Kastriert - Thomas Reich - E-Book

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Thomas Reich

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Beschreibung

Musiklehrerin Helga Kling wurde als Kind mit getrockneten Rindspimmeln verdroschen. Der böse Onkel trieb ihr Gesang und Leidenschaft mit harter Hand aus. Aus Notenblättern und düsteren Visionen komponiert sie ihre spätere Sexualität. Männer sind für Helga primitive Stiere, die sich in ihrem Stall die Hörner abstoßen. Auf denen man eine nette Melodie spielen kann. Unter schwersten Schmerzen gewinnt sie das Rohmaterial ihrer neuen Instrumente. Bis zum großen Schulkonzert sind es nur wenige Monate...

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Thomas Reich

Kastriert

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Kastriert

Kastriert

 

 

 

Thomas Reich

Text 2019 © von Thomas Reich

Coverphoto © https://pixabay.com/de/photos/hoden-hodenkrebs-penis-peniskrebs-2790218/ mit Änderungen

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

Über das Buch:

 

Musiklehrerin Helga Kling wurde als Kind mit getrockneten Rindspimmeln verdroschen. Der böse Onkel trieb ihr Gesang und Leidenschaft mit harter Hand aus. Aus Notenblättern und düsteren Visionen komponiert sie ihre spätere Sexualität. Männer sind für Helga primitive Stiere, die sich in ihrem Stall die Hörner abstoßen. Auf denen man eine nette Melodie spielen kann. Unter schwersten Schmerzen gewinnt sie das Rohmaterial ihrer neuen Instrumente. Bis zum großen Schulkonzert sind es nur wenige Monate...

Würste im Rauch

Das Mädchen auf dem einfachen Holzschemel trug die Zöpfe zu Affenschaukeln gebunden. Es blickte in den Rauchfang, rot tränende Augen zu Schlitzen gepresst. Sie liebte den Geruch von Fleisch. Wenn das Feuer ihm Feuchtigkeit entzog, und das Aroma intensivierte. Das beste Stück vom Ochsen war der Schwanz. Daraus konnte man Suppe machen, oder Schmorgerichte mit Lorbeer und Wacholder. Im Frühling streute der Mann seinen Samen aus. Im Sommer arbeiteten alle auf dem Feld, ob groß ob klein. Im Herbst feierte man Erntedank, und brachte die Früchte von Feld und Stall auf den Tisch. Tante Hermine schlachtete noch selbst, die Letzte im Dorf, dem die Stadt immer näher rückte. Eines Tages würde der Moloch seine Ränder verschlingen, den Spielplatz und die lukrative grüne Wiese vom Bauer Knöpfle. Wo das Dorf endete, begann die Stadt. Wo Anstand und Tradition starben, begann eine beängstigende Welt.

*

Davon ahnte Helga nichts. Ihr Kleidchen war frisch gebügelt, die saubere Schürze stramm gebunden. Sie roch nach dem guten Weichspüler in Griffhöhe. Das Mädchen stimmte ein beliebtes Kinderlied an. Ihre Stimme klang hell und rein.

„Alle meine Entchen

schwimmen auf dem See,

Köpfchen in das Wasser,

Schwänzchen in die Höh'.

Alle meine Täubchen

gurren auf dem Dach,

eins fliegt in die Lüfte,

fliegen alle nach.

Alle meine Hühner

scharren in dem Stroh,

finden sie ein Körnchen,

sind sie alle froh.

Alle meine Gänschen

watscheln durch den Grund,

suchen in dem Tümpel,

werden kugelrund.“

Aus der Dunkelheit des Abends schnellte ihr eine Hand ins Gesicht. Ließ ein rotes Feuermal, warf sie vom Hocker. Helga rappelte sich auf. Gequält von starken Kopfschmerzen erwartete sie die Standpauke. Als Kind bist du rechtlos. Die Flammen verzehrten seine Gesichtszüge, nahmen ihm alles Menschliche. Krampus quälte Kinder auch außerhalb der Weihnachtszeit. Onkel Manfred blieben noch zwei Jahre bis zum tödlichen Hirnschlag, der seinem cholerischen Temperament ein Ende bereitete. Bis dahin würde sie ihn fürchten, wie man einen Onkel nur fürchten kann.

