Christoffer IV-VI - Thomas Reich - E-Book

Christoffer IV-VI E-Book

Thomas Reich

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Beschreibung

** Die Serienmörder-Reihe: Teil I Christoffer, Teil II Blutzoll, Teil III Kellergeschichten, Teil IV Der Lippensammler, Teil V Opferwald, Teil VI Kuckuckskind **   Erlebe Teil IV bis VI von Christoffers blutigem Weg. Wie er sein Menschsein verlor und zur Bestie wurde. Immer auf der Flucht, mit einem Grinsen im Gesicht. Während er sich neue Foltermethoden ausdachte. Wie ein roter Faden zieht sich die Blutschneise durch sein Leben.

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Thomas Reich

Christoffer IV-VI

Sammelband

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Serienmörder Christoffer

Serienmörder Christoffer

 

Teil IV-VI: Sammelband

 

 

 

 

Thomas Reich

Text Copyright © 2015 - 2020

Thomas Reich

Alle Rechte vorbehalten.

 

Cover © http://www.publicdomainfiles.com/show_file.php?id=13548499219446 + https://www.piqsels.com/en/public-domain-photo-omcak mit Änderungen

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

 

Christoffer IV

Der Lippensammler

 

Der Lippensammler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thomas Reich

Text: 2015 © von Thomas Reich

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

Über das Buch:

 

Totgesagte leben länger! Schwerverletzt wacht Christoffer in der Leichenkammer auf. Wer immer ihn aus der Bahn räumen wollte, sollte einen langsamen und schmerzhaften Tod erleiden! Christoffer schlägt sich durch. Nahrung, Obdach, eine neue Identität. Wie ein Tier haust er in einer heruntergekommenen Gartenlaube, die er nur zur Menschenjagd verlässt. Seine hilflosen Opfer liest er er in den Parks der Hauptstadt auf. Christoffer besinnt sich dabei ganz auf seine Urtugenden und reißt ihre schönen Münder in Fetzen.

Doch die Spuren der Vergangenheit drohen ihn einzuholen. Seine alten Widersacher sind ihm dicht auf den Fersen. Wer kennt ihn besser als sein ehemaliger Psychiater Doktor Sommerberg?

Kein Grab hält meinen Körper

Christoffer war es gewohnt, anderen Menschen unsäglichen Schmerz zuzufügen. Was du nicht willst das man dir tue, das füge eben Anderen zu. Nach dieser Maxime hatte er stets gehandelt. Seine liederliche Lust war bleiernes Gesetz gewesen. Umso verblüffter war er über den Kugelhagel. Wie Hornissen stachen die Projektile seine Haut, durchbohrten seinen Körper wie einen glücklosen Bankräuber. Während er zu Boden stürzte, drehte sich sein Körper einmal um die eigene Achse wie eine Ballerina. Unerschrocken sah er den beiden Polizisten in die Augen. Prägte sich jedes Muttermal ein. Die Form ihrer Nasen. Die Farbe ihrer Augen. Wenn er je aus der Hölle zurückkehrte, würde er sie überall wiedererkennen. Und dann Gnade ihnen Gott. Er würde es ihnen nach den Regeln des alten Testaments vergelten. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben.

Rauch kräuselte sich aus den stählernen Mündern ihrer Dienstwaffen. Wie schwarze Luftballons schwollen sie an, dann verschluckte ihn die Finsternis. In der Dunkelheit tanzte ein einzelnes Lippenpaar, von seinem Träger gelöst. Christoffer schmeckte schaumiges Blut auf den Lippen. Es war sein eigenes.

*

Eigentlich war es ein Anlass zum Feiern. Seinem Dezernat war der größte Coup der deutschen Kriminalgeschichte gelungen: Sie hatten einen der gefürchtetsten Serienmörder Europas zur Strecke gebracht. Nun ja, auf der Flucht erschossen traf es wohl eher. Lachend war er ihnen ins offene Feuer gelaufen, Weschels Beamte traf keine Schuld. Dennoch packte ihn die blanke Wut. Dass sie diesem Schwein einen so leichten Abgang gewährt hatten, anstatt ihn vor ein ordentliches Gericht zu zerren. Christoffer verdiente keinen barmherzigen Tod. Wie gerne hätte Weschel auf der Geschworenenbank gesessen und mit eigenen Augen verfolgt, wie diese Schlange in menschlicher Verkleidung für ihre Taten geradestand. Am liebsten hätte er ihm höchstpersönlich den Galgen gezimmert. So einer gehörte an den Eiern aufgehängt! Als leitendem Ermittlungsbeamten war ihm eine Gehaltsaufbesserung so gut wie sicher, Schulterklopfen allenthalben. Die Morgenpost hatte ihm öffentlich das Bundesverdienstkreuz angetragen (welches er dankend abgelehnt hatte).

Christoffer stellte ihn auf eine harte Bewährungsprobe. In all den Jahren hatte Weschel versucht, persönliche Gefühle aus seinem Berufsalltag herauszuhalten. Nun blätterte er in der dicken Mappe, die ihm die Soko zugespielt hatte. Hochglanzfotos fielen heraus wie ein grausames Memoryspiel. Welche Karte wollte er aufdecken? Passte dieser Arm zu jenem Torso? Dieses Messer zu jener tiefen Fleischwunde? Weschel dachte daran, wie die Angehörigen ihre Liebsten wohl anhand der verbliebenen Körperteile identifizieren mochten. Oft waren es Dornen- oder Heckenrisse, Stall- und Weideverletzungen wie bei Mastvieh, dessen Haut in der Lederproduktion landete. Ein dunkles Muttermal. Die Narbe einer Blinddarmoperation, dicht über dem Schambein. Sanfte Frauenkörper wie Alabaster. Mütter, Ehefrauen, Geliebte. Die im Herzen ihrer Mitmenschen ein tiefes Loch rissen, welches nie wieder richtig verheilte. Höchstens Schorf bildete und vernarbte. Bilder von solch erlesener Grausamkeit waren ihm selten untergekommen. Töten war kein Verdienst besonderer Verdienst, der dümmste Prolet war dazu fähig. Nein, diese Blutarien gingen tiefer. Metaphorisch wie körperlich.

Tief in Weschels Kindheit verborgen lag die Erinnerung an ein Kaleidoskop, das Großmutter ihm zu seinem vierten Geburtstag geschenkt hatte. Stundenlang konnte der kleine Torben es gegen das Licht halten und die Entstehung neuer Muster bewundern. Wann hatte er sein Spielzeug verloren? Wahrscheinlich war das billige Chinaplastik einfach irgendwann zerbröselt. Wann verliert ein kleiner Junge seine Unschuld und beschließt Polizist zu werden? Wenn er seine Großmutter in der Lache ihres eigenen Blutes findet, vom bösen Nachbarn mit dem Hammer erschlagen. Weschel steckte die Ausdrucke in die Mappe zurück. Der Fall Christoffer war abgeschlossen und konnte zu den erledigten Akten gelegt werden.

„Auf dich, du Sausack. Möge die Hölle dich verschlucken und nie wieder ausspucken!“

Weschel kippte ein letztes Glas auf den Toten. Wie ein nasser Hund schüttelte er sich, als das flüssige Feuer seine Magengrube erreichte.

Auf seinem Bildschirm flackerte der Kanal von hades_89, Christoffers Online-Pseudonym mit dem er zum neuen Messias der Snuffszene aufgestiegen war. Öffentliche Exekutionen, über die eine gewissenlose Usergemeinde gerichtet hatte. Daumen hoch oder Daumen runter, wie bei den Gladiatoren im alten Rom. Je schlechter das Brot, desto mehr Spiele brauchte das Volk. Die Aufnahmen stammten aus dem Archiv, mittlerweile war der Kanal gesperrt. Weder wollte, noch konnte Weschel es ihm zugestehen, dass Christoffer der Gesellschaft sein Exempel ausgestellt hatte, und am Ende gar noch Recht behielt. Unleugbar hielt er ihnen ihre Schattenseiten vor wie einen Spiegel. Angewidert packte Weschel die Schnapspulle wieder weg, die hässlichen Momenten wie diesem auf der Wache reserviert war.

