Augenficker - Thomas Reich - E-Book

Augenficker E-Book

Thomas Reich

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Beschreibung

TRÄNEN SIND DAS BESTE GLEITMITTEL Er bringt dich zum Weinen. Leckt deine Wange, schiebt das Glasauge zärtlich beiseite. Dann knüpft er sich dein Augenloch vor! Rafael Glubsch betreut die Blindenwerkstatt der EUTHANA. Wo es von Bürsten bis Bürsteln nur ein schmaler Grat ist. Auch zuhause steht es nicht zum Besten. Kann Rafael den erotischen Verlockungen seiner sehbehinderten Schwester widerstehen? Oder verfällt er dem trüben Murmelspiel? AUGENWÄSCHE "Kannst du mir bei meinen Augen helfen?" "Was soll ich tun?" "Sie sind seit drei Tagen drin. Mir jucken die Höhlen ganz fürchterlich. Du kannst mir helfen, sie zu putzen. Ich habe eine spezielle Reinigungslösung." Miriams Löcher juckten. Sie konnte kaum erwarten, dass Rafael Hand anlegte. Wenn es eine Aufforderung zur Erektion gab, dann diese. "Soll ich sie dir raus drücken?" "Nein, du würdest mich verletzen. Lass dir von einer erfahrenen Frau zeigen, wie das geht." Fräulein Hirbel schob die Fingerspitzen zwischen ihre Schamwimpern. Nass gluckerte darunter ein Brunnen der Geilheit. Tränen kullerten, der erste Tropfen Mösensaft. "Hab ich euch Schlingel endlich." Feucht kullerten ihre blauen Augen in Rafaels Hände. Starrten ihn an. Glubsch registrierte feinste Äderchen und eine makellose Pupille. Wie gut die Ausführung dem Prothesenbauer gelungen war. Solche Schätzchen mussten ein Vermögen kosten. "Und was mache ich jetzt?" Rafael zitterte am ganzen Leib. "Sieh mich an." Wenn du lange genug in einen Abgrund starrst, starrt der Abgrund zurück. Fleischig rot lag ihre Weiblichkeit ausgebreitet wie Löcher einer Bowlingkugel. Er musste nur Zeige- und Mittelfinger hineinstecken. Oder seinen hart pochenden Schwanz. "Gefällt dir, was du siehst?" "Du machst mich verlegen." "Sind doch nur Löcher. Hat ein junger Mann wie du noch kein weibliches Augenloch gesehen?" "So direkt nie." "Und jetzt... wasch meine Augen." Schmutzige Gedanken fluteten seinen Kopf, machten ihn sprachlos. Rafael zögerte. Miriams Augen waren aus dünnem Glas, sie wirkten zerbrechlich. "Sei nicht so schüchtern, fass sie an."

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Thomas Reich

Augenficker

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Augenficker

 

 

 

Augenficker

 

 

 

 

 

Thomas Reich

 

Text 2018 © von Thomas Reich

Coverphoto © https://pxhere.com/en/photo/421484 mit Änderungen

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

 

Über das Buch:

 

TRÄNEN SIND DAS BESTE GLEITMITTEL

 

Er bringt dich zum Weinen. Leckt deine Wange, schiebt das Glasauge zärtlich beiseite. Dann knüpft er sich dein Augenloch vor! Rafael Glubsch betreut die Blindenwerkstatt der EUTHANA. Wo es von Bürsten bis Bürsteln nur ein schmaler Grat ist. Auch zuhause steht es nicht zum Besten. Kann Rafael den erotischen Verlockungen seiner sehbehinderten Schwester widerstehen? Oder verfällt er dem trüben Murmelspiel?

Lutschbonbon

Dimitrios Glubsch erwachte aus dem süßen Schlummer aller Berufsalkoholiker, die sich für ein kurzes Nickerchen auf dem Sofa niederließen. Das gerippte Unterhemd war ihm über den Bauch gerutscht, und entblößte störrische Borsten. Im Bauchnabel hing ein Wollnest blauer und gelber Fasern. Was man als Unterwäsche trug oder Pullover, landete in der Körpersenke des Lebens, und wurde zum Ball. Seine Wangen hingen schlaff nach unten wie einem Mann Ende fünfzig, doch Dimitrios war wesentlich jünger. Seine Kinder machten ihn fertig, und natürlich der Alkohol. Nur mühsam hatte er den Heimweg gefunden.