„Lieder sind Teufelswerk. Was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen?“

„Das singen wir in der Volksschule.“

Zack! Hatte sie noch eine kleben.

„Mit deiner Klassenlehrerin rede ich später.“

„Du bist nicht mein Vater.“

Manfred grinste über beide Backen. Sein rotblonder Schnauzbart kräuselte sich in den Mundwinkeln wie Schaum auf einem gekippten Teich. Tote Fische trieben zur Oberfläche, glitten mühelos in den erwartungsvollen Käscher. Um die Augen lagen tiefe Höhlen, mit der Schilddrüse klappte es auch nicht. Eine unnatürliche Rötung der Epidermis deutete auf einen Blutdruck jenseits von Gut und Böse. Auch sonst scherten ihn freizügige Moralvorstellungen herzlich wenig. Sein Bauernhof, seine Gesetze. Hier sprach er Recht, hier lebte er gern.

„Das mag sein. Aber auf meinem Hof folgst du mir allein.“

„Darf ich nach Hause?“

„Deine Mutter kommt dich holen, nach dem Abendessen.“

Helgas Eltern arbeiteten beide. Vater Karl in einem Zulieferbetrieb der Autoindustrie, Mutter Erika halbtags im Supermarkt an der Kasse. Ihre Tage verbrachte das Kind auf dem Bauernhof von Onkel und Tante. Das Leben bestimmten katholischer Kirchenkalender, und die Wuchszeiten der Pflanzen auf dem Feld.

„Wie sind die Schwänze?“

„Bald fertig.“

„Macht Tante Hermine uns eine stärkende Suppe?“

„Mit Fettaugen und Karotten, ja.“

Helga Kling liebte nichts mehr auf der Welt als Musik. Später wollte sie ihre Leidenschaft an andere Menschen weitergeben. Sie träumte davon, als Lehrerin auf der anderen Seite der Schulbank zu stehen.

*

Abends holte sie sie Mutter mit ihrem rostigen Polo. Auf der Rückbank lag ihr Dienstkittel als Kassiererin mit dem aufgestickten Logo vom Supermarkt. Sie warf die gestreifte Schürze einmal in der Woche in die Maschine, und holte das Wechselmodell aus dem Schrank. Beide Elternteile arbeiteten hart um das Haus abzubezahlen, und Helga eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

„Du musst dein Geld nicht im Schweiße deines Angesichts verdienen. Du wirst studieren.“

„Ich würde gerne Musik lehren, wie Frau Klopstock.“

„Du warst schon immer künstlerisch sehr begabt.“

Im Rucksack warteten Hausaufgaben. Einen Teil hatte Helga in Tante Hermines guter Stube erledigt, den Rest gingen die Eltern mit ihr durch.

„Warum hasst Onkel Manfred Musik?“

Erika Kling drehte das Radio leiser, und fuhr rechts ran. Helga kam in ein Alter, wo man die Familie hinterfragt.

„Ich habe den Mann meiner Schwester nie verstanden. Manfred ist ein Eigenbrötler, immer gewesen. Er ging mit uns auf die Schule. Damals war er pausbäckiger als heute, ihm wuchs auch kein Schnauzer. Er trug wenig zum Unterricht bei, und quälte kleine Tiere.“

„Manfred ist Bauer, wie sollte er das Vieh quälen?“

„Du kennst ihn als lieben Onkel.“

(kannte sie nicht!)

„Er trat kleine Hunde, und zündete Katzen den Schwanz an.“

„Onkel Manfred?“

„Genau der. Jetzt lebt er mit meiner Schwester zusammen. Sie hat einen guten Einfluss auf ihn.“

„Und wenn der nicht reicht?“

„Dann kann ich dir auch nicht helfen.“

Erika setzte den Blinker, und scherte auf die Hauptstraße ein. Es war ein harter Tag mit Kleingeldrentnern und geplatzten Gurkengläsern im Eingangsbereich. In der geräumigen Doppelgarage stand Vaters Volvo, ein weinroter Veteran aus Schwedenstahl. Mutter packte die Einkäufe aus, und machte sich ans Abendessen. Helga half das Gemüse schneiden. Bald würde Karl Kling von der Arbeit kommen, und sie saßen zusammen am großen Tisch, besprachen Alltag und Sorgen einer kleinen Familie.

