Wilde Umarmung - Nalini Singh - E-Book

Wilde Umarmung E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

In einer Welt, in der Mediale alle Gefühle verbieten und Gestaltwandler um ihr nacktes Überleben kämpfen, herrschen Grausamkeit und Schönheit gleichermaßen. In einer Welt, in der Emotionen unterdrückt werden, und doch der Sturm der Leidenschaft in den Herzen tobt, brennen die Feuer heiß, werden Tabus gebrochen und Grenzen überwunden - immer auf der Suche nach der einen wahren Liebe!

Vier brandneue, heiße Geschichten aus der Feder der beliebtesten Romantic-Fantasy-Autorin Nalini Singh!

"Nalini Singh ist eine begnadete Geschichtenerzählerin! Maya Banks, Spiegel-Bestseller-Autorin

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Seitenzahl: 546

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Inhalt

TitelZu diesem BuchInhaltsverzeichnisDas Echo der StilleErschütterung12345678910EpilogDorian12345Tanz der Gefährten123456789EpilogFlirt mit dem Schicksal Versprechen1234567891011EpilogDanksagungAnmerkung der AutorinDie AutorinDie Romane von Nalini Singh bei LYXImpressum

NALINI SINGH

Wilde Umarmung

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Echo der Stille

Tazia Nerif hat ihre Bestimmung als Ingenieurin auf einer Tiefseestation gefunden. Hier sorgt sie dafür, dass alles wie am Schnürchen läuft. Die einzige Baustelle ist allerdings der Kommandant der Station, denn Tazia wünscht sich nichts sehnlicher, als dem kühlen Medialen Gefühle zu entlocken und die Mauern von Silentium einzureißen …

Dorian

Dorian ist ein DarkRiver-Leopard, der ein großes Problem hat: Er kann sich nicht wandeln! Das belastet ihn sehr, und er verbringt sein Dasein in stillem Frust. Bis er lernt, seinen inneren Leoparden zu entfesseln …

Tanz der Gefährten

Noch immer sitzt die Demütigung einer dominanten Wölfin wie ein Stachel in seinem Fleisch – und der Wolfwandler Felix hat sich geschworen, nie wieder jemandes Spielzeug sein zu wollen. Doch für die Leopardin Dezi ist Felix der faszinierendste Mann, den sie je getroffen hat. Sie setzt all ihre Überredungskunst ein, um den schüchternen Wolf aus der Reserve zu locken und sein Vertrauen zu gewinnen. Denn die Raubkatze will nichts lieber, als Felix zärtliche Bisse zu verpassen …

Flirt mit dem Schicksal

Sieben Jahre ist es her, dass Kenji das Herz von Garnet brach. Doch jetzt begegnen sich die beiden Wolfswandler erneut, denn sie müssen einem grausamen Mord in ihrem eigenen Rudel nachgehen. Mit jeder Minute, die die beiden zusammen ermitteln, verfällt Kenji mehr und mehr der Frau, zu der sich Garnet mittlerweile entwickelt hat. Doch mit dem düsteren Geheimnis, das Kenji in sich trägt, ist jeder neue Anfang zum Scheitern verurteilt …

Inhaltsverzeichnis

Das Echo der Stille

Dorian

Tanz der Gefährten

Flirt mit dem Schicksal

DAS ECHO DER STILLE

Erschütterung

2079 ist ein Jahr der Veränderung, der Störungen. Die Medialen, die lange in dem Ruf standen, die mächtigste Gattung auf dem Planeten zu sein, und die mit ihren telepathischen, telekinetischen, hellsichtigen und psychometrischen Fähigkeiten gleichermaßen begnadet wie gefürchtet waren, beginnen zu zersplittern.

Hundert Jahre nach der Einführung von Silentium wächst die Skepsis gegenüber diesem Programm, das dazu gedacht war, den blindwütigen Wahnsinn zu bekämpfen, der die Kehrseite der überragenden Gaben dieser Gattung ist. Die Medialen, darauf konditioniert, im gleichen Maß kalt und emotionslos zu sein wie die Gestaltwandler wild und leidenschaftlich sind, haben begonnen zu zweifeln … zu fühlen.

Indem sie abtrünnig wurden, haben zwei Kardinalmediale den Status quo ins Wanken gebracht. Doch trotz des Wandels und der Risse sind diese beiden eine Ausnahmeerscheinung. Millionen von Medialen sind Silentium weiter treu ergeben, denn wer mit dem Programm bricht, verurteilt sich selbst zu einer Strafe, die schlimmer ist als der Tod: eine gnadenlose Gehirnwäsche, die nicht mehr übrig lässt als stumpf vor sich hin vegetierendes hirnloses Gemüse. Für diese Millionen geht das Leben weiter wie in den letzten hundert Jahren.

Ein Leben ohne Liebe, ohne Lachen, ohne Traurigkeit, ohne Leid, ohne Schwermut, ohne Herzschmerz, ohne … einfach ohne alles.

1

Tausende Meter unter der Wasseroberfläche des Pazifiks und nicht allzu weit vom Marianengraben entfernt, schaute Tazia Nerif im Kontrollraum der Tiefseestation Alaris aus dem Fenster und fragte sich, ob es wirklich Gestaltwandlerhaie gab.

Seit zehn Minuten versuchte der junge Meeresgeologe Andres sie von diesem Phänomen zu überzeugen. »Wenn du das nächste Mal nackt in deinem Zimmer herumtänzelst, wirf mal einen Blick aus dem Fenster, dann siehst du, was dir da entgegenstarrt.«

Da Tazia als Ingenieurin kaum je aus ihren ölbefleckten blauen Overalls herauskam und außerdem in ihrem ganzen Leben noch nie herumgetänzelt war, brachte sie das nicht aus der Ruhe. Trotzdem faszinierte sie der Gedanke an Gestaltwandlerhaie. Vorausgesetzt, Andres nahm sie nicht auf die Schippe. Sie justierte ihren elektronischen Schraubenschlüssel für die nächste Aufgabe, dabei beschloss sie, ein paar Recherchen über das Thema anzustellen, um ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen zu können.

»Ms. Nerif, arbeitet das lebenserhaltende System wieder mit voller Leistung?«

Ihr schlug das Herz bis zum Hals.

Wie üblich hatte sie Stefan nicht näher kommen gehört. Der große, dunkelhaarige und hochintelligente Mann bewegte sich nicht nach Art eines Seemanns, sondern wie ein Medialer. Er verfügte über telekinetische Kräfte und war der emotionslosen Existenz verhaftet, die die mediale Gattung kennzeichnete.

Aus den kurzen und dennoch aussagekräftigen Textpassagen in den staubigen alten Geschichtsbüchern, die Tazia bei ihrem letzten Abstecher nach oben in einem Antiquariat gefunden hatte, folgerte sie, dass Mediale früher dieselben Gefühle empfunden hatten wie Menschen und Gestaltwandler. Doch irgendetwas hatte sich vor langer Zeit verändert, sodass es heute schien, als seien sie schon immer von Eiseskälte erfüllt gewesen.

Die mediale Gattung brachte brillante Geschäftsleute und Wissenschaftler hervor, doch kannte sie weder Kummer noch Liebe, weder Freude noch Hass; sie erschuf keine Kunst, komponierte keine Musik, fühlte keine Leidenschaft.

Allerdings hatte auch Tazia mit Letzterem nicht viel Erfahrung.

»Ich bin fertig.« Sie steckte den Schraubenschlüssel in ihren Werkzeuggürtel, anschließend schob sie die Blende vor das Paneel, an dem sie gearbeitet hatte und hinter dem sich ein kompliziertes Computersystem verbarg. »Sie können es jetzt hochfahren und das Backup-System abschalten.« Es war eine Routineinspektion gewesen, und was das betraf, war sie eine Pedantin. Ihrer zupackenden, überkorrekten Art verdankte sie es, dass sie die begehrte Stelle auf Alaris hatte ergattern können. So tief unter dem Meeresspiegel konnte man niemanden gebrauchen, der nicht mit größter Sorgfalt arbeitete.

Wenngleich Stefan in Sachen Präzision noch einmal in einer ganz anderen Liga spielte. Wäre Alaris ausschließlich von Medialen bemannt, würde es nie ein technisches Problem geben. Aber natürlich sahen die meisten seiner Art keinen Sinn darin, die Tiefsee zu erforschen, wenn kaum die Aussicht bestand, etwas zu entdecken, das finanziellen Profit versprach. Aus diesem Grund gab es auf Alaris Menschen wie Tazia, die alles am Laufen hielten, und außerdem diverse Gestaltwandler, denen es nichts ausmachte, in der Station eingesperrt zu sein – oder die die Fähigkeit besaßen, in dem geheimnisvollen dunklen Gewässer hinter den Fenstern zu überleben.

Unter der Besatzung befanden sich auch einige Wassergestaltwandler, was dem Umstand zu verdanken war, dass Alaris größtenteils von einer weltweiten Vereinigung von Wassergestaltwandlern, die sich die BlackSea-Gemeinschaft nannte, finanziert wurde. Tazia wusste nicht allzu viel über sie, dafür kannte sie einen Teil der auf Alaris stationierten Mitglieder sehr gut.

In Tiergestalt war Andres eine Wasserschlange. Einmal hatte er sich vor ihren Augen in einen hellen, vielfarbigen Funkenregen gewandelt. Es war ein wundervoller Anblick gewesen. Seine Schlange war groß und schillernd, und sie konnte in Ecken und Winkel der Station gelangen, die für Tazia ohne die winzigen Wartungsroboter, die sie eigens zu diesem Zweck entwickelt hatte, niemals zugänglich gewesen wären. Wenn er gut aufgelegt war, checkte er gelegentlich die Leitungsröhren für sie.