*

Christoffer weilte im undurchdringlichen Nebel des Totenreichs. Schweißgetränkte Nächte, gefangen im Strudel von Alpträumen. Bewegungsunfähig hatte er seinen inneren Dämonen ins Auge gesehen. Sich freigekämpft wie ein Schwimmer. Stumm verharrte er auf einer was? Auf einer Liege? Einzig und allein sein Tastsinn funktionierte, wenn auch mangelhaft. Er konnte schon froh sein, dass seine Atmung nicht kollabierte. Blaulicht funkelte stumm in der Dunkelheit. Entweder fuhren sie ohne Martinshorn, oder sie hielten ihn schlichtweg für tot. Ihre Stimmen klangen verzerrt und viel zu langsam, wie eine kaputte Musikkassette. Christoffer konnte das eisige Feuer menschlicher Gesellschaft spüren, was er zeitlebens bis aufs Messer gehasst hatte. Ihn provozierte, bis ihm die Sicherungen durchbrannten. Und er über einem ausgeweideten Brustkorb aufwachte ohne sich an ein Detail erinnern zu können. Schöne Erinnerungen, wenn auch von der verwirrenden Sorte. Er hasste es die Kontrolle zu verlieren, genoss aber den blutigen Rausch aller Sinne, wenn er bis zu den Armen in einem noch warmen Leib wühlte. Dann fühlte er sich wie Gott. Daumen hoch im Kolosseum, und du darfst leben. Daumen runter, und ich ramme dir meinen rostigen Dreizack in den Hals.

Es konnte nicht schaden, zum Schein auf ihr Spiel einzugehen. Christoffer war hundemüde. Seine Augen hätte er nicht einmal aufbekommen, wenn er die Kontrolle über seinen Körper gehabt hätte. Hilflos dämmerte er dahin. Bald würde er die REM-Phase seines Alptraums erreichen. Dort ging sein Geist auf Wanderschaft, getrennt von Leib und Blut. Christoffer klammerte sich mit aller Kraft ans Leben. Seine Vitalzeichen mochten schwach sein, aber das hatte man auch vom angezählten Boxer im Ring behauptet. Im Krankenwagen saßen die Ringrichter und zählten ihn aus. Ihr Unwissen konnte er zu seinem Vorteil nutzen, sobald er die Kontrolle über seine Gliedmaßen zurückerlangte. Es waren Christoffers letzte Gedanken, bevor er in einen traumlosen Schlaf sank. Der totaler Erschöpfung gleichkam.

*

Müller und Reinhardt hatten wenig Eile. Den Täter konnten sie zum Lieferanteneingang hereinschieben, ohne sich um die blonde Ziege an der Rezeption zu scheren. Müller hatte vor Ewigkeiten einmal mit ihr geschlafen. Dabei war sie überhaupt nicht sein Typ. Er hatte es lieber rassig und dunkel. Schlank war Doris nicht gewesen. Mit Schaudern erinnerte er sich an die Dehnungsfugen rund um ihren stattlichen Bauch. Ihre Brüste waren ebenso üppig ausgefallen, darum hatte er das Gebirge auch bestiegen. Das Ganze war letzten Sommer passiert, als er während einer Spätschicht zwei betrunkene Streithähne eingeliefert hatte. Beide hatten zahlreiche blaue Flecken und bluteten aus tiefen Platzwunden. Bevor sie vernehmungsfähig waren, mussten die Krawallbrüder erst fachgerecht verarztet werden. Einem von ihnen wurde der Magen ausgepumpt. Es war schon erstaunlich, wie viel manche dieser Rindviecher vertrugen. Müller war gereizt und untervögelt, was im Sommer eine überaus hässliche Mischung bedeutete. Ein frivoles Kompliment hatte das andere gegeben, und am Ende waren sie in der Besenkammer gelandet, kurz bevor der Hausmeister sie erwischte. Ihr kurzes tête-à-tête war zänkisch ausgegangen. Seitdem war sie schlecht auf die beiden Beamten zu sprechen. Reinhardt litt unter der ungebändigten Hosenschlange seines Kollegen. Als verheirateter Mann war ihm die Brunst der Jugend fern wie eine verblasste Erinnerung.

„Warum nicht durch den Haupteingang? Schämst dich wohl für deinen blonden Engel.“

„Klappe zu!“

„Doris verzehrt sich bestimmt vor Sehnsucht...“

„Hör mal zu, das war eine einmalige Sache. Kein Grund, ständig darauf herumzureiten.“

„So wie du auf Doris?“

„Muss ich dich an den Abend in der WILDEN MAUS erinnern?“

Reinhardt schluckte. Die WILDE MAUS war ein übler Stripschuppen am Savignyplatz, plüschiges Relikt der siebziger Jahre. So einer mit düsteren Hinterzimmern für besondere Dienstleistungen. Und Strumpfhaltern mit Zigarettenbrandlöchern aus echter Seide. Bei einer gemeinsamen Razzia vor zwei Jahren war der Empfang eine Spur zu herzlich ausgefallen. Genauer gesagt war eine dick geschminkte Bardame mit Federboa Wachtmeister Müller um den Hals gefallen wie eine alte Bekannte. Augenklimpernd hatte sie ihn bezirzt:

„Na Wolfi, wo drückt die Hose?“

Einen Polizisten zu duzen war unverzeihlich. Ihn mit Vornamen anzusprechen Untergraben seiner Dienstautorität. Wobei anhand des Milieus zu entscheiden war. Von einem Herrn Professor waren anderen Umgangsformen zu erwarten als von einer einfachen Dirne. Dennoch, dass Lola seinen Kollegen mit Vornamen kannte, warf ein dunkles Licht.

„Nein, musst du nicht.“

In der Pathologie schob Wilfried Schambeck Nachtschicht, ein alter Bekannter. Kauzig, schmierig, ein absoluter Widerling. Nicht zum ersten Mal fragten sie sich, ob er seine weiblichen Kundinnen fickte. Und zwar egal, ob das zersetzte Gewebe zu riechen anfing. Umso feuchter waren sie in seinen schmutzigen Pranken. Wilfrieds fettige Haare waren nach hinten gekämmt. Dem Geruch nach zu urteilen kam er ohne Pomade aus. Die Frisur hielt mit seiner eigenen Schmiere.

„Einen schönen Abend die Herren. Was bringen Sie mir?“

„Patient ist männlich, weiß, circa vierzig Jahre alt... und der berüchtigte Serienmörder Christoffer.“

„Welch Prominenz in diesen kühlen Hallen!“

„Hat ein paar Kugeln in die Rippen bekommen auf der Flucht. Wann können wir mit der Obduktion rechnen?“

„Sehen Sie sich doch um, meine Herren. Fällt ihnen etwas auf?“

Die Bude war knüppelvoll. Teilweise lagen die Leiber übereinander gestapelt wie Klafterholz. Eine Frau lag mit dem Gesicht nach unten auf einem keimfreien Edelstahltisch. Ihre offenstehende Fotze schien ihnen höhnisch zuzulächeln.

„Normalerweise verläuft mein Job angenehm ruhig. Gut, ich plage mich mit den Kunden herum, aber keiner ist arrogant oder maulig. Alle halten sie brav die Klappe. Dann wieder kommen Zeiten, da sterben sie da draußen wie die Fliegen. Als hätte Gott beim Kegeln einen Kranz geworfen.“

„Was ist ein Kranz?“

„Keine Kegelfreunde, hm?“

„Da muss ich passen.“

„Wenn alle umgenietet werden, bis auf einen in der Mitte. “

„Als würde er Gott trotzen und seiner Schöpfung ins Gesicht spucken.“

„Wohl mehr der Dichter und Denker?“

„Dienstlich gesehen der Richter und Henker.“

Der Pathologe zog einen Schleimklumpen hoch und spuckte ihn in den vollen Papierkorb. Angewidert verzog der diensthabende Beamte Reinhardt den Mund. Putzfrau durfte hier auch kein Zuckerschlecken sein.