*

Helga ahnte wohl, dass ihre Eltern glücklich miteinander waren. Sie küssten sich und fanden liebevolle Worte. Ganz anders das Geschrei auf Onkels Hof: Man stritt sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Dazwischen bestellte man die Felder, und ging einander aus dem Weg. Onkel Manfred watete stundenlang in der brütenden Hitze des schlecht gelüfteten Stalls durch die Ausscheidungen der Tiere. Zu faul zum Toilettengang schiss er in die Ecke, und bedeckte die Fäkalien mit Stroh. Regelmäßig gab es darüber Ärger mit seiner Frau.

„Ich kann einen menschlichen Haufen von Bullenscheiße unterscheiden. Das stammt eindeutig von einem Zweibeiner.“

„Und wenn schon.“

„Ich habe es satt, ständig hinter dir her zu putzen!“

„Gülle düngt das Feld.“

„Du elendiger Lump scheißt auf meine Arbeit.“

„Ich dünge den Boden. Ich leiste meinen Beitrag.“

Wutschnaubend zog Tante Hermine von dannen. Die Diskussionen wurden sinnlos, die Diskussionen drehten sich im Kreis. Der Acker musste gepflügt werden, bevor die regennasse Scholle hart wurde. Der Samen ausgetragen, und in die Furche gedrückt. Man stelle sich die Landwirtschaft als einen sexuellen Akt vor, wie auch die Musik. Weg von der Anziehung zweier Körper, weg vom dummen Magnetismus der Hormone, hin zur Sexualität der Dinge. War sie glücklich? Wurde sie besser behandelt als ihr eigenes Vieh? Sie verstanden einander immer weniger, und das sehr viel. Die Nichte sang harmlose Lieder in ihrer Kammer, und der Onkel schäumte vor Wut.

*

Als Helga in die zweite Klasse kam, wurde ein neuer Schüler vorgestellt, dessen Eltern vor kurzem hergezogen waren. Robert trug weinrote Latzhosen aus derbem Twill, an manchen Tagen tannengrün. Kordflicken bedeckten die Knie eines rauflustigen Kinds. Sein Schwäbisch klang seltsam vertraut. Bald verstand man seine spezielle Betonung, und was er von seiner Umwelt einforderte. Die Mädchen himmelten ihn an, doch Robert hatte nur Augen für Helga. Sie wuchs auf in einer Welt voll doofer Jungs. Die Liebe gehörte den Erwachsenen im Fernsehen.

„Warum folgst du mir?“

„Ich muss dich doch beschützen.“

„Lass das.“

„Warum?“

„Es fühlt sich komisch an.“

„Wie ein Kribbeln im Bauch?“

„Ja, so ähnlich.“

Helga fühlte sich wohl in Roberts Nähe. Wenn Gesang zu den Todsünden zählte, dürsteten Mädchen nach Sicherheit. Die große Pause ging zu Ende. Vesperboxen wurden geschlossen, Trinktütchen knallend zertreten, und kleinere Kinder vom Klettergerüst geschubst.

„Ich begleite dich zum Klassenzimmer.“

*

Helga war ein braves Kind. Sie beteiligte sich rege am Unterricht, streckte den Arm bei jeder Frage. An Intelligenz mangelte es ihr nicht, emotional jedoch war sie verkrüppelt bis ins Mark. Ihr unbeschwertes Lachen war billigste Maskerade. Überhaupt tat man alles nur, weil es schön klang. Damit die Dinge einen Namen haben. Die dunklen und die hellen. Ganz besonders die dunklen.

„Helga?“

„Ja?“

„Hier spielt die Musik. Du warst wieder abgelenkt.“

„Tut mir Leid, Frau Schmalfuß.“

„Du musst besser auf dich aufpassen, mein Schatz.“

„Es wird auf mich aufgepasst.“

„Das ist schön.“

Von hinten wanderte ein kleiner Zettel unter den vollgekritzelten Bänken. Was oben eine derbe Schnitzerei, war hier die ungelenke Handschrift eines Siebenjährigen. Jedes Mal wenn Frau Schmalfuß sich umdrehte, wanderte das Papierchen eine Hand weiter und sog Schweiß auf. Als Helga es bekam, war es ganz zerknittert.

