Tod am Eaton Square - Anne Perry - E-Book

Tod am Eaton Square E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Auf den Spuren eines unmenschlichen Verbrechens

London 1896: Die Ehefrau eines angesehenen Bankiers wird in ihrem Privathaus am Eaton Square vergewaltigt und ermordet. Wenige Tage darauf flüchtet die Tochter eines Botschafters panisch vor einem jungen Mann, und es kommt zur Katastrophe. Thomas Pitt, Chef des Geheimdienstes, ermittelt in beiden Fällen und erkennt schließlich einen grausigen Zusammenhang.

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Zum Buch

Erst vor Kurzem ist Thomas Pitt zum Chef des britischen Staatsschutzes aufgestiegen. So langsam beginnt er zu begreifen, welche Verantwortung auf ihm lastet – und wie einsam es an der Spitze ist. Unangenehm sind für ihn auch seine neuen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Beim prunkvollen Empfang in der spanischen Botschaft beobachtet seine Ehefrau Charlotte, wie die Diplomatentochter Angeles Castelbranco von mehreren jungen Männern unangemessen bedrängt wird. Pitt ist gerade in ein Gespräch mit Rawson Quixwood, der eine führende Position in einer der großen Londoner Handelsbanken innehat, vertieft, als ein Polizeibeamter sie mit einer schrecklichen Nachricht unterbricht: Quixwoods Ehefrau ist in ihrem Haus nahe dem Eaton Square mutmaßlich vergewaltigt und ermordet worden. Pitt beginnt augenblicklich mit den Ermittlungen.

Wenige Tage später kommt es zwischen Angeles Castelbranco und einem der jungen Männer zur Katastrophe. Gemeinsam mit seinem früheren Vorgesetzten und Freund Victor Narraway untersucht Pitt, ob es einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen gibt, und kommt einer grässlichen Wahrheit auf die Spur.

Zur Autorin

Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen Englands und begeistern ein Millionenpublikum. Weltweit haben sich ihre Bücher bereits über zehn Millionen Mal verkauft. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland.

Zuletzt bei Heyne erschienen: Mord in Dorchester Terrace.

Die Originalausgabe

MIDNIGHT AT MARBLE ARCH

erschien 2012 bei Headline Publishing Group, London

Vollständige deutsche Erstausgabe 4/2014

Copyright © 2012 by Anne Perry

Copyright © 2014 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Dominic Wilhelm, unter Verwendung eines Fotos von © Library of Congress, Prints & Photographs Division, Photochrom Collection

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-12530-1

www.heyne-verlag.de

Für Susanna Porter

KAPITEL 1

Vom oberen Ende der Treppe ließ Thomas Pitt den Blick über den prächtigen Ballsaal der spanischen Botschaft gleiten, die ihren Sitz am Queen’s Gate in Kensington hatte, im Herzen Londons. Das Licht der Kronleuchter brach sich in den Edelsteinen der Colliers, Armreife und Ohrgehänge der Damen, deren in allen Farben des frühen Sommers leuchtende Kleider sich von den dunklen Anzügen der Herren deutlich abhoben. Die Palette reichte von den zarten Pastelltönen junger Mädchen über das leuchtende Rosa und Gold reifer Frauen, die auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit standen, bis hin zu den gedämpften Lavendel-, Burgunder- und Maulbeertönen der älteren Damen.

Zwar besaß Charlotte, deren Hand leicht auf dem Arm ihres Gatten ruhte, keine Diamanten, doch wusste Pitt, dass sie sich schon längst nicht mehr darüber grämte. Die Reife ihrer vierzig Jahre stand ihr noch besser zu Gesicht als einst die zarte Röte ihrer Jugend. Der unübersehbare Ausdruck von Glück auf ihren Zügen war von größerem Reiz als makellose Haut und wie in Marmor gemeißelte Züge, die nichts waren als ein Geschenk der gütigen Natur.

Als sie sich daranmachten, die Stufen hinabzuschreiten, umschloss ihre Hand seinen Arm einen Augenblick lang fester. Mit einem Lächeln tauchten sie in die Menge ein, nickten hierhin und dorthin, bemüht, sich an die Namen derer zu erinnern, denen sie begegneten. Mit seiner vor etwa einem Jahr erfolgten Berufung an die Spitze des britischen Staatsschutzes hatte man Pitt eine schwerere Verantwortung als je zuvor aufgebürdet. Es gab innerhalb der Behörde niemanden mehr über ihm, dem er hätte vertrauen oder eine wichtige Entscheidung übertragen können.

Es gehörte zu seinen Aufgaben, Gespräche mit Ministern und Botschaftern zu führen, kurz, mit Männern, die weit mehr Einfluss besaßen, als ihr von Gelächter unterbrochenes unverbindliches Geplauder in jenem Raum vermuten ließ. Für jemanden wie ihn, der aus kleinsten Verhältnissen stammte, war der Besuch solcher Veranstaltungen nach wie vor alles andere als selbstverständlich. Während er am Anfang seiner Laufbahn als einfacher Streifenpolizist die Häuser der Reichen nur durch den Dienstboteneingang hatte betreten dürfen, verkehrte er jetzt mit all diesen Herrschaften gesellschaftlich auf Augenhöhe. Das hing nicht nur mit der Macht zusammen, die ihm sein Amt verlieh, sondern auch damit, dass er über nahezu jeden der Anwesenden Dinge wusste, die außer ihm vermutlich kaum jemandem bekannt waren.

Charlotte bewegte sich in dieser Umgebung so selbstverständlich wie ein Fisch im Wasser, und er freute sich zu sehen, wie anmutig sie das tat. Da sie von klein auf in der gehobenen Gesellschaft gelebt hatte, kannte sie alle Schwächen derer, die ihr angehörten. Wegen der unverblümten Offenheit ihres Wesens hielt sie sich gewöhnlich von ihnen fern und verkehrte nur mit ihnen, wenn es sich, wie jetzt, nicht vermeiden ließ.

Während sie mit der Dame neben ihr einige nichtssagende Worte wechselte, bemühte sie sich, den Eindruck zu erwecken, als liege ihr an deren Antwort. Anschließend ließ sie sich Isaura Castelbranco vorstellen, der Gattin des portugiesischen Botschafters.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Pitt«, sagte diese voll Wärme. Sie war deutlich kleiner als Charlotte, fiel aber durch ihre würdevolle Haltung auf. Ihre Miene war herzlich, nahezu verletzlich, und ihre Augen waren so dunkel, dass sie in ihrem blassen Gesicht schwarz wirkten.

»Ich hoffe, dass Ihnen unser Sommerwetter zusagt«, gab Charlotte zurück, um etwas zu sagen. Worüber man sprach, war unerheblich, es kam ausschließlich auf die Art an, wie man es tat, auf das Lächeln in den Augen und darauf, dass überhaupt ein Gespräch stattfand.

»Ich empfinde es als sehr angenehm, weil es nicht zu warm ist«, gab Isaura sogleich zurück. »Ich freue mich schon auf die Regatta. Sie findet auf der Themse bei Henley statt, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Charlotte. »Ehrlich gesagt, war ich schon viele Jahre nicht dort, aber ich würde gern wieder einmal hingehen.«

Es war Pitt bewusst, dass diese Behauptung nicht der Wahrheit entsprach. Das Geplapper und Geprotze bei gesellschaftlichen Anlässen ödete Charlotte an, doch erkannte er am Ausdruck ihres Gesichts, dass ihr die zurückhaltende Dame zusagte, mit der sie sich gerade unterhielt.

