansatz und dichtes, graues Haar, das in der leichten Brise um sein ruhiges, gefasstes Gesicht zu tanzen schien. Seine Schuhe – echte Polizistenschuhe – hatten harte Sohlen und waren frisch geputzt, seine Jacke war ein bisschen zu eng, und die Ärmel fransten leicht aus.

Ein alter Hase, dachte Eve. Er hatte sich seinen jetzigen Bürojob eindeutig durch jahrelangen Einsatz auf der Straße schwer verdient.

»Lieutenant Dallas.« Die Frau trat auf sie zu, bot ihr jedoch nicht die Hand. »Ich habe Sie sofort erkannt. Sie sind ziemlich oft im Fernsehen.« Ihre Stimme hatte keinen vorwurfsvollen Klang, trotzdem aber war zu spüren, dass Eves Berühmtheit ihr missfiel. »Ich bin Captain Roth, vom hundertachtundzwanzigsten Revier. Das hier ist Sergeant Clooney. Er gehört zu meiner Truppe und ist als psychologischer Beistand hier.«

»Danke, dass Sie auf uns gewartet haben. Officer Peabody, meine Assistentin.«

»Detective Kohlis Leichnam liegt in der Pathologie und wird umgehend untersucht. Sobald wir seine nächsten Angehörigen verständigt haben, schreibe ich meinen Bericht.«

Sie machte eine Pause, um nicht gegen den Maxibus anschreien zu müssen, der mit unglaublichem Getöse einen halben Block entfernt an einer Haltestelle vorfuhr.

»Alles, was ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann, Captain Roth, ist, dass ich einen toten Polizisten habe, der in den frühen Morgenstunden in einem Club auf die brutalste Art und Weise zu Tode geprügelt worden ist. Einem Club, in dem er offenbar als Teilzeitkraft beschäftigt war.«

»Kann es ein Raubüberfall gewesen sein?«

»Das halte ich für unwahrscheinlich.«

»Was für ein Motiv hat der Täter dann Ihrer Meinung nach gehabt?«

Die Frage rief ein Gefühl des Ärgers in Eve wach, und sie wusste, wenn sie sich nicht vorsah, käme es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihr und dieser Frau. »Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, Captain Roth. Wollen Sie weiter hier draußen auf der Straße rumstehen und mich löchern? Oder lesen Sie lieber nachher meinen Bericht?«

Roth öffnete den Mund, atmete hörbar ein, meinte dann jedoch: »Sie haben Recht. Allerdings war Detective Kohli fünf Jahre lang einer von meinen Männern, weshalb ich möchte, dass meine Abteilung die Leitung der Ermittlungen in diesem Mordfall übernimmt.«

»Das kann ich durchaus verstehen, Captain Roth. Aber lassen Sie mich Ihnen versichern, dass der Fall, solange ich die Ermittlungen leite, meine ganze Aufmerksamkeit bekommt.«

Nimm endlich die verdammte Sonnenbrille ab, ging es Eve durch den Kopf. Ich will sehen, was du für Augen hast. »Sie können natürlich beantragen, dass man die Ermittlungen Ihnen überträgt. Aber ich will Ihnen gegenüber ehrlich sein. Ich gebe diesen Fall nicht einfach ab. Ich habe heute Morgen neben ihm gekniet. Ich habe gesehen, was mit ihm passiert ist. Sie können seinen Mörder also unmöglich dringender dingfest machen wollen als ich.«

»Captain.« Clooney trat einen Schritt nach vorn und legte eine Hand auf Roths linken Arm. Mit seinen von Falten gerahmten, blauen Augen sah er müde und irgendwie vertrauenswürdig aus. »Lieutenant. Natürlich gehen momentan unser aller Gefühle mit uns durch. Aber wir sollten uns vielleicht auf das besinnen, weshalb wir hierher gekommen sind.«

Er hob den Kopf und blickte zu einem Fenster im vierten Stock. »Was auch immer wir empfinden, kommt dem, was gleich dort oben empfunden werden wird, nicht einmal ansatzweise nahe.«

»Sie haben Recht. Sie haben Recht, Art. Also bringen wir es hinter uns.«

Roth trat vor die Haustür und schob ihren Generalschlüssel ins Schloss.

»Lieutenant?« Clooney blieb ein Stück zurück. »Ich weiß, dass Sie Patsy befragen werden wollen, aber ich muss Sie bitten, dabei möglichst vorsichtig zu sein. Ich weiß, wie sie leiden wird. Ich habe selbst vor ein paar Monaten einen Sohn verloren, der bei der Polizei war und im Dienst getötet worden ist. Es zerreißt einem das Herz.«

»Ich werde garantiert nicht zusätzlich nach ihr treten, wenn sie sowieso bereits am Boden liegt.« Eve marschierte los, blieb noch einmal stehen, atmete tief durch und drehte sich zu Clooney um. »Ich habe Kohli nicht gekannt«, erklärte sie ihm ruhig. »Aber er wurde ermordet, und er war Polizist. Das ist für mich Grund genug, gründlich, aber auch rücksichtsvoll zu sein. Okay?«

»Ja. Ja, okay.«

»Himmel, wie ich das hasse.« Sie folgte Roth zum Fahrstuhl. »Wie machen Sie das nur?«, wollte sie von Clooney wissen. »Wie schaffen Sie es, den Menschen in ihrer Trauer beizustehen? Wie halten Sie das aus?«

»Ehrlich gesagt, haben sie mich dafür gewählt, weil ich schon vorher, wenn es irgendwo mal Streit gab, schlichtend eingegriffen habe. Als Mediator«, erläuterte er lächelnd. »Ich habe mich bereit erklärt, mich den Angehörigen von Mordopfern als psychologischer Beistand zur Verfügung zu stellen, weil ich dachte, dass ich dadurch etwas Gutes bewirken kann. Ich verstehe diese Menschen, denn ich habe selbst das Gleiche durchgemacht. Noch dazu kenne ich Patsy und Taj recht gut.«

