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Die Kirchenmalerin Anna kehrt in ihre bayerische Heimat zurück, um die Ägidius-Kapelle zu restaurieren. Zu ihrem Leidwesen steht ihr dabei der attraktive, aber äußerst arrogante Martin zur Seite. Und als wäre dies nicht genug, mietet er auch noch ein Zimmer in ihrem Elternhaus. Doch trotz anfänglicher Reibereien findet Anna immer mehr Gefallen an ihrem Kollegen. Gerade als die beiden sich langsam näherkommen, trifft Anna auf ihre Jugendliebe Christoph. Wegen ihm hat sie damals das Dorf verlassen. Immer noch löst er bei ihr Herzklopfen aus, und so steht Anna nun zwischen zwei Männern. Völlig verwirrt muss sie sich entscheiden: Mit wem kann sie ihr Glück finden? Erst als sie in große Gefahr gerät, wird ihr klar, wem ihre Liebe gilt.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
LESEPROBE zu
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2015
© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelfoto: © travelpeter – Fotolia.com (oben) und 4FR – iStockphoto.com (unten)
Lektorat: Christine Weber, Dresden
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Worum geht es im Buch?
Gabriele Raspel
Anna kehrt heim
Die Kirchenmalerin Anna kehrt in ihre bayerische Heimat zurück, um die Ägidius-Kapelle zu restaurieren. Zu ihrem Leidwesen steht ihr dabei der attraktive, aber äußerst arrogante Martin zur Seite. Und als wäre dies nicht genug, mietet er auch noch ein Zimmer in ihrem Elternhaus. Doch trotz anfänglicher Reibereien findet Anna immer mehr Gefallen an ihrem Kollegen.
Gerade als die beiden sich langsam näherkommen, trifft Anna auf ihre Jugendliebe Christoph. Wegen ihm hat sie damals das Dorf verlassen. Immer noch löst er bei ihr Herzklopfen aus, und so steht Anna nun zwischen zwei Männern. Völlig verwirrt muss sie sich entscheiden: Mit wem kann sie ihr Glück finden? Erst als sie in große Gefahr gerät, wird ihr klar, wem ihre Liebe gilt.
1
Oktober. Ein dunstiger Mittwochvormittag, der alle Farben verschluckte und die Welt in ein diffuses Grau verwandelte. Auch für morgen hatte der Wetterbericht einen weiteren mulmigen Nebeltag versprochen, der einen über die Maßen heißen Sommer verabschiedete. Doch nichts und niemand konnte Anna bedrücken – nicht die über die Berge ziehenden Wolken und nicht der feine Nieselregen, der soeben eingesetzt hatte. Sie hatte eine gute Arbeit abgeliefert, nun lagen drei freie Tage und das Wochenende vor ihr. Nur noch eine kurze Besprechung zu dem neuen Projekt, dann hatte sie frei.
Anna setzte den Blinker und bog auf den gepflasterten Vorplatz der Werkstatt. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Sie stieg aus, schloss das Auto ab und betrat den Flachbau mit den Glasfronten, hinter denen sich die Büros der Maler- und Restaurierungs-Werkstatt befanden, bei der sie arbeitete. »Guten Morgen, Evelyn«, begrüßte sie die Chefin, eine hochgewachsene Schönheit mit naturblonden Locken, die mit Kämmchen hochgesteckt waren. Als ihr Blick auf Evelyns perfekt manikürte Nägel fiel, dachte Anna wie üblich, dass ihre eigenen auch bald mal wieder einer Verschönerung bedurften.
»Guten Morgen, Anna. Lange nicht gesehen. Schön, dass du wieder im Lande bist«, strahlte Evelyn Weinzierl. »Herbert und Martin sind schon nebenan. Wir haben uns wirklich gefreut, wie zufrieden der Auftraggeber mit deiner Arbeit ist. Gratulation.«
»Danke. Das hört man gern. Also dann, auf zum nächsten Projekt.« Anna lachte glücklich und betrat das Büro ihres Chefs. Herbert Weinzierl stand am Fenster und wandte sich zu ihr um, als sie die Tür öffnete.
»Ah, schön dich zu sehen«, begrüßte er sie herzlich und streckte ihr die Arme entgegen. Seine imposante Erscheinung ließ jeden Raum winzig erscheinen; seine Energie war für manch einen ansteckend, andere lähmte sie. Anna fand ihn mitreißend.
»Morgen, Herbert.« Sie strahlte ihn an und ließ sich kurz umarmen. Dann nickte sie knapp in Richtung des zweiten Mannes im Raum: Martin Weber, ein Kollege. Mit ihm hatte sie bisher nur flüchtig Kontakt gehabt, da ihre Arbeit sie für ein Vierteljahr nach Eisenach geführt und er erst vor knapp einem halben Jahr bei den Weinzierls angefangen hatte. »Guten Morgen, Herr Weber.«
Höflich grüßte er zurück.
Herbert Weinzierl ließ sich am Schreibtisch nieder. Auch jetzt noch wirkte er sehr dominant. Als Anna ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte er auf sie beinahe Furcht einflößend gewirkt. Doch in den vielen Jahren, die sie nun in der Firma tätig war, hatte sie gelernt, dass hinter dem mächtigen Äußeren ein herzlicher und mitfühlender Mensch steckte. Sein dichtes helles Haar, mittlerweile von weißen Strähnen durchzogen, trug er ziemlich lang, doch es stand ihm prächtig. Er war groß – geschätzt mindestens eins neunzig – und kräftig gebaut.