Sie setzten ihr Gespräch noch einige Minuten fort, bis die Höflichkeit es erforderte, dass sie ihre Aufmerksamkeit anderen Gästen im Saal oder einem der zahlreichen Räume links und rechts davon sowie im Empfangsbereich am unteren Ende der Treppe zuwandten.

Pitt sah noch, dass sie sich mit einem Lächeln voneinander trennten, dann zog ihn ein Staatssekretär im Außenministerium ins Gespräch, während es Charlotte gelang, Tante Vespasias Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Genau genommen war Lady Vespasia Cumming-Gould eine angeheiratete Großtante von Charlottes Schwester Emily, doch achtete schon seit Jahren niemand mehr auf diese feine Unterscheidung.

»Du scheinst dich ja gut zu amüsieren«, sagte Lady Vespasia leise mit einem belustigten Blick ihrer silbergrauen Augen. In ihrer Jugend hatte sie als die schönste Frau Europas gegolten und zudem als die geistreichste. Auch hatte sie sich während der revolutionären Bewegung, die den Kontinent im Jahre 1848 erfasst hatte, in Rom an den Barrikadenkämpfen beteiligt, woran sich kaum noch jemand erinnerte.

»Ich habe nicht sämtliche Umgangsformen vergessen«, gab Charlotte mit ihrer üblichen Offenheit zurück. »In meinem Alter kann ich es mir wohl nicht mehr leisten, ein gelangweiltes Gesicht zu machen, denn das steht einem gar nicht.«

Lady Vespasia, die sichtlich belustigt war, gab ihr mit einem freundlichen Lächeln recht: »Es ist nie gut, so auszusehen, als warte man auf etwas. Damit erweckt man bei anderen nur Mitleid. Wartende Frauen machen einen unangenehmen Eindruck. Wer war die Dame, mit der du da gerade gesprochen hast?«

»Die Gattin des portugiesischen Botschafters«, gab Charlotte zurück. »Ich fand sie vom ersten Augenblick an sympathisch. Sie hat ein eindrucksvolles Gesicht. Ich fürchte nur, dass ich sie wohl nie wiedersehen werde.«

»Aha, Isaura Castelbranco«, sagte Vespasia nachdenklich. »Ich weiß kaum etwas über sie – zum Glück. Mir ist viel zu viel über eine ganze Reihe von Leuten bekannt, und etwas Geheimnisvolles verleiht allen Dingen einen gewissen Reiz, so wie die Sanftheit eines Spätnachmittags oder die Stille zwischen den Klängen eines Musikstücks.« Während Charlotte über diese Äußerung nachdachte, bevor sie darauf einging, entstand etwa ein Dutzend Schritte von ihnen entfernt eine plötzliche Unruhe. Wie alle anderen sah sie unwillkürlich hin. Ein ausgesprochen eleganter junger Mann mit einer blonden Stirnlocke trat, die Hände abwehrend erhoben, einen Schritt zurück, wobei sich ein ungläubiger Ausdruck auf sein Gesicht legte. Mit seiner vorspringenden Nase und den schmalen Lippen sah er auf eine ganz eigene Weise gut aus.

Ihm gegenüber stand ein junges Mädchen in einem Kleid aus weißer Spitze, deren Wangen, Hals und Dekolleté flammend rot waren. Charlotte hielt sie für höchstens sechzehn, auch wenn die Rundungen ihres Körpers bereits erahnen ließen, wie sie als Frau aussehen würde. Ihr fiel eine gewisse Ähnlichkeit des Mädchens mit Isaura Castelbranco auf, mit der sie kurz zuvor gesprochen hatte.

Alle um die beiden herum verstummten, teils verwirrt, teils peinlich berührt, als könnten sie nicht so recht einschätzen, was dort vor sich ging.

»Seien Sie doch nicht so unvernünftig, Angeles«, hielt ihr der junge Mann vor, wobei er sich bemühte, das leichthin klingen zu lassen, als wolle er die Sache herunterspielen. »Sie haben mich missverstanden.«

Damit konnte er sie offensichtlich nicht beschwichtigen, denn sie sah ihn aufgebracht und zugleich ein wenig furchtsam an.

»Das denke ich nicht«, sagte sie in einem Englisch, in dem ein leichter südländischer Akzent mitschwang. »Ich denke, dass ich das durchaus richtig verstanden habe. Bestimmte Dinge sind in allen Sprachen gleich.«

Er schien nach wie vor nicht beunruhigt zu sein, sondern gab sich betont geduldig, als habe er es mit einem begriffsstutzigen Menschen zu tun. »Ich versichere Ihnen, dass das als Kompliment gemeint war. An derlei sind Sie doch bestimmt gewöhnt.«

Sie holte Luft, um etwas zu erwidern, fand aber nicht die richtigen Worte.

Er lächelte, jetzt unübersehbar erheitert, vielleicht auch ein wenig spöttisch.

»Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass man Sie bewundert.« Bei diesen Worten ließ er den Blick seiner auffällig hübschen dunklen Augen mit kaum verhüllter Offenheit über sie wandern. »Ich bin fest davon überzeugt, dass man Ihnen noch viele Komplimente machen wird.«

Das junge Mädchen zitterte jetzt eindeutig. Selbst aus der Entfernung konnte Charlotte erkennen, dass sie nicht wusste, wie sie mit dieser von ihr als unangebracht empfundenen Würdigung ihrer Schönheit umgehen sollte. Sie war zu jung und besaß daher noch nicht die dafür nötige Abgeklärtheit. Allem Anschein nach war ihre Mutter nicht in der Nähe, sodass sie den Wortwechsel nicht mitbekommen hatte, und der junge Neville Forsbrook behandelte sie mit an Unverschämtheit grenzender Selbstsicherheit. Da seine Familie wohlhabend und gesellschaftlich hoch angesehen war – seinem Vater gehörte eine der führenden Banken Londons –, glaubte der junge Mann wohl, gewisse Vorrechte einfordern zu dürfen. Er war es nicht gewohnt, dass jemand ihm etwas verweigerte, schon gar nicht eine dumme Gans, die unüberhörbar nicht einmal Britin war.

Gerade als Charlotte einen Schritt vortrat, um dem unwürdigen Schauspiel ein Ende zu bereiten, spürte sie, wie sich Pitts Hand auf ihren Arm legte, um sie zurückzuhalten.

Angeles Castelbranco wirkte verängstigt. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, das jetzt geisterbleich war, was einen besonders scharfen Kontrast zu ihrem dunklen, fast schwarzen Haar bildete. »Lassen Sie mich zufrieden!« Ihre Stimme klang schrill und ein wenig zu laut. »Fassen Sie mich ja nicht an!«

Jetzt lachte Neville Forsbrook offen heraus. »Meine Beste, Sie machen sich lächerlich und lenken nur unnötig Aufmerksamkeit auf sich. Das wollen Sie doch bestimmt nicht.« Lächelnd tat er einen Schritt auf sie zu, wobei er eine Hand ausstreckte, als wolle er sie beschwichtigen.

Sie holte wild aus, schlug seinen Arm beiseite und wandte sich zur Flucht. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und wäre fast mit einer anderen jungen Frau zusammengestoßen, die sich sogleich mit einem Aufschrei in die Arme eines in der Nähe stehenden verblüfften jungen Mannes flüchtete. Schluchzend lief Angeles davon.

