Christoffer III - Thomas Reich - E-Book

Christoffer III E-Book

Thomas Reich

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Beschreibung

** Die Serienmörder-Reihe: Teil I Christoffer, Teil II Blutzoll, Teil III Kellergeschichten, Teil IV Der Lippensammler, Teil V Opferwald, Teil VI Kuckuckskind ** Serienmörder Christoffer ist nur knapp seinen Verfolgern entkommen. Durchnässt bis auf die Knochen steht er am Ufer und lässt seinen Blick über den Horizont streifen. Berlin heißt sein neues Ziel... wo er sich ein neues Leben aufbauen will. Zwischen ihm und dem Bunker, der zum feuchten Traum eines jeden Foltermeisters werden könnte, steht nur die alte Witwe Beerbaum. Während Christoffer mit brutalen Videoclips zum Internetguru avanciert, bricht die Liebe in sein Leben ein, und stellt alles auf den Kopf. Gelingt es seiner Frau Maja, ihn zu bekehren? AB MIT DIR IN DEN HÄCKSLER! In Fötushaltung hielt sie die Arme um ihren Körper geschlungen, als gäbe es aus diesem Alptraum ein Erwachen. Christoffer gönnte ihr eine kurze Phase der Erholung, der Illusion. Ungehindert durchschritt er den Raum, und nahm die Häckselmaschine in Betrieb. Nur, um ihr die Funktionsweise besser veranschaulichen zu können, warf er ein kleines Stück Holz aus dem Garten hinein. Sofort wurde es in Sägespäne verwandelt. Bis dahin hätte es ein weiterer sinnloser Tod werden können; langweilig, farblos, reproduzierbar bis zur Erschöpfung. Doch das Rattern des Mahlwerkes hatte eine Veränderung in ihr ausgelöst, die komisch gewirkt hätte, wenn sie nicht so final gewesen wäre. Sie hatte begriffen, dass der Kerkermeister zwischen ihr und dem Ausgang stand. Ihr Prüfstein, an dem sie sich messen musste. Ihr Gesicht wurde hochauflösend, voller Farbbrillanz. Die Gewalt ihres Angriffs überraschte selbst Christoffer. Für einen kurzen Moment war sie nahe daran, ihm die Augen auszukratzen. Mit den Fingernägeln, die ihr noch blieben, und dem Mut der Verzweiflung, wie ihn auch die Juden im Warschauer Ghetto an den Tag gelegt haben mochten. Aber. Man konnte den Tod nicht aufhalten, nur verzögern. Darin lag die göttliche Gnade, die zu erkennen sie sich stets unwürdig erwiesen. Hatte Christoffer vorhin noch die flache Hand verwendet, ballte er sie jetzt zur Faust. Brach ihr Jochbein und Kieferknochen. Damit nahm er ihr indirekt auch die Lust am Schreien, denn jedes Wort wurde zur Qual. Nicht, dass sie hätte aufhören können zu schreien. Doch ihre Worte bekamen einen blubbernden, verwaschenen Unterton. Er packte sie an den Armen, dünne Stecken wie Kaminbrennholz. "Willst du deine Hände nicht in den Bau stecken, du feiges Kaninchen?"

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Thomas Reich

Christoffer III

Kellergeschichten

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kellergeschichten

Christoffer III:

 

Kellergeschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thomas Reich

Texte 2009 © von Thomas Reich

 

Cover: http://www.publicdomainfiles.com/show_file.php?id=13548499219446 + https://www.pexels.com/photo/3d-blood-chair-damaged-848040 mit Änderungen

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

Über das Buch:

 

Serienmörder Christoffer ist nur knapp seinen Verfolgern entkommen. Durchnässt bis auf die Knochen steht er am Ufer und lässt seinen Blick über den Horizont streifen. Berlin heißt sein neues Ziel… wo er sich ein neues Leben aufbauen will.

Zwischen ihm und dem Bunker, der zum feuchten Traum eines jeden Foltermeisters werden könnte, steht nur die alte Witwe Beerbaum. Während Christoffer mit brutalen Videoclips zum Internetguru avanciert, bricht die Liebe in sein Leben ein, und stellt alles auf den Kopf. Gelingt es seiner Frau Maja, ihn zu bekehren?

