Abendrot auf der Seiser Alm - Gabriele Raspel - E-Book

Abendrot auf der Seiser Alm E-Book

Gabriele Raspel

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Beschreibung

Eine Woche vor ihrer Verlobung mit dem Koch Ennio erfährt Kathi vom Verhältnis ihrer Schwester Alice mit ihm. Ennio macht sich aus dem Staub, ohne Kathi die Wahrheit zu verraten. Diese verlässt daraufhin die Seiser Alm und stellt klar, dass sie nicht wieder mit Alice die gemeinsame Schwaige bewirtschaften wird. Dass sie Alice verbietet, Ennio als neuen Koch einzustellen, stürzt ihre Schwester in einige Schwierigkeiten, da Ennio sich bei ihr eine Anstellung erhofft hatte. Kathi zieht hinunter nach Kastelruth und arbeitet jeweils halbtags beim Buchhändler Lion und dem Schnitzer Dominic, dem Freund und Nachbarn Lions. Unverhofft verliebt sie sich in einen der Freunde. Nachdem die Wogen sich ein wenig geglättet haben, müssen die Familien erneut mit einer Katastrophe fertig werden, und auch für die befreundeten Mütter von Ennio und den Schwestern ändert sich Einiges.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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LESEPROBE zu

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2021

 

 

© 2021 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

 

Titelfoto: © Stephan Schumann – stock.adobe.com

Lektorat: Dr. Elisabeth Hirschberger, Hohenschäftlarn

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

 

eISBN 978-3-475-55476-6 (epub)

Worum geht es im Buch?

Gabriele Raspel

Abendrot auf der Seiser Alm

Die Südtiroler Schwestern Alice und Kathi betreiben gemeinsam eine Almwirtschaft auf der Seiser Alm. Das ändert sich jäh, als Kathi erfährt, dass Alice ein Verhältnis mit ihrem Verlobten Ennio hat. Kathi zieht nach Kastelruth, wo sie nun halbtags beim Buchhändler Lion und dem Schnitzer Dominic arbeitet. Eine weitere Katastrophe verändert erneut das Leben der Familien von Ennio und den beiden Schwestern.

1

Kathi Brandtner saß mit ihrer Mutter Theresa am Frühstückstisch, gemeinsam mit Alice, ihrer jüngeren Schwester. Der Vater, Bruno Brandtner, befand sich wie gewöhnlich in der Feuerwehrwache von Bozen, wo er Dienst hatte.

Durch das Küchenfenster, wie alle Fenster in diesem alten Bauernhaus ein Kastenfenster, in dem die Blumen so prächtig gediehen, schaute sie hinaus auf die Terrasse, die sich bis zum Austragshaus nebenan zog, und auf das Sträßchen, das die Höfe, Hotels und Pensionen auf der Seiser Alm miteinander verband. Auf der anderen Seite des schmalen Fahrwegs erstreckten sich die tief verschneiten Wiesen, durch die etliche Loipenspuren gezogen waren. Ein letzter Schnee-Einbruch hatte die Winterlandschaft in Südtirol Ende März noch einmal weiß aufleuchten lassen und die unermüdlichen Schnee-Enthusiasten erneut auf die Bretter gelockt.

Jenseits der Wiesen erfreuten Hänge mit leichten und perfekt präparierten Pisten die Alpin-Skiläufer – auch sie selbst, denn diese zu bewältigen kostete nicht allzu viel Mut. Den schwierigen, schwarz markierten Pisten war sie nicht gewachsen. Sie liebte das einfache Abwärtsschwingen, das ihr erst recht bei Pulverschnee wie ein Gleiten mit Flügeln vorkam, fast schwerelos bei perfekten Konditionen wie heute – Neuschnee, minus 3 Grad, Windstille. Noch jedes Mal hatte sie dabei Lust gehabt, laut zu singen.

Doch das Langlaufen auf meisterhaft präparierten Loipen genoss sie ebenfalls. Hier konnte man ganz bei sich sein, in der Stille der Landschaft.

Das Licht der Pistenraupen am letzten Abend hatte bewiesen, dass man erneut eifrig damit beschäftigt war, das Gelände für die nächsten Skitage vorzubereiten. Bis Ende April würde die Schneepracht sicher erhalten bleiben, jedenfalls jene aus Kunstschnee, auf den auch die Seiser Alm nicht verzichten konnte.

