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Ein kaltblütiger Mord und ein perfides Spiel um Leben und Tod – der neue Fall für Eve Dallas
Der kaltblütige Mord an der sechzehnjährigen Deena McMasters, Tochter des Chefs der New Yorker Drogenfahndung, schockiert das gesamte Polizeipräsidium. Das Mädchen wurde brutal vergewaltigt und erwürgt, und ausgerechnet ihre Eltern fanden sie in ihrem Schlafzimmer. Ein entsetzliches Video von der Tat weist auf ein Verbrechen aus McMasters Vergangenheit hin. Eve Dallas und ihr Team beginnen sofort mit der Spurensuche, und schnell wird klar: Deenas Tod war nur Mittel zum Zweck. Jemand aus McMasters Vergangenheit ist zurück – und will Rache üben …
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Seitenzahl: 709
Veröffentlichungsjahr: 2015
Buch
Ein Anruf von oberster Stelle macht Eve Dallas’ Pläne, einen freien Tag mit ihrem Mann zu verbringen, zunichte. Deena, die sechzehnjährige Tochter von MacMasters, dem Chef der New Yorker Drogenfahndung, wird vergewaltigt und erwürgt in ihrem Schlafzimmer aufgefunden. Ein entsetzliches Video von der Tat weist auf ein Verbrechen aus MacMasters Vergangenheit hin. Jemand ist fest entschlossen, auf brutalste Art und Weise, Rache zu üben. Doch die Spurensuche bleibt ergebnislos – bis ein weiterer Mord und ein weiteres Video die tödlichen Absichten des Killers aufdecken.
Er inszeniert ein perfides Katz- und Mausspiel mit der Polizei, benutzt unterschiedliche Identitäten und führt Eve an der Nase herum. Doch als sich die Hinweise zu häufen beginnen, glauben Eve und ihr Team, den Täter überführen zu können. Denn sie weiß: Selbstüberschätzung führt zu Flüchtigkeitsfehlern, und ein einziger Fehler des Killers genügt, um ihn zu enttarnen …
Autorin
J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts, einer der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren erfolgreich Kriminalromane.
Liste lieferbarer Titel
Rendezvous mit einem Mörder (1) · Tödliche Küsse (2) · Eine mörderische Hochzeit (3) · Bis in den Tod (4) · Der Kuss des Killers (5) · Mord ist ihre Leidenschaft (6) · Liebesnacht mit einem Mörder (7) · Der Tod ist mein (8) · Ein feuriger Verehrer (9) · Spiel mit dem Mörder (10) · Sündige Rache (11) · Symphonie des Todes (12) · Das Lächeln des Killers (13) · Einladung zum Mord (14) · Tödliche Unschuld (15) · Der Hauch des Bösen (16) · Das Herz des Mörders (17) · Im Tod vereint (18) · Tanz mit dem Tod (19) · In den Armen der Nacht (20) · Stich ins Herz (21) · Stirb, Schätzchen, stirb (22) · In Liebe und Tod (23) ∙ Sanft kommt der Tod (24) · Mörderische Sehnsucht (25) · Ein sündiges Alibi (26) · Im Namen des Todes (27) ∙ Tödliche Verehrung (28) · Süßer Ruf des Todes (29)
Mörderspiele. Drei Fälle für Eve Dallas
Nora Roberts ist J. D. Robb
Ein gefährliches Geschenk
J. D. Robb
Süßer Ruf des Todes
Roman
Deutsch von Uta Hege
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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Die Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel »Kindred in Death« bei G. P. Putnam’s Sons,
a member of Penguin Group (USA) Inc., New York.
1. Auflage
Taschenbuchausgabe Dezember 2015
bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Nora Roberts
Published by Arrangement with Eleanor Wilder
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarischen
Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright © 2014 für die deutsche Ausgabe
by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Getty Images/Elineart
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Redaktion: Regine Kirtschig
LH ∙ Herstellung: LW
ISBN: 978-3-641-17389-0V002
www.blanvalet.de
Willkommen, traute Finsternis!
Wohlige Schrecken, seid gegrüßt!
– James Thomson
Eine Lüge, die halb wahr ist,
ist die schwärzeste Lüge von allen.
– Tennyson
1
Sie war gestorben und im Himmel. Aber gab es dort oben wirklich guten Sex und faule, freie Vormittage? Wahrscheinlich war sie doch noch quicklebendig.
Nun, auf jeden Fall war sie himmlisch vergnügt. Vielleicht etwas verschlafen, ganz sicher durch und durch befriedigt und in höchstem Maße froh, dass man auch noch beinahe vierzig Jahre nach Beendigung der Innerstädtischen Revolten den internationalen Friedenstag als Feiertag beging.
Vielleicht hatte man den Junisamstag willkürlich und symbolisch zu diesem Feiertag gemacht, und vielleicht verschandelten die Überreste dieser grauenhaften Zeit selbst im Jahre 2060 noch weltweit die Landschaft, aber sie fand, die Menschen hatten einen Anspruch auf ihre Paraden, Grillpartys, pompösen Reden und ein Wochenende, an dem man sich ordnungsgemäß betrank.
Sie persönlich war ganz einfach froh, wenn es, egal aus welchem Grund, zwei freie Tage nacheinander für sie gab. Vor allem, wenn der zweite dieser beiden Tage derart angenehm begann.
Eve Dallas, hartgesottene Mordermittlerin, lag nackt auf ihrem Ehemann. Er hatte ihr gerade eben ein hübsches Stückchen Himmel offenbart, und sie ging davon aus, dass das auch andersherum der Fall gewesen war, da er unter ihr lag und langsam mit der Hand ihren Hintern streichelte, während sein Herz im Rhythmus eines Presslufthammers schlug.
Sie spürte, dass ihr fetter Kater Galahad, nun, da die Show vorüber war, zu ihnen auf die Matratze sprang.
Unsere glückliche, kleine Familie an einem faulen Sonntagvormittag, dachte sie. Na, wenn das nicht erstaunlich war. Sie hatte eine glückliche, kleine Familie, ein Heim, einen faszinierenden und geradezu absurd prachtvollen Ehemann, der sie auf Händen trug, und, was nicht zu unterschätzen war, er bot ihr wirklich guten Sex.
Ganz zu schweigen von dem freien Tag, der vor ihr lag.
Sie schnurrte beinahe so selig wie der Kater und vergrub die Nase an Roarkes Hals.
»Alles ist gut«, erklärte sie.
»Wenn nicht sogar noch besser«, antwortete er und schlang ihr seine wunderbaren Arme um den Leib. »Was würdest du gern als Nächstes tun?«
Sie lächelte vor lauter Glück über den herrlichen Moment, den Singsang Irlands, der in seiner Stimme schwang, und das warme Gefühl des Katzenfells an ihrem Arm, während der Kater in der Hoffnung, dass sie ihn liebkosen würde, seinen Schädel an ihr rieb.
Wahrscheinlich ging es ihm eher um sein Frühstück.
»Am liebsten nichts.«
»Das kriegen wir problemlos hin.«
Sie spürte, dass sich Roarke bewegte, und hörte, dass das Schnurren ihres Katers sich verstärkte, weil jetzt er von den Händen gekrault wurde, von denen eben noch sie selbst gehätschelt worden war.
Sie stützte sich auf ihren Ellenbogen ab, sah ihm ins Gesicht, und er schlug die Augen auf.
Gott, das strahlende und durchdringende Blau, die dichten, dunklen Wimpern und das Lächeln, das nur ihr alleine galt, brachten sie beinah um den Verstand.
Sie beugte sich zu ihm herab und presste einen warmen, träumerischen Kuss auf seinen zauberhaften Mund.
»Tja nun, das ist aber von Nichtstun weit entfernt.«
»Ich liebe dich.« Sie küsste seine Wangen, die aufgrund des Bartwuchses während der letzten Nacht ein wenig kitzlig waren, und fügte gut gelaunt hinzu: »Denn du bist einfach ein hübscher Kerl.«
Das war er tatsächlich, dachte sie, während sich der Kater unter ihrem Arm hindurch zwischen sie beide schob. Der wie von einem Bildhauer geformte Mund, die Augen eines Hexenmeisters, das von einer seidig weichen Mähne schwarzen Haars gerahmte, fein gemeißelte Gesicht und der straffe, durchtrainierte Körper bildeten ein prächtiges Gesamtpaket.
Es gelang ihm, sich an Galahad vorbeizudrängeln und ihre Lippen erneut auf seinen Mund zu ziehen, plötzlich aber atmete er zischend aus.