Nest ist eine Bezeichnung für Bauten, die von verschiedenen Tierarten hergestellt werden und ihnen als Schlaf-, Wohn- und Brutstätte dienen. Artspezifisch unterschiedlich findet man unter anderem bei Vögeln und Säugetieren gepolsterte Nester, bei Fischen wie Stichlingen Pflanzen- und Schaumnester, bei Insekten zum Beispiel Bienenwaben oder bei Ameisen auch Ameisennester. Das Nest wird für das Gelege, die Brut und zum Schutz der Nestlinge während der Aufzucht verwandt. Einige Vogelarten wie beispielsweise die Teichralle errichten während ihrer Brutperiode mehrere Nestformen, darunter ein Gelegenest, in dem die eigentliche Brut stattfindet und das während der Brutperiode äußerst aggressiv verteidigt wird.

Bei Greifvögeln bezeichnet man das Nest auch als Horst, ein Beispiel dafür ist der Adlerhorst. Oft an sehr unzugänglichen Stellen angebracht, beispielsweise in einer steilen Felswand, hat das Erklettern eines Adlerhorstes, um dort Jungvögel oder Eier zu entnehmen, vor allem in der alpenländischen Volksliteratur eine mythologische Überhöhung erfahren. Dies ist beispielsweise bei Ludwig Ganghofer der Fall, wo diese Tat als Beweis von Manneskraft und Mannesmut dient. Der Begriff wurde später zuweilen auf entlegene Häuser oder Burgen übertragen, von denen aus man eine gute Fernsicht hat.

 

 

Die größte Sammlung von Nestern beherbergt die Western Foundation of Vertebrate Zoology (WFVZ), dort werden 18.000 Nester aufbewahrt.

 

(Wikipedia)

 

*

 

Die Kälte des Wassers, die sich mit Eiszungen in seine Haut grub. Den schweren Wollmantel in einen Betonpanzer verwandelte, der ihn mit in die Tiefe zu ziehen drohte. Sein Gesicht tauchte gefährlich tief unter Wasser, in seinen Ohren dröhnte die Strömung mit seinem Herzschlag um die Wette. Hatte er nicht einmal einen Schwimmkurs besucht bei den Maltesern? Doch wie rettete man sich selbst in tiefster Not? Das brachten sie einem nie bei. Macht nichts, er war es gewohnt, ein Einzelkämpfer zu sein. Zudem sich das kalte Wasser als ein wahrer Segen für die Schusswunde in seiner Schulter erwies. Bestimmt nur ein Streifschuss. Denn sonst würde er stärker bluten. Mit Wunden kannte er sich gut aus. Wie oft hatte er sie anderen Menschen zugefügt?

Mühsam reckte er seinen Hals aus dem Wasser. Erstaunlich, wie weit ihn der Rhein mitgerissen hatte. Sein alter Widersacher war nicht mehr zu sehen. Christoffer hatte einen Heidenrespekt vor den Naturgewalten. Wohl, weil sie ein Teil dieser Welt waren, den er nicht beherrschen konnte. Ein sehr kleiner Teil, wohlgemerkt. Wer ihm etwas vormachen wollte, musste mit allen Wassern gewaschen sein. Was er nun war. Nicht nur mit Strömen aus Blut, durch die er sie geleitet hatte, wie der Fährmann seine Gäste durch den Hades. Nicht, dass auch nur eine seine Gastfreundschaft zu würdigen gewusst hätte. Nein, geschrien hatten sie, als wären sie mit dem Teufel im Bunde.

Lange konnte er sich den Luxus nicht leisten, sich einfach treiben zu lassen. Schon bald würde die Meute ihre Spürhunde auf ihn ansetzen. Vor allem musste er aus dem Wasser raus, bevor seine Kräfte schwanden. Schutz suchen auf einer nahen Aue. Verborgen von einem Heer aus Schilfsoldaten. Persönliche Verbündete in seiner privaten kleinen Schlacht. So zog er sich am Ufer hoch, die Hände voller Schlick, schwer atmend. Kleine Lichter tanzten vor seiner Stirn, bis er wieder an Fassung gewann. Entgegen aller Erwartungen machte ihm die Kälte hier mehr zu schaffen. Er zitterte, als gäbe es kein Morgen. Müdigkeit stahl sich in seine Augen. Er durfte dem Impuls nicht nachgeben. Sonst würden seine Häscher ihn wieder einfangen. Als er sich wieder einigermaßen sicher befand, erkundete er das Terrain seines neuen Lebens. Hier würde er wiedergeboren werden. Vielleicht nicht als Christoffer. Aber Namen waren nur Schall und Rauch gewesen in seiner Laufbahn. Nicht wirklich wichtig. Sofern er selber wusste, wer er war. Er würde sich über kurz oder lang einen neuen Namen suchen müssen.