Sie seufzte zufrieden. Wie sollte sie den freien Tag heute nutzen? Sollte sie spazieren gehen, hinauf zur Brandtner-Schwaige? Das war ihre Almhütte, die sie mit Alice in der Hauptsaison im Winter und Sommer bewirtschaftete. Oder sollte sie Ennio vom Lambacher-Hof, ihren Freund, besuchen? Oder einfach die Langlaufbretter hervorholen und eine Runde auf der Alm drehen?

»Mama, hast du noch etwas für mich zu tun?«, fragte Kathi.

»Nein, Liebes. Wir haben heute frei. Gestern waren wir fleißig genug.«

In der Tat. Gemeinschaftlich hatten sie das weitläufige Haus, einen Bauernhof von 1756, der jedoch schon längst nicht mehr bewirtschaftet wurde, zum Glänzen gebracht, einschließlich des Austragshauses dahinter. Dabei waren sie besonders gründlich vorgegangen, galt es doch, am folgenden Sonntag ihre Verlobung zu feiern, wenn auch nur im Kreise der Familie, von denen jedoch einige bei ihnen übernachten würden, und mit den engsten Freunden. Alice und sie hatten die Zimmer gesäubert, Wäsche gewaschen und gebügelt. Für heute hatten sie, wie gewöhnlich, bereits vorgekocht. Sie bereiteten fast immer die Gerichte für den nächsten Tag vor, außer natürlich Fisch und frische Salate. Die Mahlzeiten, ebenso die Einkaufsliste, standen fest.

»Fein, dann geh ich hinauf zur Schwaige, nach dem Rechten sehen«, entschied sie.

»Und was hast du heute vor, Alice?«, erkundigte sich Theresa bei ihrer Jüngsten.

Die hob erstaunt den Kopf, als erwachte sie aus einem Traum, wenn auch keinem heiteren, wie Kathi bemerkte, die ihre Schwester so gut kannte. »Ich denke, ich werde auch ein wenig spazieren gehen. Das Wetter heute ist so wunderbar.«

»Dann komm doch mit mir mit«, schlug Kathi vor.

Alice schüttelte den Kopf. »Nein, danke, heute nicht. Ich möchte nur einen kleinen Spaziergang machen, ich hab ein bisschen Kopfweh.«

»Möchtest du eine Tablette?«, kam wie aus der Pistole geschossen Theresas Frage. Alice lächelte gequält und Kathi warf ihr einen verschmitzten Blick zu. Im Gegensatz zu ihrer Freundin Sara Lambacher, einer erklärten Kräuterfrau, war Theresa immer rasch mit Tabletten bei der Hand. Sie vertrat die Meinung, dass man bei dem ganzen Konsum ungewollter Chemikalien, die einem die Industrie aufzwang, von den chemischen Pillen durchaus profitieren sollte.

»Nein, ich denke, etwas frische Luft ist jetzt besser.«

»Schön, dann seid ihr ja alle versorgt«, stellte Theresa fest. »Zu Mittag macht sich jeder selbst etwas. Vaters Dienst ist heute um vier beendet. Wir essen dann um sieben.«

Kathi betrachtete sie mit liebevollem Blick. Theresa war jetzt 56 Jahre alt und eine hübsche Frau mit schwarzem Haar, einer dominanten Nase und großen braunen Augen. Den Humor hatte ihre Mutter von ihrem Vater geerbt, die Zähigkeit von ihrer Mutter.

Eigentlich könnte sie auch zu Ennios Hof spazieren, überlegte Kathi. In zwanzig Minuten zu Fuß erreichte man ihn.

Ennios Vater, Christoph Lambacher, war der beste Freund ihres Vaters Bruno. Vor 25 Jahren hatten beide entschieden – natürlich nach eingehender Beratung mit ihren Familien – sich ihren Jugendtraum wahr zu machen und sich in Bozen zu Berufsfeuerwehrmännern ausbilden zu lassen. Fabio, der ältere Bruder Ennios, war gerade 18 Jahre alt geworden, als Christoph ihm das Angebot machte, den Hof zu übernehmen, wobei er ihm natürlich seine volle Unterstützung zusicherte. Fabio war vor Freude beinahe übergeschnappt – und Ennio hatte sich für ihn mitgefreut. Fabio war leidenschaftlicher Almbauer und nicht nur bereits in der Lage, einen Hof zu leiten, sondern auch mit ganzem Herzen für diesen Hof zu kämpfen, während sich Ennio, wie Kathi sinnierte, nur halbherzig der Arbeit auf dem Hof widmete. Natürlich arbeitete er ebenso hart, aber man spürte, dass ihm die Leidenschaft fehlte, die Fabio ausmachte.