Als Anna ihn mit sechzehn bei Antritt ihrer Lehre kennengelernt hatte, war sie auf Anhieb in ihn verliebt, was ihren Arbeitseifer nicht wenig beeinflusste. Noch heute war sie bestrebt, ihn und seine Frau nicht zu enttäuschen. Sie war zwar nicht mehr in ihn verknallt, doch mochte sie ihn wie am ersten Tag, ebenso wie seine Frau. Herbert war ein Frauentyp, aber Evelyn klug und weise – ein echter Schatz. Und stets in seiner Nähe, wenn er nicht gerade eine neue Kirche oder ein historisches Gebäude in Augenschein nahm, um es von seinen Mitarbeitern restaurieren zu lassen. Früher hatte er selbst mit auf den Baustellen gearbeitet und war oft von seiner Frau – Kinder hatten sie zu ihrem Leidwesen keine – getrennt gewesen, doch für seine eheliche Treue hätte Anna die rechte Hand ins Feuer gelegt.
Sie ließ sich neben Martin Weber nieder, der lässig in einem Sessel ein Bein über das andere geschlagen hatte – unpassend in Gegenwart des Chefs, befand sie streng. Er war ein gut aussehender Typ, dem die Frauen wahrscheinlich auch in Scharen nachliefen. Er behandelte sie manchmal mit leisem Spott, der sie verunsicherte und den sie noch nicht in der Lage war, zu parieren. Er benahm sich für ihren Geschmack viel zu arrogant.
»Anna, wir besprechen gerade euren neuen Auftrag an der Ägidius-Kapelle. Wie ich Martin bereits mitgeteilt habe, haben Evelyn und ich jetzt alle Unterlagen zusammengestellt, die ihr für eure Arbeit benötigt, und ich möchte euch bitten, gleich Montag damit anzufangen«, begann Herbert Weinzierl.
Sie strich sich den kurzen dunkelblauen Rock glatt, nachdem sie den verstohlenen Blick ihres Kollegen bemerkt hatte, und faltete die Hände.
»Ich möchte, dass Martin dich begleitet.«
Martin! Man war also schon per Du. Bei ihr hatte es immerhin fast zwei Jahre gedauert, bis das Ehepaar Weinzierl ihr die vertrauliche Anrede angeboten hatte. Respekt, dachte sie in einer Mischung aus Achtung und einer Spur von Eifersucht. Dann erst erreichten die Worte, die der Chef wie beiläufig dahingesagt hatte, ihr Gehirn.
Annas Hände verkrampften sich ineinander. Jäh verflog die gute Laune, die sie bereits beim Aufstehen verspürt hatte.
»Du meinst, dass ich die Arbeiten, die zu meinem Spezialgebiet gehören, dieses Mal nicht allein ausführen darf?«, vergewisserte sie sich mit bebenden Lippen. Sie, die Expertin für Fresken, die Kapazität bei Kirchen-Restaurierungen, eine anerkannte Größe unter den Kirchenmalern – sie bekam jemanden zur Seite gestellt! Dazu noch einen Mann, der sich offenbar bereits jetzt für den Größten hielt.
Nicht mit ihr!
Die Weinzierl-Werkstätten, die schon in der dritten Generation geführt wurden und die im ganzen deutschsprachigen Raum exzellente Arbeit auf dem Gebiet der Restaurierung von Kirchen, Klöstern und privaten Objekten abgeliefert hatten, waren beinahe ihr Zuhause. Seit vierzehn Jahren arbeitete sie jetzt für Herbert und Evelyn, und nun das.
Sie sog tief die Luft ein, bevor sie mit erhobener Stimme zurückgab: »Das, lieber Herbert, geschieht nur über meine Leiche. Ansonsten hast du noch heute meine Kündigung auf dem Tisch.«
Einen Moment war nichts zu hören als die melodiöse Stimme Evelyns von nebenan.
Herbert Weinzierl hob den Kopf und blickte Anna wortlos an. In seinem Gesicht war nichts als Betroffenheit zu lesen, bemerkte sie bestürzt. Sie hatte Mühe, ihre Mimik im Zaum zu halten, denn sie selbst war nicht weniger erschrocken über die Worte, die sie so unbedacht hervorgestoßen hatte. Und erst recht über ihren Ton.
»Aber Anna, wieso das denn?«
»Ja, genau«, meldete sich zum ersten Mal Martin Weber zu Wort. Er hatte bisher mit gefalteten Händen, lässig in dem tiefen Sessel zurückgelehnt, den Worten der beiden gelauscht. Doch bei Annas Protest veränderte sich seine Körperhaltung: Er stellte die Beine parallel, und sein Rücken war nicht länger in die Polster geschmiegt, sondern kerzengerade.
Anna fühlte sich unwohl wie selten in Gegenwart ihres Chefs, doch jetzt konnte sie das Gesagte nicht zurücknehmen. Nein, sie wollte es auch nicht. Doch sie sollte wenigstens auf ihren Ton achten, dachte sie mit klopfendem Herzen. »Ich arbeite jetzt seit vierzehn Jahren bei dir und deiner Frau. Ich bin gut, das habt ihr mir beide immer wieder versichert. Also warum darf ich dann meine Arbeit nicht wie bisher allein und in aller Ruhe machen?«, fragte sie mit gemäßigter Stimme.
»Weil wir so mit Arbeit zugeschüttet sind, dass ich dich so schnell wie möglich wieder woanders einsetzen muss.«
Sofort spürte sie, dass irgendetwas anderes im Busch war. Sie kannte Herbert mittlerweile so gut, dass er ihr kaum etwas vormachen konnte. »Unsinn, das ist doch nichts Neues, das läuft doch schon seit Jahren so. Du weißt, dass ich nicht nur genau, sondern auch flott arbeite«, antwortete sie ein bisschen gestelzt.