»Es scheint alles betriebsbereit zu sein.« Stefan gab den letzten Befehl auf dem schmalen Computermonitor an der Wand ein, danach hielt er ein Auge vor das biometrische Lesegerät, um die Autorisierung zu bestätigen.

Die Systeme schalteten ohne nennenswerte Verzögerung um.

Stefan trat vom Computer weg und sah ihr prüfend ins Gesicht. Manchmal lag es ihr auf der Zunge, ihn darauf hinzuweisen, dass an ihr alles gleich geblieben war, seit er sie zuletzt einer Musterung unterzogen hatte. Die schwarzen Haare, die sie immer zu einem Pferdeschwanz zusammenband, damit sie sie nicht störten, die gesprenkelten braunen Augen, die hellbraune Haut.

»Sie haben Schmierfett an der Wange.«

Sie kämpfte gegen das Erröten und widerstand dem Drang, sich mit dem Ärmel ihres Overalls übers Gesicht zu wischen. »Sonst noch etwas Neues?«

»Ja, die Post.«

»Die Post?«

»Ist soeben eingetroffen.«

Prompt huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Na endlich!« Sie schnappte sich ihren Werkzeugkasten und wollte an Stefan vorbei.

Er legte ihr die Hand auf den Arm.

Überrumpelt von der ungewohnten Geste – Stefan berührte nie jemanden, es sei denn, es war absolut unumgänglich – blieb sie stehen. »Was ist denn?«, fragte sie und legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen, dabei fing sie mit jedem Atemzug seinen Duft auf.

Stefan roch wie immer frisch, sauber und unnahbar. An seiner Wange war kein Schmieröl, und selbstverständlich steckte er auch nicht in einem fleckigen Arbeitsoverall. Selbst in seiner Freizeit trug er ausnahmslos die Uniform des Stationskommandanten mit einer militärisch geschnittenen Jacke, deren Stehkragen seitlich mit einem einfachen silbernen Knopf geschlossen wurde, der seinen Rang bezeichnete. Der Rest war komplett schwarz, angefangen bei seinen Stiefeln, bis hin zu seiner Hose und wahrscheinlich sogar dem T-Shirt, das er unter der Jacke trug. Sicher wusste sie das nicht, sie hatte sie nie offen gesehen.

Seine dunkelgrauen Augen taxierten sie. »Er ist nicht dabei.«

Eine bleierne Welle der Enttäuschung erfasste sie und begrub ihre Überraschung über seine Berührung unter sich. »Ganz sicher?«

»Ich habe sämtliche Absender auf den Briefen und Paketen überprüft.«

Sie schluckte, dann nickte sie. »Warum?«

»Weil Sie jedes Mal, wenn die Post eintrifft und Ihr Brief nicht darunter ist, dieser menschlichen Schwäche namens Enttäuschung nachgeben. Und das zieht mindestens zwei Tage der Depression nach sich, während derer Sie nicht auf optimalem Level funktionieren.«

Ihre Augen wurden schmal. »Ach, dann sind Sie lediglich um mein Wohlergehen besorgt?« Sie schnaubte und versuchte, seine Hand abzuschütteln. »Ich funktioniere bestens. Jede Aufgabe wird erledigt, oder etwa nicht?«

»Doch.« Er ließ sie nicht los. »Aber Sie neigen dazu, jeden anzublaffen, der in Ihre Nähe kommt.«

»Was kümmert Sie das?«, konterte sie. Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt, war traurig und gleichzeitig wütend auf Stefan, weil er ihr eine Nachricht überbrachte, die sie nicht hören wollte. »Gefühle tangieren Sie nicht.«

»Die Menschen und die Gestaltwandler jedoch schon.«

Ihre Wangen wurden heiß. Stefan war hier der Boss, man hatte ihm gegen ein sicherlich exorbitant hohes Gehalt die Leitung von Alaris übertragen. Wenn er sagte, dass die Leute sich beschwerten, weil sie jeden Monat ein paar Tage lang ein wenig niedergeschlagen war, dann stimmte das. »Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Natürlich wird es das. Es sei denn, Sie hören auf, einen Brief zu erwarten, der niemals kommen wird.«

Es war ein Messerstich in ihre Seele, ausgeführt mit einer Klinge aus Eis, die in ihr stecken blieb und brach, während das Blut aus der Wunde strömte. »Lassen Sie mich los.« Sie entwand sich seinem Griff, dann verließ sie stumm den Kontrollraum und stieg hinunter in die Eingeweide von Alaris, wohin sich außer ihr niemand wagte. Erst als sie sich davon überzeugt hatte, dass Stefan ihr nicht gefolgt war, kauerte sie sich in einer Ecke zusammen und legte den Kopf auf die Knie.

Keine Tränen.

Tazia hatte schon vor langer Zeit aufgehört zu weinen. Doch die Traurigkeit drückte wie ein schwerer Stein auf ihr Gemüt. Sie hatte wirklich geglaubt, dass der Zorn ihrer Eltern im Lauf der Zeit nachlassen und sie ihr vergeben würden. Doch inzwischen waren fünf Jahre vergangen, seit sie sich einer arrangierten Ehe verweigert hatte, und noch immer wollte ihre Familie keinen Kontakt zu ihr.

Als sie vor einem Jahr in das erste Missionsteam von Alaris aufgenommen worden war, hatte sie ihnen geschrieben. Es war eine Auszeichnung, auf der Tiefseestation arbeiten zu dürfen. Bestimmt würden sie ihr jetzt verzeihen, da sie dem Namen Nerif solche Ehre machte und nicht mehr nur die Tochter war, die sich den Wünschen der Eltern widersetzt hatte.

Während des ersten Monats an Bord war sie nicht allzu enttäuscht über das Ausbleiben einer Antwort gewesen. Ihre Familie lebte in einer abgelegenen, von Stürmen heimgesuchten Wüstenregion, deren Bewohner bewusst auf technologische Errungenschaften verzichteten, mit Ausnahme derer, die für die Sicherheit der Siedlung nötig waren.

Auch hielten sie nichts davon, Geld für kostspielige Transportmittel zu vergeuden, da doch andere, ökonomischere Methoden jederzeit zur Verfügung standen. Ihre Antwort würde gemächlich kommen, und zwar zunächst einmal auf einem Kamelrücken bis zur nächsten größeren Stadt.

Im zweiten Monat hatte sie sich gesagt, dass ein Sturm schuld an der Verzögerung sein müsse. So etwas kam gelegentlich vor, dann toste der Wind durch die Wüste und wirbelte Sandhosen auf, die einem die Haut vom Körper schälen konnten, wenn man das Pech hatte, mitten in sie hineinzugeraten.

Im dritten Monat hatte sie es auf ihren Namen geschoben. Ständig verwechselten die Leute sie mit Nazia, die auf der an der Erdoberfläche gelegenen Basis von Alaris arbeitete. Zweifellos würde Nazia den Brief mit der nächsten Postsendung nach unten schicken.

Im vierten Monat bekam sie einen Knoten im Magen.

Er wurde immer größer.

Ein ganzes Jahr. Und noch immer keine Antwort, keine Nachricht. Sie hätte sich Sorgen um ihre Familie gemacht, doch sie wusste von einer Freundin, die im Dorf geblieben war, dass es ihnen allen gut ging. Mina, die mit zwei kleinen Kindern, einem anspruchsvollen Ehemann und betagten Schwiegereltern alle Hände voll zu tun hatte und gleichzeitig mehr als glücklich darüber war, das Herzstück dieses quirligen Haufens zu sein, schrieb ihr, wann immer sie Zeit hatte, um sie auf den neuesten Stand zu bringen.

Tazias Bruder hatte eine »hübsche und schüchterne« Braut gefunden und war neun Monate nach der Hochzeit Vater eines gesunden Jungen geworden.

Tazias Mutter hustete nicht mehr; ihr Mann hatte sie zu einem Arzt aus der Stadt gebracht, der sich nach dem Tod seiner Frau im Dorf niedergelassen hatte und seine Dienste bereitwillig im Tausch gegen eine hausgemachte Mahlzeit und ein wenig Gesellschaft zur Verfügung stellte.

Tazias Vater war ganz vernarrt in seinen Enkel und verwöhnte ihn nach Strich und Faden (»wie Großeltern es tun sollten«, hatte Mina hinzugefügt).

Ihre Eltern hatten das Geld, das Tazia ihnen geschickt hatte, dem heiligen Mann gegeben.

Sie wusste es natürlich. Im Herzen wusste sie, dass sie nie wieder den süßen Tee mit Milch ihrer Mutter trinken oder die raue Stimme ihres Vaters hören würde. Sie würde nie mehr mit ihrem Bruder lachen und niemals ihre Schwägerin oder ihren Neffen kennenlernen. Ebenso wenig würde sie je wieder die Küsse und Umarmungen ihrer geliebten Teta fühlen, ihrer Großmutter, die ihr mit solcher Geduld die Haare gebürstet hatte, wenn Tazia völlig zerzaust zurückkam, nachdem sie den ganzen Tag auf Bäume geklettert oder Sanddünen hinabgerollt war.

Sie wusste es.

Ja, sie wusste es.

Der nächsten Postlieferung entzog sie sich, indem sie einen hydraulischen Lift auf der untersten Ebene der Station reparierte, wo niemand nach ihr suchen würde und sie weder die aufgeregten Rufe ihrer Kollegen hören noch deren strahlende Gesichter sehen musste, wenn sie Care-Pakete, unerwartete Geschenke oder Briefe erhielten, die sie zu Freudentränen rührten.

»Na toll«, murmelte sie, als sie feststellte, dass die Relaisröhre defekt war.