Kathi wusste, dass Ennios größter Wunsch ein eigenes Restaurant war. Und wenn sie nachts allein in ihrem Bett lag, hatte sie sich manchmal dem Traum hingegeben, mit ihm die Schwaige zu führen. Aber das würde Alice um ihr Einkommen bringen, also war es unmöglich. Halt nur ein Traum.

2

Als die beiden Schwestern das Haus verlassen hatten, setzte Theresa Wasser auf und goss es später in die Kanne mit den Kräutern jener Sorte, die Sara, ihre Freundin, bevorzugte. Ein Tee, der glücklich machte, betonte sie jedes Mal aufs Neue. Und ja, das empfand Theresa ebenso, wenngleich sie insgeheim der Meinung war, dass dies nur ihren Köpfen entsprang. Tees jeglicher Güte waren für sie heißes Wasser, abgesehen, selbstverständlich, vom Almkräuter-Tee, der war schon etwas Besonderes. Außerdem machte natürlich der würzige Wiesenhonig der Familie Lambacher ein jedes Kraut genießbar.

Einen Moment überlegte sie, dann entschied sie, dass sie bereits heute die Gerstensuppe aufsetzen konnte, die sie alle so gern mochten und die man so schön sich selbst überlassen konnte, während sie köchelte.

Vor sich hinsummend machte sie sich an die Arbeit. Nachdem sie den Speck klein geschnitten hatte, gab sie ihn zum Zerlassen in den Topf und röstete ihn später mit Gerste und Wurzeln, um dann alles mit dem Selchfleisch und Salz zu mischen. In zwei Stunden würde die Gerstensuppe fertig sein.

Anschließend nahm sie Tee und Honig und ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf das rote Sofa und schaute sich zufrieden um. Wie glücklich sie sich schätzen durfte! Alles war gut. Ihre Kathi würde sich am Sonntag verloben, ihr Mann ging seiner Arbeit nach, die er von Herzen liebte, und sie selbst war zufrieden mit ihrem Leben – ihren Aufgaben und der Tatsache, dass sie völlig stressfrei werken und wirken konnte, wie sie wollte. Und dass sie manchmal vom quirligen Stadtleben träumte wie in Meran, war schließlich normal. Selbst ihre Eltern waren nach vielen Jahren von Kastelruth nach Meran gezogen, weil dort ihrem Vater eine gute Stellung als Postbeamter angeboten worden war und ihre Mutter als Servicekraft in einem Vier-Sterne-Hotel arbeiten konnte. Auch nach dem Tod ihres Vaters war ihre Mutter dort wohnen geblieben, obwohl Theresa ihr mehrmals angeboten hatte, zu ihnen auf den Hof zu ziehen. Doch ihre Mutter hatte sich an die Lebendigkeit der Stadt gewöhnt und wollte in ihrer Wohnung bleiben. Bei ihr gab es zum Glück keine gesundheitlichen Probleme und auch finanziell war sie gut aufgestellt. Dennoch hätte Theresa sie lieber in ihrer Nähe gewusst. Allerdings wohnte ihre Schwester Gerti nur fünf Minuten Fußweg von ihrer Mutter entfernt.

Sie konnte ihre Mutter natürlich verstehen. Sie selbst spürte eine innige Liebe zu Meran, wo sie mit ihren Eltern nur wenige Jahre verbracht hatte, bis sie mit Bruno auf die Alm gezogen war.