Mit einem starren Lächeln, das für einen Moment einem Ausdruck der Verwirrung wich, stand der junge Forsbrook da. Dann spreizte er achselzuckend die eleganten, kräftigen Hände, wieder mit dem Anflug eines hochmütigen Lächelns auf den Zügen. Es war unklar, ob sich dahinter Verlegenheit oder Spott verbarg.

Jemand trat vor und begann eine höfliche Unterhaltung über irgendeine Belanglosigkeit. Dankbar folgten andere seinem Beispiel, und so erfüllten schon nach wenigen Augenblicken, als sei nichts vorgefallen, erneut das Stimmengesumm der Menge und das Rascheln von Seide den Saal, hörte man die ferne Musik und das leise Geräusch der Füße auf dem polierten Boden.

»Das war äußerst ungehörig«, sagte Charlotte zu Vespasia, als sie sicher sein durfte, nicht gehört zu werden. »Was für ein gefühlsroher junger Mann.«

»Bestimmt kommt er sich jetzt ziemlich linkisch vor«, gab Vespasia nicht ohne Mitgefühl zurück.

»Worum ging es da eigentlich, James?«, wollte eine ältere Dame in der Nähe wissen. Sie schien verwirrt zu sein.

Ihr Begleiter, offenbar ihr Mann, schüttelte den Kopf. »Die Südländer verlieren leicht die Beherrschung. Ich würde mir an deiner Stelle nicht den Kopf darüber zerbrechen. Zweifellos nichts als ein Missverständnis.«

»Wer ist sie überhaupt?«, fragte sie ihn und sah dabei zugleich zu Charlotte hin, als könne diese sie aufklären.

»Ein hübsches junges Ding«, sagte er in die Runde. »Wird bestimmt mal eine bemerkenswerte Schönheit.«

»Darum geht es doch überhaupt nicht!«, blaffte sie ihn an. »Sie hat keinen Schliff! Stell dir nur vor, sie hätte bei einer unserer Abendgesellschaften so eine Szene gemacht.«

»Hier ist das schlimm genug«, mischte sich eine andere Dame ein. Ihre blitzenden Diamanten und die leuchtend grüne Seide ihres Kleides nahmen ihrem Gesicht nichts von seiner Verbitterung.

Charlotte hielt es für richtig, sich auf die Seite der jungen Portugiesin zu schlagen. »Sie haben sicher recht«, sagte sie und sah die Frau offen an. »Bestimmt wissen Sie mehr über die Sache als wir. Wir haben lediglich gesehen, dass ein ziemlich hochnäsiger junger Mann die Tochter eines ausländischen Diplomaten in Verlegenheit gebracht hat. Ich kenne weder die Vorgeschichte, noch weiß ich, ob und wie man da hätte anders vorgehen können.«

Sie spürte, wie sich Vespasias Hand leicht auf ihren Arm legte, achtete aber nicht darauf. Unverwandt lächelnd sah sie die andere an, ohne den Blick zu senken.

Die Dame in Grün sagte verärgert, wobei sich ihr Gesicht rötete: »Zu viel der Ehre, Mrs. … leider weiß ich nicht, wer Sie sind …« Sie ließ diese Äußerung in der Luft hängen, ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie Charlotte damit als unerheblich abtat. »Wohl aber kenne ich Sir Pelham Forsbrook sehr gut und damit auch seinen Sohn Neville, der so freundlich war, sich in schmeichelhafter Weise für meine jüngste Tochter zu interessieren.«

Pitt trat mit einem Blick auf Vespasia zu ihnen, doch stellte Charlotte der Dame weder ihn noch sich selbst vor. »Dann wollen wir hoffen, dass er das in angemessenerer Weise ausdrückt als sein schmeichelhaftes Interesse an Miss Castelbranco«, entgegnete sie mit kränkender Herablassung. »Aber dafür werden Sie sicherlich sorgen. Schließlich befinden Sie sich weder in einem fremden Land, noch sind Sie unsicher, wie man sich zweideutigen Äußerungen junger Männer gegenüber verhalten soll.«

»Mir sind keine jungen Männer bekannt, die zweideutige Äußerungen von sich geben!«, blaffte die Dame sie mit wütend gehobenen Brauen an.

»Wie nachsichtig von Ihnen«, murmelte Charlotte.

Hüstelnd hielt sich der Gatte der Dame das Taschentuch vor den Mund, wobei seine Augen belustigt blitzten.

Pitt wandte sich ab, als habe er etwas gehört, was seine Aufmerksamkeit erregte, und zog Charlotte mit sich fort. Sie war nur allzu gern bereit, den Ort zu verlassen, denn mit dieser boshaften Bemerkung war das Gespräch für sie ohnehin zu Ende. Jetzt konnte es nur noch schlimmer werden. Sie lächelte Vespasia strahlend zu und erkannte in deren Augen stumme Zustimmung.

»Was zum Kuckuck hast du da getan?«, erkundigte sich Pitt leise, als man sie nicht mehr hören konnte.

»Ich habe ihr klargemacht, dass sie ein Dummkopf ist«, erläuterte Charlotte. Sie hatte angenommen, dass das deutlich erkennbar gewesen sei.

»Das habe ich verstanden – und sie auch«, gab er zurück. »Jetzt hast du eine Feindin.«

»Das ist zwar schade«, sagte sie in entschuldigendem Ton, »ich fände es aber schlimmer, wenn sie meine Freundin wäre. Sie ist ein Emporkömmling der übelsten Sorte.«

»Woher willst du das wissen? Kennst du sie?«, fragte er zurück.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer sie ist, und ich will es auch nicht wissen. Wes Geistes Kind sie ist, habe ich ihr am Gesicht angesehen.« Ihr war klar, dass sie es später möglicherweise bedauern würde, das gesagt zu haben, doch erregt, wie sie war, brachte sie es nicht fertig, ihr Temperament zu zügeln. »Ich werde mit Senhora Castelbranco sprechen und mich vergewissern, dass es ihrer Tochter gut geht.«

»Charlotte …«

Sie machte sich von ihm los, wandte sich ihm noch einmal zu und lächelte ihn ebenso hinreißend an wie zuvor Lady Vespasia, dann tauchte sie in der Menge unter und strebte der Stelle entgegen, an der sie die Gattin des portugiesischen Botschafters zuletzt gesehen hatte.

Es dauerte volle zehn Minuten, bis sie sie in der Nähe einer der Türen zusammen mit ihrer Tochter entdeckte. Angeles war genauso groß wie die Mutter und wirkte aus der Nähe noch hübscher als zuvor. Ihre Augen waren von verwirrender Schönheit, und auf ihren Wangen lag eine zarte Röte. Sie war unübersehbar beunruhigt, als Charlotte näher trat, bemühte sich aber, das zu verbergen.