»Warum in aller Welt geht er nicht einfach runter und nervt Summerset, wenn er was fressen will?« Roarke schob den Kater fort, der ihm schmerzhaft seine Krallen in den Oberkörper trieb.
»Ich werde ihm was holen. Ich will sowieso einen Kaffee.«
Eve rollte sich vom Bett und lief schlank, geschmeidig, nackt zum AutoChef.
»Du hast mich um meinen Spaß gebracht«, raunte Roarke dem Kater zu.
Das schien das gemeine Tier zu freuen, denn als es sich von der Matratze plumpsen ließ, blitzten seine zweifarbigen Augen schadenfroh.
Eve bestellte Katzenfutter und wegen des Feiertags ein Stück Thunfisch für das Biest. Während sich der Kater völlig ausgehungert auf das Fressen stürzte, zog sie noch zwei Becher starken, schwarzen Kaffees aus dem Gerät.
»Ich hatte überlegt, ob ich noch ein bisschen trainieren gehen soll, aber da wir bereits unser gemeinsames Gymnastikprogramm absolviert haben, dusche ich stattdessen einfach nur.« Auf dem Weg zurück zu dem Podest, auf dem ihre überdimensionale Schlafstatt stand, trank sie den ersten Schluck des lebensspendenden Getränks.
»Ich komme mit.« Als sie ihm seinen Becher reichte, blickte er sie lächelnd an. »Eine zweite Trainingsrunde wäre nämlich sicher nicht verkehrt. Und vor allem unglaublich gesund. Danach gibt es was Irisches.«
»Bist du nicht schon irisch genug?«
»Ich dachte dabei an Frühstück, aber mich kriegst du natürlich auch.«
Sie sah glücklich, ausgeruht und einfach köstlich aus. Das zerzauste, braune Haar fiel wirr um ihr Gesicht, ihre großen, dunklen Augen funkelten vergnügt, und wenn sie lächelte, vertiefte sich das kleine Grübchen in der Mitte ihres Kinns, das er so sehr liebte.
Derartige Augenblicke, in denen sie vollkommen in Einklang miteinander waren, kamen ihm noch immer wie das reinste Wunder vor.
Die Polizistin und der, zugegebenermaßen geläuterte, Kriminelle – inzwischen war das so verdammt normal wie Kartoffelsalat mit Würstchen, die es am Friedenstag überall gab.
Er sah sie über den Rand von seinem Becher durch den wohlriechenden Dampf des Kaffees hindurch an. »Ich finde, du solltest dieses Outfit öfter tragen. Es ist eins von meinen Lieblingsoutfits.«
Sie legte ihren Kopf ein wenig schräg und trank den nächsten Schluck Kaffee. »Ich finde, eine ausgedehnte Dusche wäre jetzt nicht schlecht.«
»Hervorragend. Genau das will ich auch.«
Sie trank den letzten Schluck. »Dann fangen wir am besten sofort damit an.«
Später war sie immer noch zu faul, um sich richtig anzuziehen, und so hüllte sie sich kurzerhand in einen Morgenmantel ein, während Roarke frischen Kaffee und ein irisches Frühstück für zwei in Auftrag gab. Das alles war so unglaublich gemütlich, dachte sie. Noch vor zwei Jahren hatte sie in einer Bruchbude gelebt, die kleiner als das Zimmer war, durch dessen Fenster jetzt die Morgensonne fiel. Im nächsten Monat hatten sie bereits den zweiten Hochzeitstag, ging es ihr durch den Kopf. Roarke war in ihr Leben getreten und hatte es vollkommen auf den Kopf gestellt. Er hatte sie gefunden und sie ihn, all die dunklen Seiten ihrer Seelen waren seither etwas geschrumpft und hatten sich ein wenig aufgehellt.
»Was willst du als Nächstes tun?«, fragte sie ihn.
Er drehte den Kopf, während er Teller und Kaffee auf einem Tablett zum Tisch in der Sitzecke trug. »Ich dachte, heute wäre Nichtstun angesagt.«
»Entweder das oder eben etwas anderes. Ich habe gestern ausgewählt, da stand schon jede Menge Nichtstun auf dem Programm. Wahrscheinlich gibt es irgendeine Eheregel, die besagt, dass du heute auswählen kannst.«
»Ah ja, die berühmten Regeln.« Er stellte das Essen auf den Tisch. »Selbst in deiner Freizeit merkt man dir die Polizistin an.«
Galahad kam angeschlichen und beäugte die gefüllten Teller, als hätte er vor Tagen zum letzten Mal etwas im Bauch gehabt. Roarke aber hob mahnend einen Finger, und so wandte sich der Kater angewidert ab und putzte sich das Fell.
»Dann darf ich also entscheiden?« Er schnitt in sein Spiegelei und dachte nach. »Tja, lass mich überlegen. Es ist ein wunderbarer Tag im Juni.«
»Mist.«
Er zog die Brauen hoch. »Hast du ein Problem damit, dass Juni ist, oder damit, dass die Sonne scheint?«
»Nein. Mist. Juni. Charles und Louise.« Stirnrunzelnd kaute sie auf ihrem Speck herum. »Hochzeit. Hier.«
»Ja, nächsten Samstag, wobei meines Wissens alles unter Kontrolle ist.«
»Peabody hat gesagt, dass ich Louise als ihre Trauzeugin diese Woche jeden Tag anrufen soll, um sie zu fragen, ob ich ihr auf irgendeine Weise helfen kann.« Eves Stirnrunzeln verstärkte sich bei dem Gedanken an die Mahnung ihrer Partnerin. »Aber das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein, oder? Jeden Tag? Meine Güte. Außerdem, was zum Teufel könnte sie schon von mir wollen?«
»Vielleicht, dass du irgendwelche Besorgungen für ihre Feier machst?«
Sie hörte auf zu kauen und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Besorgungen? Was meinst du mit Besorgungen?«
»Tja, nun, genau weiß ich das nicht, weil ich schließlich noch nie eine Braut gewesen bin, aber ich könnte mir vorstellen, dass du beispielsweise den Floristen oder den Partyservice anrufen sollst, um letzte Einzelheiten zu besprechen, dass du mit ihr Schuhe für die Hochzeit oder Sachen für die Flitterwochen oder …«
»Warum tust du so etwas?«, fragte sie mit einer Stimme, die genauso unglücklich wie ihre Miene war. »Warum sagst du solche Sachen, nachdem du zweimal an einem Vormittag von mir glücklich gemacht worden bist? Das ist einfach gemein.«
»Ich schätze einfach die Situation realistisch ein. Doch wie ich Louise kenne, dürfte sie alles unter Kontrolle haben, und wie ich dich kenne, hätte Louise, falls sie jemanden zum Schuhkauf hätte haben wollen, jemand anderen gebeten, als Trauzeugin auf ihrer Hochzeit zu fungieren.«
»Ich habe den Junggesellinnenabschied für sie ausgerichtet.« Als er ein Lachen unterdrücken musste, bohrte sie ihm einen Finger in den Arm. »Er hat hier stattgefunden, und ich war die meiste Zeit dabei, also kann man durchaus sagen, dass er von mir ausgerichtet worden ist. Und ich kriege extra ein neues Kleid und all das Zeug.«
Ihre Verwirrung und die leichte Furcht, die sie vor gesellschaftlichen Ritualen hatte, amüsierten ihn, er sah sie mit einem nachsichtigen Lächeln an. »Und wie sieht das Kleid aus?«
Sie stach mit ihrer Gabel in das Ei. »Ich muss gar nicht genau wissen, wie es aussieht. Ich glaube, es ist gelb, sie hat die Farbe ausgesucht und danach mit Leonardo die Köpfe zusammengesteckt. Als müsste sie als Ärztin einem Designer sagen, wie er seine Arbeit machen soll. Mavis meint, es sähe super aus.«
Sie dachte an den ganz besonderen Stil ihrer Freundin Mavis Freestone und fügte hinzu: »Was, wenn ich darüber nachdenke, eher erschreckend ist. Warum also denke ich darüber nach?«
»Ich habe keine Ahnung, aber ich kann dir versichern, dass zwar Mavis’ Geschmack in Sachen Mode einzigartig ist, sie als deine engste Freundin aber trotzdem weiß, was dir am besten steht. Und Leonardo weiß das allemal. Auf unserer Hochzeit hast du jedenfalls einfach bezaubernd ausgesehen.«
»Unter all der Tünche hatte ich ein blaues Auge.«
»Durch und durch bezaubernd und vor allem völlig wie du selbst. Was Peabodys Rat betrifft, würde ich meinen, dass es sicherlich nicht schadet, wenn du dich mal bei Louise meldest, nur damit sie weiß, dass du bereit bist, ihr zu helfen, falls sie Hilfe braucht.«
»Und was ist, wenn sie welche braucht? Sie hätte Peabody als Trauzeugin aussuchen sollen statt nur als Stellvertreterin. Oder wie man das auch immer nennt.«
»Ich glaube, sie ist ihre Brautjungfer.«
»Was auch immer.« Eve winkte ungeduldig ab. »Die beiden haben es echt dicke miteinander, und vor allem fährt Peabody nun einmal total auf diese … Frauensachen ab.«
Wobei ihrer Meinung nach die ganze Aufregung um irgendwelche Kinkerlitzchen der totale Wahnsinn war.
