Wunschmünzen - Thomas Reich - E-Book

Wunschmünzen E-Book

Thomas Reich

3,0
4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mach schon, äußere deinen Wunsch. Dann gehöret deine Seele mir. Wie töricht und unbedacht die Menschen ihre Wünsche doch äußern. Keiner von ihnen bekommt, was er will, ein jeder nur das, was er verdienet. So wenig, wie er vor sich selber fliehen kann, vermag er mir zu entkommen. Auch du, werter Hendrik. Schwach warst du und eitel. Dies soll deine Sünde sein. Wolltest der Armut Trutzingens entkommen, als wärest du zu Besserem bestimmt. Stiegst auf zum Ritter der Ehrenlegion. Ich blieb der dunkle Funken in deinem Gehirn, der dich stets an dir selbst zweifeln ließ. Und als ein Bote dich in die Heimat berief, habe ich deine Furcht gekostet wie süßen Wein. Auch der Druide wird dir nicht helfen können im Kampf gegen mich. Denn tief im Innern steckest du voll unerfüllter Wünsche. Und ein jeder bringet dich deinem Untergange näher. BRUNNENDÄMONENDie Augen des Ziegenschädels wurden wieder so schwarz und nichts sagend wie zuvor. Hendrik dachte schon, der Kontakt wäre abgebrochen. Doch dann kam ein kalter Hauch, der ihm die Nackenhaare aufstellte. Die Kerzen auf dem Tisch flackerten. Ein Geräusch näherte sich. Es heulte wie der Wind und miaute wie eine Katze. Dann traf es ihn wie eine Wucht, und er stolperte zurück. Die Kerzenflamme verlöschte, doch in den Höhlen des Ziegenschädels glomm ein Feuer, das den Raum in ein unwirkliches Licht tauchte. "Hendrik, mein lieber Hendrik… nach all den Jahren." "Ihr kennet mich?" "Du hast zu meinen Füßen gespielt, elendiger Wurm." "Es tut mir leid, aber ich kann mich nicht erinnern." "Ein Acker, doch kein Bauer hat ihn bestellt. Ihr sät, doch erntet ihr nichts. Der Boden trägt keine Frucht." "Ihr sprechet in Rätseln." "Du erinnerst dich nicht an mich, aber ich habe nie eine Menschenseele vergessen, die ich gesehen. Deine reine Seele… wird mir gehören, früher oder später." "Was seid ihr?" Der Dämon lachte, dass es Hendrik in den Ohren wehtat. "Dein Tod." Das Feuer war erloschen. Zitternd sprach Hendrik die letzten Verse des Ritus. Jene, die das Tor wieder sicher verschließen sollten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
3,0 (1 Bewertung)
0
0
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Reich

Wunschmünzen

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Wunschmünzen

Wunschmünzen

 

 

 

Thomas Reich

Text: 2009 © von Thomas Reich

 

Cover © https://pxhere.com/de/photo/1324013 mit Änderungen

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

Über das Buch:

 

Mach schon, äußere deinen Wunsch. Dann gehöret deine Seele mir. Wie töricht und unbedacht die Menschen ihre Wünsche doch äußern. Keiner von ihnen bekommt, was er will, ein jeder nur das, was er verdienet. So wenig, wie er vor sich selber fliehen kann, vermag er mir zu entkommen.

Auch du, werter Hendrik. Schwach warst du und eitel. Dies soll deine Sünde sein. Wolltest der Armut Trutzingens entkommen, als wärest du zu Besserem bestimmt. Stiegst auf zum Ritter der Ehrenlegion. Ich blieb der dunkle Funken in deinem Gehirn, der dich stets an dir selbst zweifeln ließ. Und als ein Bote dich in die Heimat berief, habe ich deine Furcht gekostet wie süßen Wein. Auch der Druide wird dir nicht helfen können im Kampf gegen mich. Denn tief im Innern steckest du voll unerfüllter Wünsche. Und ein jeder bringet dich deinem Untergange näher.