Charlotte lächelte ihr beruhigend zu und wandte sich dann an die Mutter: »Ich bedaure außerordentlich, dass sich der junge Mann so erbärmlich aufgeführt hat. Angesichts des Status Ihres Gatten als Diplomat muss es für Sie unsäglich schwer sein, etwas dagegen zu unternehmen. Ein solches Verhalten ist einfach unentschuldbar.« Dann sprach sie Angeles an, wobei sie sich im letzten Augenblick daran erinnerte, dass deren Englisch möglicherweise nicht besonders gut war. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut«, sagte sie etwas unbeholfen. »Ich bitte anstelle dieses Mannes um Entschuldigung. Wir hätten eingreifen und ihm damit die Gelegenheit nehmen sollen, Sie einer solch fürchterlichen Situation auszusetzen.«

Angeles lächelte zwar, doch in ihre Augen traten Tränen. »Mir geht es durchaus gut, Madame, wirklich. Mir … mir fehlt nichts. Ich …« Sie schluckte. »Ich habe nur nicht gewusst, was ich ihm sagen sollte.«

Die Mutter legte ihr fürsorglich einen Arm um die Schulter. »Natürlich geht es ihr gut. Sie ist nur von der Sache peinlich berührt. In ihrer Muttersprache hätte sie zweifellos die passenden Worte gefunden …« Sie zuckte die Achseln. »Wenn wir Englisch sprechen, sind wir nie sicher, ob wir etwas Lustiges oder gar etwas Kränkendes sagen. Da ist es besser, man hält den Mund, als dass man etwas sagt, was man nicht zurücknehmen kann.«

»Gewiss«, gab ihr Charlotte recht. Sie empfand ein gewisses Unbehagen, weil sie fürchtete, das Mädchen fühle sich weit bedrückter, als Mutter und Tochter zugeben wollten. »Je peinlicher eine Situation ist, desto schwerer fällt es, in einer fremden Sprache das treffende Wort zu finden«, fuhr sie fort. »Gerade deshalb hätte er sich nicht so verhalten dürfen. Es tut mir aufrichtig leid.«

Isaura Castelbranco erwiderte Charlottes Lächeln, doch der Blick ihrer Augen ließ sich nicht recht deuten. »Sie sind sehr liebenswürdig, aber ich versichere Ihnen, dass nichts Schwerwiegendes geschehen ist. Meine Tochter hat sich einfach einige Augenblicke lang unbehaglich gefühlt. So etwas lässt sich im Leben nicht immer vermeiden, und jeder von uns muss sich gelegentlich solchen Situationen stellen. Im Laufe der Saison wird es noch so manches gesellschaftliche Ereignis geben, und ich hoffe, dass wir einander noch einmal begegnen.«

Diese freundlichen Worte waren eine unmissverständliche Aufforderung, die beiden allein zu lassen.

»Das hoffe ich ebenfalls«, erklärte Charlotte, verabschiedete sich und ging. Ihr Unbehagen war in gewisser Weise noch größer als zuvor.

Auf dem Rückweg dorthin, wo sie Pitt verlassen hatte, kam sie an einem halben Dutzend kleiner Gruppen vorüber, die sich miteinander unterhielten. Einer davon gehörte die Dame in Grün an, die sie sich zweifellos zur Feindin gemacht hatte.

»Diese Leute sind äußerst unbeherrscht«, sagte sie gerade. »Und, wie ich fürchte, auch unzuverlässig. Aber vermutlich bleibt uns nichts anderes übrig, als sie zu ertragen.«

»Wie recht Sie haben. Genau das hat auch mein Mann gesagt«, versicherte ihr eine andere Dame. »Allem Anschein nach haben wir seit über fünfhundert Jahren ein Abkommen mit Portugal, das unsere Politiker aus irgendwelchen Gründen für wichtig halten.«

»Wie ich höre, ist Portugal eine bedeutende Kolonialmacht«, sagte eine Dritte, wobei sie die blassen Augenbrauen hob, als sei das kaum zu glauben. »Ich hatte es immer für ein nettes kleines Land westlich von Spanien gehalten.« Sie lachte ein wenig schrill.

Charlotte, die kaum mehr über Portugals Kolonialgeschichte wusste als die Frau, die diese Äußerung getan hatte, fühlte sich ohne rechten Grund gereizt.

»Ehrlich gesagt, denke ich, dass sie zu viel Wein getrunken und ihn nicht vertragen hat«, sagte jetzt die Dame in Grün in verschwörerischem Ton. »Wissen Sie, meine Liebe, als ich in dem Alter war, haben wir immer nur Limonade getrunken.«

Die Zweite beugte sich vor und gab im gleichen verschwörerischen Ton zurück: »Außerdem ist sie für eine Verlobung viel zu jung, meinen Sie nicht auch?«

»O ja, das denke ich auch«, erwiderte die andere mit Nachdruck. »Sie sollte mindestens noch ein Jahr warten. Dass sie bei Weitem zu unreif ist, hat sie ja gerade in äußerst bedauerlicher Weise gezeigt. Wer ist denn ihr Verlobter?«

»Er heißt Tiago de Freitas«, sagte die Dritte mit elegantem Achselzucken. »Eine überaus vorteilhafte Verbindung, soweit ich weiß. Erstklassige Familie. Geld wie Heu. Ich glaube, die Leute kommen aus Brasilien. Kann das sein?«

»Nun, Brasilien gehört den Portugiesen, und es gibt da Gold«, meldete sich eine Vierte zu Wort, wobei sie die Seide ihres Rockes glatt strich. »Das wäre also ohne Weiteres möglich. Angola in Westafrika gehört denen übrigens auch, sowie Mosambik in Ostafrika, wo es ebenfalls Gold geben soll.«

»Wieso haben wir in dem Fall zugelassen, dass sich die Portugiesen das gesichert haben?«, fragte die Dame in Grün in gereiztem Ton. »Da hat wohl jemand nicht aufgepasst.«

»Vielleicht haben sie sich gestritten?«, gab eine andere zu bedenken.

»Wer? Die Portugiesen?«, wollte die Dame in Grün wissen. »Oder meinen Sie die Afrikaner?«

»Nein, diese Angeles Castelbranco und ihr Verlobter, Tiago de Freitas«, kam die ungehaltene Antwort. »Das wäre doch eine Erklärung für ihren hysterischen Ausbruch.«

»Auf keinen Fall kann das ihr unmögliches Benehmen entschuldigen«, stieß die Dame in Grün hervor und hob das kräftige Kinn, sodass die Diamanten ihrer Halskette besser zur Geltung kamen. »Wenn man schlechte Laune hat, sollte man sich entschuldigen und zu Hause bleiben.«

Dann dürftest du aber nie einen Fuß vor die Tür setzen, dachte Charlotte verbittert. Das wäre für uns alle ein wahrer Segen. Natürlich konnte sie das nicht sagen, denn sie war nicht nur lediglich zufällig Zeugin des Gesagten geworden, sondern es wäre auch ungehörig gewesen. Sie ging rasch weiter, bevor jemand merkte, dass sie ohne rechten Grund dort stehen geblieben war, um die Gruppe zu belauschen.

Sie fand Pitt im Gespräch mit mehreren Menschen, die sie nicht kannte. Da die Möglichkeit bestand, dass es dabei um wichtige Dinge ging, entschloss sie sich, nichts zu sagen. Als eine Pause eintrat, entschuldigte sich Pitt und trat zu ihr.

»Hast du sie gefunden?«, fragte er, die Stirn besorgt gekraust.