Mühsam befreite er sich aus seinem Mantel. Auch auf die Gefahr hin, die Trocknungsperiode unnötig zu verlängern, wusch er ihn im Fluss. Die Schlickspuren mussten verschwinden, wenn er nicht auffallen wollte. Einen Tod musste man sterben. Entweder die Kälte oder die Gefahr, aufzufallen. Auch um seine Wunde musste er sich kümmern. Zum Glück war auf die Nachlässigkeit der Umweltverschmutzer Verlass. So musste er nicht lange suchen, bis er auf ihre erste Hinterlassenschaft stieß, die ihm zu Nutzen sein konnte: Eine Einkaufstüte aus Plastik, deren Zugehörigkeit zu einem Konsumtempel man nicht mehr nachvollziehen konnte. Ausgebleicht von der Sommersonne. Konnte er sie in Streifen reißen, um einen behelfsmäßigen Verband anzufertigen. Um Wundbrand machte er sich ausgesprochen wenig Sorgen. Welchen Quacksalber hätte er auch aufsuchen können, um sich Antibiotika zu besorgen? So vertraute er auf die heilende Kraft von Spitzwegerich, den er am Wegesrand fand. Sollte sie seine Verletzung heilen. Aus den Plastikstreifen fertigte er einen behelfsmäßigen Druckverband. John J. Rambo würde vor Neid erblassen.

 

*

 

Er musste zusehen, dass er schnell von hier fort kam. Wer rastet, der rostet. Ein hastiger Griff an die Gesäßtasche. Nein, seine Geldbörse war noch da. Prall gefüllt mit der Barschaft seines letzten Opfers. Er hatte schon Angst gehabt, sie könnte in den Fluten verloren gegangen sein. Damit würde er fürs Erste gut über die Runden kommen. Aber auf der Flucht war Geld genauso flüchtig wie er selbst. Er würde sich schnell wieder eine sichere Nische im Gefüge der Gesellschaft suchen müssen. Wo er leben konnte wie die Made im Speck. Sofern das eindringende Wasser die Noten nicht völlig unbrauchbar gemacht hatte. Früher musste eine Bank den Gegenwert ihrer Einlagen jederzeit in Gold auszahlen können. Heutzutage waren die Werte, für die unsere Eltern sich noch den Buckel krumm geschuftet hatten, nicht einmal das Papier wert, auf dem sie gedruckt wurden. Der lederne Einband war klatschnass, aber die Feuchtigkeit selbst hatte das Innere nicht erreicht, wo es wirklichen Schaden anrichten könnte. Mit viel Glück würde es auch so bleiben. Falls seine Barschaft zusammenklebte, konnte er immer noch auf großdeutsche Gewährleistung setzen. Dass jedes Bankinstitut dazu verpflichtet war, beschädigte Geldnoten zu tauchen. Manche allerdings machten diesen Service davon abhängig, ob man Kunde bei ihnen war oder nicht.

Der Schilfteppich ging sehr schnell in Grasland über. Wieder eine Böschung zu besteigen. Am liebsten hätte er den schweren Mantel ausgezogen, der ihn beim Laufen stark behinderte. Doch dann hätte er sich in der winterlichen Luft den sicheren Tod geholt. Wenn er in Bewegung blieb, konnte er verhindern, dass sich Eiskristalle in den Tuchfalten festfraßen. Im stillen Licht einer frühen Dämmerung klapperte er mit den Zähnen wie eine Feldmaus, die sich in einer Dose verfangen hatte. Er wusste nicht, wo er sich befand. Am Ende des Ödlandes, welches die Schneeverwehungen der letzten Tage trug, konnte er die Asphaltspuren einer nahen Bundesstraße ahnen. Das Dröhnen der Berufslaster. Für ihn ein sicherer Hafen. Denn Trucker gehorchten den Gesetzen der Straßenritter. Einer von ihnen würde ihn sicher mitnehmen.

 

*

 

Dankbar hielt er seine klammen Finger über das Gebläse der Klimaanlage. So langsam kehrte Gefühl in seine tauben Fingerspitzen zurück.