»Was echt seltsam ist, weil Peabody und Charles schließlich regelmäßig miteinander ausgegangen sind, bevor und auch nachdem sie mit McNab zusammengekommen ist.« Sie runzelte erneut die Stirn, weil ihr die Dynamik der Beziehung zwischen diesen Menschen einfach völlig unverständlich war. »Zumindest waren sie weder beruflich noch privat jemals miteinander im Bett.«
»Wer, Charles und McNab?«
»Hör auf.« Sie stieß ein kurzes Lachen aus, kehrte dann aber in Gedanken wieder zu Besorgungen und Shoppingtouren zurück. »Zwischen Peabody und Charles ist nie etwas gelaufen, während er noch Gesellschafter war. Ich finde es genauso seltsam, dass er sein Geld auch noch auf diese Art verdient hat, nachdem er mit Louise zusammenkam, und dass es sie anscheinend nie gestört hat, dass er sich, obwohl sie zusammen in der Kiste waren, jobbedingt auch für andere Leute ausgezogen hat. Bis er plötzlich, ohne ihr etwas davon zu sagen, damit aufgehört, sich zum Therapeuten umschulen lassen, ein Haus gekauft und ihr einen Heiratsantrag gemacht hat.«
Geduldig ließ Roarke ihren Wortschwall über sich ergehen, während sie sich Eier, Kartoffeln und Speck in den Mund schob, sah sie aber am Ende fragend an. »Okay, und was genau willst du damit sagen?«
Sie pikste wieder etwas Ei auf, legte ihre Gabel dann fort und hob ihren Kaffeebecher an den Mund. »Ich will nichts vermasseln. Sie, das heißt die beiden, sind so glücklich, und ich weiß, dass diese Hochzeit eine Riesensache für sie ist. Das ist mir klar, nur habe ich schon bei unserer eigenen Hochzeit absolut versagt.«
»Das zu beurteilen, überlässt du lieber mir.«
»Ich habe versagt. Schließlich habe ich alles auf dich abgewälzt.«
»Wenn ich mich recht entsinne, hattest du damals gerade mit ein paar Mordfällen zu tun.«
»Das stimmt. Wohingegen du den lieben langen Tag nur auf deinen Geldbergen herumgesessen hast.«
Er schüttelte den Kopf und strich etwas Marmelade auf ein dreieckiges Stück Toast. »Jeder von uns tut eben, was er tun muss, meine geliebte Eve. Und ich finde, wir machen unsere Sache wirklich gut.«
»Am Abend vor der Hochzeit habe ich mich einfach verdrückt, weshalb du ziemlich sauer warst.«
»Das hat das Ganze wenigstens ein bisschen aufregend gemacht.«
»Dann wurden mir irgendwelche Drogen eingeflößt, und ich wurde auf meinem alkoholgeschwängerten Junggesellinnenabschied in einem Striplokal vermöbelt, bevor mir die Festnahme gelungen ist. Was rückblickend betrachtet durchaus witzig war. Aber die Sache ist die, ich habe meine Arbeit damals nicht getan und deshalb immer noch keine Ahnung, wie man so was macht.«
Er tätschelte ihr aufmunternd das Knie. Für eine Frau, die manchmal geradezu erschreckend mutig war, hatte sie vor den seltsamsten Dingen Angst. »Falls sie irgendetwas braucht, wirst du schon dahinterkommen, was du machen musst. Ich sage dir, als du an unserem Tag im hellen Sonnenschein auf mich zugelaufen kamst, sahst du wie eine Flamme aus. Strahlend hell und derart schön, dass es mir den Atem verschlagen hat. Für mich gab es in dem Moment nur dich.«
»Und ungefähr fünfhundert deiner engsten Freunde.«
»Nein, nur dich.« Er hob ihre Hand an seinen Mund. »Und ich wette, so wird es auch für die beiden sein.«
»Ich will nur, dass sie bekommt, was sie sich wünscht. Aber die Verantwortung dafür macht mich total nervös.«
»Was ein Zeichen wahrer Freundschaft ist. Du wirst irgendein gelbes Kleid anziehen und für sie da sein. Das reicht völlig aus.«
»Das kann ich nur hoffen, denn ich rufe sie bestimmt nicht täglich an. Auf keinen Fall.« Sie starrte auf ihren Teller. »Kannst du mir mal sagen, wie man ein solches Frühstück vertilgt?«
»Langsam und mit größter Entschlossenheit. Ich gehe davon aus, dass deine Entschlossenheit nicht ausreicht.«
»Nicht einmal annähernd.«
»Wenn wir dann mit unserem Frühstück fertig sind, werde ich dir sagen, was mir eben durch den Kopf gegangen ist.«
»Was?«
»Es geht darum, was ich als Nächstes machen will. Wir sollten uns gemütlich an den Strand legen und Sand und Sonne genießen, ohne groß etwas zu tun.«
»Klingt gut. Wo willst du hin? An den Strand von Jersey oder auf die Hamptons?«
»Ich hatte an etwas Tropisches gedacht.«
»Du kannst doch wohl unmöglich nur für einen nicht mal ganzen Tag auf die Insel fliegen wollen.« Roarkes private Insel war zwar einer ihrer Lieblingsorte, der jedoch praktisch am anderen Ende der Welt gelegen war. Selbst mit seinem Jet bräuchten sie mindestens drei Stunden für den einfachen Weg.
»Das wäre etwas weit für einen spontanen Trip, aber es gibt auch Inseln, die ein bisschen näher liegen. Zum Beispiel eine der Caymaninseln, auf der eine kleine Villa steht, die man für einen Tag mieten kann.«
»Und woher weißt du das?«
»Ich habe sie mir angesehen, weil ich sie vielleicht kaufen will«, erklärte er in derart beiläufigem Ton, als ginge es darum, einen neuen Anzug zu erstehen. »Wir könnten runterfliegen, wären in weniger als einer Stunde dort, könnten die Sonne und das Meer genießen, irgendwelche lächerlichen Cocktails schlürfen und dann heute Abend im Mondlicht am Strand spazieren gehen.«
Sie merkte, dass sie lächelte. »Wie klein ist diese Villa?«
»Klein genug, um eine nette Ferienunterkunft für uns zu sein, falls wir spontan mal Urlaub machen wollen, und groß genug, um ein paar Freunde mitzunehmen, falls uns danach zumute ist.«
»Du hast diesen Trip schon lange geplant.«
»Ja, für den Fall, dass du mal frei hast und was unternehmen willst. Wenn du willst, ist es jetzt so weit.«
Sie sprang auf und stürzte Richtung Schrank.
»Für den Fall der Fälle ist bereits alles gepackt, und zwar für uns beide«, klärte er sie auf.
Sie sah ihn über ihre Schulter hinweg an. »Du lässt dir einfach keine Chance entgehen, Punkte zu machen, stimmt’s?«
»Schließich habe ich nur selten einen freien Tag zusammen mit meiner Ehefrau. Und wenn das doch einmal passiert, nutze ich es eben gern nach Kräften aus.«
Sie warf ihren Morgenmantel ab, zog sich ein schlichtes, weißes, ärmelloses T-Shirt an und schnappte sich khakifarbene Shorts. »Der Anfang war auf jeden Fall nicht schlecht. Wobei dieser Trip die Krönung ist.«
Während sie in ihre Hose stieg, gab das Handy auf ihrer Kommode das Signal, dass ein Anruf für sie eingegangen war. »Scheiße. Verdammt. Verfluchter Mist!« Ihr Magen rutschte in die Kniekehlen, als sie den Namen auf dem kleinen Bildschirm las, und sie bedachte Roarke mit einem bedauernden, entschuldigenden Blick. »Es ist Whitney.«
Er sah ihrer Haltung und ihrem Gesicht die Polizistin an, als sie den Anruf des Commanders entgegennahm. Und dachte: Ach, was soll’s.