*

Der Kiosk MORGENRÖTE war Dimitrios zweite Heimat. Man traf Kumpels vom Bau und Flaschner mit halbleeren Flaschen. Der Besitzer war ein wortkarger Türke mit breitem Erdoganbart. Er verkaufte Honiggebäck und weißen Nougat an Landsleute, sowie Schnaps für die Ungläubigen. Jägermeister, Dornkaamp, Hausfrauenglück. Tarek schrieb an, er war ein feiner Mann. Hielt die Menschen am Laufen, armselige Maschinen aus Ängsten und Nöten.

„Na Dimi, alles klar?“

„Muss. Hast Retsina da?“

„War denn schon Zahltag?“

„Das nicht, aber kannst du-“

„...anschreiben?“

„Du bekommst es zum Ersten.“

„Wie, immer Glubsch.“

Er wusste welchen Stoff der Kiez brauchte, und reichte stets die passende Flasche dazu. Bei ihm kehrten die Rattenköpfe ein, nagten an Salzstangen, und und rauchten Kette dazu. Dimitrios erinnerte sich noch an eine Debatte über das Spardiktat der EU-Junta in Athen. Darauf folgte ein Filmriss mit Popcorn für die Zuschauer in der ersten Reihe. Seine schweren Stiefel landeten polternd im Hausflur, die Jacke verfehlte den Garderobenhaken um einen halben Meter. Nicht schlecht für einen vom Weg abgekommenen Marathonläufer. Im Olymp reservierten die Götter einen Platz für ihn, gleich neben Zeus Thron. Zuhause angekommen gab die Nachmittagssonne Dimitrios den wohlverdienten Rest, der Fernseher brabbelte sinnlos vor sich dahin.

*

Seine dicke Brille lag auf der Fernsehzeitung. Blind wie ein Maulwurf stocherte er mit zitternden Fingern über den Tisch, bis er das vertraute Gestell zu fassen bekam. Dimitrios setzte es auf, und die Welt bekam Konturen. Das Wohnzimmer war ein Schweinestall, und roch kaum besser. Die Welt ging vor die Hunde, und Dimitrios Glubsch servierte ihr Pansen. Bittere Magensäure schnitt ihm die Luft ab. Rülpsend fand er in eine schwankende Realität zurück.

„Scheiße, ist das spät.“

Er hatte Nachrichten und Wetterbericht verschlafen. Dimitrios war bekennender Metaxaholiker. Nur Anisschnaps konnte das dumpfe Gefühl in seinem Kopf lindern. Früher reichten ihm ein paar Gläser Retsina zum Abendbrot. Er tunkte sein Knoblauchbrot in Zaziki, und war glücklich. Leckte gelbes Olivenöl von den Schwielen seiner Hand. Er arbeitete am Band. Man verdiente nicht viel als Ungelernter, doch es reichte eine Familie zu ernähren. Das waren die goldenen Zeiten vor Gerhard Schröder und den Hartzreformen. Danach ging es mit Deutschland und seiner Ehe bergab. Dimitrios verlor seinen Job, und hangelte sich von Zeitarbeit zu Zeitarbeit. Wenigstens gehörte ihnen das Haus. Die Zimmer stanken nach Schnaps und alten Socken. Er schwor sich, dringend einmal zu lüften. Dieser Vorsatz hielt selten länger als das nächste Glas, die Wohnung stank weiter vor sich hin. In der Küche türmte sich dreckiger Abwasch in der Spüle. Dimitrios nahm es kaum wahr. Richtig nüchtern war er seit Jahren nicht.

„Wo stecken die Rotzblagen?“

Verdächtig ruhig lag die Wohnung vor ihm. Ecken gesplitterter Glühbirnen vereinigten sich zu einem dunklen Teich. Dimitrios ging Kinderangeln.