„Junge, kannste froh sein, dass ich dich aufgegabelt habe. Noch eine halbe Stunde später, und du wärst ein Eiszapfen am Straßenrand gewesen. Was zum Teufel hat dich denn in einer solchen Nacht nach draußen getrieben?“

„Ein albernes Kapitel mit einer Frau, das ich beendet habe.“

„Und wie kommt es, dass du von oben bis unten durchnässt bist?“

„Wie gesagt, eine unsägliche Dummheit. Ich wollte mich ertränken.“

„Willst du darüber reden, was dich dazu getrieben hat?“

„Nicht wirklich. Wir haben uns gestritten, wie so viele Male zuvor. Ich habe meine Hand erhoben.“

„Kein Mann sollte eine Frau schlagen. So jedenfalls lautet mein Motto.“

„Auch nicht, wenn sie ihn mit ihrer spitzen Zunge provoziert?“

„Frauen können ein echtes Übel sein.“

„Wem sagst du das?“

Wolfgang war ein echter Mann der Straße. Im chaotischen Sammelsurium seiner Fahrerkabine fand sich auch eine Thermoskanne schwarzer Kaffee. So stark, dass es Christoffer die Geschmacksnerven zusammenzog.

„Wohin darf die Reise gehen?“

„Weiß ich noch nicht. Ein neues Leben anfangen. Wohin die Straße mich trägt.“

„Meine Tour geht bis Hannover.“

„Klingt ganz gut, denke ich. Was transportierst du eigentlich?“

„Schweinehälften.“

Unwillkürlich musste Christoffer kichern. Aus dem Kichern wurde Gelächter. Am Ende kämpfte er mit den Tränen.

„Was ist daran so verdammt komisch?“

„Ach nichts.“

Ohne es zu wissen, hatte der Trucker gerade seine Überlebenschancen um ein Vielfaches erhöht. Das war einfach zu gut. So wie einem König die goldene Kutsche zustand, war ein Schweinetransporter für ihn das ideale Fortbewegungsmittel. Er hätte es selbst nicht besser wählen können. Zufrieden lehnte er sich zurück und versuchte, ein paar Stunden zu schlafen.

 

*

 

In Hannover stieg er in der Nähe des Bahnhofs aus. Doch bevor seine Reise weitergehen konnte, musste er sich eine neue Optik zurechtlegen. Christoffer, der Schauspieler. Der nur zufrieden war, wenn er eine Rolle spielen konnte. Doch während die Darsteller auf Theaterbühnen gerne Bösewichter spielten, lag für Christoffer darin kein Reiz. Er konnte seinem Alltag nur entfliehen, wenn er den normalen Menschen von der Straße gab.

Er suchte das Viertel ab auf eine Tankstelle, die zu dieser Zeit schon geöffnet war. Für Supermärkte war es noch zu früh. Da schwelte seit Jahren ein Diskurs in Deutschland über längere Öffnungszeiten, und nicht einmal eine Großstadt wie Hannover öffnete ihre Pforten rund um die Uhr. In der Shellstation an der Wilhelmstrasse fand er eine Packung Einmalrasierer und Rasierschaum. Für den Aushilfskassierer der Nachtschicht war er nur ein übernächtigter Mann, der sich der Stoppeln vergangener Tage entledigen wollte. Doch Christoffer wollte viel mehr. Nämlich sich der Identität der letzten Monate entledigen.

„Kann ich ihre Toilette benutzen?“

„Die finden Sie hinter dem Gebäude, gleich neben dem Eingang zur Waschstraße.“

„Vielen Dank.“

Dass er ohne Spiegel arbeiten musste, machte die Sache sehr umständlich. Tja, eine Frau hätte zumindest einen Schminkspiegel in der Handtasche bei sich gehabt. Da war nix zu machen. Also schäumte er seinen Schädel ein, zwang seine Hand, ihr Zittern zu unterlassen. Bahn um Bahn verschwanden seine Haare. Mit großem Ekel reinigte er den Rasierer im Toilettenbecken. Als er fertig war, polierte er seine neue Platte mit Klopapier. Begutachtete das Ergebnis im Spiegel über dem Waschbecken. Er war alt geworden… mit neuen Falten um die Mundwinkel. Erste Krähenfüße zeichneten sich an den Augen ab. Viel zu lange hatte er von sich selbst gezehrt. Immer auf der Flucht. Vor Menschen, die ihm seine Selbstverwirklichung verweigerten. Er wirkte wie ein verschlagener alter Kater, der so mancher Maus das Fell abgezogen hatte. Und gleichzeitig wie ein neugeborenes Baby, dass die Welt aus wissbegierigen Augen betrachtete. Am Hinterkopf ertastete er ein paar üble Scharten, wo er mit dem Rasierer ausgerutscht war. Wirklich ärgerlich. Er tupfte sie so gut es ging mit Klopapier ab. Vornerum hingegen war es einfacher. Mit geübten Strichen schabte er seine Bartstoppeln herunter, sparte aber die Oberlippe aus. Warum nicht einen Schnauzer wachsen lassen? Alles war offen, nichts geklärt. Damit auch nichts festgelegt. Seine Identität in der Schwebe, nicht mehr denn ein trockenes Blatt im Herbst, das der Wind dorthin trug, wo es ihm gefiel.