»Ja, Sir.«
»Lieutenant, tut mir leid, Sie an Ihrem freien Tag zu stören.« Whitneys großflächiges Gesicht füllte den gesamten Bildschirm aus, und als sie seine gestresste Miene sah, spannten sich ihre Nackenmuskeln an.
»Kein Problem, Commander.«
»Mir ist klar, Sie haben heute keinen Dienst, aber kommen Sie bitte trotzdem umgehend zum 541 Central Park South. Ich bin bereits vor Ort.«
»Sie sind bereits vor Ort?« Es musste wirklich schlimm sein, dachte sie, wenn der Commander selbst erschienen war.
»Ja. Das Opfer ist Deena MacMasters, sechzehn Jahre alt. Ihre Leiche wurde heute Vormittag von ihren Eltern aufgefunden, als sie von einem Wochenendtrip nach Hause kamen. Dallas, der Vater des Opfers ist Captain Jonah MacMasters.«
Es dauerte einen Moment, dann aber fragte sie: »Von der Drogenfahndung? Ich kenne dort einen Lieutenant MacMasters. Ist er das? Wurde er befördert?«
»Vor zwei Wochen. Er hat ausdrücklich darum gebeten, dass die Leitung der Ermittlungen Ihnen übertragen wird. Ich würde ihm diesen Wunsch gerne erfüllen.«
»Ich werde Detective Peabody umgehend kontaktieren.«
»Das übernehme ich. Sie hätte ich gern so schnell wie möglich hier.«
»Dann mache ich mich sofort auf den Weg.«
»Danke.«
Sie legte auf und wandte sich an Roarke. »Es tut mir leid.«
»Das darf es nicht.« Er trat vor sie und berührte die Vertiefung in der Mitte ihres Kinns. »Ein Mann hat sein Kind verloren, das ist deutlich wichtiger als ein Tag am Strand. Kennst du ihn?«
»Nicht wirklich. Er hat mich kontaktiert, nachdem ich Casto festgenommen hatte.« Sie dachte an den korrupten Cop, von dem sie bei ihrem eigenen Junggesellinnenabschied überfallen worden war. »Zwar war Casto keiner seiner Leute, aber er wollte sich trotzdem bei mir dafür bedanken, dass der Fall abgeschlossen und ein unsauberer Kollege aus dem Verkehr gezogen worden ist. Das fand ich wirklich nett. Er hat einen guten Ruf«, fuhr sie fort, während sie aus ihren Freizeitshorts in eine Arbeitshose stieg. »Einen guten, grundsoliden Ruf. Ich wusste nicht, dass er befördert worden ist, aber es überrascht mich nicht.«
Sie kämmte sich, indem sie mit ihren Fingern durch die wirren Haare fuhr. »Er ist mindestens seit zwanzig oder vielleicht sogar schon fünfundzwanzig Jahren dabei. Ich habe gehört, er wäre unglaublich diszipliniert, ließe auch seinen Leuten keine Schlampereien durchgehen, und seine Aufklärungsquote wäre ziemlich hoch.«
»Klingt wie jemand anderes, den ich kenne.«
Sie zog ein Hemd aus ihrem Schrank. »Kann sein.«
»Whitney hat dir nicht gesagt, wie das Mädchen gestorben ist.«
»Weil ich mir nicht schon im Vorfeld irgendeine Meinung bilden soll. Er hat nicht einmal gesagt, dass sie ermordet worden ist. Ich und der Pathologe müssen feststellen, ob es Mord, ein Unfall oder sonst was war.«
Sie legte ihr Waffenhalfter an, steckte ihr Handy und ihren Communicator ein, schob sich ihre Handschellen in den Hosenbund und ersparte sich ein Stirnrunzeln, als Roarke ihr eine leichte Sommerjacke reichte, unter der ihr Halfter sich verbergen ließ. »Dass Whitney da ist, hat etwas zu bedeuten«, meinte sie. »Entweder, dass irgendetwas an dem Fall verdächtig ist, oder dass sie privat befreundet sind. Könnte natürlich auch beides sein.«
»Du meinst, dass er am Fundort dieses Mädchens ist …«
»Ja.« Sie setzte sich, um ihre Stiefel anzuziehen. »Die Tochter eines Cops. Ich weiß nicht, wann ich wieder da bin.«
»Kein Problem.«
Sie blieb stehen, sah ihn an und dachte an gepackte Taschen und einen Spaziergang an einem mondbeschienenen Tropenstrand. »Du könntest auch einfach allein hinfliegen und dir diese Villa ansehen.«
»Ich habe noch genügend Arbeit, um mich zu beschäftigen.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern und küsste sie zärtlich auf den Mund. »Melde dich, wenn du Genaueres weißt.«
»Das mache ich. Bis dann.«
»Pass auf dich auf, Lieutenant.«
Sie joggte die Treppe hinunter in den Flur und lief einfach weiter, als dort Summerset, Roarkes Mann für alle Fälle und der stete Stein in ihrem Schuh, erschien.
»Ich dachte, Sie hätten bis morgen frei.«
»Es gibt eine Leiche, die unglücklicherweise nicht die Ihre ist.« Dann blieb sie doch noch einmal stehen. »Bringen Sie ihn dazu, dass er etwas Schönes macht. Nur, weil ich arbeiten muss …« Schulterzuckend machte sie sich auf den Weg zu ihrem Treffen mit dem Tod.
Nicht viele Polizeibeamte konnten es sich leisten, mit ihren Familien in ein frei stehendes Haus am grünen Rand des Central Park zu ziehen. Aber noch weniger Polizeibeamte – das hieß, niemand außer ihr selbst – lebten mitten in Manhattan in einem schlossähnlichen Herrenhaus. Neugierig, wie sich MacMasters die Bleibe leisten konnte, überprüfte sie ihn auf dem Weg durch den leichten Feiertagsverkehr.
Captain Jonah MacMasters, erklärte der Computer im Armaturenbrett ihres Gefährts, geboren am 22. März 2009 in Providence, Rhode Island. Eltern Walter und Marybeth, geborene Hastings. Stonebridge Academy und danach Yale, wo er sein Studium 2030 erfolgreich abgeschlossen hat. Seit 2040 verheiratet mit Carol Franklin, eine Tochter, Deena, geboren am 23. November 2043. Seit dem 15. September 2037 bei der New Yorker Polizei. Belobigungen und Ehrungen für…
»Den Teil kannst du überspringen. Wie sieht es mit seinen Finanzen aus? Woher kommt sein Geld?«
Einen Augenblick… sein aktuelles Vermögen wird auf acht Millionen sechshunderttausend Dollar geschätzt. Er hat Anteile am Unternehmen seines Großvaters geerbt. Jonah MacMasters, Gründer von Mac Küche und Bad mit Stammsitz in Providence, starb am 6. Juni 2032 eines natürlichen Todes. Der momentane Wert …
»Das reicht. Damit ist meine Frage beantwortet.«
Der in Yale ausgebildete Sohn einer reichen Familie endete als Drogenfahnder in New York. Interessant. Seit zwanzig Jahren mit ein und derselben Frau verheiratet, mehrfach belobigt, ausgezeichnet und befördert. All das bestätigte, was sie schon von ihm wusste.
Nämlich, dass er grundsolide war.
Aber weshalb hatte dieser grundsolide Cop, den sie kaum kannte, ihren Chef gebeten, ihr die Leitung der Ermittlungen zum Tod seines einzigen Kindes zu übertragen?
Welchen Grund hatte der Mann dafür?
Als sie zu der Adresse kam, hielt sie hinter einem Streifenwagen an, schaltete das Warnlicht an und blickte auf das Haus. Eine nette Hütte, dachte sie, stieg aus und holte ihren Untersuchungsbeutel aus dem Kofferraum. Auch wenn sie diesen Ausdruck langsam überstrapazierte, kam ihr das Gebäude durch und durch solide vor.
Es stammte aus der Zeit vor den Innerstädtischen Revolten und war auf eine Weise restauriert, durch die sein ursprünglicher Charakter und auch ein paar Narben erhalten geblieben waren. Mit dem rosigen Backstein, den cremefarbenen Bordüren und den langen, momentan durch Sichtblenden geschützten Fenstern strahlte es eine gewisse Würde aus.
Hübsche Töpfe voller bunter Blumen standen links und rechts der kurzen Steintreppe, doch als sie vor die Haustür trat, galt ihr Interesse weniger dem Schmuck als der Security.