„Soll mir recht sein. Momentan ist bei uns die Hölle los. Wir legen den Kamerad erst einmal auf Eis. Weglaufen kann er ja wohl kaum.“

Daraufhin brachen sowohl der Pathologe, als auch die beiden Polizisten in schallendes Gelächter aus. In dem gefliesten Raum hallte es ekelhaft von den Wänden. Müller reichte ihm eine Visitenkarte vom Präsidium.

„Bis wann können wir mit den ersten Ergebnissen rechnen?“

„Ich melde mich bei euch. Kann aber eine Weile dauern.“

„Normalerweise müssten wir einem Flüchtenden erst in die Beine schießen. Schreiben Sie Abwehrverletzungen in ihr Protokoll. Sonst pisst uns der Chef ans Bein. Es soll aussehen, als hätte Christoffer uns angegriffen.“

„Geht klar, Jungs. Mit dem seiner Laufbahn kauft euch jeder die Geschichte ab. Alter Schwede, Serienmörder Christoffer. Irgendjemand bekommt wohl heute noch eine Medaille, was?“

Müller errötete unter seiner Dienstmütze, die er nur bei offiziellen Anlässen trug.

„Lassen Sie es wie einen Unfall aussehen.“

Christoffer wurde in eine der Schubladen gesteckt. Mit Vollauszug ging es in die Gruft, leider ohne Anschlagsdämpfung. Zu den pochenden Schmerzen in seinem Oberkörper gesellte sich das erlesene Kribbeln geprellter Zehen. Er kochte vor Wut! Was glaubten diese Schweine eigentlich? Sich die Wahrheit zurechtbiegen zu können, wie es ihnen gerade passte? Heimtückisch hatten sie ihm in den Rücken geschossen. So und nicht anders. Oh, er würde sie leiden lassen. Ein schneller Tod kam für diese Brut nicht in Frage.

*

Langsam erwachte er aus einem dunklen Traum. Schüttelte die Bettschwere ab und die Sandkrumen aus den Augen. Jeder Knochen im Leib schmerzte, als wäre er in einen Schraubstock gelegt worden. Erinnerungen marterten sein Gehirn. Während der Körper auf Sparflamme lief, nährten ihn blutige Bilder. Er sah seine Schwester, die er eigenhändig erschlagen hatte, bevor er das elendige Biest entjungferte. Dabei hatte sie ihn eindeutig provoziert. Warum sonst hätte sie ihre harten Knospen so exzessiv zur Schau gestellt? Vor seinen Augen erblühte die Tote zu neuem Leben, ihr Gesicht von sommerlicher Hitze gerötet. Ein kleiner Schweißtropfen war ihr am Hals hinabgelaufen, und wurde von ihrem Bikini aufgesogen wie ein Schwamm. Fast hätte er auf der Gartenliege abgespritzt, während dieses kokette Aas im Hof stolzierte wie ein Safthuhn mit festem Brustfleisch, und seine Reize zur Schau stellte. Jedem Bruder wäre da einer abgegangen. Ihre Eltern waren zu Besuch bei Freunden der Familie, und so hatte das Unglück seinen Lauf genommen. Natürlich war sie ihm nicht sofort zu willen gewesen. Ein wenig nachhelfen musste er schon. Aber nachdem er sie mit einem dicken Ast erschlagen hatte, spreizte sie die Beine wie von selbst. Ihre Fotze lag in den letzten Zuckungen. Christoffers Erektion hatte bei dem kleinen Handgemenge etwas gelitten. Aber als er in ihre heiße Möse vordrang, wurde er hart wie eine Pflugschar. Mit seinem harten Eisen hätten Bauern Saatreihen in den Acker ziehen können. Er küsste sie tief und fest. Überall war Blut, so salzig wie der Schweiß auf ihrer Haut. Er schien an diesem Blut zu ertrinken. Atemlos spuckte er aus und schnappte nach Luft. Das Gesicht seiner Schwester war kaum wiederzuerkennen. Ein wildes Tier war über sie hergefallen. Überdeutlich ragten ihre Zähne aus einer ansonsten zerschlagenen Masse heraus. Hämatome zogen sich über ihre Wangen als erröte sie vor Scham darüber, dass der eigene Bruder sie geschändet. Ihre abgebissenen Lippen lagen zwischen Tannennadeln und Moos.

Schwesterherz war die erste in einer langen Reihe gewesen. Und die erste, deren Lippen er abgebissen hatte. Christoffer sah all die Frauen, denen er mit Beilen und Messern die Menschlichkeit abgezogen hatte wie eine Orangenschale. Dann die eine, die seine Rettung sein sollte. Deren Liebe ihn von seinen dunklen Chimären befreien sollte. Warum konnte er sich nicht an ihren Namen erinnern? Weil er sie ausgelöscht hatte. Und ihre Reste in der Stadt verteilt wie ein umgekehrter Lumpensammler.

Mühsam öffnete er seine Augen, die ihm wie heiße Kohlen in der Stirn brannten. Die Dunkelheit schaute in ihn hinein wie in ein leeres Gefäß. Trotzig hielt er ihrem taufeuchten Blick stand. Auch seine Hände wollten nicht mehr preisgeben als einen eng bemessenen Raum, kaum groß genug um sich zu drehen. Jeder normale Mensch außer Christoffer wäre in Panik ausgebrochen. Mit den Fingerspitzen ertastete er winzige Vertiefungen in der ansonsten glatten Wand. Daran hielt er sich fest und stemmte seine Füße gegen das hintere Ende seines Gefängnisses. Klick. Der kurze Lichtspalt blendete ihn wie tausend Sonnen. Wie lange hatte er die Finsternis geschmeckt? Mehr, als ein Mensch ertragen konnte. Christoffer war kein Mensch. Als seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnten, dämmerte es ihm. Nur mühsam unterdrückte Christoffer ein schrilles Kichern. Er war also ein abgeschriebenes Blatt.

*

Endlich waren die beiden Bullen verschwunden. Schambeck knurrte der Magen. Harte Arbeit machte auch einen gefühllosen Klotz wie ihn hungrig. Am liebsten hätte er zwischen den Leichen sein Vesperpaket ausgepackt, und nach einer kurzen Pause weitergemacht. Die Arbeit wurde ja nicht weniger, bloß weil er einen Moment verschnaufte. Ihr Anblick machte ihm nichts aus. Beim Essen hatte er gerne Gesellschaft. Vor allem, da seine Kollege ihn mieden wie die Pest. Er wusste doch, wie sie ihn hinter seinem Rücken nannten: Frankensteins buckliger Helfer Igor. Der unablässig Hirn für den Meister suchte. Schambecks Meister im realen Leben war Oberarzt Kleinmeyer. Er sah es nicht gern, wenn die Angestellten der Pathologie neben toten Körpern frühstückten.

„Von meinen Leichen hat sich noch keine beschwert.“

„Darum geht es nicht, und das wissen Sie so gut wie ich. Es ist einfach unhygienisch! Haben Sie eine Ahnung, wie viele Krankheitserreger in einem verwesenden Stück Fleisch wimmeln? Selbst bei laufender Klimaanlage riskieren Sie eine Epidemie.“

„Ich kann zivilisiert speisen. Kein Brotkrümel noch ein Tropfen Mayonnaise landet auf ihren werten Körpern.“

„Schluss damit Schambeck, ich will es nicht hören. Sie verwenden die dafür vorgesehenen Pausenräume wie jeder Angestellte.“

Nach der Auseinandersetzung mit dem Oberarzt traute er sich nicht mehr in der Leichenhalle zu essen. Die Kollegen rümpften weiterhin die Nase in seiner Nähe. Damit teilte Schambeck das Schicksal aller Leichenfledderern in weißen Kitteln. Jeder schätzte ihr fachliches Urteil, aber niemand wollte ihnen die Hand schütteln.

