10 große Fragen der Philosophie in 60 Minuten - Walther Ziegler - E-Book

10 große Fragen der Philosophie in 60 Minuten E-Book

Walther Ziegler

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Beschreibung

Seit jeher stellen Philosophen von Platon bis Konfuzius, von Descartes bis Marx - unabhängig von ihrem jeweiligen Kulturkreis - zehn große Fragen: 1. Was ist Realität? 2. Was ist das Bewusstsein? 3. Gibt es den freien Willen? 4. Was ist der Sinn des Lebens? 5. Kann man beweisen, dass es Gott gibt? 6. Wenn es Gott gibt - warum lässt er Leiden zu? 7. Was ist eigentlich Gerechtigkeit? 8. Gibt es ein Ende der Geschichte? 9. Gibt es eine Formel, die alles erklärt? 10. Was ist Zeit? Das Buch beantwortet die Fragen auf wissenschaftlich kompetente, gleichwohl unterhaltsame Weise anhand von über hundert grafisch hervorgehobenen Zitaten der bedeutendsten Philosophen der Welt. Dabei gibt es zu jeder Frage, wie in der Philosophie üblich, recht unterschiedliche Antworten, so dass zu den einzelnen Themenbereichen jeweils gleich mehrerere Philosophen zu Wort kommen. Am Ende steht jedoch immer ein Fazit, das die Ausgangsfrage präzise beantwortet. Die Beschäftigung mit den 10 großen Fragen ist über die Philosophie hinaus für jeden Menschen ein großer Gewinn und hilft, die Welt aus einer neuen Perspektive zu sehen. Das Buch "10 große Fragen der Philosophie in 60 Minuten" ist in der beliebten Reihe "Große Denker in 60 Minuten" erschienen, die inzwischen weltweit in sechs Sprachen übersetzt wird.

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Dank an Rudolf Aichner für seine unermüdliche und kritische Redigierung, Silke Ruthenberg für die feine Grafik, Angela Schumitz, Lydia Pointvogl, Eva Amberger, Christiane Hüttner, Dr. Martin Engler für das Lektorat und Dank an Prof. Guntram Knapp, der mich für die Philosophie begeistert hat.

Inhalt

1. Was ist die Realität?

2. Was ist das Bewusstsein?

3. Gibt es den freien Willen?

4. Was ist der Sinn des Lebens?

5. Kann man beweisen, dass es Gott gibt?

6. Wenn es Gott gibt – warum lässt er Leiden zu?

7. Was ist eigentlich Gerechtigkeit?

8. Gibt es ein Ende der Geschichte?

9. Gibt es eine Formel, die alles erklärt?

10. Was ist Zeit?

1.Was ist die Realität?

Im Alltag glauben wir alle recht genau zu wissen, was Realität ist und was nur Phantasie. Doch ganz so einfach ist es nicht. Der Philosoph Descartes erinnert uns daran, dass wir niemals exakt wissen können, ob das, was wir gerade sehen, auch real ist:

In vielen Fällen ist das, was wir sehen nicht die Realität, sondern nur eine Sinnestäuschung. Wenn wir einen geraden Stock zur Hälfte in einen See eintauchen, sieht es so aus, als hätte er in der Mitte einen Knick. In Wirklichkeit handelt es sich dabei nur um den optischen Effekt der unterschiedlichen Lichtbrechung über und unterhalb des Wasserspiegels. Auch eine Kirchturmspitze, die in der Mittagshitze golden glitzert, muss noch lange nicht aus Gold sein und kann bereits im Abendlicht rötlich leuchten.

Und wenn wir träumen, so Descartes, verschwimmt der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Phantasie noch mehr. Viele Kinder träumen, dass sie fliegen oder über dem Bett schweben können. Nach solchen Traumerlebnissen sind sie in der Regel sehr enttäuscht, wenn sie nach dem Aufwachen realisieren, dass alles nur eine Illusion war. Es kommt sogar vor, dass Kinder morgens in ihrem Bett erwachen und auch dann noch in der Lage sind, über dem Bett zu schweben und langsam wieder zu landen. Doch wenn sie dann ihre neue Fähigkeit voller Freude den anderen Familienmitgliedern zeigen wollen, erwachen sie ein zweites Mal und diesmal wirklich. Es wird ihnen bewusst, dass sie nur geträumt haben, dass sie aufgewacht seien und immer noch schweben könnten. Solche und ähnliche Erlebnisse veranlassten Descartes zu einer weitreichenden Schlussfolgerung:

Aber auch unabhängig vom Zustand des Träumens oder Nicht-Träumens kann die Wahrnehmung der „Realität“ durchaus zum Problem werden. Der Philosoph Schopenhauer weist uns darauf hin, dass verschiedene Individuen oft ganz verschiedene Vorstellungen von der Realität haben:

Wenn sich beispielsweise ein Liebespaar unter einem Baum küsst, ein Biologe in der Baumkrone einen Specht beobachtet oder ein Holzfäller den Baum fällen muss, dann sehen zwar alle drei ein und denselben Baum und doch nehmen sie ihn in ihrer Vorstellung sehr unterschiedlich wahr. Schopenhauer sagt deshalb in seinem berühmten Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“, dass letztlich keiner von uns die Welt genau in der Weise sieht, wie sie wirklich ist, denn:

Schopenhauer lässt keinen Zweifel daran, dass es generell keine allgemeine Realität gibt, sondern jeder von uns in seiner eigenen Welt lebt:

Gut, es mag ja sein, könnte man Schopenhauer entgegnen, dass jeder von uns seine eigene Vorstellung von der Realität hat, das heißt aber noch lange nicht, dass es keine für alle geltende Realität gibt. Zur Feststellung der allgemein gültigen „Realität“ haben wir ja schließlich die Wissenschaft, deren zentrale Aufgabe ja gerade darin besteht, die Realität jenseits persönlicher und subjektiver Blickwinkel objektiv zu erkennen und empirisch zu beweisen.

Aber auch die Wissenschaft tut sich schwer mit der Bestimmung der Realität. Der Wissenschaftsphilosoph Popper weist darauf hin, dass selbst die moderne Wissenschaft mit ihren Naturgesetzen die Realität nicht eins zu eins abbilden oder gar erkennen kann, sondern immer nur Hypothesen aufstellt, um ihre Vorgänge zu beschreiben. Die Natur selbst, so Popper, kennt ohnehin keine Gesetze, es sind immer nur wir Menschen, die der Natur Gesetzmäßigkeiten unterstellen. Deshalb sei es eine Hybris, überhaupt von „Naturgesetzen“ zu sprechen. In Wirklichkeit, so Popper, sind es nur geistige Produkte und Interpretationen der Wissenschaftler, die mal mehr, mal weniger zutreffend sind:

Und diese Theorien verändern sich ständig, da sie nach einer Weile meist unbrauchbar werden oder durch bessere ersetzt werden müssen. Popper zeigt dies u.a. an seinem berühmten Schwanen-Beispiel. So haben Wissenschaftler in Europa über hunderte von Jahren nur weiße Schwäne gesehen und aus diesem empirischen Tatbestand das Gesetz abgeleitet: „Alle Schwäne sind weiß.“ Doch als eine Expedition in Patagonien erstmals schwarze Schwäne entdeckte, war diese Realitäts-Aussage mit einem Schlag außer Kraft gesetzt. Selbst Newtons Mechanik, die man für unhintergehbar hielt, wurde von Einsteins Relativitätstheorie abgelöst, die aber, so Popper, auch wieder nur solange gilt, bis ein noch besseres Erklärungsmodell gefunden wird. Deshalb sagt der Wissenschaftsphilosoph Popper:

Gemäß Popper ist es also unmöglich, die Realität komplett zu erkennen und zu erklären. Da der Weltraum unendlich ist, werden auch in Zukunft unendlich viele neue Fakten und Erkenntnisse über die Wirklichkeit dazukommen und ganz neue Wirklichkeitstheorien notwendig machen.

Fazit: Die spannende Frage nach der Realität und nach dem, was wir mit Sicherheit als Wirklichkeit erkennen können und was nicht, wird uns also noch länger beschäftigen – womöglich sogar solange, wie es Menschen auf der Welt gibt. Wir sollten uns bewusst sein, dass sogar wissenschaftliche Erklärungen der Realität letztlich nur provisorisch sind. Vor allem aber sollten wir unseren eigenen Sinn für Realität auf keinen Fall überschätzen. Wir sehen die Welt letztlich nur aus unserer persönlichen Perspektive. Andere Menschen erleben sie oft anders. Unsere eigene Realitätswahrnehmung sollte daher anderen nicht einfach übergestülpt werden, insbesondere dann nicht, wenn es um die Bewertung von Einstellungen und Haltungen geht. Ein altes Sprichwort der Ureinwohner Amerikas besagt: „Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist.“

2.Was ist das Bewusstsein?