Sein Lächeln war verflogen, und mit zusammengepressten Lippen stieg er mit den Frauen in den Lift. »Man hält es deshalb aus, weil man diesen Menschen … wenn auch natürlich nur begrenzt … in ihrem Unglück helfen kann. Es ist gut, wenn der Zuspruch von einem Polizisten kommt, und es ist noch besser, wenn dieser Polizist einen ähnlichen Verlust erlitten hat. Haben Sie jemals ein Mitglied Ihrer Familie verloren, Lieutenant?«

Eve dachte an ein verdrecktes Zimmer, an die blutige Hülle eines Mannes und an das kleine Kind, das mit gebrochenem Arm und zerschundenem Körper in einer Ecke dieses Raums gekauert hatte und das sie selbst gewesen war. »Ich habe keine Familie.«

»Nun …«, war alles, was Clooney darauf sagte, während er mit ihr im vierten Stock des Hauses aus dem Fahrstuhl stieg.

Sicher wüsste sie sofort Bescheid. Als Frau eines Polizisten wüsste sie es, sobald sie ihnen öffnete. Wie sie es formulieren würden, wäre egal. In dem Moment, in dem die Tür geöffnet würde, wäre für sie nichts mehr, wie es zuvor gewesen war.

Sie fanden nicht einmal die Zeit zu klopfen, als es schon begann.

Patsy Kohli war eine hübsche Frau mit glatter, ebenholzschwarzer Haut und kurz geschnittenem, krausem Haar. Sie trug eine Jacke, hatte sich ein Tragetuch mit einem Baby vor die Brust geschnallt, und der kleine Junge, den sie an der Hand hielt, hüpfte fröhlich auf und ab und rief mit heller Stimme: »Lass uns schaukeln gehen! Lass uns endlich schaukeln gehen!«

Der Anblick der Menschen vor ihrer Wohnungstür jedoch wischte das Lachen aus Patsys Gesicht. Sie hob eine Hand und drückte damit das Baby an ihr Herz.

»Taj.«

Roth hatte ihre Sonnenbrille abgenommen und sah die Frau reglos an. »Patsy. Wir müssten kurz mit Ihnen sprechen.«

»Taj.« Patsy stand wie angewurzelt da und schüttelte den Kopf. »Taj.«

»Bitte, Patsy.« Clooney trat neben sie, legte einen Arm um ihre Schultern und fragte mit begütigender Stimme: »Warum setzen wir uns nicht?«

»Nein. Nein. Nein.«

Verstört zog ihr kleiner Sohn an ihrer schlaffen Hand und begann zu heulen.

Roth und Eve schnaubten entsetzt, Peabody jedoch ging vor ihm in die Hocke und sah ihn lächelnd an. »Hallo, Kumpel.«

»Will schaukeln gehen«, erklärte er schrill, und dicke Tränen kullerten nun über sein pausbäckiges Gesicht.

»Ja. Lieutenant, warum nehme ich den Jungen nicht einfach mit nach draußen?«

»Gute Idee. Ja, gute Idee.« Angesichts des durchdringenden Jammerns, das der Kleine ausstieß, fragte Eve mit rauer Stimme: »Mrs Kohli, mit Ihrer Erlaubnis nimmt meine Assistentin Ihren Sohn mit raus. Ich denke, das wäre im Augenblick das Beste.«

»Chad.« Als würde sie aus tiefer Trance erwachen, starrte Patsy auf das Kind. »Wir gehen immer in den Park zwei Blöcke weiter. Dort gibt es ein paar Schaukeln.«

»Dort werde ich mit ihm hingehen, Mrs Kohli. Wir kommen sicher klar.« Mit einer Leichtigkeit, die Eve verblüffte, nahm Peabody den Jungen auf den Arm und fragte: »Wie sieht's aus, isst du vielleicht gerne Hot Dogs?«

»Patsy, warum gibst du mir nicht dein kleines Mädchen?« Clooney öffnete das Tragetuch, nahm das Baby heraus und legte es der versteinerten Eve vorsichtig in den Arm.

»Oh, hören Sie, ich kann nicht -«

Clooney aber führte Patsy bereits zum Sofa und ließ Eve mit dem Bündel hinter sich zurück. Vorsichtig beäugte sie das Paket und bekam, als sie in zwei große, schwarze Kulleraugen sah, vor lauter Panik feuchte Hände. Als das Baby zudem noch fröhlich gluckste, hätte sie es vor Schreck fast fallen gelassen.

Hilfesuchend schaute sie sich um. Clooney und Roth flankierten Patsy, und Clooney sprach mit leiser Stimme auf die junge Witwe ein. Auf dem Teppich lag verstreut irgendwelches Spielzeug. Der Geruch von Puder, Malkreide und Zucker – halt der Geruch von kleinen Kindern –, der ihr in die Nase stieg, war ihr völlig fremd.

Sie entdeckte einen Korb mit frisch gewaschener Wäsche neben einem Stuhl, legte das Baby so vorsichtig, als wäre es ein Sprengsatz, darin ab, tätschelte ihm unsicher den Kopf und wandte sich aufatmend den drei anderen zu.

Patsy, deren Hände in denen von Clooney lagen, wiegte sich unglücklich vor und zurück. Sie machte kein Geräusch, doch ein Strom von Tränen rann wie dichter Regen über ihr Gesicht.

Eve hielt sich weiter abseits und beobachtete Clooney. Die Kohlis, dachte sie, waren eine Familie gewesen. Und in dieser Minute wurde diese Familie für ewig zerstört.

Die Trauer senkte sich wie Nebel über den kleinen Raum. Es würde lange dauern, bis sie wieder verflog.

»Es ist meine Schuld. Es ist meine Schuld«, waren die ersten Worte, die Patsy, seit sie auf dem Sofa Platz genommen hatte, sprach.