I. Golgatha

Draußen bellten die Hunde. Gleich meine Lieben, gleich gibt es reichlich für euch und für mich. Kilian stand in seiner Küche. Seine Nissenhütte verfügte über zwei Zimmer, beide zugig im Winter und unerträglich heiß im Sommer. Dazu gehörten ein uralter Außenabort, sowie die Gatterboxen mit den Schäferhunden. Keine Frau, die dieses rustikale Idyll abgerundet hätte. Kilian blieb lieber alleine. Aber ging es ihm nicht gut? Auf der steinernen Kochstelle brodelte Wasser in einem großen Messingtopf. Fleischbrocken schwammen an der Oberfläche. Dominiert wurde die Wohnküche vom Esstisch aus massiver Buche, den eine wahre Landkarte von Schrammen und Schnitten zierte, da er ihm auch als Hackklotz diente. Darauf thronte ein menschlicher Kopf, die Augen blicklos. Nunmehr Futter für die Hunde. Ein Streuner, weit weg von seiner Herde. Er hatte die Tracht eines Zimmermanns auf Wanderschaft getragen, als Kilian ihn gestern auf der großen Straße angesprochen hatte. Bot ihm Speis und Trank an, wie es Sitte war. Sowie eine Nachtstatt, auf der sein Haupt ruhen konnte. Sein Wams hing er an einen der Nägel, die Kilian als Garderobe dienten.

„Bedien dich nur, die Suppe wird kalt.“

Das ließ er sich nicht nehmen. Gierig löffelte er die heiße Brühe in sich hinein. Seit Wochen hatte sein Magen keine vernünftige Mahlzeit mehr gesehen. Ein regelrechter Heißhunger quälte ihn. Zuweilen rieb er seinen Kehlkopf, weil er zu hastig aß. Er konnte nicht schnell genug schlucken. Wie die Mastgänse, dachte er amüsiert.

„Wie bekommt euch die Wanderschaft?“

„Ganz gut soweit. Ich lerne viele Menschen kennen.“

„Verratet ihr ihnen ihre Träume?“

„Nicht jedem.“

„Und mir, verratet ihr mir eure Träume?“

„Was meinet ihr damit?“

„Was erwartet ihr vom Leben?“

„Ich hoffe darauf, auf meiner Wanderschaft das Weib zu finden, welches ich ehelichen kann, und welches mich bis ans Ende meiner Tage begleitet. Ein Haus mit meinen eigenen Händen bauen. Einen Baum pflanzen. Simple Dinge sind es, nach denen es mich strebt.“

„Gibt es nichts, was eurem kleinen Geiste Kummer bereitet? Ohne Sorgen ist der Mensch nur ein Halber. So sagt man wenigstens.“

„Ihr erzählet es Niemanden?“

„Kein Wort von euch wird meine Hütte je verlassen.“

„Manchmal, wenn ich ganz oben auf dem Gerüst stehe, habe ich Angst, ich könnte das Gleichgewicht verlieren. Wie ich mit den Armen rudern würde. Krampfhaft am Leben festhalten, bevor meine Knochen auf dem harten Grund zerschellen.“

„Eine Angst, wie sie wohl auf viele Zimmerleute zutrifft. Und ihr wäret bestimmt nicht der erste, der dort oben stolperte. Daher auch das Sprichwort: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Sind es nicht die grünen Gesellen wie ihr, deren Leben frühzeitig endet?“

„Ja, mag sein.“

Trotz der Suppe fühlte Jorg sich nicht wohl. Kilian erschien ihm- gelinde gesagt- etwas seltsam. Was erwartete er denn? Ein alter Einsiedler der im Wald lebte, musste kauzig sein.

In einer kleinen Nissenhütte, weit weg von Begriffen gütiger Zivilisation und Menschen, die ihn kennen oder vermissen konnten. Hatte Jorg ihm den Rücken zugewandt. Nichts ahnend lehnte er sich zurück, damit seine Henkers-mahlzeit sich setzen konnte. Hinter ihm stand Kilian, der mit einem Kantholz auf seinen Hinterkopf zielte.

Als er starb, floss ein Rinnsal Brühe aus dem Mundwinkel, eine einzelne Nudel mit sich ziehend. Kilian verräumte stumm die Scherben des Tellers. Keiner da, der ein Wort sprechen konnte. Und damit auch keiner, der ihm eine gute Nacht wünschen würde. Also wünschte er sie sich selbst.

*

Am nächsten Tag die übliche Routine: Waschen und Ausbeinen, Zerlegung des Körpers. Die Vorratskammer war fast leer. Einen Teil des Fleisches würde er pökeln. Kläff Kläff! Die verdammten Tölen! Gaben sie denn niemals Ruhe? Er beschloss, ihnen ein wenig Benimm beizubringen. Doch in seinem Hof standen mehrere Männer. Drei von ihnen rauchten billige kleine Zigarren, von der Sorte, die die Tattergreise vor dem Krämerladen als Stinker bezeichneten. Der Vierte musterte ihn un-verhohlen. Mochten sie sich kleiden wie sie wollten, ihre Gesten verrieten sie als Staats-beamte. Des Landesfürsten Schergen.