Es gab so viele romantische Plätze in dieser Stadt – die wunderschöne Postbrücke mit der vergoldeten Brüstung, das Bozner Tor aus dem 14. Jahrhundert, den Altstadtkern mit den 400 Meter langen Lauben, wo sie selbst mit ihren Eltern gelebt hatte. Nicht zuletzt die Pfarrkirche mit dem 83 Meter hohen Turm, dem Wahrzeichen der Stadt. Dahinter lag das Steinach-Viertel, das älteste Stadtviertel Merans, in dem sich auch ihre Wohnung befunden hatte. Wie hatte sie ihre abendlichen Spaziergänge mit ihren Freundinnen oder Bruno geliebt, durch jene drei engen Straßen und die verwinkelten Gassen, mit all den architektonischen Details, von alten Straßenlaternen in heimeliges Licht getaucht! Besonders oft war sie auf der Gilfpromenade gegangen, die an der rauschenden Passer entlangführte, mit dem aufregenden Blick in die nur wenige Meter breite Gilfschlucht, deren zahlreiche Rastbänke mit eingravierten Versen zum gemütlichen Verweilen einluden. Im Frühling hatte es sie oft in die Gärten Trauttmansdorff mit ihrer verschwenderischen Blütenpracht gezogen, oder auf den Meraner Höhenweg. Ja, Meran gehörte ihr ganzes Herz, so sehr sie auch die Seiser Alm liebte. Die mediterrane Ausstrahlung der Stadt verzauberte sie noch heute voll und ganz.

Sie war in Kastelruth in einer kleinen Wohnung, bestehend aus zwei Schlafzimmern, Wohnzimmer und Küche, in einem schlichten Mietshaus aufgewachsen. An einem 30. April, am frühen Abend, war dort ihr Bruno mit seinen Musikanten aufgetaucht.

Die Mittagsglocken hatten geläutet, als die »Moidnpfeifer« – die Maienpfeifer – ihre Runden begonnen hatten, bis die Mittagsglocken am 1. Mai dem Spiel ein Ende setzten. Moidnpfeifer gab es nur in der Gemeinde Kastelruth. Als Pfeifer bezeichnete man Musikanten und Spielleute, die seit jeher Abwechslung und Unterhaltung in den Bauernalltag brachten. Zwei Eier für jeden Musikanten hatte es früher gegeben, und die gab es auch heute noch – neben einem Schnapsl oder einem Essen, wie damals, als Bruno zum ersten Mal am Abend bei ihren Eltern erschienen war.

Die Moidnpfeifer mussten sich an strenge Regeln halten. Als Musikinstrumente waren ein Flügelhorn als erste Melodiestimme, Klarinette, Tenorhorn, Tuba sowie Posaune als Begleitinstrumente erlaubt. Auch die Bekleidung war genau festgelegt: Ein schwarzer Lodenhut, mit allerlei Wiesenkraut und einer langen, bunt glänzenden Hahnenfeder verziert, eine geblümte Weste über dem weißen Rupfenhemd und eine blaue Schürze über der schwarzen Lodenhose.

Begleitet wurden die Pfeifer vom »Aufheber«. Dieser – damals war es Bruno – bewahrte in einem Traggestell, einem mit Gras ausgepolsterten und mit Wiesenblumen geschmückten Weidenkorb, die gesammelten Eier auf. Er hatte aber noch eine zusätzliche Aufgabe: Er war der Unterhalter der Truppe. Je nach Tages- oder Nachtzeit gab es dann eine Marende, eine Süßigkeit oder eben ein Frühstück, und immer etwas zu trinken, denn das Blasen eines Instruments trocknet bekanntlich die Kehlen aus.

Nach Musik, Tanz und Unterhaltung eilten die Moidnpfeifer zum nächsten Hof weiter, während der »Aufheber« die Eier entgegennahm.

Ihre Mutter hatte ihnen feine Kasspatzln vorgesetzt und von da an hatten Bruno und sie kaum die Blicke voneinander abwenden können. Ja, sie hatten es gut miteinander. Wie jeden Tag dankte Theresa ihrem Herrgott für dieses ruhige, geordnete Leben. Nicht erst seit kein Vieh mehr zu betreuen war, Alice und Kathi die Schwaige bewirtschafteten und es dank Brunos Arbeit bei der Feuerwehr keine finanziellen Probleme gab, ging es ihr wirklich gut. Das einzig Schwierige war das Zusammenleben mit ihren Schwiegereltern gewesen, auch wenn die später im Austragshaus gewohnt hatten. Sie hatten gemeinsam auf dem Hof gelebt und Theresa hatte sie respektiert. Mehr aber leider auch nicht. Beide Frauen gaben sich Mühe, doch zu mehr als gegenseitigem höflichem Verhalten hatte es nicht gereicht. Auch die spätere Pflege der beiden bis zu ihrem Tod war natürlich auch nicht leicht gewesen.