MAGST DU MIT MIR GEHEN?

JA o NEIN o VIELLEICHT o

ROBERT

Das Mädchen mit den Zöpfen wollte nicht unangenehm auffallen, oder an die Tafel zitiert werden, um vor versammelter Klasse eine schwierige Aufgabe zu lösen. Robert mochte sie, und sie ihn ja auch irgendwie. Er wollte mehr, als sie zu geben bereit. Was Ficken bedeutete, lernten sie in der dritten Klasse von den Älteren im Pausenhof. Genauso wie das Rauchen und andere Gepflogenheiten. Mit Sieben war die Welt noch in Ordnung. Man kannte Händchenhalten und harmlose Schwärmereien. Verbrachte Pausen miteinander, manchmal die Nachmittage. Fuhr mit dem Rad hinaus in die freie Natur, und klaute dem Bauern Äpfel vom Baum.

*

Helga ertrug seine Zuneigung zwei Wochen lang, dann verliebte Robert sich in das kleine rothaarige Mädchen mit den Sommersprossen und der süßen Stupsnase. Erleichtert gönnte Helga ihr das kurze Glück: Das Leben rächt alle Rothaarigen. Gott würde sie richten, so stand es in der Bibel. Nicht in der von Pastor Heinrich, aber in Onkel Manfreds Hausbibel mit dem Schweinslederrücken. Während die Jungs zum Fußballplatz gingen, durchwühlte Helga Roberts Rucksack. Fand seine Mundharmonika. Musik hatte sie zusammengeführt, Musik entzweite sie.

„Für dich war alles nur ein Spiel.“

Helga schlich hinter den nächsten Busch, und urinierte in die Membran. Unter ihrem scharfen Strahl färbte sich das Gras schwarz. Sie war seine Muse. Nun war sie der bittere Geschmack der Niederlage auf seiner Zunge, bei jedem Lied. Traurig dachte sie an seine weichen Lippen. Sie bereute jeden Kuss.

*

Mit achtzehn verließ Helga Eltern und Verwandtschaft Richtung große Stadt. Am Ortsschild hielt sie kurz, streichelte zärtlich die gelbe Stahlplakette. Im Abendrot über der Stadt rauchte sie eine letzte Zigarette, als stünde ihr die Todesstrafe bevor. In Stuttgart wartete ein Zimmer in einer Mädchen-WG etwas außerhalb, wo Wohnraum bezahlbar war. Dennoch würde der Monatsbeitrag ein tiefes Loch in Helgas Haushaltskasse reißen.

„Mach's gut, Heimat. Eines Tages sehen wir uns wieder.“

Auf der Rückbank lag eine Kiste bäuerlicher Leckereien von selbstgemachter Marmelade bis würzigem Dörrfleisch aus dem Rauch. Damit überlebten selbst Eskimos die tiefen Winter Süddeutschlands. Im Autoradio lief klassische Musik, das Abendlied von Franz Schubert. Es passte zu ihrer melancholischen Stimmung.

*

Die Studentinnen waren allesamt Töchter aus gutem Hause. Keine von ihnen hatte Bauern oder gar Handwerker im Stammbaum. Helga tat gut daran, ihre Herkunft zu verschweigen. Ihre Kleidung war gewöhnlich, nach gewissen Maßstäben bürgerlich. Kauzig, katholisch, konservativ. Helga übernahm die Kernkompetenzen ihres grünen Landesvaters, wie sie die gestrickten Leiberl ihrer Mutter trug. Darunter kam ein Marken-T-Shirt zum Vorschein. Die Jeans war modisch ohne kunstvolle Löcher. Der figurbetonte Schnitt brachte ihren sexy Hintern zur Geltung.

Besonders Sabrina Steglitz neidete sie für ihre tadellose Figur. Sie studierte Pharmatechnik vom Verhütungsmittel bis zur Brechhilfe. Alles, was der Erste-Hilfe-Kasten begehrte. Helga konnte sich die spätere Apothekerin gut vorstellen, der weiße Kittel würde ihre Pölsterchen und Rundungen mühsam bedecken. Auch machte ihre dicke Brille jedwede Aussichten auf freiwilligen Beischlaf zunichte. Frau Kling kannte solch rüde Visagen vom Bauernhof ihres Onkels, und erinnerte sich an dessen kehliges Lachen:

„Wer fickt denn so etwas? Die möchtest du nicht einmal tot über dem Zaun hängen haben mit einer Papptüte auf dem Kopf.“

Wer glaubt der Bauer liebt sein Vieh, der irrt. Onkel Manfred mochte nur schöne Tiere. Hässliche und Verkrüppelte blieben gnadenlos seinem Spott ausgeliefert.