„Kilian Suttner, nehme ich an.“

„Ganz recht.“

„Wir haben einen Durchsuchungsbefehl gegen euch vorliegen. Wären Sie bitte so freundlich, uns eintreten zu lassen?“

Sein Grinsen zerbrach im Ansatz. Die ganze Welt war voll von Verrätern. Nie hatten die Dorfbewohner hatten ihm getraut. Egal, wer auch immer den Argwohn gehegt hatte, nun spielte es keine Rolle mehr. Die Schergen des Fürsten würden seine Heimstatt durchsuchen. Und die Überbleibsel der letzten Nacht finden.

„Wollet Ihr mir keine Schellen anlegen?“

*

„Worauf warten wir?“

„Auf Fürst Hagens Depesche.“

„Ihr wisset selbst, wie lange so etwas dauern kann. Der Fürst ist nicht gerade als einer der Schnellsten bekannt.“

„Frevel! Sprecht schlecht von unserem Herrscher.“

„Zum Teufel, ihr kennet ihn! Die Sorgen der Provinzbeamten dringen nicht an sein Ohr, und wenn, dann verhallen sie ungehört. Unsere red-seligen Bürger fordern Kilians Blut. Sehet selbst zum Fenster hinaus, wenn es euch beliebt, der wütende Mob ist mehr als bereit, ihn am nächstbesten Baum aufzuknüpfen.“

„Die Türen werden ihnen standhalten.“

„Aber nicht auf Dauer. Was also gedenket ihr, dem Fürsten zu sagen, wenn sie unser Gerichtgebäude stürmen und selbst Justiz verüben? Dass wir taten- und machtlos daneben gestanden haben? Eine solche Blöße können wir uns nicht erlauben.“

„Was also schlaget ihr vor?“

„Wir pfeifen auf die Depesche und beugen uns dem Willen des Volkes. Tun wir’s nicht bald, werden sie ihrer Wut Luft machen und uns gerade ein paar Bäume weiter aufknüpfen. Wollt ihr das?“

„Nein, natürlich nicht. Woran denket ihr? Ihn noch diese Nacht zu richten?“

„Nein. Wir werden nach draußen treten und ihnen einen Schauprozess vorschlagen. Gleich morgen, zur Mittagsstunde. Das dürfte sie vorerst beruhigen.“

Sparre öffnete die Fensterläden und zeigte dem Pöbel sein Gesicht. Wie Pontius Pilatus, der das Volk über Jesus Schicksal entscheiden ließ. Was galt noch staatliche Autorität? Wenn die Anderen in der Überzahl waren? Die Sprechchöre nicht verstummt, im Gegenteil: Lauter und lauter krakeelten sie nach seinem Blut.

„Bürger, höret mich an!“

„Gib das Schwein raus!“

„Ihr wisset, ich kann es nicht. Doch ich verstehe euren Zorn. Auch mich grauset es in Anbetracht der Bluttaten, die dieser Mann verübet hat. Aber steht nicht auch ihm ein fairer Prozess zu? Wolltet ihr einmal von einem ordentlichen Gerichte beurteilet werden oder von eures-gleichen?“

„Der Tod ist gerade recht für ihn!“

„Darüber werden wir morgen entscheiden. Alle, wie ihr da seid, dürfet ihr daran teilhaben. Volkes Stimme mag über ihn bestimmen. Nun ziehet von dannen und beruhiget eure Gemüter.“

Sparre schloss die Fensterflügel, ein Stein sauste an seinem Kopf vorbei. Er hinterließ ein ge-zacktes Loch in der Fensterscheibe.

„Hoffen wir das Beste.“

*

Die Versammlung wurde unter freiem Himmel abgehalten. Alle Holzbänke im Stadtpark waren bis auf den letzten Sitzplatz besetzt. Unter den altehrwürdigen Eichen saßen Mütter mit ihren Kindern. Picknickkörbe waren zu sehen, gefüllt mit Rinderbrätwecken und Kartoffelsalat. Pflaumenkuchen und gelben Äpfeln. Die Frauen schlürften Kaffee, die Männer hielten sich an schaumiges Gerstenbier. Die Mittagssonne war den Horizont hinauf gekrochen. Über ihren Köpfen hing ein Hornissennest, welches in der Sonne vor sich hin gärte. Ähnlich wie die Stimmung der Menschen. Sparre holte mit seinem Blick aus, angelte hasserfüllte Gesichter und wenig Barmherzigkeit. Wir tun das für sie, und sie wissen es nicht einmal zu würdigen.