„Rafael? Kassandra?“

Er war nicht zum Vater geboren. Dankbar überließ er die Kindeserziehung seiner deutschen Frau Regina. Dann starb sie unvermutet bei der Geburt ihres zweiten Kindes. Dimitrios fügte sich in die Rolle des alleinerziehenden Vaters, und zerbrach daran. Einen Großteil der Erziehung bewältigten die Blagen selbst. Das raue Leben schleift den Kiesel rund. In der Küche waren sie nicht. Auch nicht in Bad oder Toilette. Hinter der Kinderzimmertür hörte er unschuldiges Kichern.

„Jetzt sind sie blind wie du.“

Die Geburt von Tochter Kassandra war ein herber Schicksalsschlag für die Familie Glubsch. Mutter Regina starb am hohen Blutverlust, das Kind erwischte die unsanfte Klinge der Geburtszange, und wurde schwer verstümmelt. Ihre Augen konnten in einer mehrstündigen Operation gerettet werden, doch Kassandra blieb zeitlebens blind.

*

Das Kinderzimmer sah aus wie ein Schlachtfeld. Spielpuppen und Plüschtiere lagen wild verstreut. Lose Fäden blitzten aus ausdruckslosen Gesichtern, ein wildes Tier hatte ihre Augen ausgebissen. Dieses wilde Tier war sein zehnjähriger Sohn mit dicken Backen.

„Nicht einmal fünf Minuten darf man euch alleine lassen!“

„Du hasd deim Rausch auschgeschlafm.“

„Gleich fängst du eine, vorlauter Bengel!“

Rafaels Stimme klang undeutlich, als lalle er. Dabei hatte Vater sämtliche Alkoholvorräte sicher vor seinen Kindern weggeschlossen. Nicht aus Fürsorge, sondern Selbstschutz. Bevor die unerzogen Gören ihm seine einzig wirksame Medizin wegsoffen.

„Was hast du da im Mund?“

„Nifd.“

„Spuck es aus, dann wirst du dich wohler fühlen.“

„Neim.“

Zwischen Rafaels Zähnen zwinkerte ein braunes Puppenauge. Vor dem Tod seiner Mutter war der Junge wunderbar. Seit dem Tod seiner Mutter war er sonderbar. Rafael spielte oft allein. Stritt in einer Lautstärke mit imaginären Freunden, die selbst den Küstennebel von Dimitrios Schnapsflasche durchdrangen. Und jetzt hatte er Kassandras Spielzeug zerfetzt. Nicht aus Neid oder Not heraus, sondern reiner Bosheit.

„Komm her du Hund!“

Der erste Schlag traf den Jungen im Nacken. Er spuckte das Glasauge auf den Teppich, und Fragmente seiner zersplitterten Schneidezähne. Von allen Milchzähnen schmerzte dieser Verlust am meisten. Auch Rafaels Zungenspitze war ein Stück kürzer geworden. Er spürte sein eigenes Blut tief im Rachen, und nach Eisenspänen schmeckende Panik. Vater verlor die Kontrolle, was immer öfter passierte. In diesem Zustand unterschied er weder Freund noch Feind. Jeden hätte er niedergeknüppelt, auch sein eigen Fleisch und Blut. Dimitrios nahm seinen minderjährigen Sohn in den Schwitzkasten, würgte ihn hart. Vaters scharfer Atem brannte in Rafaels Augen. Sterne implodierten im lebensfeindlichen All, bunte Supernoven. So schön dachte er, während seine Sinne schwanden. Seine Kehle schrumpfte auf die Größe eines Stecknadelkopfs. Rafael verlor das Bewusstsein, aber es machte ihm nichts aus. Vater liebte ihn. Und was man liebt, das züchtigt man.

*

Gefangen in der Dunkelheit hörte Kassandra Vater und Bruder keuchen. Vater brüllte in Wirtshausstärke Flüche und Verwünschungen, die kaum für ihre jungen Ohren gedacht waren. Kassy fühlte sich hilflos. Was konnte ein blindes Ding wie sie schon tun, um ihren Bruder zu retten?