»Gibt es ein Problem?«

Tazia, die vor der freigelegten inneren Maschinerie des Lifts kauerte, erstarrte, dann hob sie den Blick zu Stefan. »Können Sie nicht ein Glöckchen um den Hals tragen oder so was?«

»Nein.«

Natürlich besaß er keinen Sinn für Humor. Den besaß kein Medialer. Es überstieg noch immer ihre Vorstellungskraft, dass zwei mächtige Kardinalmediale – darunter eine Hellsichtige mit starken Visionen – kürzlich abtrünnig geworden waren und sich einem Gestaltwandlerrudel angeschlossen hatten. Wie konnte das funktionieren? Die Gestaltwandler waren eine gefühlsbetonte Gattung, die Medialen dagegen kopfgesteuert. So wie Stefan mit seinem reservierten Blick und seinen kühlen Worten.

»Die Röhre ist hinüber«, teilte sie ihm mit. »Ich habe beim letzten Mal keine Ersatzteile geordert, darum müssen wir bis nächsten Monat warten.«

»Ist es dringend?«

Sie überlegte. Stefan war ein TK-Medialer mit der Fähigkeit zu teleportieren. Er konnte auf eine Weise, die sie kaum zu begreifen vermochte, mit seinem Geist riesige Entfernungen überwinden und binnen Minuten, wenn nicht gar Sekunden, Notfallgeräte herbeischaffen, aber es galt die unausgesprochene Regel, dass kein Besatzungsmitglied ihn um etwas bitten würde, das nicht absolut nötig war. Jedem war klar, dass Stefan im Fall eines tödlichen Druckabfalls alle seine Kräfte brauchte, um sie auf die Erde hochzubringen.

»Der andere Lift ist weiterhin funktionstüchtig«, antwortete sie. Sie steckte den Schraubenschlüssel in ihren Werkzeuggürtel und gab einen Code ein, damit der Computer den Lift stilllegte, bis sie ihn wieder aktivierte. »Einen Monat halten wir durch.«

Stefan nickte. Obwohl er nicht den Streitkräften der medialen Gattung angehörte, trug er einen militärischen Kurzhaarschnitt, wahrscheinlich wegen seiner Locken – Mediale verabscheuten jede Art von Unordnung. Er schaute immer noch von oben auf sie herab, darum wischte sie sich die Hände an der Hose ab und erhob sich. Aufgrund seiner Größe waren sie damit längst nicht auf Augenhöhe, trotzdem fühlte sie sich wohler.

Er streckte die Hand aus und berührte eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. »Schmieröl.«

Tazia verdrehte die Augen und entzog sich seinem Griff. »War sonst noch was?«

»Offenbar habe ich letzten Monat einen Fehler gemacht, als ich Ihnen sagte, dass kein Brief oder Päckchen für Sie kommen würde.«

Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, genau wie ihre Kehle. »Nein, ich musste das hören.«

»Doch anstatt wie sonst zwei Tage lang jeden anzufauchen, sind Sie jetzt so still, dass Ihre Kollegen sich Sorgen machen.«

Tazia dachte daran, wie Andres sie an diesem Morgen geneckt hatte, um ihr mit einem seiner albernen Witze ein Lächeln zu entlocken. Aber er war auch ihr Freund. Zu Stefan hatte sie keinerlei Bindung. »Ich bin keine Mediale«, sagte sie freiheraus. »Ich kann Schmerz nicht ignorieren und auch nicht vergessen, dass meine Familie mich hasst.«

Er zuckte nicht mit der Wimper. »Das war Ihnen schon vorher bekannt. Was hat sich geändert?«

»Sie haben mir meine Hoffnung genommen.«

Es trat eine Stille ein, die erfüllt schien von tausend ungesagten Dingen. Für einen winzigen Augenblick glaubte sie, einen Riss in seiner eisigen Selbstbeherrschung zu entdecken, den Hinweis auf etwas Unerwartetes in diesen Augen, die sie trotz ihrer Kälte immer schön gefunden hatte.

In diesem Moment fiel ein Werkzeug aus Tazias Gürtel, und sie bückte sich, um es vom Boden aufzuheben. Als sie sich aufrichtete, war Stefan verschwunden. Gut so, dachte sie, trotzdem breitete sich ein eigenartiges, hohles Gefühl in ihrer Magengegend aus. Sie war kein Insekt, das er unter einem Mikroskop untersuchen konnte, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit Hoffnungen, Träumen und Gefühlen. Vielleicht bewirkten diese Emotionen, dass ihr das Herz schwer war vor Kummer und ihre Seele litt, dennoch würde sie sie niemals nach Art von Stefans Volk ausmerzen wollen.

Welchen Nutzen hatten solche Fähigkeiten, wenn man die Schönheit eines Kinderlächelns oder der turbulenten Launenhaftigkeit des Meeres nicht erkennen konnte? Wenn man nicht wusste, was Freundschaft oder Lachen bedeuteten? Nein, sie wollte lieber fühlen, auch wenn es so sehr wehtat, dass sie manchmal kaum noch Luft bekam.

2

Drei Tage später war Tazia nach Ende ihrer Schicht auf dem Rückweg zu ihrem Quartier, als sie beschloss, einem anderen Gang zu folgen. Andres’ Zimmer lag in dieser Richtung, und er hatte ihr erlaubt hineinzugehen und ein Lesegerät abzuholen, auf das er das neueste Kapitel eines Fortsetzungsthrillers ihres gemeinsamen Lieblingsautors geladen hatte. Er war schon fertig damit, und jetzt sollte sie es auch lesen, damit sie das Rätsel von Anfang bis Ende analysieren konnten.

Er war überzeugt, den Mörder entlarvt zu haben.

Nachdem sie sich mit seinem Code Zutritt zu dem Raum verschafft hatte, fand sie zwar das Gerät am angegebenen Platz, schüttelte aber angesichts des chaotischen Zustands im Zimmer den Kopf. Auf dem Bett und dem Fußboden waren überall Klamotten verstreut, von einer Wandlampe baumelte ein T-Shirt, ein einzelner Schuh lag in einsamer Pracht auf einem Falten werfenden Teppich, und auf dem mit Süßigkeiten, Keksen und einem Chaos aus Datenwürfeln überladenen Nachttisch balancierten waghalsig ein benutzter Teller und eine Tasse.

Gut, dass dies kein militärischer Stützpunkt war, andernfalls wäre Andres ständig in Schwierigkeiten, sinnierte sie lächelnd, als sie sich wieder in den Korridor zurückzog und die Tür hinter sich schloss. Witzig, dass Andres gleichzeitig ein herausragender und gut organisierter Meeresforscher war, in dessen Büro nicht ein Schnipsel Papier am falschen Platz lag.

In Anbetracht der Diskrepanz zwischen Andres’ professionellem und privatem Ich fragte sie sich unwillkürlich, wie es in Stefans Unterkunft aussehen mochte. Sie versuchte, ihn sich in einem Raum mit einem wüsten Durcheinander vorzustellen – herumliegende, teils ineinander verknäulte Kleidungsstücke, Ausdrucke von Stationsberichten, die sich völlig ungeordnet überall stapelten – und rannte gegen eine geistige Blockade an. Stefans Zimmer, teilte ihr Gehirn ihr mit, würde genauso ordentlich, sauber und makellos sein wie er selbst, derart perfekt, dass ihm jede Persönlichkeit fehlte.

Obwohl sie wusste, dass er sie nicht absichtlich verletzt hatte, war sie noch immer sauer auf ihn, als sie sich dem Objekt ihrer Überlegungen plötzlich gegenübersah und ihr ein Laut der Überraschung entfuhr. Die Tür zu Stefans Zimmer stand offen und gab den Blick auf ihn frei, wie er mit nacktem Oberkörper an einer Stange, die an der rückwärtigen Wand montiert war, Klimmzüge machte. Die Geschmeidigkeit und Mühelosigkeit, mit der sich seine Muskeln rhythmisch anspannten und wieder lockerten, waren stumme Belege für seine Stärke.

Ihr wurde ganz heiß, und sie wusste, dass sie die Augen abwenden sollte, doch die Versuchung war übermächtig. Männer waren für sie schon immer vergleichbar mit exotischen Tieren gewesen – sie hatte in ihrem Dorf nie zu den Mädchen gehört, die sich aufs Flirten verstanden oder sogar heimlich einen Freund hatten. Daran hatte sich auch in der Zeit nichts geändert, seit sie von zu Hause fortgegangen war. Sie hatte sich immer schon wohler in Gesellschaft von Werkzeugen und Maschinen gefühlt und nie die »weiblichen Künste«, wie Teta Aya es nannte, erlernt.

Auch war sie nie »erweckt« worden. Eine weitere anstößige Umschreibung ihrer Großmutter, die drei Ehemänner sowie eine nicht näher bekannte Anzahl von Liebhabern überlebt hatte. Tazia war inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass sie dieses Gen einfach nicht besaß, das die anderen Mädchen dazu brachte, beim Anblick eines Jungen zu strahlen. Das Einzige, wovon Tazia geträumt hatte, war zu lernen, zu bauen, zu forschen – und keiner der Jungen im Dorf hatte das je auch nur ansatzweise interessant gefunden.

Jetzt spürte sie ein Flattern im Magen, das Blut schien langsamer durch ihre Adern zu fließen, und ihr Atem ging stockend, während sie Stefan beobachtete. Er war herrlich anzusehen. Nie zuvor hatte sie dieses Wort mit einem Mann assoziiert, aber kein anderes würde ihm gerecht. Seine Schultern waren breit, seine Hüften schmal, seine Muskeln straff und geschmeidig. Wie flüssige Seide bewegten sie sich unter der blassgoldenen Haut, deren Farbe auch nach Monaten in der Tiefe noch dieselbe war, was Tazia verriet, dass es ein genetisches Merkmal sein musste und seine Abstammung nicht ganz so eindeutig war, wie es den Anschein hatte.