Der Blick aus seinen tief liegenden Augen war unergründlich. »Die Arbeit an der Ägidius-Kapelle ist aufwendig. Ich habe daher beschlossen, dass diese Arbeit von euch beiden gemacht wird«, sagte er kühl.
Anna lief ein Schauer über den Rücken.
»Und wenn dir das nicht passt, dann –«
»Frau Leitner, ich glaube, Sie haben nicht verstanden, was Herbert sagen will«, wurde er da von Martin unterbrochen. »Ich brauche am Anfang jemanden, der mich in der Freskenmalerei unterstützt. Und auch wenn ich mit Auszeichnung meinen Meister gemacht habe, so wissen Sie selbst, dass man zu Beginn gerade bei diffizilen Arbeiten wie der Ägidius-Kapelle diese Unterstützung benötigt, weil man eine solche Arbeit nicht allein übernehmen kann.« Seine Stimme klang sanft. Unnatürlich sanft.
»Nun, das sollen Sie ja auch nicht«, erwiderte Anna von oben herab.
Martin verstärkte seine Hab-Acht-Stellung. Er verschränkte die Arme und presste die Lippen fest aufeinander. Seine Lässigkeit war verschwunden. Mit einem Mal wirkte er verschlossen, was ungewöhnlich für diesen extrovertierten, beliebten jungen Mann war, der sich gern mit anderen Kollegen unterhielt – wenn auch nicht mit ihr, wie Anna schien.
»Ich bin die führende Kirchenmalerin. Und ich finde, dass Sie mit der Ägidius-Kapelle am Anfang noch völlig überfordert sind.«
»Das lass doch bitte mich entscheiden«, verwies Herbert sie.
»Natürlich«, antwortete sie rasch. Der Chef hatte völlig recht, sie verstand selbst nicht, warum sie so von oben herab reagierte.
»Außerdem soll Martin, wie er ganz richtig klargestellt hat, von dir lernen.« So rasch, wie er sie eben mit harter Stimme angefahren hatte, klang die Stimme nun wieder butterweich.
Anna atmete auf. Seine Worte besänftigten sie auf der Stelle. Daran, dass sie Martin Weber noch etwas lehren könnte – und Herbert genau das erkannte – hatte sie gar nicht gedacht. Sie hatte wirklich ziemlich aggressiv reagiert, was sonst gar nicht ihre Art war.
Schon spürte sie, wie ihre Wangen sich röteten, Martin hingegen war unter seiner Sonnenbräune recht blass geworden. »In Ordnung«, stimmte sie zu. »Aber dann muss von Anfang an klar sein, wer die Leitung bei diesem Projekt übernimmt. Und das –«
»Und das sind natürlich Sie, geschätzte Kollegin, logisch«, fiel Martin ihr ins Wort.
Verdutzt wandte sie ihm den Kopf zu. Das Glitzern in seinen Augen sprach Bände. Er würde ihre Anweisungen lediglich als Ratschläge betrachten, das stand fest. Gewiss wusste er – oder war fest davon überzeugt –, dass er sich auf der Überholspur befand, und wünschte sich nichts sehnlicher, als sie zu überflügeln. Er war sehr ehrgeizig und für ihren Geschmack viel zu selbstsicher. Allerdings war er auch sehr gut bei dem, was er tat, so viel war ihr zumindest schon zu Ohren gekommen.
»Ich werde Ihr Azubi sein und mich Ihnen ganz unterordnen.«
Er klang so ehrlich wie der Diktator aus einem fernen Land, der beteuerte, ab sofort nur noch sein Kätzchen zu streicheln. Anna glaubte ihm kein Wort. Doch mit ihr – genauer gesagt unter ihr, wohlgemerkt – würde er zu spüren bekommen, was eine Harke war.
»Genau«, meldete sich Herbert wieder zu Wort, und die Erleichterung, die aus seiner Stimme herauszuhören war, entlockte Anna beinahe ein Lächeln.
»Also«, fuhr sie sachlich fort. »Ich habe die Leitung, und Herr Weber wird sich meinen Anweisungen fügen, sollte ich sehen, dass er meine Hilfe benötigt«, stellte sie zur Sicherheit klar.
»Stets zu Diensten«, meldete sich ihr Kollege zu Wort.
Da war sie wieder, eine jener knappen Bemerkungen, die stets Annas Selbstsicherheit ins Wanken brachten. Sie sparte sich einen strafenden Seitenblick, nur ihr Kopf ruckte noch ein wenig höher. Sie befahl ihren Händen, sich nicht ineinander zu verkrampfen, sondern locker im Schoß liegen zu bleiben. Pass auf, dass du dich nicht wie eine vertrocknete Lehrerin benimmst, rügte sie sich selbst. Warum fiel ihr keine witzige Entgegnung ein? Nun, weil sie eben nicht witzig war, dachte sie verdrossen, doch das konnte sie auf die Schnelle nicht ändern.
»Selbstverständlich«, Herbert nickte beflissen und sah mit väterlicher Strenge zu Martin.
Anna atmete tief durch. Sie hatte keinerlei Humor bewiesen, und an ihrer Schlagfertigkeit galt es zu feilen. Doch sie hatte einen Sieg errungen, das war schließlich auch etwas wert.
Herbert schlug mit den Handflächen auf die Schreibtischplatte. »Also ist hiermit alles geklärt, und ihr könnt euch an die Arbeit machen«, sagte er launig, sein strahlender Blick wanderte zwischen seinen zwei Mitarbeitern hin und her. »Mit dem Kirchenbauamt hat Evelyn alles geregelt. Vor allem haben wir’s diesmal mit dem Knaur vom Denkmalschutz zu tun, was eure Arbeit enorm erleichtert. Der Wallner-Kurt ist in Rente gegangen, Gott sei Dank, der hat uns elend viel Zeit gekostet und uns Scherereien bereitet. Dagegen ist der Knaur-Michael ein umgänglicher Mensch. Ihr müsst jetzt nur noch mit dem Pfarrer eure Pläne besprechen, wenn ihr die Kapelle untersucht habt. Aber das sollte euch – und vor allem dir mit deinem Charme, liebe Anna«, fügte er väterlich hinzu, »keine Probleme bereiten.«
»Ich denke nicht.« Anna blickte in Martin Webers Richtung.