„Ich bring dich um!“

Immer schwächer wurde Rafaels Gegenwehr. Seine Arme baumelten schlaff herunter. Aus rot wurde blau. Aus blau schwarz. Sein Gesicht zeigte das grausige Kaleidoskop des baldigen Erstickungstods. Kassandra warf ihr zartes Gewicht dazwischen.

„Hört auf, alle beide!“

Rafael spuckte Knopfaugen wie ein Spielautomat Glücksmünzen. Mit jedem sauren Rülpser kam ein weiteres Augenpaar hoch. Aus den schmerzhaften Ringen um seinen Hals würden dunkelblaue Male wachsen. Angewidert stieß ihn der Alte ab, Rafael prallte gegen die Tapete mit den Clownsmotiven, und drückte seiner Schwester die Luft aus den Lungen.

„Nun schau dir die Sauerei an. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“

„Muss ich wieder zum Psychologen?“

„Ja, mein Kind. Aber diesmal gehen wir zu einem anderen Doktor. Der letzte hat nichts gebracht.“

„Schade. Ich mochte die Bauklötze in der Kinderecke.“

„Wir kommen nicht wegen dem Spielzeug, sondern damit du aus deinen Fehlern lernst.“

Welche Fehler der Vater machte, kam nie zur Sprache. Oder die abwesende Mutter in ihrem feuchten Grab. Mit schmerzenden Würgemalen ging Rafael zu Bett. Morgen früh würden sie dunkelviolett unter seinem Kragen leuchten, und im Rhythmus seines verängstigten Herzschlags pochen. Vater war ein wütender Gott mit festen Händen. Der ihm und seiner Schwester die Grenzen von Moral und Anstand aufzeigte. War es seine Moral? War es sein Anstand? Waren diese Werte allgemeingültig? Oder verblassten sie wie ein ausgeschalteter Fernseher, wenn Vater einmal nicht mehr war? Mühsam fand Rafael Schlaf, die Atmung machte ihm zu schaffen und der Gedanke an dutzende Augenpaare. Er spielte gern mit ihren Tieren. Er spielte gern mit seiner Schwester.

*

Und weiter ging die ruhmreiche Odysee, von Kinderpsychologe zu Kinderpsychologe. Wie Homers Held legte Rafael an verschiedenen Küsten an. Kämpfte gegen innere Dämonen, oder ließ sein Hirn mittels bunter Pillen auf Werkszustand zurückstellen. Rafael vermisste die Bauklötze von Doktor Hugger. Es gab gelbe Steine für die Wände, blaue für Türen und Fenster. Aus irgendeinem Grund fehlten immer ein paar rote Steine, um das Haus zu vollenden, so dass die Hütte einen Dachschaden beibehielt. Frau Hugger beobachtete jeden seiner Schritte, und machte sich Notizen. Keine Ahnung, was sie in ihm sah. Ein spielendes Kind? Einen künftigen Architekten? Einen Psychopathen mit wachsenden Neigungen? Ihre grauen Augen hinter der Schildpattbrille blickten trüb wie Schwesterleins blinde Murmeln. Auch mit denen durfte er nicht spielen. Oder denen ihrer Puppen und Plüschtiere. Alles was er tat, hielt Vater für krank und gestört.

*

Doktor Fleck sollte es richten. Der erfahrene Psychologe arbeitete in einem Sandsteinbau für Problemkinder der Klassen eins bis zehn. Ein Sammelbecken aller denkbaren Probleme: Armut, Demut, Filzhut. Das Herumspielen an unbedarften Hirnen betrachtete Reinhardt Fleck je nach Tagesform als Hobby oder Dienst an der Gesellschaft. Rafael hatte ihm die Krankenkasse zugespielt: Mutter verstorben, Schwester blind, Vater Alkoholiker. Ein bunter Strauß an Neurosen und Verhaltensauffälligkeiten mehr oder weniger schlecht von Kollegen im Vorfeld behandelt. Rote Pillen hatten ihn aufgeputscht, blaue ausgeknockt. Der kleine Glubsch wurde vom Medikamentenschrank entzwei gerissen. Reinhardt seufzte in seinen leicht gewellten Vollbart.