Glücklicherweise hatten sie den Wunsch ihres einzigen Sohnes geachtet, als er seinen Entschluss, Feuerwehrmann zu werden, kundtat. Dass deshalb das Vieh und die Wiesen verkauft werden mussten, war unumgänglich. Sie nahmen das jedoch ohne Murren hin, denn die Bewirtschaftung des Hofes hatte sie beide aufgezehrt und sie waren froh, nicht weiter der harten Arbeit nachgehen zu müssen. Franz und Lenie hatten dann vom Holzverkauf und Lenies Arbeit als Serviererin gelebt. Den Wald hatten sie natürlich behalten, während die Wiesen an die Lambachers gegangen waren.

Theresa ergriff ihren Roman, der neben dem Sofa auf dem kleinen runden Beistelltisch darauf wartete, von ihr gelesen zu werden, legte die Füße hoch und widmete sich der heiteren Liebesgeschichte. Genauer, sie versuchte zu lesen. Doch nach einer Weile legte sie das Buch auf ihre Knie. Das, was ihr in letzter Zeit allerdings ein wenig Sorgen bereitete, war Alice. Wenn sie sich nicht ganz und gar täuschte, und sie täuschte sich selten, was ihre Familie anbelangte, dann ging es Alice schon seit geraumer Zeit nicht gut. Und dieser Zustand wurde nicht besser seit ungefähr drei Monaten. Darauf deuteten auch ihre häufigen Spaziergänge hin, die sie stets allein machte, was früher nie vorgekommen war. Es schien, als wäre da eine unglückliche Liebe im Spiel. Eine unglückliche Liebe war immer schlimm, aber dass Alice darunter litt, zerriss Theresa das Herz.

Alice war die Sensiblere der beiden Schwestern, in der sich jedoch eine mentale Stärke verbarg, die Theresa erst später erkannt hatte. Bereits äußerlich unterschieden sie sich stark und niemand, der sie nicht kannte, vermutete, dass sie Schwestern waren. Die schwarzen, schulterlangen Locken unterstrichen das helle Grau von Alices Augen. Mit ihrem vollen Mund im ovalen Gesicht, ihrer hellen Haut, die kaum einen Sonnenstrahl vertrug, und ihrer weiblichen Figur war sie genau das Gegenteil von Kathi, einer hoch gewachsenen Frau, deren schlanke Figur an Magerkeit grenzte, und die dennoch Kraft für zwei hatte. Theresa wusste nicht, wann Kathi je eine Erkältung gehabt hatte, wohingegen Alice regelmäßig darunter zu leiden hatte. Die scheinbar zerbrechliche Statur Kathis verbarg, wie viel Kraft sich dahinter befand.

Alices Hände waren weich, rund und schmeichelnd; sie zogen unweigerlich Kinder, Katzen und Hunde an, um sich von diesen Händen streicheln zu lassen.

Kathis Hände hingegen schrien nach Creme, ebenso wie ihre ganze Haut, und so verwendete sie keinen geringen Teil ihres Geldes für den Kauf der teuersten Kosmetika, während Alice sich mit Allzweckcreme begnügte.

Wenn Alice traurig war, stand es ihr ins Gesicht geschrieben.

Wenn Kathi traurig war, wurden ihre Lippen schmal, sie fluchte wie ein Stallknecht und schmiss die Türen zu. In ihren Augen stand aber kein solcher Schmerz wie bei Alice. Kathis braune Augen sprühten Funken, die jeden Holzklotz zum Brennen gebracht hätten. Und natürlich flossen bei ihr keine Tränen – jedenfalls nicht vor anderen Menschen. Sie verbarg sie sogar vor ihrer Mutter.

Alice hingegen war nah am Wasser gebaut.

Schön waren sie beide.