»No problem«, gab dieser lässig zurück.
Herbert stand auf, und auch Anna und Martin erhoben sich.
»Dann sehen wir uns also Montag wieder«, verabschiedete sich Martin.
»Genau. Am besten gleich bei der Kapelle«, beeilte sich Anna zu sagen.
»Hast du die Schlüssel schon?«, wollte Herbert wissen.
»Ach nein, die müssten wir noch beim Pfarramt abholen. Vielleicht«, wandte sie sich an Martin, »ist es doch besser, wir treffen uns hier am Büro und fahren dann gemeinsam nach St. Egidien. Ich weiß nicht, ob Sie die Kapelle schon kennen.«
»Tu ich nicht.«
»Dann also am Montagmorgen hier. Um neun Uhr. Pünktlich«, konnte sie sich nicht verkneifen hinterherzuschicken, denn Martin war für seine Schwäche bekannt. Allerdings war er abends oft auch der Letzte, der die Werkstatt verließ, wenn er hier zu tun hatte.
Er verneigte sich übertrieben. »Aber klar doch, Boss.« Dann wandte er sich mit normalem Gesichtsausdruck an Herbert. »Ich bin dann mal in der Werkstatt.«
Mit diesen Worten verließ er das Büro. Pfeifend, was Anna schon wieder übertrieben fand. Normalerweise hätte sie sein spöttischer Gesichtsausdruck verunsichert. Doch in diesem Fall hatte sie die Oberhand behalten, und sie fühlte sich selbstsicher wie selten in seiner Gegenwart.
Gerade als sie sich anschickte, ebenfalls das Büro zu verlassen, hielt Herbert sie zurück. »Moment noch, Anna.« Er zog die Schublade seines Schreibtischs auf, nahm ein Couvert heraus und hielt es ihr entgegen. »Das ist für dich. Ein Bonus für die Arbeit in Eisenach. Deine Stuckarbeit und die Wiederherstellung der ursprünglichen Farbgebung haben den Bürgermeister und den Leiter des Denkmalschutzes schlichtweg begeistert. Evelyn und ich möchten uns für deinen Einsatz erkenntlich zeigen.«
»Oh, das ist aber nett«, strahlte Anna. »Dankeschön.« Sie nahm das Couvert entgegen, das prall gefüllt mit Geldscheinen schien. »Und entschuldige, dass ich eben so heftig geworden bin. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist«, fügte sie ein bisschen verlegen hinzu.
»Du solltest wissen, wie viel du uns wert bist. Das mit Martin ist wirklich wichtig, denn er soll von dir lernen. Auch wenn er es nicht unbedingt einsieht, aber was die Freskenmalerei angeht, muss man ihn noch kontrollieren. Er hat erst ein Mal in einer privaten Villa eine derartige Arbeit abgelegt; ich war damals zwar sehr zufrieden, aber die Villa ist bei Weitem nicht mit der Kapelle zu vergleichen.«
Anna nickte. Ja, es war Tradition, dass Herbert jedem Neuling bei dessen erster Arbeit an so etwas Diffizilem wie der Freskenmalerei auf die Finger schaute und begleitend zur Seite stand. Zu schwerwiegend wären etwaige Fehler. Und so hatte er es auch mit Martin gehalten.
»Danke, Chef«, sie lachte. »Ich fand es aber wichtig, dass es offiziell ist, wer hier das Sagen hat.«
»Du hast völlig recht«, Herbert nickte. »Ich habe nur nicht gleich daran gedacht. Aber jetzt genieß erst einmal die drei Tage Urlaub, du hast sie dir redlich verdient.«
»Ja«, seufzte Anna. »Ich freu mich schon auf meine Familie und meine Freunde. Drei Monate ohne sie sind doch eine lange Zeit.«
»Also dann, schönen Urlaub. Wir sehen uns Montagmorgen.« Er reichte ihr die Hand, und sie verabschiedeten sich.
»Auf Wiedersehen, bis Montag.«
Mit einem Lächeln verließ sie das Büro. Gut gemacht, Anna, lobte sie sich. Es war doch ratsam, manchmal etwas zu riskieren. Eigentlich war sie überhaupt nicht der Typ dafür, aber der selbstsichere Martin hatte es einfach herausgefordert.
Sie hob den Kopf und reckte das Gesicht der frischen Brise entgegen, die aus dem Norden ins Tal strömte. Feiner Sprühregen benetzte ihre Haut. Vor Lebensfreude hätte sie jubilieren können.
Sie ging zu dem altersschwachen Pajero, ihrem geliebten, gebraucht gekauften Geländewagen, den sie sich binnen fünf Jahren mühselig zusammengespart hatte, kramte den Autoschlüssel aus der Manteltasche und schloss den Wagen auf. Sie setzte sich hinters Steuer, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Doch eigenwillig, wie er sich aufgrund seines Alters oft verhielt, verweigerte der Wagen das, wozu er erdacht war – sich in Bewegung zu setzen. Genervt stieg sie wieder aus und schloss ab.
»Probleme, Kollegin?« Martin hatte gerade die Werkstatt verlassen.
»Ja. Mein Wagen scheint endgültig den Geist aufgegeben zu haben. Ich fürchte, jetzt muss ich die Werkstatt anrufen, so ein Mist! Ich werde sehen, vielleicht kann Herbert mir einen Firmenwagen leihen«, seufzte sie.