Ein einzelner Schweißtropfen rann ihm den Rücken hinunter, und ihre Kehle wurde trocken. In diesem Moment wollte sie nichts mehr, als mit den Fingerspitzen den Weg nachzeichnen, den der Tropfen genommen hatte.

Sirr. Sirr.

Hastig senkte sie den Kopf und schaltete die spezielle Kommunikationskonsole aus, die sie auf der Station benutzten, dann zog sie sich eilends zurück, bevor Stefan sich umdrehen und sie beim Spionieren ertappen konnte. Erst nachdem sie sich mit brennenden Wangen in ihre eigene Sektion geflüchtet hatte, warf sie einen Blick auf die Konsole und entdeckte die Nachricht einer Freundin, die sich mit ihr zum Abendessen verabreden wollte.

Tazia war drauf und dran abzulehnen, doch dann entschied sie, dass eine Ablenkung ihr guttäte, und sagte zu. Sie musste eindeutig zu hart gearbeitet haben, wenn sie inzwischen von Stefan fantasierte. Sollte er je von ihrer merkwürdigen Reaktion auf den Anblick seines Körpers erfahren, würde ihn das vage verwirren, ansonsten aber kaltlassen. Es mochte auf der Welt ein paar Mediale geben, die Silentium – wie ihre Lebensweise jüngsten Gerüchten zufolge genannt wurde – infrage stellten, doch der Kommandant von Alaris zählte nicht zu dieser Gruppe; er war die gefühlloseste Person, die sie je getroffen hatte.

Tazia begegnete Stefan erst fünf Tage später wieder – was vielleicht auch daran lag, dass sie alles in ihrer Macht Stehende getan hatte, um jeden Kontakt zu meiden. Anlässlich einer Zusammenkunft der ranghöchsten Besatzungsmitglieder fanden sie sich schließlich wieder in einem Raum zusammen, um die Lage der Station im Detail durchzusprechen, inklusive der Gesundheit der Mannschaft und aller anderen Dinge, die den reibungslosen Betrieb auf Alaris beeinflussen konnten.

Was nicht zur Diskussion stand, waren laufende Forschungsprojekte.

Zwar war es Stefans Aufgabe, störungsfreie Abläufe auf Alaris sowie die Sicherheit der Besatzung zu gewährleisten, doch es war der Wassergestaltwandler Dr. Night, der das Forschungsteam leitete und über den sämtliche themenbezogenen Daten flossen. Tazia vermutete als Grund für diese Arbeitsteilung, dass die BlackSea-Gemeinschaft keine Einmischung der Medialen bei einer Forschung wollte, die sie ins Leben gerufen hatte. Sie fragte sich, ob Stefan der Mangel an Vertrauen, den sie damit zum Ausdruck brachte, kränkte, bevor ihr wieder einfiel, dass er keine Gefühle hatte.

»Ich finde, wir sollten jeweils Mitte des Monats ein weiteres Crew-Treffen abhalten.« Der Vorschlag kam von Allie Livingstone, der leitenden Psychologin auf Alaris. »Eine einzige monatliche Zusammenkunft reicht nicht, nachdem einige sie bedingt durch ihren Dienstplan zwangsläufig verpassen und infolgedessen nur alle zwei Monate die Chance bekommen, in der Gruppe Dampf abzulassen.«

»Ich bin bereit, Ihren Rat in diesem Punkt anzunehmen«, entgegnete Stefan, der kerzengerade im vorderen Bereich des Raums stand, in sachlichem Ton. Einige der Crewmitglieder lümmelten auf Sofas, andere standen an der Wand, während Tazia an der Armlehne eines Sofas lehnte.

»Jedoch müssen Sie dafür sorgen«, fügte er hinzu, »dass diese geselligen Zusammenkünfte keine verminderte Leistungsfähigkeit meiner Mannschaft zur Folge haben. Das Forschungsteam legt seine Arbeitszeiten selbst fest, aber ich brauche meine Leute topfit, um die Station mit maximaler Effizienz zu betreiben.«

Allie fuhr sich durch ihr erdbeerblondes Haar. »Ja, dafür entschuldige ich mich. Keine Katerstimmung mehr, versprochen. Tatsächlich dachte ich an einen Quizabend.« Sie hob die Hände, als mehrere Anwesende stöhnten. »Verspottet mich ruhig, aber ich wette, ihr werdet alle auf eure Kosten kommen. Kämpferischer Haufen, der ihr seid.«

»Gibt es noch weitere außerplanmäßige Themen, über die wir sprechen sollten?« Stefan nahm Tazia ins Visier.

Konnte er etwa ihre Gedanken lesen, die noch immer um den Anblick seines starken, schönen Körpers in seinem Zimmer kreisten?

Immerhin besaß er telepathische Fähigkeiten.

Dann rief sie sich in Erinnerung, dass es gegen die Gesetze der medialen Gattung verstieß, ungebeten telepathischen Kontakt herzustellen, und Stefan würde die Regeln niemals brechen.

»Der Sachverhalt mit dem Lift ist unverändert?«

Tazia nickte zur Antwort. »Wir kommen klar bis zur nächsten Lieferung.« Sie wandte die Augen von seinem forschenden Blick ab und richtete das Wort an die anderen. »Sollten euch weitere Defekte aufgefallen sein, dann lasst es mich wissen. Da die Routinewartungen abgeschlossen sind, habe ich diese Woche etwas Luft.«

Obwohl sie den Kopf während des restlichen Meetings gesenkt hielt, hätte sie schwören können, Stefans Blick die ganze Zeit auf sich zu spüren. Natürlich war das Einbildung. Er schenkte einem Crewmitglied niemals überflüssige Aufmerksamkeit, wenn er die Information, die er von der betreffenden Person brauchte, bereits hatte. Sobald er die Versammlung auflöste, schlüpfte sie davon und begab sich in das Innere von Alaris, um an einem peripheren System herumzubasteln.

Dort fand er sie fünfzehn Minuten später. »Gibt es ein Problem damit?«

»Nein«, beschied sie ihn knapp, verärgert darüber, dass er ihr in ihr Revier gefolgt war.

Als er wortlos wartete, seufzte sie und strich sich mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich habe eine Idee, wie sich dieses System optimieren ließe, um seine Effektivität zu erhöhen, und heute habe ich Zeit, daran herumzutüfteln.«

»Ich verstehe.« Sein Blick blieb an ihrer Wange hängen.

Sie errötete, als ihr dämmerte, dass sie sich wohl wieder einmal mit Schmieröl beschmutzt hatte. Mit dem festen Vorsatz, sowohl ihn als auch ihr töricht pochendes Herz zu ignorieren, wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Als sie sich wenige Minuten später umdrehte, war Stefan verschwunden.

»Ich finde, ihr zwei würdet ein niedliches Paar abgeben!« Allie stupste Andres an, als sie sich einige Tage später an einen Tisch im Speisezimmer setzten. Aufgrund der übersichtlichen Anzahl an Besatzungsmitgliedern wie auch der Tatsache, dass immer nur ein Drittel davon zur selben Zeit Dienst hatte, war der Raum nicht besonders groß.

»Sehr witzig.« Andres blickte finster drein und zog die schwarzen Brauen über seinen haselnussfarbenen Augen zusammen. »Courtney würde mir die Murmeln zerquetschen – tatsächlich glaube ich, exakt das hat sie heute versucht.« Er rieb sich über das Gesicht; sein dunkelbrauner Teint zeigte die Art von Blässe, die durch zu lang entbehrtes echtes Sonnenlicht entsteht. »Dabei habe ich nur gesagt, dass sie ihre Resultate vielleicht noch einmal überprüfen sollte, weil sie nicht mit den aktuellen Daten übereinstimmten – und bums! Es war, als hätte ich ihre Ehre verletzt oder so was.«

»Sie verliert in letzter Zeit schnell die Beherrschung«, bestätigte Allie. »Ich werde mit ihr reden.« Die psychologische Beraterin wandte sich Tazia zu und sah sie aufmerksam an. Ihre Augen waren von einem so leuchtenden Blau, wie Tazia es zu Hause in ihrem Dorf nie gesehen hatte.

Sie besaßen eine Strahlkraft, die ihr noch immer gelegentlich den Atem verschlug.

»Apropos«, fügte Allie hinzu. »Du warst sehr still in letzter Zeit.«

Um ihre Antwort hinauszuzögern, schaufelte Tazia sich einen, wie Teta Aya es ausgedrückt hätte, unmanierlich großen Bissen Nudeln in den Mund. »Nur müde, schätze ich«, murmelte sie schließlich.

Allie ließ sie damit davonkommen, obwohl offensichtlich war, dass sie ihr die Ausrede nicht abkaufte.

»Du wurdest noch nicht für die maximale Anzahl an Tagen nach oben geschickt – zum Glück sind es nur noch zwei Wochen bis dahin.«

Tazia machte ein unverbindliches Geräusch, was Allie als Zustimmung auffasste. Das war es nicht. Tazia wurde flau im Magen bei der Vorstellung, den Kokon von Alaris verlassen und in eine Welt zurückkehren zu müssen, in der niemand sie wollte, niemand nach ihr verlangte. Ihre engsten Freunde gehörten zur Besatzung, und die, die mit ihr an Land gehen würden, wollten die Zeit bei ihren Familien verbringen, während sie bis zum Ende des einmonatigen obligatorischen Urlaubs auf sich allein gestellt sein würde.

Doch es gab keinen Weg, dem zu entrinnen. Und so schnappte sie sich vierzehn Tage nach ihrem Gespräch mit Allie ihre Tasche und begab sich zu dem angedockten Unterwasserfahrzeug, das sie an Land befördern würde. Das Psychologenteam befolgte die eiserne Regel, die Crewmitglieder alle drei bis vier Monate nach oben zu schicken, und war der vierte Monat verstrichen, ließ es keine Entschuldigung mehr gelten. Es hing irgendwie mit psychischer Belastung und räumlicher Enge zusammen.