»Ja«, sagte sie ruhig. »Thomas, ich fürchte, die Mutter ist ziemlich aufgebracht, und das mit Recht. Es war äußerst ungehörig, einem jungen Mädchen in einem fremden Land so etwas anzutun. Er hat sich in aller Öffentlichkeit über sie lustig gemacht, wenn nicht gar Schlimmeres getan. Sie ist erst sechzehn, gerade zwei Jahre älter als Jemima.« Im selben Augenblick, als sie den Namen ihrer Tochter aussprach, die auf der Schwelle vom Kind zur Frau stand, empfand sie Angst um diese, da sie deren Verletzlichkeit kannte. Während sich ihr Körper von Woche zu Woche zu verändern schien, ließ sie alle mädchenhafte Sorglosigkeit hinter sich, besaß aber noch nicht die Anmut und Selbstgewissheit einer erwachsenen Frau.

Pitt sah sie verblüfft an. Ganz offensichtlich hatte er sich seine Tochter bislang weder in einem Ballkleid und mit hochgesteckten Haaren vorgestellt, noch war er auf den Gedanken gekommen, junge Männer könnten mehr in ihr sehen als das Kind, für das er sie hielt.

Charlotte lächelte ihm zu. »Du solltest etwas genauer hinschauen, Thomas. Sie ist noch ein bisschen gehemmt, hat aber bereits Rundungen, und mehr als ein junger Mann hat sie aufmerksam angesehen – unter anderem ihr Tanzlehrer und der Sohn des Gemeindepfarrers.«

Pitt erstarrte.

Sanft legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Kein Grund zur Beunruhigung. Ich behalte die Sache im Auge. Sie ist ja deutlich jünger als Angeles Castelbranco, und in dem Alter machen zwei Jahre eine Menge aus. Aber sie ist starken Stimmungsschwankungen unterworfen. In einem Augenblick singt sie vor Glück, und eine Stunde später ist sie in Tränen aufgelöst oder hat einen Wutanfall. Mal streitet sie mit dem armen Daniel herum, der nicht versteht, was mit ihr los ist, und dann ist sie wieder so gehemmt, dass sie nicht aus ihrem Zimmer zu kommen wagt.«

»Das war mir schon aufgefallen«, sagte Pitt trocken. »Bist du sicher, dass das normal ist?«

»Du kannst von Glück sagen, dass du nur die eine Tochter hast«, gab sie mit einem schiefen Lächeln zurück. »Mein Vater hatte drei. Kaum hat sich Sarah einigermaßen normal verhalten, als ich angefangen habe, und als man mit mir mehr oder weniger vernünftig reden konnte, war Emily an der Reihe.«

»Dann sollte ich wohl dankbar sein, dass Daniel ein Junge ist«, sagte er mit leichter Wehmut in der Stimme.

Sie lachte leise. »Der wird seine eigenen Schwierigkeiten bekommen – nur dass du die dann verstehen wirst und ich nicht.«

Er sah sie mit einem Mal liebevoll an. »Es wird aber doch zu einem guten Ende kommen, nicht wahr?«

»Du meinst mit Jemima? Selbstverständlich.« Sie war nicht bereit, einen anderen Gedanken zuzulassen, denn das wäre ihr unerträglich gewesen.

Er legte seine Hand auf ihre und hielt sie fest. »Und was ist mit Angeles Castelbranco?«

»Sie wird es wohl auch schaffen. Allerdings kam sie mir vorhin äußerst zerbrechlich vor. Doch das dürfte sich im Laufe der Zeit geben. Sie ist erst sechzehn, also noch beängstigend jung. Mit Schaudern denke ich daran zurück, wie es bei mir in dem Alter war. Ich dachte, ich wüsste wer weiß wie viel, was allein schon beweist, dass ich in Wahrheit so gut wie nichts wusste.«

»Das würde ich an deiner Stelle Jemima aber nicht sagen«, riet er ihr.

Sie verzog das Gesicht zu einem Lächeln und sagte: »So weit war ich auch schon, Thomas.«

Knapp zweieinhalb Stunden später befand Pitt, er und Charlotte könnten sich entschuldigen und nach Hause zurückkehren, da sie ihre Pflicht getan hatten. Er sah, dass sie sich gerade am anderen Ende des Saals im Gespräch mit Vespasia befand. Bei diesem Anblick musste er unwillkürlich lächeln. Während Vespasias Haar silbern schimmerte, ließ sich in Charlottes kastanienbraunem Haar so gut wie kein Grau erkennen. Er wurde nie müde, sie anzusehen, auch wenn sie nicht von der hinreißenden Schönheit war, die Vespasia nach wie vor auszeichnete. Wie die beiden so im Gespräch beieinanderstanden, als nähmen sie von den anderen im Raum um sich herum nichts wahr, erkannte er an Charlotte eine große Gelassenheit und Lebenskraft.

Er merkte, dass jemand auf ihn zukam. Als er sich umwandte, sah er, dass Narraway dicht bei ihm stand und in dieselbe Richtung blickte. Seinem Gesicht war nicht anzumerken, was er dachte, seine Augen waren so dunkel, dass sie schwarz schienen. Pitt fiel auf, dass zahlreiche Silberfäden sein dichtes Haar durchzogen. Noch vor etwas mehr als einem Jahr war Narraway sein Vorgesetzter beim Staatsschutz gewesen, im Besitz von Macht und zahlreichen Geheimnissen, die er sich je nach Notwendigkeit zunutze machte, soweit sein Gewissen es ihm erlaubte. Narraway ruhte auf eine Weise in sich selbst, dass Pitt zweifelte, es ihm je gleichtun zu können.

Nachdem die gegen ihn gerichteten kriminellen Machenschaften eines Verräters aus der eigenen Abteilung Narraway um sein Amt gebracht hatten, war Pitt an seine Stelle gesetzt worden. Pitts Feinde hatten sich nicht dagegen aufgelehnt, weil sie fest überzeugt waren, er werde nie und nimmer die innere Kraft aufbringen, die nötig war, um die Position ausfüllen zu können. Zumindest bisher hatten sie sich geirrt. Victor Narraway aber war ganz aus der Abteilung entfernt worden und saß jetzt im Oberhaus, wo er keine seiner Fähigkeiten nutzen konnte. Zwar gab es dort allerlei Ausschüsse und diese und jene politische Intrige, doch nichts von alldem bot auch nur einen Bruchteil der Machtfülle, die ihm einst zu Gebote gestanden hatte. Das für sich genommen mochte ihm nicht wichtig sein, doch fiel es ihm schwer, dort für keine seiner außergewöhnlichen Gaben Verwendung zu haben.

»Warten Sie auf einen Vorwand, gehen zu können?«, fragte Narraway mit dem Anflug eines Lächelns. Offenbar konnte er nach wie vor mühelos in Pitts Gedanken lesen.

»Es ist fast Mitternacht, und ich glaube nicht, dass wir noch länger bleiben müssen«, gab Pitt zurück und erwiderte Narraways Lächeln. »Es dauert bestimmt ohnehin eine halbe Stunde, bis wir uns von allen verabschiedet haben, auf die es ankommt.«

»Und bei Ihrer Gattin dieselbe Zeit noch einmal«, fügte Narraway hinzu, wobei er erneut zu Charlotte und Vespasia hinübersah.

Pitt zuckte die Achseln. Eine Antwort war nicht nötig. In dieser Äußerung Narraways hatte unüberhörbar Zuneigung gelegen und wahrscheinlich sogar mehr als das, wie Pitt nur allzu bewusst war.