„Fenster auf du alte Sau!“

Einer der Gründe warum seine Kollegen ihn nicht leiden konnten, war seine Vorliebe für scharf belegte Stullen. Heute hatte seine Mutter ihm Mett mit Zwiebelringen eingepackt, Schambecks Leibspeise. Dicht gefolgt von Knoblauchbrot mit Sardellen. Wenn die Welt dir übel mitspielt, ein Mutterherz kann viel verzeihen. Und ist rund um die Uhr um das Wohl ihres einzigen Sohns bemüht. Wenn er von anstrengenden Tagen wie diesem heimkehrte, war sein Bett frisch bezogen, die Wäsche lag gebügelt im Schrank, und im Kühlschrank fand er die Reste des Abendessens, die er nur noch in die Mikrowelle schieben musste. Eine Frau zu finden die ihn genauso liebevoll umsorgte, schien ausgeschlossen. Wegen seines Berufs standen die Weiber nicht gerade Schlange, und für die Kuppelshows der Privatsender war Schambeck zu intelligent. Er würde wohl ewig in Mutters Haus wohnen bleiben.

*

Nackt stand er in der verlassenen Leichenhalle. Der kalte Fliesenboden macht seine Füße innerhalb weniger Sekunden taub. In den Zehen kribbelte es wie nach einem langen Wintermarsch. Viel Zeit blieb ihm nicht. Ein vorzeitig zu Grabe Getragener wäre eine Sensation! So viel Aufmerksamkeit konnte er derzeit nicht gebrauchen. Vorbei die Zeiten mit dem maskierten Gesicht vor der Stativkamera, wo er stolz die Öffentlichkeit an seinen Gewaltexzessen teilhaben ließ. Vom süßen Rausch war nichts geblieben.

Zaghaft versuchte Christoffer die ersten Schritte. Hangelte sich an der Wand entlang, bis seine Waden nicht mehr zitterten. Ihm war speiübel und sein Kopf hämmerte wie ein ganzes Stahlwerk. Jeder seiner Schritte glich der kleinen Meerjungfrau, die auf Messerklingen ging. Der Zauber der Meerhexe hatte sie menschlich gemacht. Christoffer blieb ein Raubfisch, der einsam durch die Meere zog. Er musste hier rauskommen, bevor er im Schlick stecken blieb. Nackt war er in diese Welt geboren. Mutterlos suchte er um Schutz. Die heiligen Werte der Gesellschaft. Kleidung, Nahrung, und ein Dach über dem Kopf. Wütend zog er Schublade um Schublade aus der Wand. Manche der Leichen trugen die Y-förmigen Einschnitte des Pathologen. Andere starrten mit offenen Augen ins Nichts. Aber alle waren sie nackt, oder ihre Kleidung zur Untersuchung aufgeschnitten. Er musste schnell irgendeinen Fetzen Stoff um den Leib bekommen, der ihn nicht wie einen dahergelaufenen Wilden aussehen ließ. Seine empfindlichen Raubtierohren witterten das Auf und Ab menschlicher Füße auf dem Gang. Schmatzende Geräusche verrieten ihm geschlossene Gesundheitslatschen mit weißen Kappen, wie Puschen neben dem Betthaupt des müden Tages. Die trügerische Abgeschiedenheit der Leichenhalle bot keine Sicherheit. Sie waren überall um ihn herum, und konnten jederzeit zur Tür hereinkommen.

*

In einer Rollbox aus poliertem Edelstahl fand er einen schmutzigen Haufen Wäsche. Das meiste davon war unbrauchbar. Blutbefleckt, zerschnitten von Chirurgenhänden, Abfälle des Obduktionstisches voller Eiter und Staub. Bildeten sie eine schmierige Masse, die in Christoffers geschundenen Händen brannte. Nicht einmal an die Schürfwunden konnte er sich erinnern. Er ignorierte sie wie er die Kugeln in seinem Oberkörper ignorierte. So lange er seine Lungen mit Luft vollpumpte und sein Herz schlug, konnte er sich später Gedanken darüber machen. Unangenehm stachen sie ihm in die Rippen und verbreiteten ihr fiebriges Gift.

Weiter unten erspähte Christoffer einen einigermaßen unbeschadeten Patientenkittel. Er roch nach den üblen Flüssigkeiten, die aus den oberen Schichten durchgesickert waren. Für den Moment musste es reichen. In seiner prekären Lage war er dankbar für jeden Schritt unter den Lebenden. Am Spiegel über dem Handwaschbecken strich er seine Haare mit ein paar Spritzern eiskaltem Wasser glatt. Verlassen konnte er das Klinikum in diesem Aufzug nicht: Barfuß und den Rücken von zwei Stoffbahnen gespalten. Im Malstrom der Patienten auf dem Weg nach unten Richtung Raucherecke würde er auffallen wie ein bunter Hund. Notdürftig schloss er den Kittel mit einer Wundklemme aus der Instrumentenschale. Seine nackte Kehrseite wäre zu viel des Guten gewesen. Man hätte ihn gefragt, wie er sich in die Pathologie verirrt haben konnte. Und ihn auf sein Zimmer zu geleiten versucht, was er nicht benennen konnte. Christoffer musste sich eine Strategie zurechtlegen als aufrechter Patient. Der selbst den Weg zu seiner Stube fand. Oder aber er spielte den Ahnungslosen, der sich im weitläufigen Klinikgebäude verirrt hatte. Flach presste Christoffer sein Ohr gegen die Tür, lauschte auf einen Moment gnädiger Stille. Wo kein Zischen von Kreppsohlen auf Linoleum zu vernehmen war. Auf nackten Sohlen trat er hinaus. Ließ die Leichenkammer hinter sich wie einen ungeträumten Traum.

„Lebend bekommt ihr Schweine mich nicht. Und tot genauso wenig.“

Nach der Kühle der Totenkammer traf ihn die Wärme auf dem Gang wie ein Schlag. Tief im Keller der Klinik entsorgten sie menschlichen Abfall. In Stücken und im Ganzen, wie im Schlachthof. Handläufe an der Wand gab es keinen. Wer hier landete, stand normalerweise nicht mehr auf. Schwarze Rosen erblühten in Christoffers Blickfeld. Wie lange hatte er auf Eis gelegen? Wie lange nichts gegessen oder getrunken? Sein Körper lechzte nach Nährstoffen. Nach Medikamenten, die ihm auf die Sprünge halfen. In einem vorigen Leben hatte er in der Altenpflege gearbeitet. Damals hatte er einen guten Riecher dafür bekommen, wo die guten Pillen lagen. Simple Antibiotika würden ihren Zweck tun. Das Wundfieber vertreiben.

*

Hinter Tür Nummer eins fand er eine unaufgeräumte Besenkammer mit Putzmitteln. Hinter Tür Nummer zwei einen Pausenraum der Stationsschwestern. Eine junge Arzthelferin zuckte ertappt zusammen und warf ihren glimmenden Zigarettenstummel aus dem Fenster. Wie in allen öffentlichen Räumen war das Rauchen verboten.

„Entschuldigung, falsche Tür.“

„Nichts für ungut. Wohin wollen Sie denn?“

„Die Raucherecke habe ich Gottseidank gefunden. Nun will ich zurück zur Bettenburg der Inneren.“

„Da sind Sie hier völlig falsch. Nehmen Sie den Aufzug in den fünften Stock.“

„Danke. Ohne Sie würde ich noch stundenlang durch die Gänge irren.“

*

Schwester Monika runzelte die Stirn über ihrem Rätselheft. Mit dem Kugelschreiber tippte sie nachdenklich gegen ihre Unterlippe.