Draußen traf ihn der kalte Hauch des Winters mit ungebremster Härte. Was eine wenige Zentimeter dicke Haarschicht doch für einen Unter-schied machte! Er würde im Bahnhofskiosk eine heiße Schokolade trinken. Jetzt bloß keine Erkältung!

 

*

 

Christoffer studierte die Fahrpläne. Berlin klang verführerisch. Eine Stadt mit kriegerischer Vergangenheit. Viele dunkle Hinterhöfe. Verlassene und heruntergekommene Miets-kasernen aus DDR-Beständen. Die alten Arbeiterviertel aus Kaiser’s Zeiten.

Seinen Kopf bedeckte nun eine schwarze Strickmütze von Hannover 96. Dazu der passende Schal mit dem gleichen Logo. Nicht, dass er ein großer Fußballfan gewesen wäre. Aber sie hielt seinen Kopf warm. Er konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Es war vielleicht nicht die richtige Jahreszeit für eine Verkleidung dieser Art. Aber sie war die erstbeste, die ihm einfiel, und somit die Richtige. Aus einer reichhaltigen Vielfalt billiger Sonnenbrillen und Lesebrillen wählte er ein Modell, welches eher für trübe Tage gedacht war. Oder einfach nur für Vorstadtjugendliche, die in der Disko ihren Mangel an greifbaren Zukunftsperspektiven kaschieren wollten. Glänzende Chrombügel. Oben verlief ein grauer Schatten über den Rand wie die Windschutzscheibe eines Kaffeefahrten-Mannschaftsbusses. So ausstaffiert wagte er sich in das träge Rinnsal der ersten Pendler. Machte ein morgengraues Gesicht, die Miene finster verhangen von Gedanken an eine imaginäre Arbeitsstelle, quäkende Kinder und eine verfettete Ehefrau im Morgenmantel. Seine Mimikry beschränkte sich nicht auf Äußerlichkeiten allein. Nein, er malte sich eine komplette Persönlichkeit mit passendem Lebenslauf aus. Gerade die Improvisation machte ihn glaubwürdiger, so wie oft auch ein Laiendarsteller die Akteure auf der großen Bühne in den Schatten stellte.

Sobald er wieder ins Warme kam, steckte er die Strickmütze in seine Manteltasche. Gerne hätte er sich einfach abseits in den Gang gestellt. Wie ein Zugestiegener, der den ICE bald schon wieder verließ. Er vermisste eine Aktentasche, die ihn möglicherweise als einen Angehörigen des Bürokratenstammes gekennzeichnet hätte. Laut Fahrplan dauerte die Reise vier Stunden. Er würde also gegen neun Uhr fünfzehn in Berlin eintreffen. Je nachdem, wie es um die übliche Verspätungsrate der deutschen Bahn stand. Nein, viel zu lange! Er musste die Batterien neu aufladen. Es geschah nicht alle Tage, dass man angeschossen wurde und fast ertrank. Oder an der Straße erfror. Wie viele Stunden lag eigentlich seine letzte Mahlzeit zurück? Ihm gegenüber saß eine Frau in den Sechzigern, hellbrauner Popelinemantel und lange graue Haare, die im Nacken zu einem strengen Zopf zusammengezurrt waren. Ihre sackartige Handtasche schien wie gemacht zu sein für den Überlebenskampf im Strickwarengeschäft. In ihrem Schoß hatte sie die aktuelle Bildzeitung ausgebreitet. Christoffer stockte der Atem, als er die Überschrift auf Seite zwei entdeckte.

 

 

 

Brutaler Serienmörder auf Flucht erschossen

 

(Bad Honnef/dpa) Aufatmen in Polizeikreisen. Vor achtzehn Monaten brach Christoffer H. aus der Haftanstalt Duisburg aus (Wir berichteten). Daraufhin zog er weitgehend unbehelligt eine Schneise der Gewalt durch halb Europa. Erst eine Kooperation von Interpol mit seinem ehemaligen Psychiater Doktor Magnus Sommerberg führte zu einem Erfolg. Zusammen gelang es ihnen gestern, ihn auf dem Gelände der Rheinklinik zu stellen, wo er Evelyn S., eines seiner ehemaligen Opfer, in eine Falle zu locken versuchte. Dabei kam es zu einem Schusswechsel, den am Ende nur Doktor Sommerberg allein überlebte. Christoffer stürzte bei seiner weiteren Flucht eine Böschung hinunter. Sein Leichnam konnte bislang nicht gefunden werden. Die Polizei geht davon aus, dass er im Fluss ertrunken ist.