Bevor er seine Gedanken in diese Richtung schweifen lassen konnte, trat ein schlanker Herr von etwa Mitte vierzig auf sie zu. Trotz seiner leicht ergrauten Schläfen strahlte sein auffälliges Gesicht eine jugendliche Energie aus. Man konnte nicht sagen, dass er gut aussah – seine Lippen waren ein wenig zu voll und seine Nase nicht gerade –, doch seine Ausstrahlung erregte Aufmerksamkeit und wirkte sympathisch.

»Guten Abend, Euer Lordschaft«, begrüßte er Narraway. Dann wandte er sich ohne zu zögern zu Pitt um und hielt ihm die Hand hin. »Rawdon Quixwood«, stellte er sich vor.

»Thomas Pitt.«

»Ich weiß.« Quixwoods Lächeln wurde breiter. »Ich habe es mir jedenfalls gedacht, als ich Sie hier im vertrauten Gespräch mit Lord Narraway stehen sah. Die Schlussfolgerung lag nahe.«

»Entweder das, oder dieser Mann hier hat keine Ahnung, wer ich bin oder vielmehr war«, sagte Narraway trocken. Auch wenn weder in seiner Stimme noch in seinen Augen die geringste Bitterkeit lag, wusste Pitt, wie tief ihn die Entlassung getroffen hatte, und es fiel ihm nicht schwer, sich vorzustellen, wie sehr ihn der erzwungene Müßiggang bedrückte. Der leichthin gemachte Scherz, mit dem sich Narraway selbst verspottete, vermochte über die Wunde nicht hinwegzutäuschen. Aber wenn sich Pitt so leicht hinters Licht führen ließe, wäre er jetzt auch wohl kaum Leiter des Staatsschutzes gewesen. Da er sein gesamtes Erwachsenenleben im Polizeidienst verbracht hatte, war es ihm ebenso zur zweiten Natur geworden, Menschen zu durchschauen, wie sie höflich und taktvoll zu behandeln. Das bedeutete zugleich, dass es ihm meist gelang, hinter die Maske zu blicken, die dazu diente, die wahren Gefühle zu verbergen. Es war eine Fähigkeit, die er guten Freunden gegenüber lieber nicht gehabt hätte.

»Wenn er nicht wüsste, wer Sie sind, Euer Lordschaft, wäre er jemand, der auf keinen Fall dazugehört«, gab Quixwood im Plauderton zurück. »Außerdem habe ich ihn vor einer halben Stunde mit Lady Vespasia sprechen sehen, womit diese Möglichkeit ausscheidet.«

»Sie spricht aber durchaus mit Menschen, die nicht dazugehören«, gab Narraway zu bedenken. »Ehrlich gesagt, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass die ihr bisweilen sogar lieber sind.«

»Ein ausgezeichnetes Urteilsvermögen«, stimmte Quixwood zu. »Aber solche Leute sprechen nicht mit ihr, denn sie wirkt ziemlich einschüchternd.«

Narraway lachte. Es klang vergnügt.

Gerade als Pitt seine eigene Meinung dazu äußern wollte, fiel ihm eine Bewegung hinter Narraways Rücken auf. Ein junger Mann mit bleichem und besorgt verzogenem Gesicht kam auf die kleine Gruppe zu, wobei er den Blick unverwandt mit einer Art Verzweiflung auf Pitt gerichtet hielt.

»Sie entschuldigen mich bitte«, sagte Pitt und ging an Narraway vorüber auf den Mann zu.

»Sir …«, begann dieser unbeholfen. »Ist … ist der Herr, mit dem Sie gesprochen haben, Mr. Quixwood? Mr. Rawdon Quixwood?«

»Ja.« Pitt fragte sich, worum es gehen mochte. »Stimmt etwas nicht?«, erkundigte er sich, um den Mann zum Weitersprechen zu bewegen. Der Kummer auf dessen Zügen ließ sich fast mit Händen greifen.

»Ja, Sir. Ich heiße Jenner, Sir. Ich bin Polizeibeamter. Gehört Mr. Quixwood zu Ihren Freunden?«

»Bedaure, nein. Ich habe ihn gerade erst kennengelernt. Ich bin Commander Pitt vom Staatsschutz. Was führt Sie her?« Ihm war bewusst, dass mittlerweile mindestens zwei der Anwesenden auf Jenners unübersehbare Bedrückung und das sonderbare Gespräch aufmerksam geworden waren. Möglicherweise hielten sie sich nur deshalb zurück, weil sie annahmen, es handele sich um eine Angelegenheit des Staatsschutzes. In dem Fall allerdings hätte dieser Jenner Narraway zumindest vom Sehen her kennen müssen.

Jenner holte tief Luft. »Es tut mir schrecklich leid, Sir, aber man hat Mr. Quixwoods Frau zu Hause tot aufgefunden. Noch schlimmer aber …« Er schluckte erkennbar. »Es sieht ganz so aus, Sir, als hätte man sie ermordet. Ich muss ihm das unbedingt mitteilen und ihn bitten, mich zu seinem Haus zu begleiten. Falls er Bekannte hat, die … die ihm beistehen könnten …« Er beendete den Satz nicht, weil er offensichtlich nicht wusste, was er sagen sollte.

»Warten Sie hier, Jenner. Ich sage es ihm. Ich denke, Lord Narraway wird bereit sein, ihn zu begleiten, wenn Quixwood das möchte.«

»Ja, Sir. Danke, Sir.« Der Polizeibeamte wirkte erleichtert.

Pitt wandte sich erneut den beiden zu, die ihr Gespräch fortgesetzt und betont nicht auf ihn geachtet hatten.

»Immer im Dienst, wie?«, sagte Quixwood mit einem Ausdruck von Mitgefühl.

Pitt spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Man hätte annehmen sollen, dass er nach all seiner Erfahrung mit plötzlichen und gewaltsamen Todesfällen an solche kummervollen Mitteilungen gewöhnt war, doch schienen ihm die in Wahrheit immer mehr auszumachen. »Genau genommen wollte er nicht zu mir«, sagte er rasch und legte Narraway flüchtig eine Hand auf den Arm, um ihm auf diese Weise ein Signal zu geben. »Ich bedaure sagen zu müssen, dass es eine Tragödie gegeben hat.« Bei diesen Worten sah er Quixwood an, der seinen Blick mit höflichem Unverständnis erwiderte.

Narraway, dem der Unterton in Pitts Stimme nicht entgangen war, erstarrte. Er ließ seinen Blick von Pitt zu Quixwood wandern.

»Es tut mir leid«, sagte Pitt mit freundlicher Stimme. »Der Mann ist Polizeibeamter. Man hat Ihre Gattin tot im Hause aufgefunden, und er ist gekommen, um Sie zu holen. Sofern Sie wünschen, dass jemand Sie begleitet …«

Quixwood sah ihn an, als habe er den Sinn seiner Worte nicht verstanden. Er schien ein wenig zu schwanken, nahm sich dann aber zusammen. »Catherine …?« Er wandte sich langsam erst Narraway und dann Pitt zu. »Was um Gottes willen hat denn die Polizei damit zu tun? Sie war ja nicht einmal krank … Was ist geschehen?«

Am liebsten hätte Pitt Quixwoods Arm ergriffen, um ihn zu beruhigen, doch wäre eine solche Geste angesichts ihrer kurzen Bekanntschaft höchstens dann angebracht gewesen, wenn der Mann im Begriff gestanden hätte, zu Boden zu fallen. »Es tut mir wirklich leid, aber es sieht so aus, als sei es zu einer Gewalttat gekommen.«

Quixwood fragte, wobei er Narraway ansah: »Gewalttat? Würden Sie … würden Sie mich begleiten?« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Das ist doch widersinnig! Wer würde Catherine etwas antun?«

»Selbstverständlich«, sagte Narraway sogleich. »Bitte entschuldigen Sie uns bei den anderen, Pitt. Sagen Sie einfach, es handele sich um einen Notfall.« Er nahm Quixwoods Arm und ging mit ihm zu Jenner hinüber, mit dem zusammen sie den Raum verließen.