„Warum bekomme ich immer die komplett Verkorksten?“

Weil er nicht in Rente gehen wollte. Und man auf seine Erfahrung und Expertise setzte. Fleck verdiente es nicht besser, da mochte er maulen und hadern wie er wollte. Er klopfte seine Pfeife aus, und kippte die einglasige Fensterscheibe. Das Kind kam allein die Treppe herauf. Es klopfte an der Tür, und holte sich seinen Keks mit Milch. Es cremte sich die Haut mit der Lotion ein.

„Herein, es ist offen.“

„Mein Vater schickt mich, ich soll mit ihnen reden.“

„Darüber bin ich im Bilde.“

Rafael studierte die Diplome an den Wänden. Silberne Sportpokale. Ölgemälde ehemaliger Rektoren und Vertrauenslehrer. Malte sich aus, was es zu klauen gab. Fleck kannte Jungen wie ihn. Ohne klare Führung und Strukturen neigten sie zu allerlei dummen Ideen. Zündeten Hunde an, schissen in Briefkästen, entwickelten Hass und schwerste Defizite, unterdrückten jegliche Wut. Ein falscher Ruck am Dampfkochtopf, und das brodelnde Gemisch flog einem um die Ohren.

„Setz dich.“

Man hätte erwarten können, das halbe Kind schüttle dem Älteren die Hand. Rafael ließ sämtlichen Respekt missen. Er setzte sich auf den Polstersessel mit der abgeschabten Lehne, und verschränkte ablehnend die Arme.

„Nicht dein erster Psychologe, was?“

„Auch nicht mein bester.“

Dr. Fleck kam näher. Rafael hielt den Blick, ohne die Augen zu senken. Mit billigen Spielen gab er sich nicht ab. Dazu war der Bengel zu gewieft. Er durfte sich keine Blöße geben. Bescheißt du mich, bescheiß ich dich.

„Dein Vater schickt dich?“

„Wegen den Puppen meiner Schwester, oder?“

„Du hast ihre Augen abgefressen.“

„Ein harmloser Scherz unter Geschwistern.“

„Deine Schwester ist blind.“

„Mag sein.“

Rafaels Turnschuhe scharrten verlegen übers Eichenparkett. Ein Schnürsenkel war abgerissen, der andere mehrfach verknotet.

„Wie kam es dazu?“

„Fickfehler.“

„Wie bitte?“

„Probleme bei der Geburt.“

„Deine Mutter ist dabei gestorben.“

Rafael schwieg. Seine Finger bearbeiteten eine Packung Kaugummi. Sehnsüchtig, wie ein Raucher seine verbliebenen Zigaretten zählt. Versuchte Glubsch seiner Frage auszuweichen.

„Wir wollten eine heile Familie sein. Vater, Mutter, Bruder und Schwester. Am Ende kam Papa allein mit Kassy zurück.“

„Wem würdest du die Schuld am Tod eurer Mutter geben?“

Rafael sank im Sessel zusammen. Dunkle Schatten zogen über seine Pupillen. Creditoren und Debitoren, unbezahlte Rechnungen vor des Schicksals Schneide. Fleck stopfte eine neue Pfeife, und zündete sie schmauchend an.

„Mir selbst. Ich verdiene es nicht zu leben. Warum hat sie meine Geburt überstanden und nicht die von Kassandra?“

„Niemand trifft irgendeine Schuld. Weder dich, noch den Rest der Familie.“

Rafael zog die Oberlippe über seine Zähne zu einem sardonischen Grinsen.

„Alle hacken auf mir herum.“

„Wer sind alle?“

„Meine Mitschüler. Vater, wenn er getrunken hat.“

„Was sagt er, wenn er getrunken hat?“

„Er beleidigt mich. Demütigt mich. Ich möchte gar nicht alle Worte aufzählen. Ich möchte sie vergessen.“

„Wie verträgst du dich mit deiner Schwester?“

„Nun, wir teilen ein gemeinsames Zimmer.“

„Das allein sagt recht wenig über eure Beziehung aus. Ist sie dir peinlich?“

„Warum fragen Sie mich das?“

„Es interessiert mich, wie du zu ihr als Bruder stehst. Ob dir ihre Sehbehinderung etwas ausmacht.“

„Sie wird immer einen warmen Platz in meinem Herzen haben.“

Nach bisheriger emotionaler Verkrüppelung stellte Glubschs unbedachte Aussage einen stabilen Brückenpfeiler dar, auf den der Therapeut baute.