»Keine Chance«, sagte Martin kopfschüttelnd. »Die sind alle unterwegs. Wenn Sie mögen, können Sie sich meinen Wagen ausleihen. Ich brauch’ ihn momentan nicht.«
»Ach, wirklich, das wäre super. Wo stehen Sie?«
»Nicht hier, ich komme morgens zu Fuß, habe zurzeit ja nur hier in der Werkstatt zu tun. Und ich wohne nicht weit von hier.«
»Das ist wirklich nett von Ihnen, danke. Aber es reicht, wenn Sie mir sagen, wo Sie stehen, dann brauchen Sie sich nicht zu bemühen.«
»Ich muss mitkommen, ich hab die Autoschlüssel nicht dabei«, antwortete er kopfschüttelnd.
»Ach so, natürlich«, erwiderte sie mit rosigen Wangen. Der neue Kollege konnte ja richtig nett sein.
Gemeinsam verließen sie den Hof. Anna hatte Mühe, mit seinen langen Schritten mitzuhalten, auch wenn ihre Stiefel aus grauem Wildleder einen moderaten Absatz hatten. Er schien ihre Anstrengung zu bemerken und verlangsamte sofort sein Tempo, wie sie dankbar registrierte.
Seine Wohnung befand sich um die Ecke. Es handelte sich um einen einfachen dreistöckigen Wohnblock aus den Siebzigern.
»Ich laufe rasch hinauf, Sie können gern hier unten warten. Ich beeile mich.«
Er blieb vor einem dunkelblauen Wagen stehen, irgendein japanisches Modell, das sie nicht kannte. Eigentlich hätte sie ganz gern einen Blick in seine Wohnung geworfen, doch das war jetzt natürlich nicht die passende Gelegenheit.
Ihr fiel ein, dass sie die Werkstatt verständigen musste. »Dürfte ich Ihnen meinen Autoschlüssel dalassen, damit Sie ihn weitergeben können, wenn die Leute von der Werkstatt den Wagen abholen kommen?«, bat sie.
»Aber sicher!« Er nahm ihre Schlüssel. Dann ging er ins Haus.
Sie holte ihr Handy hervor, um die Werkstatt zu verständigen und wollte sich gerade an den Wagen lehnen, doch davon sah sie ab, als sie bemerkte, wie staubig er war. Er scheint schon sehr lange nicht mehr bewegt worden zu sein, dachte sie flüchtig. Zumindest war er eine ganze Weile nicht gewaschen worden. Selbst auf der Fahrerseite waren die Scheiben verschmutzt, also ging der neue Kollege wohl viel zu Fuß – was in der kleinen Stadt auch nicht schwer war, erreichte man doch sämtliche Läden problemlos ohne Auto.
Als er das Haus mit den Schlüsseln in der Hand verließ, fiel ihr zum wiederholten Male auf, wie gut er aussah mit seinem dunklen Haar und den blauen Augen. Seine Hände waren schlank und trotzdem kräftig. Er überragte ihre eins siebzig um einen halben Kopf, bemerkte sie, als er das Auto aufschloss.
»Nochmals vielen Dank. Soll ich Sie zurückfahren?«, erkundigte sie sich.
»Nein, danke, ich gehe gern zu Fuß.« Er hob grüßend die Hand, sie nickte ihm freundlich zu, zog die Tür zu und startete den Wagen. Das Manövrieren im unbekannten Gefährt bereitete ihr keine Probleme, sie liebte es, Auto zu fahren.
Mit Schwung verließ sie Garmisch, um sich auf den Weg nach St. Egidien zu machen. Drei wunderbare Urlaubstage lagen vor ihr, die sie sich auch redlich verdient hatte. Sie hatte jedoch nicht vor, gleich durch bis zum Leitnerhof zu fahren, sondern wollte sich vorher zum Essen mit ihrer Freundin Mia treffen. Danach würde sie durch das Städtchen bummeln, das sie längere Zeit nicht mehr besucht hatte, und einige Kleinigkeiten für ihre Lieben erstehen. Wozu sonst bekam man einen Bonus vom Chef höchstpersönlich!
Nach knapp vierzig Minuten erreichte sie schließlich St. Egidien.
Der malerische Ort mit seinen bunt bemalten Häusern lag am Ostufer eines Sees. Die etwas mehr als eintausend Einwohner, die Einheimischen und diejenigen, die fortgezogen und nach einigen Jahren der Wanderschaft wieder zurückgekehrt waren, liebten die beschauliche Lebensart.
In einigen Häusern waren die Fenster an diesem düsteren Vormittag von kleinen Lampen beleuchtet, was den heimeligen Eindruck noch verstärkte. Die gewundene Straße schlängelte sich gemächlich in geringer Entfernung am Jochbergsee entlang, der während der letzten Eiszeit entstanden war und mit hundertneunzig Metern eine extreme Tiefe hatte. Seinen Namen hatte er seiner Lage unterhalb des Jochbergs mit dem Gletscher zu verdanken. Der Fischreichtum des Sees war legendär und hatte mit dazu beigetragen, dass sich an den Ufern verstreut schon früh malerische Bauernhöfe angesiedelt hatten. Wenn man nur noch die hoch aufsteigenden Wände des Jochbergs vor Augen hatte, zweigte unvermutet die Haarnadelkurve zum Leitnerhof ab, der oberhalb des Sees versteckt in einem herbstlich goldgelb gefärbten Lärchenwald lag.
Der Ort mit seinen schroffen Bergen eignete sich nicht zum Alpin-Skifahren, und so war es den Einwohnern erspart geblieben, ihre intakte Natur von monströsen Liftanlagen, braunen Wiesen und Speicherseen ruiniert zu erleben. Hier hielten sie das ein, was man »sanften Tourismus« nannte, und fuhren nicht schlecht dabei.