Theresas Sorgen – wenn sie denn am Horizont auftauchten – hatten stets mehr Alice gegolten als ihrer stolzen, starken Kathi. Aber das war natürlich ihr ureigenstes Geheimnis, das sie sorgfältig vor den anderen verbarg. Nur Bruno hatte sie durchschaut. Ihm konnte sie wirklich gar nichts verheimlichen, dachte sie seufzend, wenn auch mit einem Lächeln. Ihr lieber Bruno kannte sie halt durch und durch.

3

Kathi überlegte, ob sie nicht doch hinunter nach Kastelruth fahren sollte – mit dem Fahrrad, versteht sich. Man durfte es in der Seiser Umlaufbahn, die von Seis am Schlern hinauf auf die Alm fuhr, mitführen. Es war bereits weit nach 9 Uhr am Morgen, und nur vor 9 Uhr morgens und ab 17 Uhr war es gestattet, das Auto zu benutzen. Doch dann entschied sie sich für die Schwaige. Natürlich war diese kleine Tour zu Fuß nicht zwingend notwendig, aber der Weg dorthin war einfach wunderschön, ganz besonders im Winter. Doch nicht nur dann, sinnierte sie, auch im Frühsommer, wenn die Lärchen, ihre Lieblingsbäume, mit ihren hellen Spitzen das tiefdunkle Grün der Kiefern hervorhoben.

Lärchen wurden uralt. In St. Gertraud in Ulten standen die drei 850 Jahre alten und vom Wetter gekennzeichneten Urlärchen, die ältesten Nadelbäume Europas. Die Lärche gilt unter den Nadelbäumen als das härteste Holz und wird wegen ihrer Beständigkeit gegen Witterungseinflüsse gern als Bau- oder Möbelholz genutzt.

Kathi stapfte in ihren Winterstiefeln den Fahrweg Richtung Saltria aufwärts, dann bog sie nach rechts ab, den Berg hinauf. Und nun erhoben sich die grandiosen Felszacken – Langkofel, Fünf-Finger-Spitze, Plattkofel, die Rosszähne und der gewaltige Schlern mit der charakteristischen Santnerspitze – gerade so, als wollten sie den mehr oder weniger sanften Hängen Schutz gegen alles Böse gewähren, einschließlich seiner Bewohner in den behaglichen Bauernhöfen, Hotels und charmanten Pensionen und Hütten. Und als hätte die Schönheit des Gebirges allein nicht gereicht, sinnierte Kathi glücklich, war das gesamte Panorama jetzt, Ende März, immer noch überzogen mit einer luftigen Schneeschicht. Natürlich wusste sie, dass sich diese Schönheit auch in Unheil verwandeln konnte und diese majestätischen Felskönige den Menschen großen Schaden zufügen konnten. Doch das blendete sie jetzt aus und sie gab sich in diesem Moment ausschließlich deren Anblick hin.

Was für ein herrlicher Spätwintertag!

Lächelnd schaute sie den Skifahrern zu. Die Seiser Alm war ein Eldorado für Wintersportler. Es wurde nahezu jeder Wunsch eines Wintersportlers erfüllt. Das Skigebiet Gröden/Seiser Alm war mit seinen breiten und geschützten Pisten ein sehr familienfreundliches Skigebiet. Die Pisten hatten eine Gesamtlänge von sechzig Kilometern, wobei etwa ein Drittel einen mittleren Schwierigkeitsgrad aufwies.

Außerdem gab es natürlich auch noch die Langlaufloipen, die stets bestens präpariert und teils doppelt gespurt waren.

Mittlerweile berühmt bis weit über die Seiser Alm hinaus war ein ganz besonderes Ski-Ereignis, das Seiser Alm Moonlight Classic, eine Skigaudi, bei der es abends ab 17.30 Uhr 5-km-Läufe »Just for Fun« gab, 15-km-Läufe sowie für die Recken einen 30-km-Lauf. Veranstaltet in der ersten Vollmondnacht des Jahres, begann das Vergnügen des Festbetriebs bereits um 16 Uhr mit einheimischen Spezialitäten für alle Besucher, natürlich untermalt von musikalischer Unterhaltung.

Zwanzig Minuten wanderte sie stetig bergauf. Wie sehr sie ihre Alm liebte! Die Seiser Alm erstreckte sich von einer Höhe von 1.680 Metern über dem Meeresspiegel bis auf 2.350 Meter. Der Compatsch, zentraler Ausgangspunkt für Wanderer, Langläufer und Skifahrer, lag auf einer Höhe von 1.800 Metern.