»Nein.« Clooney drückte ihre Hände, bis sie ihm in die Augen sah. Er wusste, das war wichtig. Damit sie ihm glauben und sich von ihm trösten lassen konnte, war es unerlässlich, dass sie ihm in die Augen sah. »Natürlich ist es das nicht.«

»Er hat nur meinetwegen dort gejobbt. Ich wollte nach Jillys Geburt nicht weiterarbeiten. Ich wollte lieber zu Hause bleiben und die Kinder erziehen. Das Geld, das Erziehungsgeld, war so viel weniger als das, was ich -«

»Patsy, Taj war glücklich, weil du bei den Kindern geblieben bist. Er war sehr, sehr stolz auf die beiden und auf dich.«

»Ich kann nicht – Chad.« Sie riss ihre Hände los und hob sie vors Gesicht. »Wie soll ich es ihm sagen? Wie sollen wir leben ohne Taj? Wo ist er?« Sie ließ ihre Hände sinken und sah sich mit blinden Augen um. »Ich muss ihn sehen. Vielleicht ist das alles nur ein schrecklicher Irrtum.«

Dies war ihr Stichwort, wusste Eve. »Tut mir Leid, Mrs Kohli, aber ein Irrtum ist völlig ausgeschlossen. Ich bin Lieutenant Dallas. Ich leite die Ermittlungen.«

»Sie haben Taj gesehen.« Unsicher stand Patsy auf.

»Ja. Es tut mir Leid. Es tut mir sehr Leid, dass Sie ihn verloren haben. Können Sie mit mir sprechen, Mrs Kohli? Können Sie mir helfen, die Person zu finden, die dieses Verbrechen begangen hat?«

»Lieutenant Dallas«, begann Roth, aber Patsy schüttelte den Kopf.

»Nein, nein. Ich möchte reden. Taj würde es so wollen. Er würde wollen, dass … Wo ist Jilly? Wo habt ihr mein Baby hingebracht?«

»Ich, äh …« Unbehaglich zeigte Eve in Richtung Wäschekorb.

»Oh.« Patsy wischte sich die Tränen fort und erklärte mit einem Hauch von Lächeln: »Sie ist ein wunderbares Kind. Sie weint so gut wie nie. Trotzdem sollte ich sie besser in ihre Wiege legen.«

»Das kann ich übernehmen, Patsy.« Clooney erhob sich ebenfalls. »Sprich du stattdessen mit dem Lieutenant.« Er bedachte Eve mit einem ruhigen, mitfühlenden Blick. »Taj würde es so wollen. Sollen wir jemanden anrufen? Vielleicht deine Schwester?«

»Ja.« Patsy atmete zitternd durch. »Ja, bitte. Ich wäre dir dankbar, wenn du Carla darum bitten würdest, dass sie kommt.«

»Das macht Captain Roth, nicht wahr, Captain? Währenddessen lege ich das Baby in seine Wiege.«

Roth malmte sichtbar mit den Zähnen. Eve war von diesem Zeichen der Verärgerung nicht weiter überrascht. Clooney hatte einfach die Führung übernommen, und Roth war keine Frau, die sich ohne weiteres Befehle von einem Untergebenen erteilen ließ.

Trotzdem sagte sie: »Ja, natürlich.« Und ging mit einem letzten, warnenden Blick in Richtung von Eve nach nebenan.

»Gehören Sie zu Tajs Brigade?«

»Nein.«

»Nein, nein, natürlich nicht.« Patsy rieb sich nachdenklich die Schläfe. »Sie müssen von der Mordkommission sein.« Ein leises Wimmern drang aus ihrer Kehle, und Eve empfand Bewunderung, als sie sich sofort wieder zusammenriss und mit ruhiger Stimme fragte: »Was wollen Sie wissen?«

»Haben Sie sich keine Sorgen gemacht, als Ihr Mann heute Nacht nicht heimgekommen ist?«

»Nein.« Sie stützte sich mit einer Hand auf der Sofa-lehne ab und nahm erschöpft wieder Platz. »Er hatte gesagt, wahrscheinlich führe er direkt vom Club aus aufs Revier. Das hat er manchmal so gemacht. Außerdem hat er gesagt, er würde nach Schließen des Clubs noch jemanden treffen.«

»Wen?«

»Das hat er nicht gesagt. Er hat mir nur erzählt, dass er noch mit jemandem verabredet war.«

»Wissen Sie, ob es jemanden gibt, der ihm Schlechtes gewünscht hat, Mrs Kohli?«

»Er war Polizist«, kam die schlichte Antwort. »Gibt es jemanden, der Ihnen Schlechtes wünscht, Lieutenant?«

Gut gekontert, dachte Eve und nickte. »Jemand Speziellen? Hat er mal einen Namen erwähnt?«

»Nein. Über seine Arbeit hat Taj nie mit mir gesprochen. Das war für ihn ein ehernes Prinzip. Er wollte nicht, dass seine Familie mit diesen Dingen in Berührung kommt. Ich kann Ihnen nicht mal sagen, was für Fälle er bearbeitet hat. Er hat nicht gern davon gesprochen. Aber irgendetwas hat ihn bedrückt.«

Sie legte die Hände in ihren Schoß und starrte auf ihren goldenen Ehering. »Ich habe gemerkt, dass er Sorgen hatte. Ich habe ihn danach gefragt, aber er hat so getan, als bilde ich mir das nur ein. Typisch Taj«, erklärte sie mit einem unglücklichen Lächeln. »Er war, tja, manche hätten vielleicht behauptet, dass er ein Macho gewesen ist, aber er war halt einfach Taj. In manchen Dingen war er ziemlich altmodisch. Er war ein guter Ehemann. Ein wunderbarer Vater. Und er hat seinen Job geliebt.«

Sie presste die Lippen aufeinander. »Er wäre stolz darauf gewesen, wenn er in Erfüllung seines Dienstes gestorben wäre. Aber nicht so. Nicht so. Wer ihn ermordet hat, hat ihn dieses letzten Glücks beraubt. Hat ihn mir und seinem Baby genommen. Wie kann das sein? Lieutenant, wie kann das sein?«

Da es darauf keine Antwort gab, blieb Eve nichts anderes übrig, als Patsy weitere Fragen nach ihrem Mann zu stellen. Was sie so behutsam wie möglich tat.