„Ist dir etwas aufgefallen?“

„Was denn?“

„Er roch gar nicht nach Zigaretten.“

„Liegt bestimmt an deiner Erkältung. Du solltest dich bei Doktor Stewinger krankschreiben lassen.“

„Das wird es sein.“

*

Hinter Tür Nummer drei lauerte der Hauptgewinn. Antibiotika so viel wie er in seine Taschen stopfen konnte. Schmerzmittel der härtesten Sorte. Als Pillen, als Pulver, als Spritze. Jeder Junkie vom Bahnhof Zoo hätte feuchte Augen bekommen und zitternde Venen. Damit war sein Überleben aus medizinischer Sicht fast gesichert. Er schluckte Penicillin gegen den Wundbrand, und das lodernde Fieber in seinem Kopf ließ augenblicklich nach. Endlich konnte er wieder klar denken. Die nächsten Schritte planen. Er würde es ihnen heimzahlen. Dass sie ihn ins sichere Grab geschickt hatten. Doch erst musste er zu Kräften kommen. Er würde in der Cafeteria speisen, wie jeder anständige Patient. Doch dafür brauchte er einen Bademantel und Pantoffeln. Auch hier blieb Christoffer seiner neuen Strategie treu: doof stellen und dreist. Er klapperte mehrere Patientenzimmer ab und entschuldigte sich jedes Mal, die falsche Tür erwischt zu haben. Bis er den perfekten Raum fand.

Zwei der drei Betten waren unbelegt. Entweder weil es den Patienten besser ging, oder sie zum Sterben nachhause geschickt wurden. Der verbliebene Gast schnarchte so laut, dass die Gardinen raschelten. Neben seinem Bett fand er tadellos passende Pantoffeln. Angestachelt von diesem Glückstreffer durchwühlte er das Bad nach einem passenden Bademantel. Was er fand war hässlich und bestand aus gestreiftem Frottee. Außerdem war er ihm mindestens eine Nummer zu groß. Christoffer konnte es sich nicht leisten wählerisch sein. Bevor der Patient aufwachte, musste er hier verschwunden sein. Schnell schnappte er sich dessen Zivilklamotten, der Schläfer hatte sie arglos im Schrank versteckt. Niemand rechnete damit, dass im die Kleidung gestohlen wurde. Quasi nackt in der Welt zurück zu bleiben, ohne eine Erinnerung an sein voriges Leben. Willkommen im Club, dachte Christoffer. Beim hinausgehen merkte er sich die Zimmernummer.

*

Christoffer musste sich einen freien Platz in der gut besuchten Cafeteria erkämpfen. Wenigstens war er nicht der einzige Idiot in Patientenkluft. Rings um ihn herum saßen graue und gelbe Gesichter, bartstoppelig, ungewaschen, deprimierend. Die sich auf einen längeren Aufenthalt in der Klinik eingestellt hatten. Deren Chancen gut standen, das Gebäude nur noch liegend zu verlassen. Wenn sie aus der täglichen Routine der Tablettwägen im Zimmer ausbrachen, dann weil sie Besuch erhielten. Das strahlende Leben am Tisch, was mit den Tränen kämpfte. Christoffer waren ihre Verhaltensweisen fremd, wie Insekten beobachtete er sie. Mitleid war ihm kein vertrautes Gefühl.

Mit knurrendem Magen studierte er die Speisekarte. Seine letzte Mahlzeit lag Tage zurück. Irgendwann schaltete der Körper auf Sparflamme und verbrannte seine eigenen Zellen. Wie eine vom Schnee eingeschlossene Touristengruppe auf einer Skihütte in den Bergen. Die am Ende das Mobiliar verheizt. Kehrte sein Körper zum Kannibalismus zurück. Christoffer wusste nicht einmal, wie viel Uhr es war. Er lebte von geborgter Zeit. Sollte er Frühstück verlangen oder bereits das Mittagessen? Ein rascher Fensterblick ließ ihn die Tageszeit erahnen. Grell schien die Sonne in den Park. Einige Patienten nutzten die Gelegenheit zu einem ausgedehnten Spaziergang, bevor die grauen Wolken am Horizont näherkamen. Der Wind frischte auf, und Christoffer lief die Zeit davon. Es musste Nachmittag sein.

Die Kellnerin trug die Haare im Nacken zu einem Knoten zusammengeflochten. Darin steckte ihr Kugelschreiber wie der Dolch in einem Mordopfer. Offensichtlich eine schlechte Angewohnheit wegen der ihr Vorgesetzter sie seit Jahren rügte, und es schließlich aufgab. Als sie die Bestellung aufnahm, zog sie den Kugelschreiber aus ihrem Dutt und zückte einen zerknitterten Notizblock. Über den Rand ihrer bunt gemusterten Lesebrille sah sie Christoffer fragend an. Mit ihren Netz aus feinen Fältchen um die Augen war sie die Großmutter, die er nie gehabt hatte. Sie war ihm auf Anhieb sympathisch.

„Was hättest Du gern, Herzchen?“

„Zu früh für Abendessen?“

„Bisschen schon. Aber ich kann dir kalten Braten aufschneiden und Roggenbrot.“

„Machen Sie einen Klecks Mayonnaise dazu, und ich heirate Sie vom Fleck weg.“

„Ist das alles?“

„Eine Möhrensuppe vorweg. Und zum Dessert Apfelkuchen. Kaffee so viel Sie tragen können.“

„Da hat aber einer Hunger.“

„Meine neuen Medikamente schlagen an.“

Christoffer brachte ein müdes Grinsen mit aufgesprungenen Lippen zustande. Er musste seine Finger flach auf den Tisch legen, damit sie sein Zittern nicht bemerkte. Ungeduldig speichelte sein Mund in froher Erwartung baldiger Speisen. Von allen Tischen zogen die Wohlgerüche in seine Nase. Bunter Irrlichter tanzten durch sein Gesichtsfeld. Gnadenlos breiteten sich graue Flecken aus. Müde, so müde. Christoffer nickte ein. Sein Schlaf kam einem Koma gleich.

„Aufwachen, Herzchen.“

Die Bedienung war zurück. Mit ihr ein unüberschaubarer Wust aus prall gefüllten Tellern. Die Suppe war lauwarm und schmeckte nach Mikrowelle, aber Christoffer schaufelte sie gierig in sich hinein.

„Nur langsam, keiner futtert dir was weg. Lass es dir schmecken.“

Der Kaffee hingegen war so heiß, dass er sich die Zunge verbrannte. Christoffer merkte es kaum. Der Rinderbraten war deutlich übergart, das Fleisch fiel fast von der Gabel. Zusammen mit der Mayonnaise war es die reinste Köstlichkeit. Christoffer leckte sich seine schmutzigen Finger wie er sonst das Blut seiner Opfer aufgeleckt hätte. Mit jeder Kalorie floss Leben in ihn zurück. Er brauchte die Energie für seine Flucht.

„War alles okay?“

„Besser geht es nicht.“

„Freut mich.“

Die Bedienung händigte ihm die Rechnung aus. Unter dem Strich fiel sie günstiger aus als erwartet. Für ihn war sie dennoch unbezahlbar. Seine letzte Barschaft hatte der Pathologe mitgehen lassen.

„Schreiben Sie es auf Zimmer 202, Patient Schmidt.“

„Ist recht.“

Der schnarchende Mann aus dem zweiten Stock konnte ihm nur leidtun. Bademantel weg, Pantoffeln weg, und die ganze Sporttasche mit Zivilklamotten und unersetzbaren persönlichen Stücken. War echt nicht sein Tag heute. Dazu kam noch die Zechprellerei im Café, die er bestimmt nicht von seiner Krankenkasse absetzen konnte.

*

Er gehörte wieder zur Gesellschaft, beherrschte deren Mimikry. Auf der Toilette zog er sich um. Die Hosen von Herrn Schmidt waren ihm zu groß, aber das machte nichts. Die Säume konnte er umkrempeln, und der Gürtel des Bademantels verhinderte, dass sie ihm in die Kniekehlen rutschte. Kein Mensch hielt ihn auf als er das Klinikportal passierte. Er biss sich auf die Lippen und schmeckte salziges Blut. Der träge Saft, der Leben erst möglich machte. Den Portier grüßte er wie einem alten Kollegen. Die kalte Luft schmeckte nach Freiheit.