*

Die zweite Mitbewohnerin hätte es ihm schon eher angetan. Nicole Spengler war süßer als Schmalzgebäck mit Marmeladenfüllung. Ihre kleine Stupsnase verdrehte jedem Mann den Kopf. Sie studierte Sozialpädagogik, ein vielseitiges Fachgebiet in einer zunehmend zerrütteten Gesellschaft. Vom idyllischen Plattenbau bis zu Drogen konsumierenden Schulabgängern wurde ihre Expertise gebraucht. Helga fand später heraus, dass Nicole ihren unersättlichen sexuellen Appetit im Degerlocher Flüchtlingsheim stillte. Die Neger vom Deger füllten ihr Loch, füllten es reichlich. Oft lag sie auf dem Sofa und klagte über Unterleibsschmerzen. In diesem Zustand brauchte man ihr weder moralische Vorhaltungen machen, noch an ihre verruchte Weiblichkeit appellieren. Sie tat es für ein neues Deutschland, bunt und vielfältig.

*

Über den Schreibtisch pinnte Helga einen Kunstdruck der Wittwerschen Buchhandlung. Sie stand für traditionelle Werte. Beethoven, Schubert, Chopin. Mozart war ihr zuwider. Zu wild, zu ungestüm. Fanden die Hände im Klavier die weißen Tasten, rieben Helgas Finger zielsicher die Klitoris, bis sie glühte. Meine kleine Perle. Mein Schatz. Mein wildes Schmuckkästchen, du bist Gold. Sie zog sich zur besinnungslosen Masturbation zurück. Dann drehte sie klassische Musik auf höchste Touren, und verschloss die Tür zu ihrer Kammer.

Nun bewunderten ihre Mitbewohnerinnen die Wanddekoration.

„Caspar David Friedrich?“

„Der Wanderer über dem Nebelmeer.“

„Cool, das ist ja wie die Karlshöhe von oben herab.“

„Oder der Fernsehturm.“

„Nein, da hast du keine so gute Aussicht.“

„Dein Akzent passt nicht zu dir. Du kommst nicht von der Küste.“

„Ich mag die Stimmung. Sie ist...“

DÜSTER. VERSTÖREND. EINSAM.

„Romantisch.“

„Klassiker hin oder her, ich finde es beklemmend. Man möchte sich vom Felsen stürzen und in den Nebelbänken verschwinden wie ein Schiff im Bermudadreieck. Ein Leben hinterlassen ohne Erinnerung.“

Sabrina zog die Lagen ihres grauen Jogginganzugs enger um den Leib, sie schlugen Falten. Das Bild machte sie krank.

„Br, da läuft es mir kalt den Rücken runter.“

Nicole mischte sich ein. Sie konnte das neue Mädchen gut leiden, sie war eine Schlampe wie sie. Unter der Hülle einer braven Musikschülerin lauerte pure Wollust, Nicole hatte ein Auge für so etwas. Sie nannte es ihren Schlampenradar. Wenn es Helga nicht um Männer oder profane Schwänze ging, worum dann?

„Mit Musik hat das nichts zu tun.“

„Es geht mehr um eine Stimmung.“

Sabrina versuchte, die angespannte Situation zu entschärfen. Aber hatten sie nicht alle Hunger? Eine gemeinsame Mahlzeit würde ihre Sorgen zerstreuen.

„Bestellen wir Pizza?“

„Gute Idee. Mit Schinken und Pilzen?“

„Und einen gemischten Salat.“

*

Zwei Abende später landete Helga in einer überfüllten Studentenkneipe. Nach diversen Vorlesungen und Notizen auf dem Tablett fand Nicole den rechten Moment, das studentische Leben von seiner dunklen Nachtseite kennenzulernen. Sie spitzte ihre Lippen und trug roten Fettstift auf.