Kameras, ein Monitor, ein Daumenabdruckscanner, und sie ginge jede Wette ein, dass es auch mit einem Code versehene, stimmaktivierte Schlösser an den Türen gab. Ein Polizist, vor allem, wenn er so diszipliniert wie dieser war, sorgte sicher für den größtmöglichen Schutz nicht nur seines Heims, sondern auch der Menschen, die darin zu Hause waren.
Trotz alledem lag seine Tochter tot in diesem Haus.
Weil man eben niemals völlig sicher war.
Sie zog ihre Dienstmarke hervor, zeigte sie dem Beamten an der Tür und machte sie wieder an ihrem Gürtel fest.
»Sie werden drinnen bereits erwartet, Lieutenant.«
»Waren Sie als Erster hier?«
»Nein, Ma’am. Die Beamten, die als Erste hier waren, sind zusammen mit dem Commander, dem Captain und seiner Frau im Haus. Mein Partner und ich wurden vom Commander herbestellt. Mein Partner bewacht die Hintertür.«
»Okay. Meine Partnerin wird jeden Augenblick erscheinen. Detective Peabody.«
»Das wurde mir bereits gesagt. Ich werde sie hineinschicken.«
Er war eindeutig kein Anfänger, konstatierte Eve, während sie darauf wartete, dass ihr die Tür geöffnet wurde. Der Beamte sah ausnehmend zäh und durch und durch erfahren aus. Hatte Whitney ihn geholt, oder war auch er auf Wunsch des Captains hier?
Sie sah nach links und rechts. Die Leute aus den Nachbarhäusern, die zu Hause waren, sahen sicher aus den Fenstern, waren jedoch zu höflich oder zu verängstigt, um herauszukommen und zu fragen, was geschehen war.
Sie trat in einen kühlen, großen Flur, aus dem man über eine mittig angelegte Treppe in die obere Etage kam. Die Blumen auf dem Tisch waren noch frisch. Höchstens ein, zwei Tage alt. In einer kleinen Schale lagen irgendwelche bunten Bonbons, aber nirgends in dem Raum, der mit seinen weichen Farben warm und einladend erschien, lag irgendetwas unordentlich herum, außer einem Paar lila schimmernder Sandalen, von denen eine unter und die andere neben einem Stuhl mit einer hohen Lehne lag.
Whitney trat durch eine Tür zu ihrer Linken auf sie zu. Mit seiner kräftigen Gestalt füllte er sie völlig aus. Sein dunkles Gesicht war sorgenvoll verzogen, und sie nahm den unglücklichen Ausdruck seiner Augen wahr.
Trotzdem hatte seine Stimme einen völlig ruhigen Klang, denn die jahrelange Polizeiarbeit hatte ihn gestählt.
»Wir sind hier drinnen, Lieutenant«, meinte er. »Vielleicht hätten Sie ja einen Augenblick, bevor Sie nach oben gehen.«
»Ja, Sir.«
»Zuerst möchte ich mich noch dafür bedanken, dass Sie mit der Übernahme dieses Falles einverstanden sind.« Als sie zögerte, hätte er fast gelächelt und fügte hinzu: »Falls meine Bitte für Sie wie ein Befehl geklungen hat, tut mir das leid.«
»Kein Problem, Commander. Der Captain will mich haben, also bin ich hier.«
Nickend drehte er sich wieder um und führte sie in den Raum.
Eve zuckte leicht zusammen, als sie Mrs Whitney sah. Die Frau ihres Commanders war mit ihrem steifen Benehmen, ihrer kühlen Distanziertheit und mit ihrem blauen Blut irgendwie furchteinflößend. Doch in diesem Augenblick schien sie völlig darauf konzentriert, die Frau zu trösten, neben der sie auf einer kleinen Couch in dem hübschen Wohnzimmer saß.
Carol MacMasters war mit ihrer Zartheit und mit ihren dunklen Haaren das genaue Gegenteil von Anna Whitneys blonder Eleganz. Ihre tränennassen, schwarzen Augen drückten Unglück und Verwirrung aus, und ihre schmalen Schultern bebten, als säße sie nackt auf einem Eisberg.
MacMasters selbst stand auf, als sie den Raum betrat. Er war circa einen Meter neunzig groß und so schlank, dass er schon fast schlaksig war. Die lässigen Jeans und das legere T-Shirt, das er trug, zeugten davon, dass er eben erst von einem Kurzurlaub zurückgekommen war. Seine Haare, schwarz wie die von seiner Frau, waren gelockt und lagen sehr dicht um ein schmales Gesicht mit tiefen Furchen in den Wangen, die in seiner Jugend vielleicht Grübchen gewesen waren. Der Blick aus seinen hellen, rauchig grünen Augen verriet Trauer, Schock und Zorn.
Er trat auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Danke. Lieutenant …« Da er offenkundig nicht mehr weiterwusste, brach er ab.
»Captain. Mein tief empfundenes Beileid zu Ihrem Verlust.«
»Ist sie das?« Während ihr ein frischer Tränenstrom über die Wangen lief, stand Carol schwankend auf. »Sie sind Lieutenant Dallas?«
»Ja, Ma’am. Mrs MacMasters …«
»Jonah hat gesagt, wir bräuchten Sie. Weil Sie die Beste sind. Sie werden herausfinden, wer … wie … aber lebendig wird sie davon nicht. Lebendig wird mein Baby davon nicht. Sie ist oben. Sie ist oben, und ich darf nicht bei ihr sein.« Ihre Stimme wurde schrill. »Sie lassen mich nicht zu ihr rauf. Sie ist tot. Unsere Deena ist tot.«
»Bitte, Carol, du musst jetzt Lieutenant Dallas ihre Arbeit machen lassen.« Mrs Whitney hatte sich inzwischen ebenfalls erhoben und nahm Carol tröstend in den Arm.
»Kann ich nicht einfach bei ihr sitzen? Kann ich nicht einfach …«
»Bald«, versprach Mrs Whitney in begütigendem Ton. »Bald. Erst mal bleibst du hier bei mir. Der Lieutenant wird sich gut um Deena kümmern. Sei beruhigt, ich weiß, dass sie bei ihr in den allerbesten Händen ist.«
»Ich werde Sie nach oben bringen«, bot ihr Whitney an. »Anna.«
Mrs Whitney nickte stumm.
Sie war steif und furchteinflößend, dachte Eve, aber mit einer trauernden Mutter und einem am Boden zerstörten Vater kam sie mühelos zurecht.
»Du musst bitte hier unten bleiben, Jonah. Ich bin sofort wieder da. Lieutenant.«
»Sind Sie privat mit den Eltern des Opfers befreundet?«, fragte Eve.
»Ja. Anna und Carol arbeiten gemeinsam in einigen Komitees und sehen sich deshalb ziemlich oft. Auch als Paare haben wir des Öfteren Kontakt. Ich habe meine Frau als Freundin der Mutter des Opfers mitgebracht.«
»Ja, Sir. Sie wird ihr sicher eine große Hilfe sein.«
»Es ist furchtbar hart, Dallas«, fuhr er mit Grabesstimme fort, während er die Treppe in den ersten Stock erklomm. »Wir haben Deena gekannt, seit sie ein kleines Mädchen war, und ich kann Ihnen versichern, dass sie ein aufgewecktes, reizendes Geschöpf und die größte Freude ihrer Eltern war.«
»Die Security im Haus scheint hervorragend zu sein. Wissen Sie, ob die Alarmanlage eingeschaltet war, als die MacMasters heute früh zurückkamen?«
»Die Türen waren abgesperrt, aber die Kameras waren deaktiviert und die Aufnahmen der letzten beiden Tage nicht mehr da. Er hat nichts angerührt.« Oben angekommen, wandte Whitney sich nach links. »Er hat auch Carol nicht erlaubt, irgendetwas zu berühren – außer ihrem Kind. Er hat seine Frau daran gehindert, den Leichnam zu bewegen oder irgendetwas am Fundort zu verändern. Auch wenn es verständlicherweise einen Augenblick des Schocks für beide gab.«
»Ja, Sir.« Es war alles andere als angenehm, plötzlich in der Position zu sein, den eigenen Vorgesetzten zu vernehmen, dachte Eve. »Wissen Sie, um wie viel Uhr die beiden heute Morgen heimgekommen sind?«
»Genau um acht Uhr zweiunddreißig. Ich habe mir erlaubt, das Schließprotokoll der Haustür einzusehen, wodurch Jonahs Aussage bestätigt worden ist. Ich schicke Ihnen noch eine Kopie von seinem Anruf bei mir zu Hause zu. Er hat mich sofort kontaktiert, nach Ihnen verlangt und mich gefragt, ob ich kommen kann. Ich habe den Fundort, das heißt Deenas Zimmer, nicht versiegelt, sondern nur die Tür hinter mir zugemacht.«
Er öffnete die Tür, trat dann aber einen Schritt zurück. »Ich denke, es ist das Beste, wenn ich wieder runtergehe und Sie Ihre Arbeit machen lasse. Sobald Ihre Partnerin erscheint, schicke ich sie zu Ihnen rauf.«
»Ja, Sir.«
Er nickte erneut und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, als er auf die offene Tür des Zimmers sah. »Dallas, es ist wirklich hart.«
Sie wartete, bis er gegangen war, betrat dann allein den Raum und sah sich die junge, tote Deena MacMasters an.