 

Erstaunlich, wie schnell die Presse zu Gange war. Mehrere Fotos schmückten den Artikel. Christoffer erkannte: Ein unscharfes Photo des Rheinufers. Das Phantombild, mit dem nach ihm gefahndet wurde. Die grässliche Aufnahme, die man damals von ihm im Gerichtssaal erstellt hatte. Unterschieden sich doch wesentlich von seinem neuen Ich. Vor allem genoss er einen entscheidenden Vorteil: Man hielt ihn für tot. Kein Mensch versuchte, sein Gesicht auf der Straße zu finden. Mochte er sie noch einmal zu trügen?

Die alte Dame sah von ihrer Zeitung auf. Offensichtlich hatte sie doch etwas gegen Passivleser. Was sonst hätte den Misston in ihrem Blick erklären können? Oder die Studenten zwei Reihen weiter, die die Kopfhörer ihrer MP3-Player herausnahmen?

„Sagen Sie mal, ich kenne Sie doch?“

„Tut mir Leid, da müssen Sie sich irren.“

„Wenn ich nur wüsste, woher...“

„Bedaure, aber ich sehe Sie heute zum ersten Mal.“

Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Verdammt, da war es kaum ein paar Stunden her, dass er bis auf die Knochen durchgefroren war, doch mit einem Schlag wurde ihm heiß. Nackte Panik spielte Xylophon auf seinem Rückgrat.

„Natürlich! Manchmal liegt es einem auf der Zunge, nicht wahr? Man kommt und kommt einfach nicht darauf.“

Er überlegte sich, wie er die Frau unter einem Vorwand von ihrem Platz locken und aus dem fahrenden Zug werfen konnte. Oder die Notbremse ziehen, und sich aus dem Staub zu machen. Kopf oder Zahl. Zahl und und stirb, verdammtes Aas! In seinen Gedanken drehte sich eine Silbermünze, schlug unablässig Kapriolen. Wie würde die Entscheidung ausfallen?

„Horst Lichter! Ihre Kochsendung hat mir immer gut gefallen.“

Erleichtert sah Christoffer sich um. Er konnte sogar den Studenten wieder zulächeln, die ihn eben noch misstrauisch beäugt hatten. Nur eine alte Frau, die nicht mehr so gut auf den Augen war. Nichts aufregendes, kein besonderes Ereignis, dass sie ihren Freunden simsen konnten. Christoffer beschloss, die alte Frau in ihrem Glauben zu lassen.

„Ich wäre ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie es nicht an die große Glocke hängen würden. Bevor andere Reisende davon Wind bekommen. Privat scheue ich die Öffentlichkeit eher und bleibe gerne unerkannt.“

„Selbstverständlich, Herr Lichter.“

„Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich würde gerne den Speisewagen aufsuchen.“

„Ist einem Mann ihres Formates das Essen auf Reisen nicht zuwider?“

„Ach wissen Sie, man kann sich nicht immer ein Vesper mitnehmen. Zumal es manchmal auch sehr lehrreich sein kann.“

„Wie meinen Sie das?“

„Aus Fehlern lernen.“

 

*

 

Christoffer verzichtete auf jeglichen Schnick-schnack wie Vorspeise oder Nachtisch. Warum allzu lange um den heißen Brei herumreden, anstatt lieber gleich zur Sache zu kommen? Er hielt sich an Rindsroulade mit Holundermöhrchen an Pommes Gratin. Entgegen seiner Erwartungen schmeckte das Angebot der Bahn besser als sein öffentlicher Leumund. Christoffer wählte dazu einen trockenen Merlot. Liebend gerne hätte er auch eine Kerze aufgestellt. Allerdings verweigerte der Kellner ihm seinen Wunsch. Wohl aufgrund der Brandgefahr. Dazu ruckelte der Zug einfach zu stark. Aber letzten Endes brauchte er wie gesagt keinen Schnick-schnack, um seine Wiedergeburt zu feiern. Er war und blieb ein Genussmensch. Bald schon würde er bedeutend kleinere Brötchen backen müssen.