Um auf die Alm zu gelangen, gab es mehrere Möglichkeiten. Mit dem Auto fuhr man über die Seiser-Alm-Straße, die zwischen Kastelruth und Seis am Schlern abzweigte und direkt auf die Seiser Alm führte. Allerdings war diese Straße täglich von 9 bis 17 Uhr gesperrt; nur Gäste mit einer Ausnahmegenehmigung durften während dieser Zeit auf die Seiser Alm mit dem Auto fahren. In der übrigen Zeit war die Anzahl der Pkw begrenzt.

Das Verkehrsmittel Nr. 1 auf der Alm war für Gäste und Einheimische die Seiser Umlaufbahn. Diese Bahn hatte ihre Talstation in Seis am Schlern, wo sich auch große Parkplätze befanden. In etwa zwanzig Minuten beförderte sie die Fahrgäste auf die Bergstation Compatsch, die auf einer Höhe von etwa 1.800 Metern lag. Bei der Bergstation gab es auch einige Cafés, Souvenirläden, ein Informationsbüro und das Ski-Depot, das für die Wintersportler viele Annehmlichkeiten bot.

Eine weitere Umlaufbahn führte von St. Ulrich im Grödner Tal auf die Alm. Zudem pendelte auf der Alm zwischen Compatsch und Saltria ein Bus, sodass niemand das Auto vermissen musste.

Schließlich erreichte Kathi die Schwaige.

Das Wort »Schwaige« leitet sich vom mittelhochdeutschen sweige ab, was »Sennerei«, »Herde«, »Viehhof« bedeutet. Der Begriff entstand im 12./13. Jahrhundert in den Nord- und Zentralalpen sowie in deren Vorland. Er bezeichnete einen Wirtschaftshof an Berghängen oder in Hoch- und Haupttälern. Es handelte sich jeweils um einen Einzelhof, in dem hauptsächlich Sennwirtschaft, also Viehzucht und Milchwirtschaft, betrieben wurde und der sich zumeist über einer Höhe von 1.200 Metern befand.

Sie blieb einen Moment stehen und betrachtete das kleine Holzhaus auf 1.930 Metern Höhe. Klein war es wirklich. In der rustikalen Stube fanden gerade einmal 25 Leute Platz, und dass man in der zweieinhalb Quadratmeter großen Küche vorzügliche Gerichte auf den Tisch bringen konnte, vermutete man nicht.

Die Köchin war sie, während Alice und sie die Vorarbeiten am frühen Morgen erledigten und Alice später für den Service zuständig war. Am Abend blieb die Hütte ab 18 Uhr geschlossen. Die meisten Gäste wünschten sich längere Öffnungszeiten, doch tatsächlich waren sie beide am Abend so erschöpft, dass sie froh waren, wenn die Hütte gesäubert war und sie nach Hause gehen konnten.

Sie bewirteten nicht nur Wanderer im Sommer, genauer bis Ende September, sondern auch Gäste im Winter, von Mitte Dezember bis Ende März, nämlich Skifahrer, Schneeschuhwanderer und Spaziergänger. Mittlerweile ohne eigene Milchkühe, bezogen sie Käse und andere Hofprodukte natürlich von den Lambachers, den guten Freunden und Nachbarn, an die sie die Wiesen verkauft hatten. Dort verarbeitete man die Almmilch zu Joghurt, Bergkäse, Grau- und Blütenkäse. Besonders beliebt war der cremige Rahmkäse der ersten Almwochen.

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Mila steht vor dem Nichts. Ihr Verlobter ist gemeinsam mit ihrer besten Freundin und ihrem Sparbuch durchgebrannt. Auch Milas Mutter findet sich plötzlich in der Arbeitslosigkeit wieder. Nachdem die Großmutter stirbt und sie im Nachlass ein Foto der Seiser Alm finden, beschließen sie, dass sie beide sich Urlaub verdient haben. Tatsächlich finden sie auf der Seiser Alm nicht nur die gewünschte Erholung, sondern in Simon, dem jungen Hotelbesitzer, und seinem Onkel Luis Ablenkung und eine überraschende Zukunftsperspektive …

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