Sie waren eigenwillig, die Bürger St. Egidiens, dachte Anna lächelnd. Denn womit warb dieser Ort? Damit, dass es hier nichts gab! Rein gar nichts, außer schöner Natur und freundlichen Menschen. Und natürlich gab es ein hübsches Dorf mit urigen Gaststätten. Aber es fehlten Schickimicki-Restaurants und Bars – außer der Mini-Bar im Hotel Post, die allerdings auch immer rappelvoll war.
Dafür hatten sie einen Buchladen, der eher einem Café glich; ein Handarbeitsgeschäft hielt sich wacker. Es gab ein Geschäft, das von der dörflichen Genossenschaft geführt und in dem gehobenes Kunsthandwerk aus der Region verkauft wurde, einen Bäcker sowie den Fleischerladen. Und natürlich einen Supermarkt; doch seine Ausmaße hielten sich in Grenzen, sodass niemand Gefahr lief, sich in ihm auf der Suche nach einem Päckchen Backpulver zu verlaufen. Im Winter wurden – sofern genügend Schnee fiel – einige Loipen gespurt, und die Schlittenbahn vom Postberg hinunter zum Hotel Post war beleuchtet und sorgte für Vergnügen. Zu zwei weiteren Bahnen fuhr zudem an den Wochenenden der Zubringer-Bus, sodass die Schlittenbahnen gut genutzt wurden. Schneeschuh-Wanderungen wurden ebenfalls angeboten und gern angenommen.
Anfangs hatte man die Lacher der umliegenden Gemeinden natürlich auf seiner Seite gehabt. Und man hatte in St. Egidien heftig gestritten, ob das ausreichen würde, die Pensionen und Hotels am Leben zu erhalten. Doch nach und nach waren die spöttischen Stimmen verstummt, denn es hatte funktioniert, sehr zu Annas und der Freude der meisten Einheimischen.
Der Ort und sein See waren flankiert von bewaldeten Bergen, die das Dorf um beinahe sechshundert Meter überragten. Ihre vor Feuchtigkeit triefenden und mit Moos bewachsenen Felsen schienen dunkle Geheimnisse zu verbergen. In früheren Zeiten hatte man gehofft, hier Salz zu finden, doch die Probebohrung hatte erwiesen, dass die geringe Ausbeute einen Abbau nicht lohnte.
Es schlug gerade zwölf, als sie Mia mittags im netten Bistro traf, das erst neulich vom Junior renoviert worden war und jetzt dank frischer Farben die Bewohner zum Verweilen einlud. Sie hatte Mia seit drei Monaten nicht mehr gesehen, ebenso wenig wie ihre Familie.
Die beiden umarmten sich herzlich und setzten sich in die Nische, von der aus man die Hauptstraße im Auge hatte. Sie aßen, schwatzten und genossen es, wieder einmal gemeinsam Neuigkeiten auszutauschen.
»Weißt, dass gerade du es bist, die unsere Ägidius-Kapelle restaurieren darf, das find ich einfach super. Wo du die doch so liebst und das immer dein Wunsch war«, freute sich Mia mit ihr. Ihre blauen Augen blitzten, und wie so oft bewunderte Anna die Locken in feurigem Rot, die, kaum zu bändigen, Mias zartes Sommersprossen-Gesicht umrahmten.
»Ja, ein riesiger Glücksfall. Aber beinahe hätte ich gekündigt, so einen Schrecken hat mir der Chef heute Morgen noch eingejagt.«
Mias Augen weiteten sich. »Ach, geh, das glaub ich jetzt nicht. Du warst doch immer so glücklich mit deiner Stelle.«
»Na ja, ich habe nur damit gedroht. Aber ich war so geschockt, dass er mir für die Arbeit an der Kapelle den Neuen an die Seite getackert hat.« Anna war immer noch ein wenig aufgeregt. »Erst als wir geklärt haben, wer die Oberaufsicht für das Projekt hat, war ich beruhigt.«
»Du bist der Boss, eh klar«, nickte Mia, Annas größter Fan.
»Nun, anfangs schien es gar nicht so klar. Ich hab ihn regelrecht überrumpelt damit, dass ich das Sagen haben muss, weil wir uns sonst in die Haare kriegen. Das hätte Mord und Totschlag gegeben, so viel steht fest.«
»Du meinst den Dings, den … wie hieß er doch gleich, der erst seit einem halben Jahr bei euch ist?«, fragte Mia mit leuchtenden Augen.
»Martin Weber. Er ist ganz schön von sich überzeugt.«
»Zu Recht?«
»Ja, er ist gut«, gab Anna schulterzuckend zu. »Aber auf dem Gebiet der Restaurierung von Fresken muss er noch einiges lernen. Da bin ich einfach besser.«
»Und von dem bist du jetzt der Boss.«
»Exakt. Jedenfalls für dieses Projekt.« Annas Augen funkelten. Sie fuhr sich durch die hellblonden Haare, die sie sich gestern hatte abschneiden lassen, sodass sie heute nur noch kinnlang waren. Außerdem hatte sie ihren Pony wachsen lassen, sodass man nun erst ihre großen blauen Augen wahrnahm, meinte Hanni. Heute trug sie ein rotes Haarband, wie es zurzeit Mode war.