2

»Das war wirklich hart.«

»Ja.« Eve lenkte den Wagen auf die Straße und versuchte, das Gefühl der Schwermut abzuschütteln, mit dem sie aus der Wohnung der Kohlis gekommen war. »Sie wird es der Kinder wegen packen. Sie ist eine starke Frau.«

»Die Kinder waren toll. Auch wenn der kleine Junge ein Schlawiner ist. Hat mir neben einem Hot Dog noch drei Schoko-Sticks und eine Cremeschnitte abgeschwatzt.«

»Was sicher echte Schwerstarbeit für ihn gewesen ist.«

Peabody erklärte mit einem versonnenen Lächeln: »Ich habe einen Neffen, der ungefähr im gleichen Alter ist.«

»Sie haben doch Neffen in sämtlichen Altersgruppen?«

»Mehr oder weniger.«

»Sie haben auf jeden Fall eine Menge Erfahrung mit Familie. Also sagen Sie mir eins: Wenn ein Mann und eine Frau eine offenbar solide Ehe führen und obendrein gemeinsame Kinder haben, wie kommt es dann, dass die Frau, die offensichtlich alles andere als zerbrechlich oder dumm ist, so gut wie nichts über die Arbeit ihres Mannes weiß? Über seinen Job, über das, was er tagtäglich macht?«

»Möglicherweise lässt er die Arbeit, wenn er heimkommt, lieber vor der Tür.«

»Wie soll das denn bitte gehen?«, wandte Eve alles andere als überzeugt ein. »Wenn man mit jemandem Tag für Tag zusammenlebt, muss man doch wissen, was er tut, was er denkt, womit er sich beschäftigt. Sie hat gesagt, sie hätte das Gefühl gehabt, dass er sich Sorgen macht, wüsste aber nicht worum und hätte ihn auch nicht weiter bedrängt.«

Sie schüttelte den Kopf und fädelte den Wagen stirnrunzelnd in den dichten Verkehr. »Das geht mir nicht in den Kopf.«

»Sie und Roarke haben halt eine andere Paardynamik.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Nun.« Peabody schielte ihre Chefin von der Seite her an. »Das war die höfliche Umschreibung dafür, dass keiner von Ihnen beiden es dem anderen durchgehen lassen würde, ihm irgendetwas zu verschweigen. Wenn mit einem von Ihnen beiden etwas los ist, schnüffelt ihm der andere so lange hinterher oder klopft so lange auf den Busch, bis er alles weiß. Sie sind beide neugierig und gemein genug, um dem anderen das Leben schwer zu machen, sobald er versucht, etwas zu verbergen. Aber nehmen Sie zum Beispiel meine Tante Miriam.«

»Muss ich?«

»Was ich sagen will ist, dass sie und Onkel Jim seit über vierzig Jahren miteinander verheiratet sind. Er geht täglich zur Arbeit und kommt jeden Abend heim. Sie haben vier Kinder, acht, nein, neun Enkel und sind sehr glücklich miteinander. Trotzdem hat sie keine Ahnung, was er pro Jahr verdient. Er gibt ihr einfach ihr monatliches Haushaltsgeld -«

Um ein Haar hätte Eve das Taxi, das vor ihr fuhr, gerammt. »Er gibt ihr was?«

»Tja, nun, wie gesagt, die Dynamik Ihrer Beziehung zu Roarke ist eben eine andere als die, die es in vielen anderen Partnerschaften gibt. Hm, abgesehen davon, dass meine Tante Miriam Haushaltsgeld von ihm bekommt, fragt sie ihn jeden Abend, wie sein Tag gewesen ist. Er sagt, er war okay, und das ist das Ende des Gesprächs über seinen Job.« Sie zuckte mit den Schultern. »Weiter geht es nicht. Hingegen meine Cousine Freida -«

»Ich habe verstanden, Peabody.« Um sich nicht Peabodys gesamte Familiengeschichte anhören zu müssen, rief Eve hastig über das Autotelefon im Leichenschauhaus an und wurde zu ihrer Überraschung umgehend zu Morse in den Autopsieraum durchgestellt.

»Ich bin noch nicht mit ihm fertig, Dallas«, erklärte Morse und wirkte dabei ungewöhnlich ernst. »An dem armen Kerl ist kaum noch etwas ganz.«

»Ich weiß. Haben Sie schon den toxikologischen Bericht?«

»Ich habe gesagt, dass es dringend ist. Er hatte nichts Verbotenes in sich. Ein paar Bier und die Reste einer Brezel. Sieht aus, als hätte er das Bier getrunken, als er angegriffen worden ist. Die letzte Mahlzeit, die er ungefähr sechs Stunden vor Eintreten des Todes zu sich genommen hat, bestand aus einem Vollkorn-Hühnchensandwich, Nudelsalat und einer Tasse Kaffee. Zum jetzigen Zeitpunkt ist alles, was ich Ihnen sagen kann, dass das Opfer bei bester Gesundheit und in guter körperlicher Verfassung war, bevor es von irgendeinem Hurensohn zu Brei geschlagen worden ist.«

»Okay. Und – hat ihn der Schlag auf den Schädel umgebracht?«

»Habe ich nicht eben gesagt, dass ich noch nicht mit ihm fertig bin?«, blaffte Morse, hob jedoch, bevor Eve etwas sagen konnte, abwehrend eine versiegelte, blutverschmierte Hand. »Entschuldigung. Bisher kann ich nur sagen, dass der Angreifer von hinten gekommen ist. Der erste Schlag hat ihn am Hinterkopf getroffen. Die Schnittwunden im Gesicht weisen darauf hin, dass er mit dem Gesicht zuerst in einen Spiegel oder so gefallen ist. Der zweite Schlag, am Kiefer, hat ihn zusammenbrechen lassen. Und dann hat der Bastard seinen Schädel wie eine gottverdammte Nuss-Schale geknackt. Wahrscheinlich war er da schon tot. Die anderen Verletzungen wurden ihm nach Eintreten des Todes zugefügt. Gezählt habe ich die einzelnen Verwundungen noch nicht.«

»Sie haben mir gegeben, was ich brauche. Tut mir Leid, dass ich derart in Eile bin.«

»Nein, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich so ungehalten war.« Morse blies seine Wangen auf. »Ich habe ihn gekannt, und deshalb nehme ich die Sache etwas zu persönlich. Er war ein anständiger Kerl, hat immer gerne Bilder von seinen Kindern rumgezeigt. Wir haben nicht allzu viele glückliche Gesichter hier bei der Polizei.« Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich bin froh, dass Sie in diesem Fall ermitteln, Dallas. Es hilft zu wissen, dass er in guten Händen ist. Sie bekommen meinen Bericht noch vor Schichtende.«

Damit brach er die Übertragung ab.