„Höret mich an, Bürger von Trutzingen. Wir haben uns heute zusammengefunden, um über die Sanktionierung von Kilian Suttner zu entscheiden.“

„Mortem subito!“

Von allen Seiten erschallten die Rufe. Sparre schwitzte in seiner Uniform. Die Sonne brannte mit all ihrer Stärke herab. Ein einzelner Rabe krächzte in seinem Flug. Ließ sich flatternd auf einem der Bäume nieder und beobachtete das Geschehen. Seine schwarzen Augen musterten Sparre.

„Ich denke nicht daran, ihn sogleich zum Tode zu verurteilen. Scherge Münch wird euch die Beweistümer erläutern.“

Münch breitete die Indizien auf dem richterlichen Tisch aus. Darunter der Schädel des Zimmermannes und diverse fachgerecht zerlegte Fleischstücke. Besser als es Metzger Schöllhans je hingekriegt hätte. Ein angeekeltes Raunen ging durch die Menge.

„Dieses sind die Überreste des Zimmermanns, die wir in Kilians Hütte gefunden haben.“ „Etwas wenig für einen Menschen.“

„Ja, das stimmt. Wollen wir ihn selbst über den Verbleib befragen.“

Sparre führte Kilian in Handschellen heran. Er wurde in einem Käfig gebracht, aus dem weder er heraus, noch ein aufgebrachter Bürger hinein gelangen konnte. Ein breites Haifischgrinsen spannte sein Gesicht. Er hatte nichts mehr zu verlieren.

„Kilian, ist es richtig, dass ihr Jorg Fassbinder getötet habt?“

„Ich bestreite es nicht.“

„Die Schergen fanden bei euch nur Teile seiner Leiche. Was habet ihr mit dem Rest gemacht?“

„Dazu möchte ich schweigen.“

„Ich kann mir gut vorstellen, warum. Weil ihr von ihm gegessen habet. Und an eure Hunde verfüttert. Die Fleischbrocken, die in ihrem Zwinger gefunden worden sind, waren eindeutig menschlicher Natur.“

Die Marktweiber in den ersten Reihen verzogen angewidert die Münder. Jede Woche war er an ihren Ständen gewesen, hatte Gemüse und Kräuter gekauft, sofern er sie nicht selbst anbaute. Er war einer von ihnen gewesen. Der Teufel allein mochte wissen, ob er sie nicht zur Verfeinerung von Speisen menschlicher Herkunft benutzt haben mochte.

Schuldig! Schuldig! Schuldig! Skandierten die Trutzinger ihren Zorn.

„Schweiget! Unser Gesetzbuch spricht ein eindeutig Wort. Wer sinnlos das Blut seines Nächsten vergießet, soll im Namen des Blutes gerichtet werden. Münch?“

„Für Mord gilt die Höchststrafe.“

„Nagel um Nagel, Brett um Brett!“

„So also soll es sein. Einen Zimmermann hat er gerichtet, ein Zimmermann soll ihn richten.“

*

Die Ebene, zu der er sich heute aufgemacht hatte, lag weiter oben. Der Aufstieg war mühsam, da der einzige Weg steinig war. Der restliche Hang war Sand, den die Zeit langsam abtrug. Vielleicht würde es diese Stätte einmal nicht mehr geben. Gegangen mit dem Wind. Dieser wehte kräftig, Sand gelang in die Lunge. Nun wurde er von einem trockenen Reizhusten begleitet. Sein linkes Kniegelenk brannte wie Feuer. Noch zwei Jahre bis zum Ruhestand. Sein Körper, einst zuverlässig wie eine deutsche Eiche, beharrlich allen Beanspruchungen trot-zend, verließ ihn mehr und mehr. Er wurde zu alt für diese Arbeit.

Die Ebene war nicht groß, sie maß wohl zweihundert Ellen in der Länge und dreihundert in der Breite. In ihrer Mitte standen drei Kreuze. Kinder hatten sich eingefunden. Sie waren wie die Ratten, sie kreuchten und fleuchten überall herum, wo es sie nichts anging. Das Strober-mädel hatte einen leinenen Sack dabei, aus dem sie die Raben mit trockenem Brot fütterte. War das Wut in ihren Augen? Genugtuung? Sie gab den Tieren Stärkung, die ihren Vater zer-fledderten. Er hing dort oben, weil er das arme Ding mit der Schande des Blutes besudelt hatte.