»Und ich hätte laut lachen können, als ich sein Gesicht sah, als sich Herbert meiner Meinung anschloss und sich für mich als Boss entschied.« Sie kicherte. »Ich habe einfach mal sehen wollen, wo ich derzeit bei der Firma stehe, seit dieser Mann, der sich für den Größten hält, bei uns aufgetaucht ist. Er hat wohl schon Erfahrungen gesammelt, sicher, vor allem jedoch in privaten Haushalten und öffentlichen Einrichtungen, während ich eher auf Kirchen und Klöster spezialisiert bin, ein völliges Neuland für ihn. Herbert ist richtig erschrocken, als ich auf einmal so energisch aufgetreten bin. Und der gute Martin war derart geschockt, dass er kein Wort hervorbrachte.« Wenigstens nicht auf der Stelle, fügte sie amüsiert in Gedanken hinzu.
Sie holte tief Luft. Ja, sie hatte alles auf eine Karte gesetzt. Natürlich war es schön, für die schwierige Arbeit in Eisenach einen dicken Bonus zu erhalten. Aber Geld war nicht alles. Sie hatte in dem Moment einfach wissen wollen, ob Martin als Sieger aus diesem Rennen hervorgehen würde oder sie. Schließlich war sie im September dreißig geworden und arbeitete seit vierzehn Jahren bei den renommierten Weinzierl-Werkstätten, während Martin Weber erst seit einem halben Jahr dort tätig war. Ihre Reputation als Restauratorin war enorm. Der Schock, als sie hörte, dass sie ihn zur Seite gestellt bekommen sollte, war genau so groß gewesen wie bei ihm, als er erfuhr, dass sie quasi seine Chefin werden würde – zumindest für das Projekt Ägidius-Kapelle. Sie hatte schlicht der Teufel geritten, sie hatte zum ersten Mal etwas riskiert. Und sie hatte gewonnen. Ein schönes Gefühl.
»Gut gemacht, Anna«, sagte Mia. »Ich freu mich, dass du endlich wieder in St. Egidien wohnen wirst. Du bist ja nur noch zum Wäschewechseln zu Hause gewesen. Du weißt sicher, dass Christoph und Rita sich getrennt haben.«
»Ja, hab ich mitbekommen«, antwortete Anna leise. »Wie hat er es denn aufgenommen?«
»Gut, schließlich war er es, der die ganze fürchterliche Sache beendet hat. Er ist richtig aufgeblüht, seit Rita das Dorf verlassen hat«, gab Mia zufrieden von sich.
Anna atmete tief durch. Es hatte ihr vor zwei Jahren fast das Herz gebrochen, als sie merkte, wie Christoph, ihr Freund, sich veränderte, wie er leuchtende Augen bekam, wenn die Skilehrerin mit ihm flirtete. Und irgendwann hatte er mit Anna von jetzt auf gleich Schluss gemacht. Nach dreijähriger Beziehung, gerade als Anna entschieden hatte, das Thema Heirat einmal wie nebenbei anzusprechen. Doch jetzt war sie über ihn hinweg. Hoffentlich.
Die beiden Freundinnen unterhielten sich noch eine ganze Stunde, dann ging Mia ihrer Arbeit in der Apotheke gegenüber nach. Anna machte sich auf zu einer Einkaufstour. Um halb vier schließlich legte sie alle Tüten ins Auto – ein Seidentuch für Hanni, eine neue Pfeife für Wiggerl, Hannis Mann, und aus dem Gebrauchtwaren-Geschäft, das so ziemlich alles führte, was der Mensch benötigte oder auch nicht, eine Schallplatte mit einer Aufnahme von Anne-Sophie Mutter für ihren Vater. Er bevorzugte immer noch dieses Medium, es hätte einen besseren Klang als CDs, beteuerte er. Anna war ja der Meinung, dass es ihm einfach mehr Spaß bereitete, die große schwarze Scheibe aufzulegen, was bei seinen beinahe andächtigen Bewegungen einer Zeremonie gleichkam. Über neue Schallplatten freute er sich wie ein Kind. Für sich hatte sie ein ansehnliches Bücherpaket erstanden. Damit war der letzte Cent der Bonus-Vergütung aufgebraucht, doch es machte ihr eben immer Spaß, andere und sich selbst zu beschenken.
Als sie durch das waldreiche, hügelige Tal fuhr, in dem man immer wieder einen Blick auf den Jochbergsee erhaschen konnte, wurde sie urplötzlich von Sehnsucht überfallen, ihre Freude mit zwei weiteren Menschen zu teilen, denen ihre Liebe gehörte: Sie bekam Sehnsucht nach ihrer Mutter und ihrem Bruder, die sie bei dem schrecklichen Unfall auf der Autobahn, als beiden ein Geisterfahrer entgegenkam, verloren hatte. Der Schmerz überfiel sie immer noch unverhofft, jedoch nicht mehr so heftig wie im ersten Jahr. Sie blinzelte das Brennen in den Augen fort und konzentrierte sich auf die Fahrt.
Nordwärts, ein wenig erhöht im hintersten Winkel des kleinen Ortes gelegen, von wo aus man einen traumhaften Blick auf den Gletscher am anderen Ende des Sees hatte, thronte das Haus ihrer Familie auf einem breiten Felsenband. Ja, ihre Vorfahren hatten einen Sinn für die Sicherheit des Hauses bewiesen. Hier oben konnte ihnen kein durch die Schneeschmelze im Frühjahr bedingtes Hochwasser etwas anhaben.
Schon von Weitem strahlte die Ansammlung der Leitner-Häuser Gediegenheit und Geborgenheit aus – ein Hort der Ruhe und des Friedens. Anna wusste, dass der Anblick täuschte. Nicht immer war es hier friedlich zugegangen. Dennoch wurde sie jäh von einer Welle des Stolzes erfüllt.