Eve starrte auf den schwarzen Bildschirm. »Er war offenkundig überall beliebt«, meinte sie nachdenklich. »Wer also hatte es derart auf einen anständigen Kerl, liebevollen Ehemann und stolzen Vater abgesehen? Wer hat es gewagt, blutigen Brei aus einem Polizisten zu machen, obwohl es von unserer Seite besonders für Polizistenmörder keine Gnade gibt? Auch wenn anscheinend jeder Kohli mochte, hat doch irgendjemand ihn abgrundtief gehasst.«

»Vielleicht jemand, den er mal festgenommen hat?«

Über all die Typen, die man festnahm, durfte man sich keine Gedanken machen, wusste Eve. Doch vergaß man ihre Namen nie. »Wenn ein Polizist mit einem Typen, den er irgendwann mal hochgenommen hat, was trinkt und ihm zusätzlich den Rücken zukehrt, ist das beinahe eine Einladung dazu, sich den Schädel einschlagen zu lassen. Gucken wir uns seine Akte mal etwas genauer an. Ich will wissen, was für eine Art von Polizist Taj Kohli war.«

Bevor Eve nach der Rückkehr aufs Revier ihr eigenes Büro erreichte, sprach eine fremde Frau sie an.

»Lieutenant Dallas?«

»Ja.«

»Ich bin Rue MacLean. Ich habe gerade von der Sache mit Taj gehört. Ich …« Sie hob hilflos beide Hände in die Luft. »Roarke hat angedeutet, Sie würden gerne mit mir sprechen, also dachte ich, ich komme am besten sofort vorbei. Ich würde Ihnen gerne dabei helfen, denjenigen zu finden, der diese fürchterliche Tat begangen hat.«

»Das ist nett. Eine Sekunde bitte. Peabody.« Sie führte ihre Assistentin einen Schritt zur Seite und bat: »Lassen Sie sich Kohlis Akte schicken und überprüfen Sie seine Finanzen.«

»Madam? Seine Finanzen?«

»Genau. Falls Sie dabei auf Probleme stoßen, rufen Sie bei Feeney in der Abteilung für elektronische Ermittlungen an. Graben Sie ein bisschen. Finden Sie heraus, mit wem von seiner Truppe er besonders dicke war. Wenn er schon nicht mit seiner Frau über seine Arbeit gesprochen hat, dann ja vielleicht mit jemand anderem. Ich will wissen, ob er irgendwelche Hobbys, irgendwelche Interessen neben seinem Job und der Familie hatte. Und ich will wissen, welche Fälle er bearbeitet hat. Ich möchte, dass sein Leben bis Ende der Schicht wie ein offenes Buch vor mir auf meinem Schreibtisch liegt.«

»Zu Befehl, Madam.«

»Ms MacLean? Ich würde mich gerne mit Ihnen in ein Vernehmungszimmer setzen. In meinem Büro ist es ein bisschen sehr eng.«

»Wie Sie meinen. Ich kann einfach nicht glauben, dass so etwas passiert ist. Ich kann nicht verstehen, wie so etwas möglich war.«

»Darüber werden wir uns unterhalten.« Und zwar offiziell, überlegte Eve, während sie vor Rue durch ein Labyrinth von Gängen in Richtung des Verhörbereiches ging. »Ich würde das Gespräch gern aufnehmen«, erklärte sie und führte Rue in einen kleinen, fensterlosen, mit einem Tuch und zwei Stühlen spärlich möblierten Raum.

»Selbstverständlich. Wie gesagt, ich würde Ihnen wirklich gerne helfen.«

»Nehmen Sie Platz«, bat Eve und stellte den Rekorder an. »Anwesende: Lieutenant Eve Dallas und Rue MacLean. Die zu Vernehmende hat sich freiwillig zu einem offiziellen Gespräch im Zusammenhang mit dem Mord an Taj Kohli bereit erklärt. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie hier sind, Ms MacLean.«

»Ich weiß nicht, was ich Ihnen erzählen soll und was Ihnen eventuell bei Ihren Ermittlungen weiterhelfen kann.«

»Sie sind Geschäftsführerin des Clubs, in dem Taj Kohli als Teilzeit-Theker beschäftigt war?«

Sie war genau die Art von Frau, die Roarke für eine solche Arbeit wählen würde, überlegte Eve. Geschmeidig, attraktiv und elegant. Ihre zurzeit sorgenvollen, dunkelvioletten Augen schimmerten wie Juwelen in ihrem seidig weichen, milchig weißen Gesicht.

Ihr straffes Kinn ließ eher erahnen als tatsächlich erkennen, dass sich hinter ihrem zarten Äußeren neben nüchternem Geschäftssinn stählerne Willenskraft verbarg. Sie war feingliedrig, gleichzeitig wohl gerundet, tadellos frisiert und trug ein eng anliegendes pflaumenblaues Kostüm, dessen kurzer Rock ihre phänomenalen Beine vorteilhaft zur Geltung kommen ließ.

Ihr Haar hatte die Farbe sommerlichen Sonnenscheins und war auf die Weise streng zurückgekämmt, für die man nicht nur eine perfekte Schädelform brauchte, sondern die zugleich auf ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein schließen ließ.