Am linken Kreuz hing der alte Kilian. Ansgar schauderte. Dieser unscheinbare Mann hatte wie ein Wolf unter den Menschen gewütet. Vor langer Zeit waren sie zusammen in die Volksschule gegangen. Wie hätte er ahnen können, dass sie sich unter solch unglücklichen Umständen wieder über den Weg liefen? Wie gerne hätte er im Prozess für Kilian ausgesagt, denn er konnte ihn immer noch gut leiden. Aber als Henker stand ihm keine Stimme zu. Er mochte nicht glauben, dass dieses Monster, was die Trutzinger verstießen, einmal ein kleiner Junge gewesen war mit aufgeschürften Knien und fettigen Haaren. Die Zeit war ein grausamer Herrscher, der unvorhersehbare Wege ging.

Auch hatte er ihn alle paar Wochen in seiner Hütte besucht, und mit ihm eine Tasse Tee getrunken. Dabei war ihm nichts Besonderes aufgefallen. Wo sollte er denn die immensen Vorräte an Dörrfleisch verstecket haben, von denen die Bürger hinter vorgehaltener Hand tuschelten? Für Ansgar war Kilian ein friedfertiger alter Mann, der alleine draußen im Wald wohnte. Eher melancholisch als verschroben. Auch nachdem die Leichen auf seinem Grundstück gefunden wurden, war Ansgar zu keinem anderen Gefühle als Mitleid fähig. Obschon er wusste, dass es vielleicht an ihm sein würde, ihn zu richten. Und als er ihm die Nägel in die Handgelenke schlug, dachte er Ich habe ihn nie gekannt. So war es dann auch.

Unter dem mittleren Kreuz spielten zwei Jungen mit Klickerkugeln. Ansgar kannte diese Sorte nicht, sie waren weiß, in ihrem Inneren glomm ein grünliches Licht. Wenn sie gegeneinander prallten, wurde es heller. Offensichtlich handelte es sich doch nicht um Klickerkugeln, vielmehr spielten sie mit Glühkäfern. Kaum hatte er es erkannt, schnipste der Bengel mit den blonden Haaren eines der Tiere gegen einen der Balken, wo es mit knackendem Geräusch verstarb.

„Macht, dass ihr verschwindet, elende Rotz-gören!“

Die Kinder zuckten zusammen, packten ihre Spielsachen und zogen in einer Karawane an ihm vorbei. Keines zog eine Grimasse, und doch mangelte es ihnen an Respekt. Sie waren verdrossen, hatten sie doch das vollste Recht, hier oben zu spielen.

Scharfrichter war ein angesehener Beruf. Sein Vater war einer gewesen, sein Großvater. Eine Familientradition. Die Menschen hatten Ehrfurcht vor ihm, sie achteten ihn als ein notwendiges Übel. Jedoch sein eigener Sohn scherte aus. Er hatte das Handwerk des Bäckers erlernt. Dennoch liebte er ihn. Doch wer würde nach ihm in Trutzingen das Henken übernehmen? Er war schon sehr alt, er würde keinen Burschen mehr in die Lehre nehmen können. Die Zukunft lag anderswo. Die Allmende würde im Fürstentum eine Stelle ausschreiben müssen.

Ansgar seufzte. Er zog den Sack von seiner Schulter und näherte sich den Toten. Mit einer Machete schlug er die Füße ab. Die Körper, nunmehr nur noch von den Nägeln in den Händen gehalten, sackten nach unten. Dabei knackte es ordentlich in den Schultergelenken. Von Leichenstarre keine Spur mehr. Sie hingen drei Tage, mussten Platz machen für die morgigen Hinrichtungen. Mit dem letzten Streich trennte er die Handgelenke durch, die Körper fielen nun zu Boden, wo sie aufplatzten wie reife Früchte. Einige Stücke hatten sich gelöst, was nicht weiter schlimm war. Die Raben flatterten bereits heran. Sie würden die Erde reinigen. Mit einem Brecheisen löste Ansgar Hände und Füße vom Holz. Die Kreuze selber blieben stehen, sie wurden einmal im Monat getauscht. Stehen blieben stets die Fundamente aus Knochen-mörtel, die im Boden eingelassen waren. Zwei von ihnen ragten zu einem großen Teil aus dem bröseligen Boden heraus. Er würde mit Friedhelm sprechen müssen, damit er nach den Fundamenten sah. Ansgar schleppte die Körper zur Feuergrube. Mit einer Handkurbel warf er die Pumpe an, die das Maisöl von den tief darunter verborgenen Tanks zur Anlasserflamme beförderte. Ansgar warf die Leichen in die Blechwanne, drückte einen Hebel. Alles verschwand unter einem Schiebedeckel. Durch das rußige Sichtfenster verfolgte er den Verbrennungsprozess. Stinkende Schwaden quollen aus dem roten Backsteinkamin. Die Dorfbewohner würden wieder Fenster und Türen schließen. Plötzlich richtete sich einer der Körper auf, der halbverbrannte Totenschädel grinste ihn an. Ansgar schrie auf.