2
»Rekorder an. Lieutenant Eve Dallas am Fundort der toten Deena MacMasters.«
Während sie das Versiegelungsspray aus ihrer Tasche nahm, um sich Hände und Stiefel einzusprühen, sah sie sich im Zimmer um. Es war ein großer, heller, luftiger Raum mit drei, momentan durch Sichtblenden geschützten Fenstern, durch die man auf den Park hinuntersah. Eine gepolsterte, mit farbenfrohen Kissen ausgelegte Bank erstreckte sich unter dem Glas. Poster von populären Musikern, Schauspielern und anderen Berühmtheiten waren an den in einem verträumten Veilchenblau gestrichenen Wänden aufgehängt, und Eves Magen zog sich leicht zusammen, als sie das Poster ihrer Freundin Mavis Freestone sah. Auf dem Tourneeplakat von Mutterschaft ist echt der Hit! wogte ihr leuchtend blaues Haar um ihr Gesicht, sie hatte triumphierend die Arme über ihren Kopf gereckt und in der ihr eigenen großen, ausholenden Schrift vermerkt:
Hi Deena,
du bist auch der Hit!
Mavis Freestone
Hatte Deena Mavis dieses Poster bei einem Konzert entgegengehalten, und hatte Mavis es ihr lachend und übersprudelnd, wie sie war, mit Deenas violettem Stift signiert? Hatten sie dabei Lärm, Lichter, leuchtende Farben eingehüllt, hatte Deena das Leben in seiner ganzen Intensität gespürt? Auf jeden Fall hatte sich die Erinnerung an diesen aufregenden Augenblick einem sechzehnjährigen Mädchen, das nicht gewusst haben konnte, wie wenig Zeit ihr bleiben würde, um darin zu schwelgen, sicher unauslöschlich eingeprägt.
Der Teil des Raums, der mit einem weiß schimmernden Schreibtisch, mehreren Regalen, einem teuren Daten- und Kommunikationszentrum sowie Diskettenkästen offenbar fürs Lernen und die Hausaufgaben ausgestattet war, wirkte blitzsauber und aufgeräumt. Auch die dicken Kissen, weichen Decken und die Stofftiersammlung, die wahrscheinlich noch aus ihrer Kindheit stammte, wirkten unberührt; diese Ecke war vermutlich fürs Abhängen allein oder mit Freundinnen bestimmt gewesen.
Eine Bürste und ein Handspiegel, ein paar bunte Flaschen, eine Schale voller Muscheln sowie drei gerahmte Fotos standen auf einer Kommode, die so schimmernd weiß wie Deenas Schreibtisch war.
Farbenfrohe Läufer waren auf dem glänzenden Holzboden verteilt, wobei der, der dem Bett am nächsten lag, etwas verschoben worden war. Entweder der Täter oder das Mädchen selbst schien dagegengestoßen zu sein.
Direkt neben dem Teppich lag ein schlichter, weißer Slip.
»Er hat ihr die Unterwäsche ausgezogen und dann weggeworfen«, stellte Eve mit lauter Stimme fest.
Auf den Tischchen neben dem Bett standen hübsche Lampen mit gerüschten, quastenverzierten Schirmen, von denen einer windschief auf dem Ständer hing. Offenbar war jemand mit einem Arm oder einem Ellenbogen dagegengestoßen. Alles andere um das Bett herum wies auf einen ausgeprägten Ordnungssinn und eine Vorliebe für hübsche, mädchenhafte Dinge hin.
Für ihr Alter schien das Mädchen noch recht kindlich gewesen zu sein, doch natürlich ging Eve bei dem Urteil von sich selbst in diesem Alter aus. Sie hatte mit sechzehn Jahren die Tage bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag und dem Ende ihres Aufenthalts im Kinderheim gezählt. Weil ihre Welt nicht rosarot, gerüscht und mit süßen, heißgeliebten Teddybären bestückt gewesen war.
Trotzdem kam es ihr so vor, als wäre dies das Zimmer eines Mädchens, das noch eher ein Kind als eine Frau gewesen war. Doch im Sterben hatte es die schlimmsten Ängste einer Frau durchlebt.
Mitten in dem hübschen, anheimelnden Raum wies das Bett auf unbarmherzige Gewaltanwendung hin. Die durch rostrote Blutflecken ruinierten, pinkfarbenen und weißen Laken hatte der Kerl benutzt, um Deenas Füße so ans Fußbrett ihres Betts zu binden, dass sie mit gespreizten Beinen vor ihm lag.
Sie hatte sich gewehrt, während sie vergewaltigt worden war, das zeigten die Abschürfungen und die blauen Flecken an den Knöcheln und den Schenkeln unter dem verrutschten violetten Rock. Eve beugte sich vor und betrachtete die Polizeihandschellen, mit denen die Hände des Opfers hinter dem Rücken gefesselt worden waren.
»Polizeihandschellen. Das Opfer ist die Tochter eines Polizisten. Sie hat sich gewehrt. Darauf deuten die Abschürfungen und die Schwellungen an beiden Handgelenken hin. Sie hat es dem Kerl nicht leicht gemacht. Anzeichen von Verstümmelungen gibt es nicht. Schwellungen im Gesicht deuten auf Schläge und die Hämatome am Hals deuten auf Würgen hin.«
Sie öffnete den Mund des Opfers, leuchtete ihn aus und sah sich den Mundraum durch ein Vergrößerungsglas an. »Zwischen den Zähnen und auf der Zunge hängen ein paar Fäden, das Blut an ihren Lippen und den Zähnen zeigt, dass sie sich in die Lippe gebissen hat. Auch auf dem Kopfkissenbezug finden sich Blut und wahrscheinlich Speichel. Anscheinend hat er ihr das Kissen aufs Gesicht gedrückt. Ihre Kleidung ist verrutscht, aber sie hat sie noch am Leib, wobei es ein paar Risse an den Schultern ihrer Bluse gibt, und ein paar Knöpfe fehlen. Er hat an den Kleidern gezerrt«, fuhr sie mit rauer Stimme fort und bahnte sich mit den Augen einen Weg an Deenas Leib herab. »Hat sie zur Seite geschoben, hatte aber kein Interesse an dem Vorspiel, das für manche Vergewaltigungen typisch ist.«
Trotz ihres trockenen Mundes und des Dröhnens in ihrem Schädel sah sie sich die durch die Vergewaltigung hervorgerufenen Verletzungen genauer an.
»Er hat sie gefoltert – gewürgt, erstickt, vergewaltigt, gewürgt, erstickt, vergewaltigt. Vaginal und anal. Den vielen Abschürfungen und Risswunden zufolge wiederholt.« Als sie spürte, dass ihr Atem stockte, atmete sie mühsam aus. Ein. Und wieder aus. »Das Blut im Vaginalbereich deutet darauf hin, dass das Opfer noch Jungfrau war. Das muss der Pathologe noch bestätigen.«
Sie musste sich aufrichten und durchatmen, bevor sie vollends aus dem Gleichgewicht geriet. Denn sie konnte es sich ganz einfach nicht leisten, den Rekorder auszuschalten und sich zu beruhigen, konnte es sich ganz einfach nicht leisten, dass die Aufnahmen vom Tatort zeigten, wie sehr ihre Hände zittern wollten und dass sie den Kampf gegen die Übelkeit vielleicht im nächsten Augenblick verlor.
Sie wusste, wie es einem ging, wenn man derart hilflos war, derart missbraucht wurde und derart panisch reagierte.