„Was bedeutet ihre Blindheit für dich?“

„Dass sie nicht alleine zurechtkommt. Ich muss sie vor der Welt beschützen.“

„Du bürdest dir viel auf.“

„Ich liebe sie über alles.“

„Hast du darüber nachgedacht, wie Kassandra sich dabei fühlt?“

„Geborgen, nehme ich an.“

Flecks Kugelschreiber kam kratzend auf weißem Büttenpapier zu stehen.

„Unsere erste Stunde war recht aufschlussreich. Ich freue mich auf nächste Woche.“

Sie würden sich stundenlang gegenseitig die Ohren vollsülzen. Rafaels stürmisches Seelenleben navigierte jahrelang durch aufgewühlte Gischt, ohne vom Kurs abzukommen. Vater prügelte ihn ins richtige Format, und diverse Psychologen lasen angeschwemmtes Treibgut auf. Mit aufkeimender Sexualität wurde alles schlimmer. Selbst seine Schwester machte ihn befangen in ihrer gedankenlosen Nacktheit. Er konnte eine Nacktschnecke im Gras entdecken, und stundenlang verfolgte ihn der Gedanke an ihre glitschige Spalte.

*

Rafael geriet aus dem Gleichgewicht, sein Kompass ging verloren. Als erste Schamhaare Schwesterleins Loch bedeckten, schlief er etwas ruhiger. Er dachte an ihre wässrigen Murmeln. Er blickte ihr ins Gesicht, bis die Welt trübe wurde, und Kassandra scharf. In ihrer Pupille wirbelten Muster, sie verrieten Zukunft und Absturz zugleich. Dicke Bäuche und rote Augenhöhlen, triefend vor Tränenflüssigkeit. Das Ende einer Liebe, der Beginn einer Perversion. Rafael streichelte seine Schwester im Schlaf. Unruhig wälzte sie sich durch Alpträumen, ihr Kissen war nass.

„Was ist los?“

„Nichts, mein Schatz.“

So schlief sie weiter. Rafael hingegen war jeglicher Gedanke an Schlaf vergangen. Allein strich er durchs Haus, machte sich eine Tasse Kakao. Mit lautem PLING verkündete die Mikrowelle das Ende einer Erhitzungsphase. Vater merkte nichts davon, er schlief auf dem Sofa den Schlaf der Gerechten und Besoffenen.

Aktion Doppelloch

Aus dem pickligen Teenager wuchs ein stattlicher Mann. Rafael rebellierte nicht mehr gegen Institutionen, er war selbst eine. Auf dem Pausenhof verkaufte er Lösungsbögen aktueller Klausuren, unter seiner Trainingsjacke dealte er mit der neusten Kollektion gestohlener Handys. Was er Freunde nannte, waren schlechte Einflüsse. Vielleicht tat auch er ihnen nicht gut. Welche Rolle spielte es am Ende des Opferzyklus? Das Goldkettchen hatte er sich vom Vater abgeschaute, den offenen Hemdknopf auch. Kraus wucherte sein Brusthaar aus dem Kragen, das Edelmetall funkelte in der Sonne wie die dicken Lupen seiner massiven Brille. Vom Vater hatte er die Sehschwäche geerbt und schütteren Haarwuchs. Bereits mit siebzehn Jahren gingen ihm die Haare aus. Rafael kompensierte das griechische Halberbe mit dichtem Vollbart und geschorener Glatze. Wenn ihm einer dumm kam, gab es aufs Maul.

[Eintrag ins Klassenbuch]

Schüler Rafael Glubsch leckt an den Augen mehrerer Schülerinnen (gegen ihren Willen). An Vertrauenslehrer weitergeleitet.

*