II. Murmelspiele

„Was für ein Griesgram.“

„Bei seiner Arbeit kaum verwunderlich.“

Von ihrem liebsten Spielplatz vertrieben, richteten sich die Augen der Buchsbaumpiraten auf Hendrik. Keiner wusste mehr so genau, wie er zu ihrem Anführer geworden war. Wie sie alle zählte er nicht gerade zu den liebsten Kindern des Dorfes. Er war ein Bastard. Wie jeder Anwärter ihrer Gruppe hatte er die harten Aufnahmeprüfungen bestehen müssen, wie sie nur ein grausamer Kinderverstand erfinden konnte. Doch er war anders. Vor ihm waren sie nur eine lose Bande gewesen, die mal zu zweit Fische fing oder einen Ameisenhaufen in Brand steckte. Erst durch seinen Beitritt waren die Buchsbaumpiraten gestärkt worden. Und diesen Rückhalt hatten sie bitter nötig.

Da war die rothaarige Esther. Rufus, der Hütejunge. Der Tritt eines Bocks hatte ihm eine tiefe Narbe verpasst, die sich wie ein Lindwurm durch sein Gesicht zog. Und zu guter Letzt Armin mit dem Klumpfuss. Wobei er vor seinem Sturz ein ganz normaler Junge gewesen war. Keiner redete gerne darüber. Denn teilweise waren sie daran schuld gewesen.

*

Mit einem Zweig zog Armin konzentrische Kreise in das Flussbett. Wie um seine Geste zu unterstreichen, ließ er einige Wellenlinien folgen. Niemand sprach ein Wort. Wie sie gelernt hatten, war es besser, ihn nicht zu stören, wenn er an einer Idee brütete. Keine Not, ihn zu drängen. Zur rechten Zeit würde er das Wort ergreifen. Hendrik mochte ihr Anführer sein, wenn es um die Umsetzung ging. Aber für die Ideen war Armins wacher Geist zuständig. Die anderen Kinder im Dorf mochten ihn nicht, da sie ihn für einen Tagträumer, oder noch viel schlimmer, für einen Einfaltspinsel hielten. Doch gebündelt durch eine Gruppe von Gleichaltrigen... war seine reine Phantasie eine mächtige Kraft.

„Wir irren durch das Gestrüpp wie Glühkäfer, doch bilden wir kein Gewebe von Bestand.“ Er hatte die Augen geschlossen, wie um sie gegen die Sonne zu schützen. Doch das allein war es nicht. Sein Zustand kam einer Trance gleich. Armin besaß die Gabe, sich in sich selbst hinein versenken zu können.

„Sage uns Armin, was sollen wir tun?“

„Wir brauchen eine Unterkunft, wo wir uns treffen können. Wo wir uns vor feindlichem Angriff zurückziehen können. Und wo wir uneingeschränkt über den Wald herrschen können.“

„Denkest du an ein Boot, mit dem wir den Sigurdia abfahren können?“

„Nein, werter Hendrik. Die Buchsbaumpiraten sind die Könige der Lüfte. Was wir brauchen ist ein Baumhaus.“

„Also mir würde das Boot besser behagen.“

„Wenn du mir sagest, wie wir es wasserdicht bekommen. Unter den gegebenen Umständen könnten wir nicht mehr denn ein armseliges Floss bewerkstelligen.“

„Dann stimmt die Mehrheit also für das Baumhaus.“

Während der erhitzten Debatte hatten sie Armin völlig vergessen, der nun endlich die Augen öffnete, als erwachte er aus einem tiefen Traum.