Niemand hatte Tazia je nach ihrer Meinung gefragt, andernfalls hätte sie darauf hingewiesen, dass das Eingeschlossensein ihr nichts ausmachte, sie gern mit Leuten, die sie kannte, unter Wasser war und sie sich im Schutz der Tiefseestation sicher fühlte. Sie hatte kein Verlangen nach dem grauenvollen Nichts eines Landurlaubs.

»Was glauben die denn, was wir sonst tun?«, murrte sie, als sie und Andres an Bord des hoch technisierten Tauchboots gingen, das sie entlang einer eigens zu diesem Zweck entworfenen und mithilfe von TK-Medialen wie Stefan erbauten »Schiene« an die Oberfläche bringen würde. »Dass wir ballaballa werden und alles kurz und klein schlagen?«

Andres schnaubte. Die Innenbeleuchtung des Unterwasserfahrzeugs ließ seine frisch geschrubbte Haut schimmern, und sein Hemd war ausnahmsweise einmal ordentlich gebügelt. »Als wir uns das erste Mal begegnet sind, wusstest du nicht einmal, was ›ballaballa‹ bedeutet.«

Tazia lachte, denn er hatte recht. Sie hatten sich vor drei Jahren kennengelernt, als sie zum Bau- und Entwicklungsteam von Alaris gestoßen war. Da war sie noch grün hinter den Ohren gewesen, in vielerlei Hinsicht war sie das bis heute, doch sie hatte genügend gelernt, um sich in diese Welt einzufügen, die nun die einzige war, in der man sie schätzte.

»Eines ist jedenfalls unbestritten, was räumliche Enge anbelangt«, bemerkte sie und spannte die Bauchmuskeln an, um eine neue Welle des Schmerzes abzuwehren. »Man lernt seine Kollegen sehr gut kennen.«

»Erzähl mir was Neues.« Andres stöhnte. »Der verdammte Trev schnarcht derart laut, dass die Wände vibrieren.«

Ehe sie etwas erwidern konnte, tauchte eine große, langgliedrige Gestalt mit kurz geschorenen dunkelbraunen Haaren im Einstieg auf. Stefan. Sie hatte nicht gewusst, dass er einen Ausflug nach oben geplant hatte. Wie gewöhnlich machte er sich nicht die Mühe, sie in ein zwangloses Gespräch zu verwickeln. Er war so distanziert und verschlossen, dass sie ihn kaum mit dem Mann aus Fleisch und Blut in Verbindung bringen konnte, den sie an jenem Tag in seinem Zimmer gesehen hatte … und später in ihren Träumen.

Ihre Schultern spannten sich an bei der Erinnerung, während sie gleichzeitig das merkwürdige Bedürfnis überkam, ihn zu ärgern und zu piesacken, um eine Reaktion zu erzwingen – was ihr selbstverständlich nicht gelingen würde. Er war schließlich ein Medialer.

Vor dem Einstieg salutierte der geschmähte Trev grinsend, bevor er die Tür schloss und verriegelte. Das Tauchboot war nun für die Fahrt abgedichtet. Es würde eine Weile dauern, bis sie die Erdoberfläche erreichten, und obwohl aufgrund des geregelten Drucks sowohl auf Alaris als auch in dem U-Boot nicht die Gefahr einer Dekompressionserkrankung drohte, kam man nicht an der Tatsache vorbei, dass sie sich auf dem Grund des Ozeans befanden, weit unter dem Meeresspiegel.

Natürlich hätte Andres auch allein nach oben gelangen können – Wassergestaltwandler bewältigten den Übergang zwischen Meer und Land ohne Schwierigkeiten.

»Eines Tages«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen, »schwimme ich nach oben und jage allen einen Schreck ein.«

Tazia hob eine Braue. »Du bist zu faul, um so weit zu schwimmen.« Seine erklärte Lieblingsbeschäftigung als Schlange war, sich zusammenzurollen und zu dösen; er hatte ihr anvertraut, dass er, selbst wenn er die Station durch einen der speziellen, für die Wassergestaltwandler angelegten Ausgänge verließ, hauptsächlich im Meer faulenzte, während die anderen »zu wahren Akrobaten« mutierten.

»Stimmt«, räumte er ein. »Umso gelungener wäre die Überraschung.«

Mit einem reuelosen Grinsen setzte er seine Kopfhörer auf und begann, letzte Korrekturen an einem Bericht vorzunehmen.

Tazia hatte vorgehabt, ein Buch zu lesen, so wie Stefan es gerade tat. Noch vor zwei Monaten hätte sie ihn in derselben Situation in Frieden gelassen und ihm die Ruhe gegeben, die er so offenkundig wünschte, aber nachdem er ihr in den vergangenen Wochen wiederholt auf die Pelle gerückt war, hatte er jeden Anspruch auf Schonung in ihren Augen verspielt.

»Sie hätten nach oben teleportieren können«, bemerkte sie. Es war eine Eigenart der Telekinese, dass Druckveränderungen zwischen Ausgangspunkt und Zielort keine negativen Auswirkungen auf die Teleporter hatten.

»Man hat um meine Hilfe am Ort eines schweren Erdbebens gebeten, und an die Oberfläche zu teleportieren, kostet Energie.« Dunkelgraue Augen versenkten sich in ihre und sahen zu viel. »Ich hielt es für besser, einige Stunden später, dafür aber im Vollbesitz meiner Kräfte einzutreffen.«

Tazia verstand sein Argument. Er würde die Verzögerung kompensieren, indem er die doppelte Menge Arbeit in der Hälfte der Zeit schaffte. »Ich hätte nicht gedacht, dass die Ärzte Ihnen diese Arbeit gestatten würden.« Sie selbst hatte die strikte Anweisung, sich zu entspannen und zu regenerieren, dabei war sie nur eine Ingenieurin.

Stefan hingegen war ohne Zweifel das teuerste Besatzungsmitglied. TK-Mediale mit derart großen Fähigkeiten wie seinen waren sehr selten, folglich musste er während seiner Abwesenheiten, in denen ihn Ersatzleute vertraten, Alaris das Doppelte dessen kosten, was er gemäß seines unbefristeten Vertrags erhielt. Nie im Leben würde man ihn länger als unbedingt notwendig vom Dienst beurlauben.

Stefan ließ sich so viel Zeit mit seiner Antwort, dass sie schon dachte, er würde ihre versteckte Frage einfach ignorieren, doch dann richtete er seine schiefergrauen Augen auf sie und sagte: »Ich bin beim Internationalen Such- und Rettungsdienst als ehrenamtlicher TK-Medialer eingetragen.«

Sie blinzelte, denn sie hatte angenommen, er sei abkommandiert worden, um irgendeinem Wirtschaftsunternehmen behilflich zu sein. Neben ihr verlieh Andres, der seine Kopfhörer abgenommen hatte, weil er es nicht ertrug, eine Unterhaltung, die in seiner Nähe geführt wurde, zu verpassen, seiner Überraschung auch verbal Ausdruck. »Wie bitte?«

Tazia konnte die erstaunte Reaktion nachvollziehen. Mit Such- und Rettungsmaßnahmen war kein Geld zu verdienen. Dementsprechend würde der Rat der Medialen eine derartige »Vergeudung« von Ressourcen niemals bewilligen. Es sei denn, es stünde ein politischer Aspekt dahinter. »Leben Mediale in der Erdbebenregion?«, fragte sie. Vielleicht versuchte der Rat, sich nach den jüngsten Unruhen bei seiner Bevölkerung beliebt zu machen.

»Nein, Menschen.«

Andres schüttelte mit dem Kopf. »Nichts für ungut, Stefan, aber Ihre Gattung eilt keinen Menschen zu Hilfe, und erst recht beauftragt sie damit keine mächtigen TK-Medialen.«

»Irrtum. Ich gehöre der medialen Gattung an, und ich besitze telekinetische Kräfte.«

»Sie wissen, was ich meine.«

»Nein.« Sein Ton besagte, dass die Diskussion beendet war.

3

Nach Ende der Tauchfahrt, die gleichzeitig zu lange und zu kurz gedauert hatte, ging Tazia von Bord und blinzelte in das tropische Sonnenlicht. Sie musste zugeben, es fühlte sich gut an auf ihrer Haut. Ein Teil von ihr würde die sandigen Wüsten ihrer Heimat immer vermissen, obwohl es nie der Ort gewesen war, an dem sie Wurzeln schlagen wollte. »Wir sehen uns in einem Monat«, sagte sie zu Andres, der grinsend der Schar seiner Verwandten zuwinkte, die gekommen waren, um ihn in Empfang zu nehmen.

Ungeduldig und erfüllt von unbändigem Stolz auf ihn standen sie hinter der Glaswand des Warteraums. Kleine Kinder pressten aufgeregt die Hände an die Scheibe, eine ältere Frau vergoss Freudentränen, andere strahlten Andres einfach nur an, und zwei Teenager hielten ein Plakat hoch, auf dem stand: Wir haben dich vermisst, Bruder!

Winzige Hände hatten es über und über mit bunten Meerestieren bemalt.

Genauso sollte es sein. Die Familie war das Fundament des Lebens; das hatte man Tazia stets gelehrt, und sie glaubte immer noch daran. Mit dem Rückhalt seiner Angehörigen konnte man alles bewältigen. Ohne ihn war man ein Geist, verloren in der Wildnis.