Die Droschkenfahrt gehörte zu den schlimmsten, an die sich Narraway erinnern konnte. Er saß neben Quixwood, während der junge Polizeibeamte ihnen gegenüber Platz genommen hatte. Immer wieder holte Quixwood Luft, als wolle er sprechen, sagte aber nichts. Was hätte es auch zu sagen gegeben?

Von den hell erleuchteten Straßen und der lauen Sommernacht bekam Narraway nur wenig mit. Eine der vorüberfahrenden Kutschen kam ihnen so nahe, dass er die Gesichter des darin sitzenden Paares und das kurze Aufblitzen der Diamanten am Hals der Frau sehen konnte.

Nachdem sie um eine Ecke gebogen waren, verlangsamte die Droschke ihre Fahrt. Licht drang aus offenen Haustüren, und man hörte Gelächter und Musik. Die Menschen, die herauskamen, waren so tief ins Gespräch oder in ihre Verabschiedung von den Gastgebern vertieft, dass sie nicht auf den Verkehr achteten. Die Welt drehte sich weiter, als gebe es keinen Tod und als sei Mord ein Ding der Unmöglichkeit.

War es wirklich Mord, oder hatte Jenner da etwas falsch mitbekommen? Er sah sehr jung und tief verstört aus.

Narraway und Quixwood waren nicht besonders gut miteinander bekannt. Zu Narraways Zeit als Leiter der Staatsschutzabteilung waren sie einander bei verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen begegnet, hatten hier und da gemeinsam in einem Herrenklub etwas getrunken oder im Zusammenhang mit Regierungsgeschäften an einer Abendgesellschaft teilgenommen. Quixwood bekleidete eine führende Position in einer der größeren Handelsbanken und hatte mit ungeheuren Mengen Geld zu tun. Auf beruflicher Ebene hatten sie nie miteinander zu tun gehabt. Narraway konnte sich nicht entsinnen, Quixwoods Gattin je begegnet zu sein. Vielleicht waren sie einander vorgestellt worden, und er hatte es vergessen.

Ihr Weg führte sie ostwärts in Richtung Belgravia, wo Quixwood in der Lyall Street lebte, unweit vom Eaton Square. Jetzt lagen nicht einmal mehr zweihundert Meter vor ihnen. Quixwood beugte sich vor und richtete den Blick auf die vertrauten Häuserfronten, während die Droschke ihre Fahrt verlangsamte und kurz vor dem Haus anhielt, das die Polizei abgeriegelt hatte.

Narraway stieg aus, entlohnte den Kutscher und teilte ihm mit, dass er nicht zu warten brauche. Jenner verließ die Droschke auf der Bordsteinseite zusammen mit Quixwood. Narraway folgte den beiden über den Gehweg, schritt die Stufen hinauf und trat durch die von Säulen im klassischen Stil eingerahmte Haustür ins Vestibül. In allen Räumen brannte Licht, und mehrere Dienstboten standen mit bleichen Gesichtern herum. Er sah einen Butler, einen Lakaien und einen weiteren Diener. Frauen waren nicht zu sehen.

Ein Mann kam aus einem Gang und blieb stehen. Narraway schätzte ihn auf Mitte vierzig, obwohl sein Haar schon vollständig grau war. Seine Gesichtszüge wirkten matt und kummervoll. Er sah erst zu Jenner und dann zu Narraway und Quixwood.

»Wer von Ihnen ist Mr. Quixwood?«, fragte er schließlich mit leicht gepresster Stimme.

»Ich«, gab dieser zur Antwort. »Rawdon Quixwood …«

»Inspektor Knox, Sir«, stellte sich der Mann vor. »Es tut mir ausgesprochen leid.«

Quixwood schien etwas sagen zu wollen, unterließ es dann aber.

Knox sah Narraway an. Offensichtlich hätte er gern gewusst, wer er war und warum er gekommen war.

»Victor Narraway. Ich war zufällig mit Mr. Quixwood zusammen, als Jenner die Mitteilung überbrachte. Ich bin bereit zu helfen, soweit mir das möglich ist.«

»Vielen Dank, Mr. Narraway, sehr freundlich von Ihnen, Sir.« Knox wandte sich erneut Quixwood zu. »Ich bedaure, Sie behelligen zu müssen, Sir, aber es ist unbedingt nötig, dass Sie einen raschen Blick auf die Dame werfen, um mir zu bestätigen, dass es sich um Ihre Gattin handelt. Der Butler hat sie zwar identifiziert, aber es wäre uns lieber, wenn Sie … wenn Sie …«

»Selbstverständlich«, gab Quixwood zurück. »Ist sie …«

»In der Diele, Sir. Wir haben ein Laken über sie gebreitet. Nur ihr Gesicht, wenn es Ihnen recht ist.«

Quixwood nickte und ging mit unsicherem Schritt durch die Tür. Er sah nach links und blieb stehen, wobei er ein wenig zu schwanken schien. Er streckte die Hand aus, als suche er etwas, was er nicht zu finden vermochte.

Mit wenigen Schritten war Narraway bei ihm, bereit, ihn zu stützen, falls er ins Straucheln geraten sollte.

Catherine Quixwood lag augenscheinlich auf der Seite auf dem Parkettboden. Man hatte ein Laken über sie gebreitet, das lediglich ihren Kopf frei ließ. Ihr langes dunkles Haar fiel ihr zum Teil in die Stirn, ohne aber die blutigen Wunden an ihrer Wange und am Kiefer sowie die aufgeplatzte Lippe zu verbergen, die das aus ihrem Mund sickernde Blut scharlachrot gefärbt hatte. Trotz ihrer Verletzungen sah man deutlich, dass sie auf eine ganz besondere Weise schön gewesen war.

Narraway empfand ein Ausmaß an Entsetzen und Kummer, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er war der Frau nie begegnet und hatte viele Menschen gesehen, die gewaltsam zu Tode gekommen waren. Unwillkürlich ergriff er Quixwoods Arm und hielt ihn fest. Dieser leistete nicht den geringsten Widerstand, als sei er gelähmt.

»Sie brauchen nicht hierzubleiben. Sagen Sie einfach Knox, dass es Ihre Gattin ist, und gehen Sie dann in den Salon oder in Ihr Arbeitszimmer«, drängte Narraway sanft.

Quixwood drehte sich zu ihm um. Seine Haut war aschfahl. »Ja, Sie haben recht. Vielen Dank.« Dann wandte er sich an Knox. »Es ist meine Frau. Kann ich … ich meine … muss sie hier so liegen bleiben? Auf dem Boden? Es ist doch …« Er holte tief Luft. »Tut mir leid. Ich vermute …«

Knox verzog das Gesicht vor lauter Mitgefühl. »Mr. Narraway, Sir, würden Sie Mr. Quixwood ins Arbeitszimmer begleiten?« Er wies in die Richtung. »Ich werde den Butler bitten, dass er Ihnen beiden einen Schluck Cognac bringt.«

»Selbstverständlich.« Narraway verzichtete darauf, den Mann darauf hinzuweisen, dass er ihn nicht korrekt angeredet hatte. Nichts konnte in diesem Augenblick unwichtiger sein. Er führte Quixwood zu der Tür, auf die Knox gewiesen hatte.