»Das Purgatorium. Ja, ich leite den Club seit beinahe vier Jahren.«

»Und vorher?«

»War ich Hostess in einem kleinen Club. Davor hatte ich als Tänzerin meinen Lebensunterhalt verdient«, erklärte sie und blickte Eve mit einem schmalen Lächeln an. »Dann kam ich zu dem Schluss, dass ich von der Bühne runter wollte hinein in einen Job, bei dem ich meine Kleider anbehalten konnte. Roarke hat mir die Chance dazu gegeben, erst als Hostess im Trends und dann als Managerin im Purgatorium. Ihr Mann weiß es zu schätzen, wenn man ehrgeizig ist, Lieutenant.«

Darüber unterhielten sie sich besser nicht während einer offiziellen Vernehmung, dachte Eve und lenkte deshalb rasch ab: »Gehört es zu Ihren Aufgaben als Geschäftsführerin des Purgatorium, Leute einzustellen?«

»Ja. Ich habe Taj Kohli engagiert. Er hat einen Teil-zeitjob gesucht. Seine Frau hatte gerade ein Baby bekommen, und weil sie erst mal zu Hause bleiben wollte, brauchte er das zusätzliche Geld. Er war bereit, die Spätschichten zu übernehmen, und als glücklich verheirateter Mann hatte er kein Interesse an den bei uns arbeitenden Frauen.«

»Sind das die einzigen Voraussetzungen, die ein Mann erfüllen muss, damit er einen Job im Purgatorium bekommt?«

»Nein, aber sie sind durchaus wichtig.« Rue hob eine Hand, und Eve entdeckte, dass sie einen mit Steinen in der Farbe ihrer Augen besetzten Schlangenring am Finger trug. »Er wusste, wie man Getränke mixte, wie man die Leute zuvorkommend bediente, und er hatte ein Gespür für Typen, die möglicherweise Ärger machen würden. Ich hatte keine Ahnung, dass er hauptberuflich Polizist gewesen ist. In seinem Bewerbungsschreiben hatte er angegeben, dass er in der Sicherheitsbranche tätig wäre, was ich auch überprüft habe.«

»Bei welchem Unternehmen war er angeblich beschäftigt?«

»Lenux. Ich habe dort angerufen, mit seinem Vorgesetzten – oder zumindest dem Menschen, der sich als solcher ausgegeben hat – gesprochen und eine rundum positive Auskunft über ihn erhalten. Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass der Mann die Wahrheit sagte. Alles klang durch und durch solide. Also habe ich ihn für zwei Wochen auf Probe eingestellt. Er hat seine Sache wirklich gut gemacht, deshalb wurde er fest verpflichtet.«

»Haben Sie den Namen der Kontaktperson bei Lenux noch in Ihren Akten?«

»Ja.« Rue atmete hörbar aus. »Ich habe schon versucht, dort anzurufen. Alles, was ich zu hören bekam, war, dass es den Anschluss nicht mehr gibt.«

»Trotzdem wäre es nett, wenn Sie mir die Nummer gäben. Ich versuche es gerne selbst noch mal.«

»Natürlich.« Rue zog einen elektronischen Kalender aus der Tasche und schrieb die Nummer ab. »Vielleicht dachte er, ich würde ihn nicht nehmen, wenn ich wüsste, dass er Polizist ist. Aber wenn man bedenkt, dass der Eigentümer selbst -«

»Ich bin nicht die Eigentümerin dieses Clubs.«

»Nein, tja.« Sie zuckte mit den Schultern und legte Eve den Zettel mit der Nummer auf den Tisch.

»Er war noch nach Schichtende im Club. Ist so etwas normal?«

»Nein, aber es kommt hin und wieder vor. Für gewöhnlich schließen der Leiter des Thekenteams und einer von den Sicherheitsleuten nachts gemeinsam ab. Taj ist gestern Cheftheker gewesen, und meinen Unterlagen zufolge hätte Nester Vine mit ihm zusammen schließen sollen. Allerdings habe ich Nester bisher noch nicht erreicht.«

»Sind Sie jeden Abend im Purgatorium?«

»Fünf Abende die Woche. Sonntags und montags habe ich frei. Ich war gestern Nacht bis gegen zwei Uhr dreißig dort. Dann war der Großteil der Gäste gegangen, und ich habe eins der Mädchen heimgefahren und getröstet, das von seinem Freund verlassen worden war. Danach bin ich nach Hause.«

»Wann war das?«

»Als ich heimgefahren bin?« Rue blinzelte verwirrt. »Ich schätze, halb, Viertel vor vier.«

»Und wie heißt die Frau, mit der Sie bis zu dem Zeitpunkt zusammen gewesen sind?«

»Mitzi.« Rue atmete hörbar durch. »Mitzi Treacher. Lieutenant, als ich Taj zum letzten Mal gesehen habe, stand er quicklebendig hinter der Bar.«

»Ich versuche nur, den Abend zu rekonstruieren, Ms MacLean. Können Sie mir sagen, in welcher Verfassung Detective Kohli gestern Abend war?«

»Er wirkte völlig normal. Allerdings haben wir gestern Abend nicht viel miteinander gesprochen. Ich war ein paar Mal bei ihm an der Theke und habe mir ein Wasser geben lassen. Wir haben uns gegrüßt, haben festgestellt, dass viel Betrieb war, irgendwelche belanglosen Sätze ausgetauscht. Gott.« Sie kniff die Augen zu. »Er war ein wirklich netter Mann. Ruhig und zuverlässig. Hat immer in der ersten Pause seine Frau zu Hause angerufen, um zu fragen, wie es ihr geht.«

»Hat er dazu das Telefon des Purgatorium benutzt?«

»Nein. Außer, wenn es sich um irgendeinen Notfall handelt, sehen wir es nicht gern, wenn einer unserer Angestellten den Geschäftsanschluss benutzt. Er hat von seinem Handy aus mit ihr telefoniert.«