*

Christoffer erhielt eine zweite Chance. Vielleicht auch die dritte oder vierte, bedachte man wie viele Asse er in der Vergangenheit aus dem Ärmel gezogen hatte. Doch mit seinem neuen Leben waren auch Geburtsschmerzen verbunden. Trotz Antibiotika fiel ihm jeder Schritt schwer. Mühsam versuchte er sich an den alten Kurpfuscher zu erinnern, den er während seines Diensts im Altersheim kennengelernt hatte. Ausgespuckt in eine Welt, die er besser nie kennengelernt hätte. Sie hatten ihn immer wieder totgesagt. Konnten es nicht lassen, seine Existenz in die Grube zu verbannen. Doch er würde es ihnen zeigen. Aus der schieren Wut heraus schien er neue Kraftreserven zu generieren. Dicke Schichten aus Schorf bedeckten seine Hände. Alte Morde, saures Blut. Geronnen zwischen seinen Fingern. Noch zitterten seine Gliedmaßen wie lästige Anhängsel der Evolution. Als wollten sie nicht zu ihm gehören. Drei Generationen später wäre er ein besserer Mensch, ein besserer Mörder. Sein linkes Bein schleifte am Boden wie der Schwanz eines Alligators. Christoffer konnte ihn nicht abstreifen wie seine dunkle Vergangenheit. Sobald er Ordnung in sein kleines Leben gebracht hatte, musste er sich unbedingt ausruhen. Auch sein Bein würde dann wieder mitspielen. Zittern in den Gliedern, als hätten sie ihn verlassen. Das elendige Dreckspack! Irgendjemand würde dafür büßen müssen. Langsam ballten er seine Finger zu Knoten. Aus Knoten wuchsen Fäuste. Eine Katze hat neun Leben, dachte er angespannt. Neun verdammte Leben. Wie viele davon habe ich aufgebraucht? Hier bleiben konnte er nicht, soviel stand fest. Sein heiliges Fleisch in Gold bewogen. Wenn sie erst einmal rafften, dass sein Leichnam nicht mehr da war, würden sie ihre Bluthunde auf ihn hetzen. Taschenspielertricks, dutzendfach gespielt.

Die Füße wie ein Verbrecher eingeschlagen in Packpapier flüchtete er durch Hinterhöfe. Wo er von den Wäscheleinen klaubte, was ihm zum Leben reichte. Christoffer ließ seine Vergangenheit hinter sich, den Schmerz in den Knochen wie eine nicht sterben wollende Erinnerung. Im Unterholz verlor sich seine Spur.

*

„Schlechte Nachrichten, Kommissar Weschel.“

„Was liegt an?“

„Christoffers Leiche ist weg.“

„Was soll das heißen, die Leiche ist weg ?“

„Na wie ich ihnen sagte. Weg eben. In Luft aufgelöst.“

„Hat die Presse Wind bekommen?“

„Nein.“

„Wer weiß bislang davon?“

„Außer uns beiden niemand. Das Klinikum will die Sache lieber unter Verschluss halten.“

„Soll es auch. Für die Öffentlichkeit ist der Fall abgeschlossen.“

„Wenn nun aber…?“

„Schluss damit! Wenn die Pressekanaille fragt, wurde sein Leichnam eingeäschert. Mehr braucht diese elendigen Schnüffler nicht zu interessieren.“

„Okay, Boss. Ich werde ein Presseverbot verhängen im Sinne der allgemeinen Sicherheit.“

„Sie sind ein guter Mann.“

Die Paris-Connection

Zu einem normalen Arzt konnte Christoffer nicht gehen. Wegen einem simplen Schnupfen oder Gicht im Zeh, ja. Nicht aber mit mehreren Kugeln im Leib. Christoffer hatte keine Lust, die ärztliche Schweigepflicht bis an ihre Grenzen auszutesten. Er glaubte sich daran zu erinnern, dass Schusswunden meldepflichtig waren. Für solche Fälle gab es Spezialisten, die in keinem Telefonbuch standen. Muharin wäre jetzt der richtige Mann gewesen. In Paris hatte er ihm für einen vernünftig klingenden Preis zu Ausweis und Sozialversicherung verholfen. International war er besser vernetzt als der islamische Staat in Syrien. Mittlerweile mochte er zum Sprungbrett radikalisierter Muslime geworden sein, wer weiß? Damals hatte er einem Kuffar wie Christoffer ein neues Leben auf dem Reißbrett ermöglicht. Binnen weniger Tage stand sein neuer Ausweis bereit, und er konnte sich als Rädchen ins gut geschmierte Getriebe der bürgerlichen Gesellschaft einfügen.

Weder kannte er Muharins Handynummer auswendig, noch hätte sie ihm etwas genutzt. Typen wie er wechselten Telefonnummern wie andere Männer die Unterhose. Sicher besaß er ein schwer zu ortendes Satellitenhandy, oder skypte anonym mit seinen Verbindungsleuten im Untergrund.

*

Im Laufe seiner Ehe hatte es ihn immer wieder zu den dunklen Plätzen Berlins gelockt. So war er in Parks spazieren gegangen auf der Suche nach schwer einsehbaren Hecken. Hatte Abbruchhäuser inspiziert, und war manchem fluchenden Penner dabei in den gluckernden Magen getreten. Manchmal hatte er unter einem Vorwand abends das Haus verlassen. Bei Nacht betrachtet offenbarte sich ihm eine andere Stadt. Das glitzernde Babylon perverser Möglichkeiten. Er durfte die Mädchen mit den schmutzigen Gedanken nicht enttäuschen. Die kurze Röcke trugen und lange Wimpern. Die einen Märchenprinz suchten und den Tod fanden. Ruckedigu, Blut ist im Schuh! Und weit nach Mitternacht fuhr keine Kutsche mehr. Keine S-Bahn, keine Tram, keine Rosen. Christoffer war ihr Kavalier mit dem spitzen Dorn.

Seine ganze Ehe war eine Lüge gewesen. Der Engel mit den ausgeschabten Flügeln hatte nie Erlösung gesucht, noch Läuterung. Nur den nächsten blutigen Fick. Wie ein Junkie auf Methadon schritt er sein Jagdrevier ab. Den Straßenstrich hoffnungsloser Frauen aus Osteuropa, die so schnell keiner vermissen würde. Erst wenn kein Geld mehr nach Bukarest überwiesen wurde, machte die Verwandtschaft sich Sorgen. Aber welche deutsche Polizei glaubte den kaum verständlichen Worten einer rumänischen Familie? Christoffer hatte sich für Maja zusammengerissen. Am süßesten jedoch schmeckt die Lüge aus eigenem Mund.

*

Ein dunkler Engel sucht den Kontakt zur Unterwelt. Bei seinem Lebenswandel rechnete Christoffer täglich damit, alle Zelte hinter sich abbrechen zu müssen. Dies war kein Leben, sondern eine beständige Flucht. Wer an seinen Traum glaubte, war bereit manches Opfer dafür zu bringen. Seine Religion trug einen blutigen Altar. Ihre Lippen waren ein an die Wand genageltes Kreuz. Seine Bürde. Seine Masturbationsvorlage.

Christoffer kannte Kreuzberger Teestuben abseits der Touristenmeile. Wo türkischer Apfeltee in kleinen Gläsern serviert wurde, und man Gerechtigkeit im Hinterzimmer kaufen konnte. Muharin hatte er nicht wiedergefunden, wohl aber Leute die ihn kannten. Da war der Bürgerkriegsflüchtling Djamal mit den finsteren Augen und dem Zucken in den Mundwinkeln. Fremde hielten es für ein Lächeln. Wer ihn allerdings besser kannte, sah die posttraumatische Störung. Ohne Papiere und mit einer Beinprothese kellnerte er nachts in Studentenkneipen. Ein Wunder, wie er sich stundenlang auf den Beinen halten konnte. Nachts nässten seine Stümpfe und er klagte jämmerlich sein Leid in der Teestube.

Der andere Stammkunde war ein hochgeschossener Senegalese mit einer Vorliebe für bunte Ketten aus Tonkugeln. In seinem Heimatdorf hatte er Schreckliches gesehen. Kinder, mit der Machete in handliche Brocken gehauen. Manchmal hatte Modou selbst das Messer geschwungen, die Unterarme bis zum Ellbogen in Blut getaucht. Christoffer fand sofort einen guten Draht zu ihm. Ihm gegenüber vertraute er Dinge an, die er niemandem sonst zu sagen getraut hätte. Vor allem nicht den Jungs von der Asylbehörde.