„Mach dich hübsch, wir gehen aus.“

„Wie hübsch?“

„Dass die Wölfe heulen.“

„Warum heulen Wölfe?“

„Weil sie Frischfleisch als Nahrung brauchen.“

„Bin ich das Frischfleisch?“

„Wenn du dich gut anstellst, ja.“

Aus dem Nähkästlein ihrer Mutter entnahm Helga ein dunkelrotes Backenpuder, Ziegelsteine im Hof. Schweine grunzten, Ochsen schrien: Sie war bereit. Es betonte ihre Wangen, gab ihnen Licht und Schatten.

„So gefällst du mir.“

„Vorher nicht?“

„Doch, schon. Ich wollte den Pfeilgiftfrosch in Kampffarbe sehen.“

„Diese Tiere lösen Wahnvorstellungen aus.“

„Du auch, wenn du dir Mühe gibst.“

*

Das Publikum war mehrheitlich unter dreißig, von verlausten Spätsemestern der Philosophie abgesehen. Man erkannte sie an ihrer hohen Stirn und dem vergeistigten Blick. Ihnen fehlte die sattsame Seligkeit eines Theologen und die saure Weinschorle. Vorne spielte man Darts auf einem angestaubten Achtziger-Jahre-Kasten mit flackerndem Display, im Hinterzimmer Billard. Auf der Karte standen einfache Schraubweine und Flaschenbier frisch vom Kühlschrank. Für den kleinen Hunger wartete eine laminierte Speisekarte mit gefüllten Champignons, Gulaschsuppe und veganen Falafeln. Zu Falafel und Champignon reichte der Wirt den gleichen Knoblauchdip. Gläserspülend wandte er den Neuankömmlingen seinen massigen Rücken zu, über der Schulter ein schmutziges Spültuch wie einen Schal. Enthusiastisch knallte Nicole ihre Handtasche neben einen Köcher Bierdeckel.

„Habe ich dir zu viel versprochen? Allerbestes Frischfleisch. Gut abgehangen und am Leben gereift. Und tief im Innern der Hose sind sie saftig und aromatisch.“

„Da spricht der geübte Blick einer Wurstologin.“

Nun hatte der Wirt sie über den Kneipenlärm hinweg endlich wahrgenommen. Freundlich nickte er ihnen zu, ein Auge zuckte. Seit Jugendtagen quälte ihn dieser nervöse Tick.

„Hallo Nicole. Wen hast du denn Hübsches im Gepäck?“

„Meine neue Mitbewohnerin Helga Kling.“

„Warum so ein altmodischer Name? Du bist ansehnlicher als das.“

„Ich wurde katholisch erzogen.“

„Hoffentlich nicht zu katholisch. Hier geht es wild zu, junge Dame.“

„Machst uns beiden was zu trinken?“

„Gerne. Was darf es sein?“

„Für mich das Übliche. Und du?“

Helga studierte die Karte. Ausgehen gehörte nicht zu ihrem Repertoire. Sie spielte Cello. Allein in ihrem Zimmer. Zupfte sie die Seiten mit der Inbrunst einer Melkmagd.

„Ich nehme Kräuterlimonade.“

„Eine gute Wahl. Kommt sofort, junges Fräulein.“

Nicole schüttelte den Kopf.

„Mit Limo findet man keine Männer. Wie willst du damit locker werden?“

„Ich finde mich selbst locker genug.“

Nicole griff ihr in den Ausschnitt, öffnete die obersten beiden Knöpfe. Ihr stattlicher Brustansatz stand jedermann ohne gesondertes Eintrittsgeld zur Verfügung.

„He!“

„Wenn ich nicht auf dich achtgebe, stehst du noch den ganzen Abend alleine rum.“

Der Wirt brachte die Getränke. Caipirinha für Nicole Spengler, Kräuterlimonade für das Fräulein Kling.

„Lass uns unters Volk mischen.“

Nicole schnappte sich beide Gläser, und steuerte einen Tisch nahe der brodelnden Tanzfläche an. Helga schwante Böses. Ihr stand die kleine Hurenprüfung bevor.