Auch diese Frage der Philosophie erscheint auf den ersten Blick sehr einfach zu beantworten. Was ist Bewusstsein? - Das Gegenteil von Nicht-Bewusstsein! Bewusste Vorgänge sind nämlich im Alltagsverständnis zunächst einmal nur der Gegensatz zu unbewussten oder instinktiven Vorgängen. Wenn beispielsweise jemand sein Bewusstsein verliert und ohnmächtig wird, übernimmt sein vegetatives Nervensystem die Steuerungsprozesse. Interessanterweise sacken Bewusstlose beim Sturz meist auf eine ganz bestimmte Weise in sich zusammen, die verhindert, dass sie sich schwer verletzen. Auch die unbewusste Steuerung ist also durchaus zweckdienlich. Im Unterschied zu einer solchen spontanen und unbewussten Reaktion, versucht das Bewusstsein mit rationalen Analysen und Urteilen die Erfolgsaussichten unserer Handlungen im Voraus zu durchdenken und zu verbessern. Philosophen wie Scheler sehen hierin sogar den Unterschied beziehungsweise die graduelle Abstufung des Menschen zu Pflanze und Tier. Die Pflanze kommt noch ohne Bewusstsein aus, das Tier steht an der Schwelle zum Bewusstsein, der Mensch mittendrin. Während etwa die meisten Tiere noch weitgehend in den Plan der Natur verwoben sind und instinktiv auf Reize ihrer Umwelt reagieren, können die höheren Säugetiere bereits mit Hilfe einer mehr oder weniger ausgeprägten praktischen Intelligenz gewisse Entscheidungen treffen. Die Menschen schließlich sind aufgrund ihres Geistes in der Lage, so Scheler, ihre Antriebe und Bedürfnisse zu reflektieren, zuzulassen, umzusetzen und auch zu unterdrücken. Sie können sich selbst und alle ihre eigenen Lebensfunktionen komplett zum Gegenstand einer Betrachtung machen. Anders als die Tiere bauen Menschen aufgrund ihres Bewusstseins sogar Tempel, Kirchen und Kathedralen, da ihnen ihre eigene Sterblichkeit bewusst ist und sie, so Scheler, nach einem geistigen Prinzip suchen, das über ihre biologische Natur hinausreicht. So gesehen ist der Mensch nicht mehr in den Reiz-Reaktionsmechanismus eingebunden, sondern ein Geistwesen, ein „animal rationale“, wie Aristoteles sagt und vielleicht sogar, wie Herder bemerkt, „der erste Freigelassene der Natur“.

Nietzsche kritisiert diese optimistischen Einschätzungen und Lobpreisungen des menschlichen Bewusstseins radikal. Denn mit dem Aufkeimen des Bewusstseins gehe auch ein großer Verlust einher. Der Mensch müsse von nun an seine gesunden Triebregungen und Aggressionen unterdrücken und ein für alle Mal auf seine animalische Instinktsicherheit verzichten:

Das Aufkeimen des Bewusstseins in den ersten Menschen sieht Nietzsche also nicht als Akt der Befreiung an, sondern im Gegenteil als ein großes Verhängnis:

Jahrtausendelang überlebten unsere Vorfahren nur mit Hilfe ihrer Instinkte als Jäger, Angreifer, Eroberer sowie umgekehrt als Gejagte, Fliehende, Verfolgte. Lust, Wut, Furcht, Angst, Aggression und Revierverteidigung prägten unser Leben. Doch mit dem Aufkeimen des Bewusstseins und der Vernunft kommt es zu Staatsgründungen und Gesetzen. Mit einem Mal darf keiner mehr ungestraft seine archaischen Affekte ausleben. Diese sind aber, so Nietzsche, nicht einfach verschwunden, sondern gären bis heute in unserem Inneren weiter und richten sich sogar gegen uns selbst:

Durch die verinnerlichten Aggressionen entsteht, so Nietzsche, die psychische Instanz des schlechten Gewissens, das am Ende durch Strafimpulse dem Bewusstsein dabei hilft, die Kontrolle über die Triebe aufrechtzuerhalten. Bildhaft gesprochen werden unsere jahrtausendealten Instinkte wie wilde Hunde in den Keller gesperrt. Doch im Alltag gelingt uns die Trieb- und Affektkontrolle niemals hundertprozentig. Im Haus regiert zwar die Vernunft und unser Bewusstsein entscheidet und handelt nach rationalen Kriterien, aber, so Nietzsche:

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud formuliert es ganz ähnlich. Der Mensch versucht zwar stets logisch und rational gemäß seiner Vernunftentscheidungen zu handeln, in Wirklichkeit aber wird das denkende „Ich“ immer auch von unbewussten Wünschen, Trieben und Ängsten regiert. Würde man dieser Wahrheit ins Auge sehen, dann müsste man sich ehrlich eingestehen,