Andres drehte sich zu ihr herum. »Könntest du –?«

»Ich werde im Büro für dich einchecken.« Lächelnd nahm sie seinen Ausweis entgegen. »Ab mit dir. Deine Mutter wird noch platzen, wenn du sie nicht bald umarmst.« Tazia erkannte die weinende Frau von vielen früheren Begegnungen wieder, war von ihr während ihrer Zeit beim Bau- und Entwicklungsteam zahlreiche Male zum Abendessen eingeladen worden.

»Danke, Tazi.« Andres zögerte. »Du weißt, dass du jederzeit eingeladen bist, mit zu mir nach Hause zu kommen. Auf eine Person mehr kommt es nicht an. Mutter liebt es, Leute zu verköstigen, und sie mag dich sehr.«

Sie schätzte den Wert seiner Freundschaft hoch, gleichzeitig wusste sie, dass diese Zeit ihm allein gehören sollte … und so sehr sie seine Familienmitglieder ins Herz geschlossen hatte, machte es sie im Innersten furchtbar traurig zu sehen, mit welcher Liebe sie einander zugetan waren. Es war schlimm, es zuzugeben, aber ihre Glückseligkeit erinnerte sie zu stark an all das, was sie verloren hatte. Ein solcher Gast sollte sich lieber fernhalten; niemals würde sie es riskieren, Andres’ Freude an seinem Besuch zu dämpfen, indem sie sich unabsichtlich ihr eigenes Heimweh anmerken ließ.

»Ich komm schon zurecht.« Sie spürte ein dumpfes Ziehen im Herzen, doch ihr Lächeln, als sie seiner Familie zuwinkte, war echt. »Außerdem habe ich ein paar Verabredungen getroffen.«

Seine Augen blitzten. »Du bist eine Geheimniskrämerin. Das gefällt mir.« Er küsste sie auf die Wange und ging davon, dann drehte er sich noch einmal um und kam ein paar Schritte zurück, um zu rufen: »Ich erwarte einen vollständigen Bericht!«

Dann war er weg, überschwänglich vereinnahmt von seiner ausgelassenen Familie.

»Sie haben gelogen.«

Tazia erschrak nicht, sie hatte Stefans kühle Gegenwart hinter sich gespürt.

Um der Versuchung zu widerstehen, zu ihm herumzufahren und ihn zu boxen, bis sein Panzer Risse zeigte und er sich wie ein Mensch benahm, trat sie einen Schritt nach vorn und sagte: »Es ist eine Lüge, die verhindert, dass er sich während seines Urlaubs Sorgen um mich macht.« Damit hob sie ihre Reisetasche auf und steuerte auf das Bürogebäude zu, um die Anmeldeformalitäten zu erledigen. Sie würde ihren und auch Andres’ Ausweis dort hinterlegen, um nicht Gefahr zu laufen, sie zu verlieren. Sobald es Zeit war, nach Alaris zurückzukehren, konnten sie sich problemlos mittels DNA-Scan identifizieren.

Stefan schloss zu ihr auf und passte seine langen Schritte ihren kürzeren an. »Was haben Sie denn jetzt vor?«

War er etwa besorgt? Stefan? Nein, dachte sie. Wahrscheinlich wollte er sich nur vergewissern, dass seine Ingenieurin ohne psychologisches Trauma auf die Tiefseestation zurückkam. Schließlich war es seine Aufgabe, für einen ungestörten Betrieb auf Alaris zu sorgen. »Ich werde für die vier Wochen an Land ein Zimmer mieten.«

Das Büropersonal hatte ihr bei ihrem ersten Aufenthalt an Land gezeigt, wie man solch eine zeitweilige Bleibe fand. Nun hatte sie eine Liste von Unterkünften, wo sie fragen konnte, ob sie etwas frei hatten – Buchungen im Voraus waren problematisch, weil niemand exakt vorhersagen konnte, wann die Umstände ein Auftauchen des Unterwasserfahrzeugs erlaubten.

Falls alles belegt war, gab es immer noch die Schlaflager im rückwärtigen Teil des Bürogebäudes. Es stand ihr frei, sich dort einzuquartieren, allerdings wollte sie das um jeden Preis vermeiden. Bei ihrem ersten Landgang hatte sie eine Woche dort verbracht, und dem wortlosen Mitleid in den Augen jener, die jeden Tag zu ihren Familien heimkehrten, wollte sie sich niemals wieder aussetzen.

»Und was werden Sie in Ihrem Zimmer tun?«

Ihre Finger krampften sich um die Henkel ihrer Tasche, während sie gegen das Brennen in ihrer Kehle, den aufflammenden Zorn in ihrer Magengrube ankämpfte. Er wusste nicht, was er ihr antat, indem er sie durch seine Fragen zwang, den kalten, einsamen Tagen, die ihr bevorstanden, ins Auge zu blicken. Sie würde weder mit Minas Kindern spielen, noch ihren Neffen knuddeln oder ihrem Vater helfen, die Maschinen zu reparieren, die der Wüstensand ständig verstopfte.

Das war es, was eine Tochter, die geliebt wurde, täte. Aber nicht sie, denn man hatte sie aufgegeben. »Ich werde mir die Zeit schon vertreiben«, sagte sie, ohne sich ihren Schmerz anmerken zu lassen. »Ich werde ein paar Bücher lesen, vielleicht ins Theater gehen, mich amüsieren.«

»Ist das wirklich Ihr Wunsch?«

»Nein.« Ihr riss der Geduldsfaden, und sie wirbelte zu ihm herum. Trotzig schob sie den Kiefer vor, während der Zorn wie Säure in ihren Adern brannte. »Aber es ist das Beste, was ich tun kann. Zufrieden?«

»Sie könnten mit mir mitkommen.«

Die Zeit schien plötzlich stillzustehen, und als sie weiterlief, war nichts mehr wie zuvor. »Was?«

Sein Blick war unergründlich, seine Miene ausdruckslos, als er in militärisch aufrechter Haltung entgegnete: »In der von dem Erdbeben betroffenen Region werden dringend Freiwillige gebraucht. Es handelt sich um eine abgelegene Siedlung. Eine Ingenieurin wäre überaus willkommen.«

»Ich kann nicht.« Frust regte sich in ihr. »Falls die Firma mitbekommt, dass ich einer Tätigkeit nachgehe, selbst wenn es eine ehrenamtliche ist, könnte es sein, dass ich für einen weiteren Monat aus dem Verkehr gezogen werde.« Und sie musste zurück nach Alaris, an den einzigen Ort, an dem sie fast vergessen konnte, wie einsam es in dieser Welt hier war.

Stefan hielt ihren Blick mit seinen dunkelgrauen Augen fest. »Vielleicht könnte ich Ihnen die Genehmigung beschaffen.«

»Wenn Ihnen das gelingt«, sagte sie, »stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.«

Für einen Moment, in dem Tazias Worte noch nachhallten, herrschte eine seltsame Anspannung zwischen ihnen. Dann nickte Stefan, und die Anspannung löste sich. Bestimmt hatte sie sich das ohnehin nur eingebildet. Es hatte nie das geringste Anzeichen dafür gegeben, dass Stefan, den eine kalte Mauer aus Reserviertheit umgab, nicht vollkommen in Silentium war.

Wie er wohl in einer Welt ohne dieses Programm wäre?, dachte sie. Sie stellte ihn sich lächelnd vor, und ihr stockte der Atem, ihr Magen schlug einen Salto. Er war auch so auf eine harte, militärische Weise ein attraktiver Mann … doch bestimmt wäre er noch umwerfender, wenn er lächelte.

»Ich bin bald zurück.« Mit diesem Versprechen verließ er das Empfangsbüro.

Um sich unterdessen beschäftigt zu halten, händigte Tazia ihren und auch Andres’ Ausweis dem ihr unbekannten älteren Mann am Schalter aus. »Mein Bekannter wurde von seiner Familie erwartet«, erklärte sie, als der Angestellte Andres’ Pass fragend hochhielt. »Er hat sich noch im Tauchboot abgemeldet.«

Er zog die Karte durch seinen Scanner. »Okay, alles klar. War das der, der von seiner ganzen Sippschaft abgeholt wurde? Die Mutter trug ein gelbes Kleid?«

»Ja, das waren seine Leute.«

»Die sind vor Stolz fast geplatzt.« Seine Miene wurde weich. »Die Frau kam vorhin hier herein, um sich zu vergewissern, dass sie die richtige Ankunftszeit hatten. Sie hat mir zehn Minuten lang von ihrem Jungen vorgeschwärmt, der für sie das klügste und bestaussehende Geschöpf auf diesem Planeten ist.«

Tazia erwiderte sein Lächeln. »Er kommt jedes Mal mit gigantischen Care-Paketen zurück an Bord, und dann leben wir alle eine Woche lang in Saus und Braus.«

Schmunzelnd erledigte er den restlichen Papierkram, bevor er fragte: »Möchten Sie Geld von Ihrem Konto abheben?«

Tazia überlegte. In dieser Hafenstadt wurde fast alles über Kreditkarten abgewickelt, aber wenn sie Stefan in eine entlegenere Gegend begleitete, würde sie vermutlich Bargeld brauchen. »Ja«, sagte sie und hoffte, damit ein lautes Signal hinsichtlich ihrer Absichten und Wünsche durchs Universum zu schicken.