„Ich habe mein Machete geliebt. Damit wirst du Mann, und anderer Mann wird Fleisch.“

Christoffer klopfte ihm grinsend auf die Schulter, und machte dem Wirt ein Zeichen, Anisgebäck zu bringen.

„Wenn du wüsstest, in wie vielerlei Hinsicht mir das bekannt vorkommt. Aber dafür bin ich nicht hergekommen.“

„Sondern?“

„Kennst du einen guten Arzt, der mir ein paar Kugeln rausschneidet?“

„Alter, in was für eine Scheiße bist du da hineingeraten?“

„Wenn die Zeit gekommen ist, erzähle ich dir gerne jede Einzelheit. Sag schon, wer mich zusammenflicken könnte. Bloß Fragen darf er keine stellen.“

„Komm mit.“

Modou zahlte für sie beide und stützte seinen Kumpel. Sein rostiger Lieferwagen, den er für Drogen oder Hehlerware nutzte, stand am Rinnstein bereit. Christoffer konnte kaum noch gerade stehen. Dankbar nahm er die starke Schulter an. Vielleicht habe ich doch meine Kräfte überschätzt, dachte er. Dann wurde er ohnmächtig.

*

Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Krankenbett. Panisch schreckte er hoch, um sich umzusehen. Christoffer erhaschte einen vage Ahnung des ihn umgebenden Raumes. Augenblicklich sank er wieder in die köstlich duftenden Laken. Die Schmerzen in seiner Brust waren schlimmer denn je.

„Das würde ich nicht machen. Ich habe alle Kugeln entfernt, aber die Wundkanäle müssen verheilen. Fünf Tage sollten reichen. Gestatten, Doktor Wahabi.“

Freudig schüttelte der Flickschuster Christoffers schwache Hand. Noch war er zu schwach, um den Händedruck kraftvoll zu erwidern. Geschweige denn einer Frau den Hals umzudrehen. Schwarzes Brusthaar wucherte aus einem weißen Baumwollhemd mit offenem Kragen. Wahabi trug einen akkurat gestutzten Vollbart und eine braun melierte Hornbrille mit eckigen Gläsern. Kein Ring am Finger. In seiner Branche schob man viel Schichtdienst. Nur die wenigsten Frauen machten das mit. Kauf mir ein Auto, bau mir ein Haus, und warum hast du nicht mehr Zeit für die Familie? Weil ich mir den Arsch aufreiße, um deinen Lebensstandard zu halten!

„Wo bin ich?“

„Nennen wir es eine Privatklinik.“

Vor den Fenstern waren die Rollläden heruntergelassen. Durch schmale Spalte drang Tageslicht in den Raum. An der Decke hing eine Reihe Neonlichter, die da brannte bei Tag und Nacht. Keine Bilder an den Wänden, keine Glückwunschkarten krebskranker Kinder, keine mundgemalten Mitleidsdrucke aus der Behindertenabteilung, nichts. Nur alte Kaffeekringel auf der kleinen Kommode, die Doktor Wahabi gleichzeitig als Aktenschrank diente. Christoffer hob die Bettdecke an, und begutachtete das Werk eines nicht zugelassenen Kurpfuschers. Was kein Pflaster abdeckte war von blauen Flecken übersät. Christoffer sah aus, als hätte er eine üble Kneipenprügelei überlebt. Und nicht als Sieger.

„Wo sind meine Klamotten?“

„Im Wandschrank. Man wird sie ihnen am Tag ihrer Entlassung aushändigen.“

„Also ist es kein Hinterzimmer-Krankenhaus. Sondern eine richtige Klinik.“

„Von der Straße aus würde man es nicht meinen. Und für die Bücher ist es eine gemeinnützige Stiftung.“

„Momentan bin ich etwas knapp bei Kasse, aber ich werde Sie für ihre Dienste angemessen entlohnen.“

„Daran habe ich nie gezweifelt. Ich weiß wer Sie sind.“

„Und haben mich trotzdem nicht an die Polizei ausgeliefert?“

„Diskretion ist das Wichtigste in meinem Metier. Davon abgesehen bewundere ich Typen wie Sie. Jeder andere hätte die Hacken hoch gemacht und wäre verstorben. Zäh sind Sie, das muss ich ihnen lassen. Vergessen Sie die Rechnung, ihre Behandlung geht aufs Haus.“

Sprachlos starrte Christoffer ihn an. Offenbar schlummerten stille Fans unter der Bevölkerung, die unverhohlen seine Taten glorifizierten.

„Das ist sehr edel von ihnen. Dafür schließe ich Sie in meine Nachtgebete ein.“

Doktor Wahabi grinste, und winkte dankend ab.

„Ihre Nachtgebete kann ich mir vorstellen. Lieber nicht.“

„Dann gewähren Sie mir die Freiheit auf die Straße zu treten als selbstbestimmter Mann.“

„Dafür ist noch viel Zeit. Als ihr Arzt verordne ich ihnen erst einmal strenge Bettruhe. Sie müssen zu Kräften kommen, bevor wir Sie wieder auf die Menschheit loslassen.“

*

Seine Schmerzen waren erheblich, ebenso die Tabletten dagegen. Christoffer verbrachte seine Tage im sanften Nebel der Betäubung. Alle sechs Stunden durfte er eine weitere Pille schlucken. Und wieder legte sich der graue Schleier über seine Existenz. Aus fünf Tagen wurde eine geschlagene Woche. In Christoffer rumorte es. So wohlwollend Doktor Wahabi ihm gegenüber auch gestimmt war, ihm war nicht wohl bei der Sache. Je schneller er hier rauskam, umso besser. Die Katze fällt auf ihre vier Pfoten und rennt mit hoch erhobenem Schwanz davon. Genau so wollte Christoffer aus der Privatklinik scheiden.

„Ich benötige einen neuen Ausweis, wenn ich dort draußen überleben will.“

„Nicht mein Fachgebiet. Ich stelle ihnen eine Überweisung zu einem Spezialisten aus.“

„Wie kann ich ihnen danken?“

„Ganz einfach: Widmen Sie mir die Nächste. Sie wissen schon was ich meine.“

Nun war Christoffer sprachlos. Unter dem weißen Kittel der Nächstenliebe verbarg sich ein Sadist.

„An ihrer Stelle würde ich ein paar Tage warten, bevor Sie den neuen Ausweis in Auftrag geben.“

Doktor Wahabi zückte einen Taschenspiegel, den er ihm vorhielt. Seine brauen Augen musterten ihn mit einer durchdringenden Intensität, die ihn schaudern machte.

„Wen sehen Sie?“

„Blöde Frage, Christoffer natürlich.“

„Genau darin liegt der Fehler. Auch ihre Umwelt wird den gesuchten Serienmörder Christoffer sehen. Zeit für eine neue Identität. Es liegt an ihnen, wer Sie sein wollen.“

Vertrauen sie ihrem Arzt. Nehmen Sie eine Aspirin, und rufen sie mich morgen wieder an. Er hatte ja recht. Christoffer fand in jedem beliebigen Einkaufszentrum der Stadt einen Passbild-Automaten. Und doch würde er nur der sein, der er wollte.