*

Also lockerten die beiden ihre Stimmung. Mit jedem Glas schwand ein Stück Schüchternheit wie ein Kleidungsstück. Nicoles Gesicht nahm Farbe an, Helga wechselte auf mehrfaches Anraten zu einem explosiven Cola-Rotwein-Gemisch. Den Glasrand zierte eine liebliche Streuzuckerborte. Sie schmiegten sich an die Musik wie ein Tuch aus Samt.

„Der Song ist gut, lass uns tanzen.“

Nicole wurde warm um die volle Brust. Der körperbetonte Pullover zwängte sie ein, nahm ihr die Luft zum Atmen. Nicole Spengler war als Freigeist auf die Welt gekommen, und alle Männer mussten davon erfahren! Wie ein Cowboy schwang sie den dünnen Überzieher, und warf ihn einem begeisterten Erstsemestler mit Skinny Jeans und Vollbart zu. Genau der richtige Hengst, um zwei Mädchen nacheinander einzureiten.

„Wenn ich gewusst hätte wie schön studieren ist, hätte ich das freiwillige soziale Jahr in deinem Höschen gefeiert.“

„Das kannst du immer noch nachholen.“

Ein Kumpel von ihm gesellte sich dazu, und tanzte Helga an. Der Bursche bevorzugte karierte Flanellhemden, wie Stallknechte auf dem Land. Seine Augen waren klar und blau wie das Wasser in der Regentonne hinter Onkels Haus. Sein Atem roch nach Erdnüssen und Bier. Zu viert drängelten sie sich auf der kleinen Tanzfläche. Helgas Begleiter rückte immer dichter heran, schnell fand seine Hand zur Hüfte. Zog die angehende Musiklehrerin an seine schlanke Brust.

„Cool, eine romantische Nummer. Wie heißt du noch gleich?“

„Helga.“

„Deine Frau, das unbekannte Wesen.“

Wie ein Fischer holte er die Beute ein. Stück um Stück, bis er die Stelle roch, wo beim Weibchen die Schuppen saßen.

„Ich finde dich übrigens ganz niedlich.“

„Echt jetzt?“

„Kein Scheiß.“

Plötzlich steckte eine glitschige Zunge bis zu den Mandeln in Helgas Mund. Geschockt stieß sie den Burschen von sich. Verpasste ihm eine Ohrfeige, die sein machohaftes Weltbild ins Wanken brachte.

„Gehts noch oder was? Erst auf heißes Luder machen, und dann frigide wie ein Eisschrank!“

Seiner gepflegten Wortwahl nach zu urteilen, studierte der wilde Hengst Germanistik. Helga Kling war perplex über ihre eigene Reaktion. Dabei hatte er so gut nach Aftershave und Pflegeprodukten gerochen. Die Stimmung kippte, die Jungs bestellten Bier. Nicole Spengler war außer sich.

*

Sie wusste das neue Mädchen nicht einzuschätzen. Wütend warf sie es ins Raubfischbecken, um Helgas Reaktion auf Männer zu testen. Vielleicht lag sie falsch in ihrer Annahme, und Helga war lesbisch veranlagt.

„Was stimmt denn mit dir nicht?“

Nicoles Frage platzte in die peinliche Stille zwischen zwei Songs. Das halbe Lokal drehte die Köpfe nach ihnen. Am Tresen fiel ein Eiswürfel krachend ins Glas.

„Nun ja, das ist schwierig zu beantworten.“

„Du bist eine Schlampe reinsten Wassers, so viel steht fest. Wie du dich zur Musik bewegst, wie du tanzt. Jeder Hüftsprung ist ein Versprechen an die Männer.“

„Meine Begierde gilt der Musik.“

„Verstehe ich nicht.“

„Harte Akkorde bringen mein Höschen zum Beben. Bei Schlagzeug und Pauke läuft die Pflaume.“

„Dein Ernst?“

Helga nickte. Ihre Wangen waren knallrot. Im Hintergrund dudelte die Anlage. Spielte auf ihren Schenkeln wie einer gut geschmierten Bratsche.

„Tropfnass.“

Mit einer Hand barg sie ihre Scham. Fräulein Kling war ein erotisches Malheur passiert. Zwischen ihren Beinen erschien ein dunkler Fleck im robusten Stoff der Jungfrau Maria. Josef hat mich nicht angerührt, befleckt bin ich doch.

„Ich glaube, wir gehen besser.“

„Im Schubladen wartet ein dicker Musikantenknochen.“