Sie hatte die Abhebung gerade erledigt, als sie in die Verwaltung gerufen wurde, um ihre Gründe zu nennen, weshalb sie sich als freiwillige Helferin in der Erdbebenregion zur Verfügung stellen wollte. Stefan stand ruhig am Fenster, während sie der Personalchefin fest in die Augen sah und ihr unverblümt die Wahrheit sagte: »Ich habe niemanden an Land. Der Monat wird sich endlos hinziehen, und ich werde bei meiner Rückkehr auf Alaris nicht erholter sein als zuvor. Ich würde diese Zeit lieber damit verbringen, anderen zu helfen, als in Selbstmitleid zu baden.«

Die Frau strich sich eine blonde Strähne hinters Ohr. »Nun, ehrlich sind Sie jedenfalls.« Sie tippte etwas in ihr Datenpad. »Ich erteile Ihnen die Erlaubnis, Stefan bei seiner Freiwilligenarbeit zu unterstützen, aber denken Sie daran, sich ärztlich untersuchen zu lassen, bevor Sie wieder an Bord gehen. Sorgen Sie dafür, dass Sie bis dahin ausgeruht und wohlgenährt sind, andernfalls werde ich Sie für vier weitere Wochen vom Dienst suspendieren, und zwar ohne Sold.«

»Ja, Ma’am.« Prickelnde Freude durchströmte sie. Sie würde nicht einsam und nutzlos hier oben herumsitzen. Dieses Mal nicht.

»Ich danke Ihnen«, sagte Tazia mit einem verstohlenen Blick zu dem Mann, der in dem Düsenjet, in dem sie ausgeflogen wurden, so dicht neben ihr saß, dass ihre Arme sich fast berührten.

»Dazu besteht kein Grund. Ihre Fähigkeiten werden gebraucht.«

Sie senkte die Augen auf seinen aufgestützten, von einem schwarzen Hemd verhüllten Unterarm. »Andres hatte übrigens recht. TK-Mediale wie Sie sind zu kostbar, als dass man Ihnen gestatten würde, sich an Hilfsaktionen zu beteiligen.« Sie wusste selbst nicht, warum sie auf dem Thema herumritt; vielleicht, weil Stefan ein Rätsel für sie war, das sie nicht lösen konnte.

Das hatte sie von Anfang an an ihm fasziniert, aber etwas hatte sich seit der Sache mit der Post verändert. Jetzt zog sie nicht nur das Rätselhafte an ihm in ihren Bann, sondern Stefan selbst. Wie töricht, Tazi, hätte Teta Aya sie gescholten. Du versuchst, die Sterne zu begreifen, obwohl sie über den Horizont der Sterblichen hinausgehen.

Stefan war ebenso unzugänglich wie diese kalt leuchtenden Himmelskörper. Und dennoch … »Wieso erlaubt man es Ihnen?«

»Ein Erdrutsch hat meinen Heimatort unter sich begraben, als ich ein kleines Kind war«, sagte er schließlich in gedämpftem Ton, für niemand anderen hörbar. »Ich habe überlebt, indem ich instinktiv teleportierte. Allerdings habe ich durch den Verlust meiner Familie seelische Wunden davongetragen. Den Ereignisberichten zufolge versuchte ich stundenlang, zurückzuteleportieren, um meine Mutter und meinen Bruder herauszuholen, aber alle Versuche schlugen fehl, weil der Ort, an den ich gelangen wollte, nicht mehr existierte.«

Tazias Herz fühlte mit ihm, aber er sprach weiter, bevor sie etwas sagen konnte.

»Die Lawine hat unser Haus niedergewalzt, beide wurden unter Tonnen von Erde und Gestein verschüttet.« Sein Ton änderte sich nicht, trotzdem sah sie den kleinen, verängstigten Jungen, der damals verzweifelt versucht hatte, seine Liebsten zu retten, vor sich.

»Die Medialen glauben, dass solche Freiwilligenarbeit mir dabei hilft, mental im Gleichgewicht zu bleiben«, fügte er hinzu.

Ein solches Eingeständnis seitens eines Menschen würde von tiefem Vertrauen zeugen. Dass es von Stefan kam, machte es zu einem noch größeren Geschenk. »Ich werde darüber Stillschweigen bewahren«, sagte sie ergriffen.

»Würde ich vom Gegenteil ausgehen, hätte ich es Ihnen nicht erzählt.« Seine schiefergrauen Augen hielten ihren Blick unerbittlich fest. »Sie haben noch mehr Fragen.«

»Die habe ich immer«, bekannte sie in schmerzhafter Erinnerung daran, wie ihr Vater sie früher begrüßt hatte: Hier kommt meine Tazi. Welche Fragen hast du heute für mich, meine kluge, von Neugier getriebene Tochter?

Er beobachtete sie derart aufmerksam, dass ihr ganz beklommen zumute wurde, dann sagte er: »Sie dürfen Ihre Fragen stellen, aber nicht hier. Erst, wenn wir unter uns sind.«

»Das Angebot werden Sie womöglich noch bereuen.« Nie hätte sie geglaubt, dass sie jemals ein solches Gespräch mit Stefan führen würde. »Sie werden mir Rede und Antwort stehen, bis Sie alt und grau sind.«

»Könnte sein, dass ich mich als nicht annähernd so interessant entpuppe wie Ihre mechanischen Geräte.«

Aus irgendeinem Grund glaubte Tazia das nicht.

Als sie nichts dazu sagte, gab Stefan über den in die Armlehne integrierten Computermonitor ihrer beider Essensbestellung auf. »Nehmen Sie so viel zu sich, wie Sie können. Sobald wir gelandet sind, werden unsere Mahlzeiten ziemlich karg ausfallen.«

4

In den Privatkabinen an Bord des Jets tauschten sie ihre Kleidung gegen solche, die sich für das Erdbebengebiet eignete. Anschließend trug Tazia zu ihren eigenen, gut eingelaufenen Arbeitsstiefeln eine sandfarbene Such- und Rettungsdienstuniform, die Stefan ihr besorgt hatte und die seiner eigenen glich. Das dünne, atmungsaktive und dennoch robuste Material bedeckte ihre Arme und Beine und bot Schutz vor scharfkantigen Trümmern und auch vor der Sonne. Die leichte Jacke, unter der sie ein T-Shirt anhatte, wurde vorn geschlossen, sodass sie sie jederzeit öffnen konnte, wenn es ihr zu warm wurde.

An ihr sah diese Montur lediglich zweckdienlich aus, an Stefan hingegen wirkte sie dank seiner sehr geraden Haltung wie eine akkurat gebügelte Militäruniform. »Bereit?«, fragte er, nachdem sie in der heißen Wüstenlandschaft, nicht allzu weit von Tazias Heimatort entfernt, gelandet waren.

Sie stieß den Atem aus und nickte. »Ich habe das noch nie zuvor getan.«

»Gut möglich, dass Sie sich leicht desorientiert fühlen werden.« Er trat vor sie hin, und ihr Herz galoppierte in ihrer Brust … als sie eine Sekunde später zum ersten Mal teleportiert wurde und die Welt wild um sie kreiselte, bevor sie wieder zum Stillstand kam.

Binnen dreier Wimpernschläge waren sie von einem modernen, glänzenden Flughafen zu einem Dorf tief im Landesinneren gereist, wo ein heftiges Erdbeben alte lehmfarbene und liebevoll von Hand erbaute Häuser zerstört und den Grund in alle Richtungen aufgeworfen und mit Rissen durchzogen hatte.

Niemand schrie, niemand weinte. Es herrschte gespenstische Stille, während die Leute verzweifelt nach Verschütteten suchten. Viele hatten dafür nur ihre bloßen Hände zur Verfügung, sie gruben mit blutenden Fingern und abgebrochenen Nägeln. Sofort nach ihrem Eintreffen machte Stefan sich daran, riesige Trümmerteile wegzuheben. In den verhärmten Gesichtern der Dorfbewohner zeigte sich eine solch überwältigende Erleichterung, dass es Tazia fast das Herz zerriss.

»Dann mal los«, sagte sie und deponierte ihre Ausrüstung neben Stefans Tasche, bevor sie sich bei der Frau meldete, die den Rettungseinsatz koordinierte. Dankbar versorgte diese Tazia mit Arbeit, indem sie sie gebrochene Rohre reparieren, Leitungen auf Stromschlaggefahr überprüfen und das Kommunikationssystem, das immer wieder zusammenbrach, notdürftig instand setzen ließ.

Bisher hatte es nur eine kleine Hilfsmannschaft zum Dorf geschafft, der Rest war noch unterwegs. Infolgedessen wurde den zur Verfügung stehenden körperlich leistungsfähigen Freiwilligen alles abverlangt, den Amateuren wie den Profis.

Es war schon seit Stunden vollkommen dunkel, als Tazia sich erschöpft auf ihren Schlafsack sinken ließ, der in dem Zelt für sie bereitlag, das jemand für sie und Stefan aufgebaut hatte. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er sich wenige Minuten später zu ihr gesellte, einen Energieriegel aus seiner Tasche kramte und ihn ihr zuwarf. Erst nachdem sie das geschmacksneutrale Ding hinuntergewürgt hatte, wurde ihr klar, dass sie zuletzt im Flugzeug etwas gegessen hatte. »Ist alles in Ordnung?«

»Ich werde mindestens sechs Stunden Schlaf brauchen, um meine Energiereserven so weit aufzufüllen, dass ich weiter Trümmer bewegen kann.« Er gab ihr noch einen Riegel, vertilgte selbst vier und überließ sich dem Schlaf.

Zumindest nahm sie das an. Denn als sie aufwachte, hielt sie ihren Energieriegel noch immer in der Hand. Ein Blick zur Uhr verriet ihr, dass erst fünf Stunden vergangen waren. Da sie Stefan nicht wecken wollte, schlüpfte sie mit sachten Bewegungen in ihre Schuhe und verließ leise das Zelt, um die Toilette zu benutzen. Anschließend spülte sie ihren Mund sparsam mit Wasser aus und trank immer mal wieder einen Schluck, während sie den Riegel aß. Die Duschen funktionierten nicht, weil das Erdbeben den Brunnen zerstört hatte, aber die Dorfbewohner hatten ihr wiederholt eingeschärft, ausreichend zu trinken, um bei Kräften zu bleiben.