»Gestern Abend auch?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber ich denke schon, denn schließlich hat er das immer so gemacht. Allerdings kann ich nicht sicher sagen, dass es mir aufgefallen ist. Nein, warten Sie.« Sie schloss erneut die Augen und dachte gründlich nach. »Er saß im Pausenraum und aß ein Sandwich. Ich erinnere mich daran, dass ich dort vorbeigekommen bin. Die Tür stand offen. Er machte irgendwelche plappernden Geräusche. Wahrscheinlich hielt seine Frau das Baby an den Apparat«, erklärte sie und schlug die Augen wieder auf. »Ich kann mich daran erinnern, weil ich es so süß fand, dass ein Schrank wie Taj am Link hängt und solche Geräusche macht. Ist das wichtig?«

»Wie gesagt, ich versuche mir ein Bild zu machen.« Sie hatten kein Handy bei der Leiche gefunden, erinnerte sich Eve. »Ist Ihnen gestern oder in irgendeiner anderen Nacht, in der Taj Dienst hatte, irgendjemand aufgefallen? Irgendjemand, den er kannte, und der sich bei ihm an der Theke herumgedrückt hat?«

»Nein. Natürlich haben wir ein paar Stammkunden. Leute, die mehrmals jede Woche kommen, und für die Taj regelmäßig das passende Getränk bereithielt, weil den Kunden so etwas gefällt.«

»Stand er irgendjemandem besonders nahe, mit dem er zusammengearbeitet hat?«

»Nicht wirklich. Wie gesagt, er war ein ruhiger, zurückhaltender Mensch. Durchaus freundlich, aber ich glaube nicht, dass es engen Kontakt zwischen ihm und irgendjemandem gegeben hat. Er hat getan, was alle Theker tun, hat die Augen aufgehalten und sich kommentarlos die Reden der Leute angehört.«

»Liegt ein Metallschläger bei Ihnen hinter der Bar?«

»Das ist verboten«, erklärte Rue ihr eilig, wurde jedoch plötzlich kreidebleich. »War er etwa die -«

»Hat Taj diesen Schläger je benutzt oder jemandem damit gedroht?«

»Benutzt hat er ihn nie.« Um sich zu beruhigen, strich sie sich mit der flachen Hand über die Brust. »Ich schätze, dass er ihn eventuell ein-, zweimal hervorgezogen hat. Hat vielleicht zur Abschreckung damit auf die Bar geklopft. Meistens ist das alles, was man machen muss, vor allem, wenn man so kräftig ist wie er. Das Purgatorium ist ein exklusiver Club. Wir haben dort nur selten Ärger. Ich halte meinen Laden sauber, Lieutenant. Etwas anderes würde Roarke niemals tolerieren.«

Das Verfassen des vorläufigen Berichts war unkompliziert und unbefriedigend für Eve. Sie hatte die Fakten. Es gab einen toten Polizisten, der wie in einem Rausch mit einem Knüppel zu Knochenbrei geschlagen worden war. Das Ausmaß der Zerstörung ließ vermuten, dass der Täter mit Zeus oder irgendeiner Mischung illegaler Drogen voll gepumpt gewesen war. Der Mörder hatte halbherzig versucht, die Tat wie einen Raubmord aussehen zu lassen, hatte Kohlis Handy mitgehen lassen und dreißig Münzen auf dem Fußboden verstreut.

Das Opfer hatte offenbar mit einem Nebenjob die Einkünfte seiner Familie aufgebessert, hatte als Beamter weder besonderes Lob noch Tadel eingeheimst, die Kollegen hatten ihn geschätzt, und seine Familie hatte ihn geliebt. Er hatte, zumindest soweit sie bisher wusste, nicht über seine Verhältnisse gelebt, war nicht fremdgegangen und hatte mit keinem Fall zu tun gehabt, der heiß genug gewesen wäre, als dass er deswegen ermordet worden war.

Oberflächlich betrachtet sah es aus, als hätte er einfach Pech gehabt. Doch sie wollte verdammt sein, wenn es bloßes Pech gewesen war.

Sie rief sein Passbild auf dem Bildschirm des Computers auf. Er war ein hünenhafter Kerl gewesen mit einem stolzen Blick, einem straffen Kinn und breiten Schultern. »Jemand wollte dich aus dem Verkehr ziehen, Kohli. Wen hast du so wütend gemacht, dass er derart auf dich eingedroschen hat?«

Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum und straffte dann die Schultern. »Computer, wie groß ist unter Einbeziehung der Todesursache, des vorläufigen Berichts des Pathologen und meines eigenen vorläufigen Berichts die Wahrscheinlichkeit, dass Kohli seinen Mörder kannte?«

Die Antwort wird berechnet … Angesichts der bisher bekannten Fakten und Ihres Berichts beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer Kohli seinen Mörder kannte, dreiundneunzig Komma vier Prozent.

»Tja, nun, das reicht mir.« Sie beugte sich ein wenig vor und raufte sich die Haare. »Wen kennt ein Polizist? Andere Polizisten, Spitzel, böse Buben, seine Familie und die Nachbarn. Und wen kennt ein Theker?« Sie lachte bitter auf. »Verdammt, er kennt Gott und die Welt. Also, Kohli, welche Rolle hast du bei dem Treffen letzte Nacht gespielt?«

»Lieutenant?« Peabody streckte ihren Kopf durch den Türspalt von Eves Büro. »Ich habe die Fälle, die Kohli in letzter Zeit bearbeitet hat. Sieht nicht so aus, als ob er nebenher noch irgendeiner anderen Sache nachgegangen ist. Die Überprüfung der Finanzen wird ein bisschen schwerer. Sämtliche Konten laufen nicht nur auf seinen Namen, sondern auch auf den seiner Frau, wir brauchen also entweder eine richterliche Erlaubnis oder die Genehmigung der Ehegattin, um uns die Sachen anzusehen.«

»Ich werde mich darum kümmern. Wie steht es mit seiner Personalakte bei der Polizei?«

»Die habe ich dabei. Mir ist nichts Besonderes darin aufgefallen. Vor ungefähr sechs Monaten war er an einem großen Ding beteiligt. Es ging um die Verhaftung eines Dealers namens Ricker.«