»Bisher sieht es so aus, als ob die Alarmanlage an gewesen wäre. Später aber wurden die Kameras ausgeschaltet und belastende Disketten aus dem Haus entfernt. Sichtbare Spuren eines Einbruchs gibt es nicht, was jedoch die Spurensicherung noch genauer untersuchen muss. Sie hat die Tür geöffnet und den Kerl hereingelassen, obwohl sie die Tochter eines Polizisten war. Das heißt, sie hat ihn gekannt und ihm vertraut. Er hat ihr ins Gesicht gesehen, als er sie vergewaltigt und ermordet hat. Er kannte sie und wollte ihr Gesicht sehen. Es war also eine extrem persönliche Tat.«
Wieder etwas ruhiger griff sie nach dem Messgerät zur Ermittlung des genauen Todeszeitpunkts und stellte für den Rekorder fest: »Drei Uhr sechsundzwanzig. Die Ermittlungsleiterin geht von Vergewaltigung und anschließender Tötung aus, was jedoch noch durch den Pathologen bestätigt werden muss. Ich bitte um eine Untersuchung durch Dr. Morris, falls er zur Verfügung steht.«
»Dallas.«
Es zeigte Eve, wie tief sie in diesem Moment und auch in der Vergangenheit versunken war, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie ihre Partnerin hereingekommen war. Sie bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck und drehte sich zu Peabody, die in der Tür des Zimmers stand.
»Die Kleine ist einen schlimmen Tod gestorben«, meinte sie. »Sie hat hart gekämpft und ist qualvoll gestorben. Ich finde kein Gewebe unter ihren Nägeln, aber jede Menge Spuren von ihrem Bettzeug. Es sieht aus, als hätte er ihr das Kissen aufs Gesicht gedrückt und als hätte sie hineingebissen und sich dabei selbst an der Lippe verletzt. Da er sie höchstwahrscheinlich mehrfach vergewaltigt hat, hat ihn der Kampf möglicherweise heiß gemacht. Außerdem hat er sie gewürgt. Die blauen Flecken zeigen uns dabei die Größe seiner Hände an.«
»Ich habe sie gekannt.«
Instinktiv trat Eve so neben das Bett, dass Peabody gezwungen war, sie statt des Leichnams anzusehen. »Woher?«
Peabodys dunkelbraune Augen drückten schlichte und ehrliche Trauer aus. »Als ich zur Polizei gegangen bin, haben wir eine Art öffentlichen Dienst in Schulen absolviert.« Peabody räusperte sich leise und presste die Lippen aufeinander, ehe sie weitersprach. »Sie war dort meine Kontaktperson, hat als eine Art Helferin für mich fungiert. Ein wirklich nettes, aufgewecktes Kind. Sie muss damals elf oder zwölf gewesen sein. Ich war noch nicht lange in New York, weshalb sie mir ein paar Einkaufstipps und so gegeben hat. Und, ach, letztes Jahr hat sie ein Referat über Hippies für die Schule gemacht.« Peabody brach ab und besprühte umständlich ihre Hände und die Schuhe mit Versiegelungsspray. »Deshalb hat sie sich bei mir gemeldet und gefragt, ob ich ihr mit ein paar Hintergrundinformationen und persönlichen Anekdoten helfen kann.«
»Wird das ein Problem für Sie?«
»Nein.« Peabody atmete tief durch, schob sich das dunkle Haar aus dem Gesicht und fuhr sich mit den Fingern durch den kessen Bob. »Nein. Sie war ein nettes Mädchen, und ich mochte sie. Sogar sehr gern. Deshalb will ich herausfinden, wer sie auf dem Gewissen hat. Ich will dabei sein, wenn es diesen Hurensohn erwischt.«
»Fangen Sie mit der Überprüfung der Alarmanlage und sämtlicher elektronischer Geräte an. Achten Sie dabei besonders darauf, ob es Spuren eines Einbruchs gibt.« Es ist ein großes Haus, sagte sich Eve. Deshalb würde diese Arbeit lange genug dauern, damit Peabody die Trauer überwände und wieder ausschließlich Polizistin war. »Wir müssen uns alle Links ansehen und sämtliche Gesprächsprotokolle kopieren. Ich brauche die Spurensicherung, aber ich möchte, dass noch nichts von der Sache nach außen dringt. Eine Nachrichtensperre können wir natürlich nicht verhängen, da es schließlich um die Tochter eines Polizisten geht, aber ich will, dass die Informationen so lange wie möglich zurückgehalten werden. Als Pathologen will ich Morris, falls er zur Verfügung steht.«
»Ist er denn inzwischen wieder da?«
»Offiziell erscheint er morgen wieder zum Dienst. Falls er heute schon zurück und bereit ist, diesen Fall zu übernehmen, will ich ihn.«
Peabody nickte und klappte ihr Handy auf. »Da es sich um die Tochter eines Polizisten handelt, denke ich, hätten wir auch Feeney gern dabei.«
»Da denken Sie richtig, rufen Sie auch ruhig Ihren knochenarschigen Liebsten an. Feeney wird McNab auf jeden Fall bei dieser Sache brauchen, also geben Sie ihm meinetwegen auch schon mal Bescheid.«
»Er ist startbereit. Als mich Whitney angerufen hat, habe ich ihn gebeten, auf mein Signal zu warten. Aber jetzt werde ich Ihnen erst einmal helfen, falls Sie sie bewegen wollen.«
Eve hörte die Botschaft, die mit diesem Angebot verbunden war. Ich muss das tun. Ich muss beweisen, dass ich dazu in der Lage bin.
Sie trat einen Schritt zurück und wandte sich wieder dem Leichnam zu. »Er hat ihr die Kleider nicht ausgezogen. Hat etwas daran herumgezerrt und sie aus dem Weg geschoben, aber ausgezogen hat er sie ihr nicht. Was für mich bedeutet, dass es nicht um Sex und auch nicht darum ging, sie zu erniedrigen, sondern darum, ihr Schmerzen zuzufügen, um Bestrafung, um Gewalt. Ausziehen und entblößen wollte er sie nicht. Auf drei«, erklärte sie, zählte, und gemeinsam rollten sie die Tote auf den Bauch.
»Gott.« Peabody atmete hörbar ein und aus. »Das Blut stammt nicht nur von der Vergewaltigung. Ich glaube … dass sie noch Jungfrau war. Und das hier sind Handschellen der Polizei. Indem er sie benutzt und ihr damit die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden hat, wollte er uns irgendetwas deutlich machen und vor allem ihre Schmerzen noch verstärken. Sehen Sie nur, wie ihr diese Dinger in die Handgelenke geschnitten haben, weil sie schließlich mit ihrem ganzen Gewicht darauf gelegen hat. Dabei hätte er sie auch ans Kopfteil ihres Bettes fesseln können. Das wäre bereits schlimm genug gewesen, aber nein …«
»Es ging ihm um den Schmerz«, erklärte Eve ihr knapp. »Weil man durch ihn noch mehr Kontrolle über das Opfer bekommt. Wissen Sie etwas über ihren Freundeskreis? Über Jungen oder Männer, mit denen sie befreundet war?«
»Nein, nicht wirklich. Als ich ihr bei dem Referat geholfen habe, habe ich sie nach Jungen gefragt, wie man das so macht.«
Während sie sprach, sah sich Peabody im Zimmer um. Langsam, merkte Eve, gewann der Cop in ihr wieder die Oberhand.
»Sie wurde ein bisschen rot und meinte, sie ginge nicht oft mit irgendwelchen Jungen aus, denn sie müsste sich auf die Schule konzentrieren. Sie war ein totaler Musik- und Theaterfan, aber studieren wollte sie Philosophie und fremde Kulturen. Sie hat davon gesprochen, dass sie nach dem College entweder beim Friedenskorps oder bei Bildung für jedermann mitmachen will.«
Ein scheues, junges Mädchen, dachte Eve und machte sich aufgrund der Eindrücke der Partnerin ein erstes Bild. Idealistisch und ernsthaft um eine gute Ausbildung bemüht.
»Außerdem kann ich mich noch daran erinnern«, fuhr Peabody fort, »dass McNab am Ende unserer Arbeit zu uns stieß. Wir hatten uns in diesem Cyber-Lokal getroffen, sie war ihm gegenüber furchtbar schüchtern und wurde sogar ein bisschen rot. Ich schätze, dass sie Jungen gegenüber generell noch ziemlich unsicher war. Bei manchen Mädchen ist das so.«
»Okay. Jetzt bringe ich das hier zu Ende, und Sie fangen mit Ihrer Arbeit an.«
Schüchtern gegenüber Jungen, dachte Eve. Die Eltern waren übers Wochenende nicht daheim gewesen. Idealismus ging, vor allem bei so jungen Menschen, oft mit einer gewissen Naivität einher.
Vielleicht hatte sie ja den Sprung gewagt und den Jungen oder Mann hereingelassen, überlegte sie und sah sich noch einmal die ruinierten Kleider an.