Tazia hatte ganz vergessen, wie schnell man unter der Wüstensonne dehydrierte.

Tankwagen waren auf dem Weg, und der Teil der Bevölkerung, der nicht an der Suche nach Verschütteten beteiligt war, versuchte den Brunnen wieder instand zu setzen, doch bis dahin musste die Körperhygiene hinter dem nackten Überleben zurückstehen. Es war ratsamer, Stefan nicht darum zu bitten, auch noch Wasser herbeizuschaffen – mit der Beseitigung des Schutts war er bereits an seine energetischen Grenzen gestoßen.

Wieder zurück im Zelt fand sie die Packung Feuchttücher, die sie in dem kleinen Laden neben der Alaris-Niederlassung erstanden hatte, dann warf sie Stefan einen Blick zu. Er hatte sich nicht gerührt, sein Atem ging gleichmäßig. Sechs Stunden hatte er gesagt, und sechs würden es sein. Sie drehte sich mit dem Rücken zu ihm, entkleidete ihren Oberkörper und wusch sich so gut es ging, wobei ihr heiß war bei dem Gedanken, halbnackt zu sein in Gegenwart eines Mannes, mit dem sie nicht verheiratet war, bevor sie einen frischen BH und ein sauberes T-Shirt anzog.

Ihre Wechselklamotten würden nicht lange reichen, da sie nur drei Garnituren mitgenommen hatte, doch angesichts der verheerenden Situation war das absolut zweitrangig. Tazia war schon früher schmutzig gewesen und würde das auch künftig wieder sein. Nachdem sie die benutzten Tücher in eine Plastiktüte gesteckt hatte, die sie später entsorgen würde, legte sie die Packung neben Stefans Tasche, damit er sie sah, sobald er wach war. Danach schnappte sie sich ihre Jacke, die vom Vortag noch voller Staub und Schmierölflecken war, und zog los, um sich mit dem beschädigten Generator zu befassen, der der kleinen Dorfklinik im Fall, dass der Hauptgenerator versagte, als Reservestromquelle diente.

Stefan erwachte nach exakt sechs Stunden. Als gut geschulter Soldat hatte er Tazias Kommen und Gehen registriert, jedoch in der Überzeugung, dass von ihr keine Bedrohung ausging, weitergeschlafen. Andernfalls wäre sie kampfunfähig gewesen, noch bevor sie überhaupt gemerkt hätte, dass er sich bewegt hatte. Zwar war es ihm aufgrund eines psychologischen Defekts verwehrt geblieben, in der Pfeilgarde – einer Eliteeinheit für besondere Operationen – zu dienen, trotzdem war ihm die Ausbildung in Fleisch und Blut übergegangen.

Obwohl er offiziell kein Pfeilgardist war, betrachteten ihn die Männer und Frauen in der Truppe als einen der ihren. Sie hatten im Verborgenen weiter mit ihm trainiert, und noch heute nutzte er jede Gelegenheit, um sich Übungskämpfe mit aktiven Gardisten zu liefern, die er als seine Familie ansah. Selbst wenn er schlief, konnte niemand sich an ihn heranpirschen – und bei Tazia war dieses Risiko gleich null.

Gewaltbereitschaft war einfach nicht Teil ihres Wesens.

Er stand auf und machte sich fertig, dann kehrte er in die am schlimmsten zerstörte Zone zurück. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er die Nacht durchgearbeitet, wohl wissend, dass noch immer Personen unter den Trümmern begraben waren. Er musste sich zur Vernunft zwingen und sich ins Gedächtnis rufen, dass er weit länger als sechs Stunden nutzlos sein würde, wenn er sich völlig verausgabte.

Nachdem seine Batterien nun wieder aufgeladen waren, konzentrierte er sich auf die instabilste Sektion und machte sich an die Arbeit. Er sah, dass Tazia im Dorf unterwegs war und hörte ihre Stimme, als sie sich einer Sprache bediente, die der in diesem Land gebräuchlichen ähnlich genug war, dass man sie verstand. Als sie »Stefan« sagte, trat er zu ihr und beugte sich zu ihr hinunter.

Ihr Kopf reichte gerade mal bis zu seinem Schlüsselbein, trotzdem hätte er Tazia nie als klein bezeichnet. Dafür war zu viel Energie in ihr – wie ein Sturm, der seine Kräfte bündelte, bevor er losbrach.

»Gibt es ein Problem?«

»Sie haben seit drei Stunden keinen Schluck Wasser getrunken.« Mit gerunzelter Stirn reichte sie ihm eine bis zum Rand gefüllte Mehrwegflasche. »Sie wissen, dass Sie das nicht vergessen dürfen, wenn Sie bei dieser Hitze solche Mengen an Schutt wegschaffen.«

Er nahm die Flasche, dabei unterzog er seinen Körper einer Bestandsaufnahme und begriff, dass er gefährlich nahe daran war zu dehydrieren. »Danke.« Seit seiner Kindheit hatte sich niemand mehr um sein Wohlergehen gesorgt, es sei denn, jemand hatte sich davon einen Vorteil erhofft.

»Gern geschehen.« Sie ließ den Blick über die Umgebung schweifen, während er das Wasser in langsamen, wohlbemessenen Zügen trank, so als wollte er seinen ausgedörrten Körper nicht überfordern. »Das hier ist schon schlimm genug, aber es wird wohl noch Nachbeben geben.«

Nickend ließ er die zur Hälfte geleerte Flasche sinken. »In Anbetracht der Schwere des Bebens werden sie sehr wahrscheinlich massiv ausfallen. Darum muss ich die Verschütteten zügig bergen – die Trümmer sind zu instabil, um einem heftigen Erdstoß standzuhalten.«

Indem er die nächsten vier Stunden durcharbeitete – und nicht einmal innehielt, während er das Wasser hinunterstürzte, das Tazia ihm brachte –, konnte er die Hälfte der Opfer herausholen, bevor die Erde ein weiteres Mal bebte. Schreie gellten durch die Luft, als das Dorf und seine Bewohner weiteren Schaden nahmen, aber Stefans erster Gedanke gehörte Tazia. Er kauerte sich auf den Boden, um das Ende des Nachbebens abzuwarten, dabei streckte er seine mentalen Fühler nach ihrem hellen Licht aus. Er drang nicht in ihr Bewusstsein ein, um sie zu finden – das musste er nicht. Tazias geistige Struktur war so einzigartig wie ein Fingerabdruck … und da war sie.

Unversehrt.

Als die Erschütterungen endlich aufhörten, nahm er unter den Trümmern in seiner unmittelbaren Umgebung keine Überlebenden mehr wahr. So wie er vor langer Zeit seine Mutter und seinen Bruder nicht mehr hatte finden können, obwohl er stundenlang nach ihnen gesucht hatte. Bis die Rettungsmannschaften eingetroffen waren und ihn dabei entdeckt hatten, wie er von Schnitten übersät und aus Nase und Ohren blutend barfuß über Schutt wanderte und unablässig versuchte, die gesamte Erdlawine aus eigener Kraft zu bewegen.

»Sie sind tot«, hatte ein M-Medialer ihm mitgeteilt, seine kalten, nüchternen Worte waren hart wie Steinschläge. »Du bist nicht stark genug, um mithelfen zu können. Setz dich hierhin und stör uns nicht bei der Arbeit.«

Heute war er kein Kind mehr, aber auch hier konnte er den Toten nicht helfen.

Er wandte sich ab und begab sich in eine Sektion, wo es noch Überlebende gab, und als Tazia ihm abermals Wasser brachte, sah er Tränenspuren auf ihrem staubigen Gesicht. Sofort meldeten sich seine Instinkte. »Sind Sie verwundet?« Sein Blick glitt über sie, suchte nach Verletzungen.

Sie schüttelte den Kopf. »Da war dieses kleine Mädchen – sie ist mir gestern auf Schritt und Tritt gefolgt, weil sie von mir lernen wollte, wie sie sagte. Bei dem Nachbeben … wurde sie …« Ihr zierlicher Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, ihr Gesicht verzog sich kummervoll.

Als sie sich abwenden wollte, trat er nah vor sie hin und schirmte sie vor den Blicken anderer ab. Er wusste, dass sie Körperkontakt brauchte, aber er hatte seit der Zeit vor dem Erdrutsch, der seine Kindheit beendet hatte, niemanden mehr aus einem anderen Grund als purer Notwendigkeit berührt, denn wer in Silentium war, tat so etwas nicht. Darum blieb er einfach dicht bei ihr stehen, und als ihre Tränen langsam versiegten, ließ er sie etwas von dem Wasser trinken, das sie ihm gegeben hatte.

»Ich sollte lieber gehen«, meinte sie heiser. »Vergessen Sie nicht, einen Energieriegel zu essen.«

Mitternacht war gerade vorüber, als Stefan sich gezwungen sah aufzuhören. Seine mentalen Muskeln waren bis zum Äußersten erschöpft, seine Uniform schlackerte an einem Körper, der weit schneller Energie verbrauchte, als er ihm zuführen konnte. Und so entfernte sich Stefan notgedrungen vom Ort der Verwüstung. Tazia war im Zelt und tüftelte im Licht der solarbetriebenen Notfalllaterne, die aus demselben Laden stammte wie die Feuchttücher, die sie mit ihm geteilt hatte, an einem kleinen Geräteteil.

»Es gibt nicht genügend Strom, um nach Einbruch der Dunkelheit am Computer zu arbeiten«, murmelte sie abwesend und sah hoch. »Setzen Sie sich, Stefan, bevor Sie noch umkippen.« Ihr Ton war scharf.

»Es geht mir gut, ich bin nur etwas entkräftet.« Trotzdem tat er wie geheißen. Sein Körper fühlte sich an, als würde er von Schnüren zusammengehalten, die jeden Moment reißen konnten.