Laubenfrosch

Christoffer verließ die Klinik mit einem Vorrat an Schmerzstillern und Antibiotika, die einen Elefantenbullen ausgeknockt hätten. Bei Komplikationen durfte er jederzeit anrufen. Er hatte nicht vor zu einem Junkie zu werden und biss sich auf die Zähne, wenn die Wundkanäle pochten. Er brauchte dringend einen vernünftigen Unterschlupf. Bis er seinen neuen Personalausweis in den Händen hielt, musste er sich mit einem Schuppen begnügen, der einem Obdachlosen alle Ehre gemacht hätte. Christoffer war genügsam. Er brauchte nicht viel zum glücklich sein. Eine harte Pritsche und ein trockener Leib Brot taten es ihm für den Anfang. In seinen Adern schlugen die Schmerzmittel ihren eigenen Takt. Oh wie er es ihnen heimzahlen würde. Sie hatten ihn zum Krüppel geschossen. Sein geschundener Körper regenerierte nur langsam. In der S-Bahn konzentrierte er sich auf die kaum verständlichen Durchsagen. Das Vieh rückte ihm auf die Pelle, weit bis über die persönliche Grenze hinaus. Christoffer wurde angerempelt und durchgeschüttelt. Hilflos krallte er in die Halteschlaufen an der Decke, seine Wundkanäle zogen und brannten bis an den Rand des Erträglichen. Nur zu gerne hätte er einem dieser Penner den Schädel eingeschlagen. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt er bis zur nächsten Haltestelle durch. Die Worte des Arztes hingen über ihm wie ein Damoklesschwert. Er musste schleunigst seine alte Identität loswerden. An jeder Station bibberte er darum erkannt zu werden, doch seine Sorge war unberechtigt. Niemand kümmerte sich um seinen Nächsten, jeder vegetierte in seiner anonymen Wohnkobe wie ein Schwein. Die Nachbarn riefen irgendwo an, wenn es im Hausflur zu stinken begann. Bis zum Tod bist du allein. Und niemand hilft dir.

*

Im Grüngürtel Berlins verlor sich die Spur aller Städter. Wo niemand mehr eine Maske tragen musste und glücklich in seiner Nische aufging. Schon zu DDR-Zeiten galt der Schrebergarten als das höchste Idyll spießbürgerlicher Träume. Wo man die Seele baumeln lassen konnte und die Eier sanft schaukeln. Christoffer sehnte sich nach dieser Freiheit. Und die meisten Lauben waren nicht mehr als der feuchte Traum eines gelangweilten Gutmenschen. Im Laufe eines Achtstundentags gärte es in ihnen. Sie wollten die Residenz ihrer Großväter, zurück zum friedlichen Landleben. Dafür kochten sie Eintöpfe mit Gemüse vom Biomarkt, und lernten ihr Getreide selbst zu schroten. Lange jedenfalls hielten die guten Vorsätze nicht vor. Darauf folgte der obligatorische Gang zum Fastfood-Tempel ihrer Wahl. Und der kleine Garten verkümmerte.

*

Auf Höhe Spandau stieg er aus. Inmitten der geschmacklosen Nachkriegsbauten wucherte eine grüne Oase gen Himmel. Bis dahin war es ein schwerer Fußmarsch unter einem wolkenverhangenen Himmel. Der nur darauf wartete seinen Regen über ihm auszuspeien. Christoffer beschleunigte seinen Schritt, obwohl ihm der Atem in der Kehle rasselte wie einem Tuberkulose-Kranken. Unter seinen Stiefeln knirschte der sommerliche Kies, während die Bäume ihr buntes Kleid warfen. Vor einer Blockhütte saß ein Hund ohne Leine, der ihn misstrauisch beäugte. Christoffer hielt seinem Blick stand, bis die Töle demütig seinem Starren auswich. In der Natur galt das Gesetz des Stärkeren. Christoffer streichelte dem wimmernden Hund die Stirn. Es war keine Schande zu unterliegen, wenn man der Schwächere war. Der Hund leckte ihm die ausgestreckte Hand. Tiefe Rinnen krochen über die Innenfläche wie mysteriöse Lebensadern, vorausgesagt von einer Wahrsagerin. Dies ist deine kurze Herzlinie, denn du hast kein Herz. Dies ist deine schraffierte Lebenslinie, die von harten Kämpfen zeugt. Dies ist die dicke Linie deines Kopfs, den du immer durchsetzen wirst.

„Brav. Und jetzt rühren!“

Die alte Zigeunerin war verschwunden und ihre Warze mit dem schwarzen Haar darauf. Nur ihr Kopftuch hing in den Ästen wie eine ferne Erinnerung. Und Christoffers Zukunft in Blutlettern an die Wand gesudelt wie eine geheime Botschaft. Er glaubte nur an das Schicksal, welches er selbst gestaltete. Pech für diejenigen, die nicht dieser Maxime folgten. Er würde sie in Streifen schneiden und auf ein Brett nageln. Wo klebriges Kiefernharz in ihre offenen Wundern sickerte. Der Hund hechelte zu seinen Füßen. Er hatte seinen wahren Meister erkannt und leistete ihm Gehorsam. Christoffer ignorierte die gepflegten Hütten mit den Blumenkästen voller Geranien und und dem Transistorradio auf der Fensterbank. Nickte seinen neuen Nachbarn freundlich zu, die auf der holzverkleideten Veranda Karten spielten. Wer ficken will, muss freundlich sein. Wer seinen Opfern die Lippen aus dem Gesicht nagen will, musste schneller lügen können als der Flügelschlag eines Kolibri. Nur Anfänger gaben sich als fremde Eindringlinge zu erkennen. Christoffer benahm sich vom ersten Schritt an so, als wohnte er seit Jahren hier.

Fernab der befestigten Wege rankte Efeu um die weniger gepflegten Hütten. Mit jeder Abzweigung der Hauptstraße, die sie malerisch als „Rosenweg“ verklärten, verabschiedete sich die Zivilisation auf Nimmerwiedersehen. Ein naturalistischer Maler mit seiner Palette aus Ölfarben hätte hier seine wahre Freude gehabt. Die Umgebung war wirklich pittoresk. Dafür mangelte es an Müllbehältern und einem Gärtner. Die Abfälle verrotteten einfach auf offenem Gelände. Hinter dem maroden Verhau stand die Wiese dicht wie ein Kräuterhain. Ewigkeiten mussten vergangen sein, seit der letzte Rasenmäher durchgefahren war. Erleichtert atmete Christoffer durch. Hier konnte er den letzten Rest an Menschlichkeit verlieren. Und es würde ihn nicht schmerzen.

*

Die kleine Hütte war ein ausgezeichneter Unterschlupf für die nächsten Tage. Es gab kein Schloss aufzubrechen, die Tür lehnte ungesichert in ihren Angeln. Dahinter verbarg sich ein staubiger Raum, der seit Jahren keinen lebendigen Mensch mehr gesehen hatte. Zwei wackelige Stühle lehnten an einem schmutzigen Campingtisch. Drüben an der Wand eine verlotterte Pritsche, die ihm als Bett dienen konnte. Das Kopfkissen roch muffig nach dem Nachtschweiß des letzten Besitzers, der hier sein Haupt gebettet hatte. An der Wand hing ein von der Sonne ausgeblichener Tittenkalender der örtlichen Tankstelle. Die Brüste des Covergirls sprangen ihm wie zwei blaue Schläuche entgegen. Im tönernen Aschenbecher lag eine einzelne ausgedrückte Kippe. Mehr Spuren hatte der letzte Besitzer nicht hinterlassen. Der Fensterrahmen war viergeteilt, das linke untere Feld bestand nur noch aus trüber Kunststofffolie. Vor dem Wintereinbruch musste er diesen Makel dringend beheben, oder er schlotterte sich einen ab. Christoffer würde die Umgebung sichern wie ein Einsatzleiter einen SK-Einsatz. Rückendeckung, das A und O. Wenn man nicht hinterrücks niedergemäht werden möchte. Christoffer beging denselben Fehler kein zweites Mal. Sobald er sich umdrehen konnte ohne Angst zu verspüren, würde er wieder ruhig schlafen. Schlaf, du süßeste aller Freuden! Christoffer konnte kaum noch stehen. Er musste Proviant besorgen. Bei einer Nachbarlaube Strom abzapfen, und sich über eine Heizung für den Winter Gedanken machen. Je nachdem, wie lange er hier verweilen wollte. Mit Antibiotika gewann er Zeit, nicht aber den Kampf gegen die schwärende Wundinfektion. Todmüde fiel er auf die muffige Matratze und schlief bis zum nächsten Tag.

*