Zu jeder anderen Zeit wäre der Raum angenehm und behaglich gewesen. Da es Frühsommer war, brannte im großen Kamin kein Feuer, und die Vorhänge zum Garten hin waren geöffnet. Die Gaslampen brannten. Möglicherweise hatte Knox mit seinen Männern das Haus durchsucht und dazu Licht gebraucht.

Quixwood ließ sich in einen der großen Ledersessel sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.

Im nächsten Augenblick trat ein Diener mit einer Karaffe und zwei Cognacschwenkern auf einem Silbertablett ein. Narraway dankte ihm, goss Cognac in ein Glas und gab es Quixwood. Dieser trank einen Schluck und zuckte zusammen, als habe er ihm die Kehle verbrannt.

Sich selbst goss Narraway nichts ein. Er sah zu Quixwood, der zusammengesunken im Sessel saß.

»Soll ich Inspektor Knox bitten, mir zu berichten, was geschehen ist, soweit er das selbst weiß?«, bot er an.

»Würden Sie das tun?«, fragte Quixwood mit einem dankbaren Aufleuchten seiner Augen. »Ich … ich weiß nicht, ob ich das ertragen könnte … ich meine … sie so zu sehen.«

»Verständlich.« Narraway ging zur Tür. »Ich komme zurück, sobald ich kann. Soll ich jemanden für Sie anrufen? Verwandte, Bekannte?«

»Nein«, gab Quixwood benommen zurück. »Ich habe keine näheren Verwandten, und Catherine …« Er holte zitternd Luft. »Catherines Schwester lebt in Indien. Ich werde ihr schreiben müssen.«

Narraway nickte und verließ den Raum, wobei er die Tür leise hinter sich zuzog.

Knox stand auf der Türseite neben der Leiche. Er wandte sich um, als er Narraway eintreten sah, und kam auf ihn zu.

»Sir«, sagte er in höflichem Ton. »Wenn es Ihnen recht ist, dürfte es das Beste sein, dafür zu sorgen, dass Mr. Quixwood während der nächsten halben Stunde bei geschlossener Tür da drin bleibt. Der Polizeiarzt ist auf dem Weg hierher.« Er warf einen Blick auf die Leiche, die jetzt wieder vollständig von dem Laken bedeckt war. »Mr. Quixwood braucht das nicht zu sehen, verstehen Sie?«

»Haben Sie schon eine Vorstellung davon, was geschehen ist?«, fragte Narraway.

»Keine genaue«, gab Knox höflich zurück, ließ aber zugleich keinen Zweifel daran, dass er in Narraway lediglich einen guten Bekannten Quixwoods und nicht etwa jemanden sah, der in irgendeiner Weise von Nutzen sein könnte, es sei denn dadurch, dass er dem Witwer Trost spendete.

»Möglicherweise kann ich Ihnen behilflich sein«, sagte Narraway. »Nebenbei bemerkt Lord Narraway. Bis vor Kurzem war ich Leiter der Abteilung Staatsschutz, weshalb mir Gewalttat und leider auch Mord keineswegs fremd sind.«

Knox zwinkerte. »Entschuldigung, Euer Lordschaft. Ich wollte nicht …«

Narraway winkte ab. Er hatte sich selbst noch nicht richtig an den Titel gewöhnt. »Wie gesagt könnte ich Ihnen unter Umständen von Nutzen sein. Ist sie einem Einbrecher in die Quere gekommen? Wer hat sie gefunden? Wo waren die Dienstboten, die ja, wie es aussieht, nichts davon mitbekommen haben? Ist es für einen Einbruch nicht noch zu früh in der Nacht? Das wäre doch ziemlich riskant.«

»Ich fürchte, dass es so einfach nicht ist, Euer Lordschaft«, sagte Knox bedrückt. »Ich warte auf Dr. Brinsley. Es wird eine Weile dauern, weil ich speziell nach ihm geschickt habe. In diesem Fall ist es mir wichtig, dass nicht irgendeiner die Sache untersucht.«

Narraway überlief es kalt.

»Wegen Quixwoods herausgehobener Position?«, fragte er, obschon ihm klar war, dass es nicht darum ging.

»Nein, Sir«, gab Knox zur Antwort, tat einen Schritt auf die Leiche zu und zog das Laken beiseite, nachdem er sich so gestellt hatte, dass sie von der Tür des Arbeitszimmers aus nicht zu sehen war.

Narraway sah, dass der eine Arm weit ausgestreckt war, während der andere unter dem Körper lag. Sie trug einen leichten Sommerrock aus geblümter Seide und eine Musselin-Bluse, genauer gesagt deren Reste. Sie war vorn aufgerissen, sodass ihre Brüste entblößt waren. Die Haut wies tiefe Kratzspuren auf, als sei jemand mit scharfen Fingernägeln darüber gefahren. Blut sickerte aus den Wunden. Der bis zu ihren Hüften hochgeschobene Rock hing in Fetzen um sie herum. Auch die bloßen Schenkel waren voller Wunden. Das Blut und andere Flüssigkeiten waren ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie missbraucht und misshandelt worden war.

»Großer Gott!«, stieß Narraway aus. Er hob den Blick zu Knox und sah das Mitgefühl auf dessen Zügen, möglicherweise unverhohlener, als es von einem Polizeibeamten zu erwarten gewesen wäre.

»Dr. Brinsley soll mir die genaue Todesursache sagen, Sir. Diese Angelegenheit muss restlos aufgeklärt werden, aber im Interesse des Opfers möglichst taktvoll.« Er richtete erneut den Blick auf die Tür zum Arbeitszimmer. »Und natürlich auch in seinem.«

»Decken Sie sie wieder zu«, sagte Narraway, den ein leichtes Unwohlsein befiel. »Ja … so taktvoll wie möglich, bitte.«

KAPITEL 2

»Sie sind vom Staatsschutz, Sir?«, fragte Knox, um sich zu vergewissern.

»Das war einmal«, gab Narraway zur Antwort. »Inzwischen bekleide ich dort keine Position mehr. Das bedeutet aber zugleich auch, dass ich keine beruflichen Verpflichtungen habe. Sofern die Möglichkeit besteht, hier behilflich zu sein und zugleich dafür zu sorgen, dass die Sache nicht an die Öffentlichkeit dringt, wäre ich dazu gern bereit. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es zu der Tat gekommen ist?«

»Bisher nicht, Sir«, gab Knox bedrückt zurück. »Wir haben keinerlei Spuren gefunden, die auf einen Einbruch hinweisen, suchen aber weiter danach. Das Sonderbare ist, dass niemand vom Personal jemandem die Tür geöffnet haben will, jedenfalls sagen das der Butler und der Lakai. Auch wenn ich noch nicht mit allen Dienstmädchen gesprochen habe, kann ich mir nicht so recht vorstellen, dass eine von ihnen zu dieser Nachtzeit jemanden ins Haus lassen würde.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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