Hübscher Rock und nettes Oberteil. Hatte sich das Opfer einfach für sich selbst ein bisschen aufgebrezelt oder hatte es sich eher für ein Date zurechtgemacht? Ohrringe, ein Armreif – diese Accessoires hatten ihren Schmerz wahrscheinlich noch verstärkt. Lackierte Zehen- und Fingernägel und ein wenig Schminke im Gesicht, bemerkte Eve, als sie durch ihre Mikrobrille sah. Von den Tränen, dem anstrengenden Kampf, dem Druck des Kissens verwischt.
Malten junge Mädchen sich die Gesichter an, wenn sie einen Abend ganz allein daheim verbringen wollten?
Oder war sie vielleicht ausgegangen und hatte am Ende jemanden mit heimgebracht – ein Date oder auch jemanden, dem sie zufällig über den Weg gelaufen war?
»Sie hat ihn entweder hereingelassen oder mitgebracht. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie mit ihm unten im Wohnzimmer gewesen ist, vielleicht aber in irgendeinem anderen Raum. Sie selbst hätte dort nicht mehr für Ordnung sorgen können, das steht fest. Du bist irgendwann im Verlauf des Tages oder Abends hereingekommen und hast die lila Sandalen abgestreift. Vielleicht hat er unten aufgeräumt. Hast du ihn mit heraufgenommen, Deena? In dein Schlafzimmer? Das würde zu einem sexuell unerfahrenen Teenager nicht wirklich passen, aber es gibt schließlich immer irgendwann ein erstes Mal. Auch hier gibt es außerhalb des Bettes keine Spuren eines Kampfs, und selbst auf dem Bett deutet alles nur auf einen Kampf in Fesseln hin. Hat er hier auch aufgeräumt? Weshalb hätte er das tun sollen? Nein, er hat dich heraufgebracht. Nein«, fuhr sie langsam fort. »Nein, du hast deine Schuhe nicht selber ausgezogen und dann einfach liegen lassen. Dafür warst du viel zu ordentlich. Sie sind runtergefallen, als er dich die Treppe hinauf gezwungen oder getragen hat. Ich brauche eine toxikologische Untersuchung deines Bluts.«
Sie atmete tief durch. Inzwischen fiel ihr die Arbeit leichter, dachte sie, nachdem sie sich mit Peabody beschäftigt und die passende Ecke in sich selbst gefunden hatte, in der sich die Vergangenheit wieder begraben ließ.
Sie wandte sich von der Toten ab und fing mit der Durchsuchung ihres Zimmers an.
Ordentliche Kleider, registrierte sie, gute Stoffe und die für sie jedes Mal aufs Neue verwirrende, große Sammlung von Schuhen. Eine noch größere Sammlung elektronsicher Fachbücher und Romane, eine riesengroße Sammlung von CDs sowie zahllose Musik-Downloads auf dem violetten I-Pod, der auf Deenas Schreibtisch lag.
Kein verstecktes Tagebuch, das vor den Augen der Eltern verborgen gewesen war, kein Handcomputer und kein Handy, bemerkte sie.
Sie hörte den letzten Anruf auf dem Link auf Deenas Schreibtisch ab und lauschte einem fröhlichen Gespräch zwischen dem Opfer und einem Mädchen namens Jo über einen geplanten Shoppingtrip, Musik und Jos lästigen kleinen Bruder. Kein Wort über Jungs. Obwohl heranwachsende Mädchen von Jungen doch im Grunde geradezu besessen waren.
Auch keine Diskussion über Pläne für den Samstagabend.
Das Badezimmer war in Weiß und Veilchenblau gehalten und genauso ordentlich und sauber wie der andere Raum. Sie fand die Schminkutensilien des Mädchens; viele, viele selten benutzte Lippenstifte; aber nirgends waren Kondome oder Verhütungsmittel anderer Art versteckt. Nichts deutete darauf hin, dass das Opfer vorgehabt hatte, mit einem Jungen oder Mann ins Bett zu gehen.
Trotzdem, dachte Eve, hatte sie den Killer entweder ins Haus gelassen oder mitgebracht.
Sie wandte sich zum Gehen, blieb jedoch noch einmal neben dem Bett des Mädchens stehen. »Das Opfer kann jetzt ins Leichenschauhaus gebracht werden«, sie wies einen der Beamten draußen an, das Zimmer zu bewachen, bis die Spurensicherung oder der Leichenwagen kam.
Dann sah sie sich noch die anderen Zimmer in der oberen Etage an. Das Elternschlafzimmer wies warme, beruhigende Farben und ein breites Bett mit einem gepolsterten Kopfteil auf. Zwei kleine Koffer lagen neben einem tiefen, geschwungenen Sessel, als hätte irgendjemand sie dort einfach fallen lassen oder umgerannt.
Wahrscheinlich hatte MacMasters das Gepäck hereingebracht, während seine Frau ins Zimmer der Tochter gegangen war. Dann hatte sie geschrien, und er hatte die Sachen fallen lassen und war zu ihr gerannt.
Keins der anderen Zimmer – zwei private Arbeits- und ein Medienzimmer, zwei weitere Bäder und ein Raum, der offenbar für Gäste vorgesehen war – schien in den vergangenen Tagen betreten worden zu sein.
Unten markierte sie noch die Sandalen und suchte dann nach ihrer Partnerin.
»So, wie ich die Sache sehe«, meinte Peabody, »wurden die Alarmanlage und die elektronischen Schlösser von innen ausgestellt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie manipuliert worden sind. Vielleicht finden ja die elektronischen Ermittler etwas, aber für mich sieht es so aus, als hätte jemand die Sachen auch von innen wieder eingeschaltet und dann die Kameras auf ganz normale Art und Weise ausgestellt. Die letzte Diskette ist von Sonnabend. Ich habe sie mir auf meinem Handcomputer angesehen. Sie zeigt, wie das Opfer kurz nach sechs allein nach Hause kommt. Sie hatte zwei Tüten von Girlfriends in der Hand. Das ist eine teure Boutique für Teens und College-Kids an der Ecke Fünfter und Achtundfünfzigster.«
»Wir werden uns erkundigen, was sie dort gekauft hat, und ob sie allein dort war. Sie hatte sich mit einer Freundin zum Shoppen verabredet. Ihr Handy oder ihren Handcomputer habe ich nirgendwo entdeckt, und auf dem Link auf ihrem Schreibtisch hat sie in den letzten achtundvierzig Stunden nur den Anruf von der Freundin und zwei Anrufe von ihren Eltern entgegengenommen. Die acht Handtaschen, die ich gefunden habe, waren alle leer.«
»Auf der Diskette hatte sie eine Schultertasche aus weißem Stroh mit silbernen Schnallen dabei.«
»Die habe ich in ihrem Zimmer nicht gesehen. Gucken Sie noch in den anderen Schränken nach. Das hier sind ordentliche Leute. Vielleicht haben sie ja einen Aufbewahrungsort für solches Zeug. Hatte sie lila Sandalen an?«
»Die aus dem Flur? Nein, blaue Turnschuhe.«
»Okay.«
»Dallas, da ist noch etwas. Die Tür des Kontrollraums ist mit einem Passwort gesichert, und auch dort gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hat. Entweder hat sie sie also selbst geöffnet, ihm das Passwort genannt, oder er kennt sich wirklich gut mit solchen Sachen aus.«
»Sie hätte ihm alles gesagt, wenn er ihr dafür versprochen hätte, dass er sie dann in Ruhe lässt. Aber die Experten sollen trotzdem gucken, ob die Tür manipuliert worden ist.«
»Auf der Arbeitsplatte in der Küche stand ein Glas. Das habe ich eingesteckt. Alles andere war aufgeräumt, deshalb kam mir das Glas seltsam vor. Außerdem habe ich mir das Protokoll des AutoChefs angesehen. Gestern Abend um achtzehn Uhr dreißig hat sie zwei Pizzas bestellt. Eine vegetarisch und eine mit Fleisch. Sie hatte Gesellschaft, Dallas.«
»Ja. Ich werde jetzt mit ihren Eltern reden. Die Spurensicherer müssten jeden Augenblick erscheinen. Übernehmen Sie bitte die Aufsicht über sie.«
Damit kehrte Eve ins Wohnzimmer zurück.
Anna Whitney saß noch immer neben Carol und nahm sich wie ein eleganter Wachhund aus. MacMasters saß auf Carols anderer Seite und hielt ihre Hand, Whitney stand am Vorderfenster und starrte hinaus.
ENDE DER LESEPROBE