»Max Ricker?«

»Ja. Allerdings war Kohlis Rolle dabei eher bescheiden. Er hat überwiegend Akten gewälzt oder den Laufburschen gespielt. Das Lob für den gelungenen Einsatz haben ein gewisser Lieutenant Mills und ein Detective Martinez aus seiner Abteilung eingeheimst. Sie haben die Verbindung zwischen Ricker und dem Drogenlager nachgewiesen, ihn vor Gericht gebracht und dafür gesorgt, dass, wenn schon nicht er selbst, wenigstens sechs andere Mitglieder seines Kartells für längere Zeit hinter Gittern verschwunden sind.«

»Ricker ist nicht der Typ, der sich die Finger selber schmutzig macht. Aber er hat kein Problem damit, für einen Anschlag zu bezahlen, selbst wenn der einem Polizisten gilt.«

Dieser Gedanke rief Interesse in ihr wach. »Finden Sie heraus, ob Kohli gegen ihn ausgesagt hat. Ich meine mich zu entsinnen, dass Ricker, bevor das Verfahren wegen irgendwelcher Formfehler geplatzt ist, kurz vor Gericht gestanden hat. Gucken Sie, welchen Anteil Kohli an der Verhaftung hatte. Fragen Sie Captain Roth. Und wenn sie Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten macht, verweisen Sie sie an mich. Ich gehe erst mal rüber zum Commander.«

Während Eve Bericht erstattete, stand Commander Whitney mit hinter dem Rücken gefalteten Händen am Fenster seines Büros und sah den vorbeigleitenden Fliegern hinterher.

Einer der neuen Cloud Dusters schwebte dicht genug vorbei, dass er die Augenfarbe des jungen Piloten erkennen konnte, und er dachte: Wirklich kühn und gleichzeitig total dämlich, als bereits das schrille Piepsen eines Fliegers der Verkehrskontrolle an seine Ohren drang.

Erwischt, ging es ihm weiter durch den Kopf. Ach, wäre die Durchsetzung von Recht und Ordnung für sie doch auch einmal so leicht.

Als Eve hinter ihm verstummte, drehte er sich zu ihr um. Sein Gesicht war breit und dunkel, und sein militärisch kurz geschnittenes Haar zeigte Spuren erster Grautöne. Er war ein hochgewachsener Mann mit kühlen, ernsten Augen, hatte die erste Hälfte seiner Karriere auf der Straße zugebracht und bis heute nicht vergessen, wie anstrengend und hart diese Arbeit war.

»Bevor ich etwas zu Ihrem Bericht sage, Lieutenant, möchte ich Sie darüber informieren, dass Captain Roth vom hundertachtundzwanzigsten Revier mich angerufen hat. Sie hat einen förmlichen Antrag gestellt, dass man ihr die Ermittlungen im Mordfall Kohli überträgt.«

»Ja, Sir. Sie hatte bereits angedeutet, dass sie das machen würde.«

»Und was haben Sie darauf erwidert?«

»Dass der Wunsch durchaus verständlich, aber weniger rational als vielmehr emotional begründet ist.«

»Das sehe ich genauso.« Er machte eine kurze Pause und nickte schließlich. »Sie fragen mich ja gar nicht, ob ich die Absicht habe, Captain Roth den Fall zu übertragen.«

»Es gibt keinen taktischen Grund, um so etwas zu tun, und wenn Sie beschlossen hätten, Captain Roth mit den Ermittlungen zu diesem Mordfall zu betrauen, hätten Sie mir das sofort mitgeteilt.«

Whitney presste die Lippen aufeinander und wandte sich erneut dem Fenster zu. »Das ist beides richtig. Die Ermittlungen bleiben weiterhin in Ihrer Hand. Der Fall ist tatsächlich hoch emotional, Lieutenant. Nicht nur für Captain Roth und ihre Leute, sondern für die gesamte New Yorker Polizei. Auch wenn wir uns alle der mit unserer Arbeit verbundenen Risiken bewusst sind, ist es immer schwer, wenn es tatsächlich einen von uns erwischt. Die Art und Weise, in der Detective Kohli ermordet worden ist, taucht die Geschichte allerdings in ein etwas anderes Licht. Das Übermaß an Gewalt, das der Täter angewendet hat, lässt darauf schließen, dass er kein Profi-Killer gewesen ist.«

»Stimmt. Aber ganz schließe ich einen Auftragsmord nicht aus. Falls Ricker etwas mit dem Fall zu tun hat, hat er möglicherweise spezielle Anweisung gegeben, besonders brutal und rücksichtslos zu sein. Ich habe mir bisher noch kein Bild von Kohli als Polizist gemacht. Ich weiß nicht, ob er vielleicht dumm oder dreist gewesen ist, um einem von Rickers Schlägern den Rücken zuzuwenden, als der im Club erschienen ist. Ich habe Peabody gebeten, sich seine Personalakte und die von ihm bearbeiteten Fälle anzusehen. Ich muss wissen, wem er nahe gestanden hat, wie seine Informanten hießen und inwieweit er in die Ermittlungen und das Verfahren gegen Ricker einbezogen gewesen ist.«

»Dies wäre nicht das erste Mal, dass Ricker unter Verdacht steht, einen Mord in Auftrag gegeben zu haben. Aber für gewöhnlich geht er dabei deutlich diskreter vor.«

»Dieser Mord scheint ein persönlicher Racheakt gewesen zu sein, Commander. Ob es dabei um den Polizisten oder um den Privatmann Kohli ging, kann ich noch nicht sagen. Aber es war sehr persönlich. Übrigens ist Roarke der Eigentümer des Lokals, in dem die Tat begangen worden ist«, fügte sie betont beiläufig hinzu.

»Das habe ich bereits gehört.« Er wandte sich ihr wieder zu und sah ihr, während er an seinen Schreibtisch trat, prüfend ins Gesicht. »Nehmen Sie den Fall deswegen ebenfalls persönlich, Lieutenant?«