Etwas tiefer lag der Ahornhof der Schwaigers, zu denen sie ein gutes Verhältnis hatten. Den Hof hatten die Erben der letzten Bauernfamilie verkauft. Sie verfügten weder über das Geld, um ihn entsprechend zu vergrößern, sodass eine Familie von ihm leben konnte, noch über die Kraft, um ihn im Nebenerwerb am Leben zu halten. So hatten die drei Söhne der verstorbenen Bauern, die längst in anderen Städten Arbeit gefunden hatten, den Hof vor einigen Jahren an die Familie Schwaiger veräußert. Als Sommerhaus war er ihnen zu groß gewesen, und die Einnahmen aus dem Verkauf konnten alle drei gut gebrauchen. Schweren Herzens hatte man sich von dem Familiensitz getrennt.
Jetzt wurde er bewohnt von Cilli Schwaiger, deren Sohn Christoph sowie Christian, dem Älteren der beiden Brüder, mit dessen Frau und den zwei Kindern.
Die Familie Schwaiger hatte eine interessante Vergangenheit. Cilli und Fritz Schwaiger hatten das Erstaunliche geschafft und nach Jahren als Anwälte in München hier oben eine Heimindustrie aufgebaut, indem sie das Hobby von Cilli zum Beruf machten. Sie stellten handgefärbte und gewebte reinwollene Decken her, die sich dank ihrer außergewöhnlich schönen Farben und seit dem letzten Jahr vor allem dank der Möglichkeiten des Internets ausgezeichnet verkauften. Anfangs hatten sie die Wolle von ihren eigenen elf Schafen genommen, die natürlich auch die Wiesen vom Leitnerhof beweideten, doch mittlerweile stammte der größte Teil von fremden Tieren. Der jüngere Sohn, Christoph, hatte zu diesem Zweck extra eine kleine Spinnerei gegründet, in der die Wolle zu Garn verarbeitet wurde.
Mit anderen Webern der Region, für die die Familie Webstühle hatte herschaffen lassen, wurden von Hand Decken auf Schiffchenwebstühlen gefertigt und später von Cilli Schwaiger kunstvoll mit Seidenkanten eingefasst. Doch gerade als die Geschäfte begannen, gut zu laufen, erlitt Fritz einen Gehirnschlag. Das war vor drei Jahren gewesen.
Anna mochte Cilli sehr und hatte das Gefühl, dass diese sich in ihren Vater verliebt hatte. Doch der schien nichts davon zu bemerken. Vielleicht, dachte Anna, bildete sie sich das auch nur ein. Obwohl sie ihrem Vater eine neue Liebe von Herzen gegönnt hätte.
Bevor man weiter zu den Schwaigers fuhr, zweigte der Pfad ab, der zum Leitnerhof führte. Anna bog ab auf den schmalen Weg und erhaschte einen Blick auf den über zweihundert Jahre alten Leitnerhof, den ältesten im Umkreis. Hier lebte sie mit ihrem Vater Wastl, mit Wiggerl und Hanni. Wie beim Nachbarhof waren alle Fenster im unteren Stockwerk beleuchtet, durch das lichte Wäldchen wirkten sie in der Dämmerung wie helle Sterne.
Seit über neunzig Jahren handelte es sich jedoch nicht mehr um einen Bauernhof, sondern um das Doktorhaus, wie die Einheimischen den Leitnerhof in den zurückliegenden Jahren getauft hatten, in dem Wastl einst die Nachfolge seines Vaters und Großvaters angetreten hatte. Doch auch das war mittlerweile Vergangenheit. Schon Annas Bruder Florian war vom Arztberuf nicht begeistert gewesen, sondern hatte Betriebswirtschaft studiert. Anna hatte immer schon Kirchenmalerin werden wollen. Diese Liebe war in der Kapelle entstanden, die sie nun restaurieren durfte, der Ägidius-Kapelle, dem Kleinod mitten im Wald, keine halbe Stunde zu Fuß von ihrem Zuhause. Wie oft hatte sie sich gewünscht, dass man diese Kapelle endlich restaurierte! Nun würde ihr Wunsch endlich in Erfüllung gehen.
Ihr Vater praktizierte mittlerweile nicht mehr, nachdem er infolge des Verlustes seiner Frau und seines Sohnes einen Herzinfarkt erlitten hatte. Der neue Arzt residierte mitten im Zentrum des kleinen Orts.
Der Leitnerhof war im ganzen Tal für seine Schönheit bekannt, und nicht selten kamen Touristen her, um ihn zu besichtigen, weil sie ihn für ein Museumsdorf hielten. Zumindest früher war das so, bis Wastl das Schild, das auf Privatbesitz hinwies, angebracht hatte – eines am Fuße des Weges und zur Sicherheit noch ein anderes am Eingang zum Hof. Für die Patienten stellte das kein Problem dar. Die Einheimischen kannten sich aus.
Der Hof bestand nicht nur aus einem Haupthaus, sondern es handelte sich um ein stattliches Hof-Ensemble, welches neben dem Haupthaus mit reicher Lüftlmalerei noch eine Schmiede besaß, in der der Großvater früher seine weit gerühmten Messer hergestellt hatte – so die Patienten ihm Zeit gelassen hatten. Das Anwesen umfasste, abgesehen von der Scheune, noch ein weiteres Gebäude, das die Familie bis heute nutzte: ein zum Schutz vor Mäusen auf mächtigen Granitstelzen ruhendes Vorratshaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, das sowohl in der unteren als auch in der oberen Kammer je zwei halbrunde Fenster aufwies. Es diente zum Aufbewahren von geräuchertem Schinken, getrockneten Pilzen und Obst. Zudem existierte noch das etwas abseits gelegene Austragshaus für das Altenteil, in das allerdings momentan niemand einziehen würde, da es erstens nicht benötigt wurde und zweitens alle vier Zimmer dringend renoviert werden mussten. Fürwahr, auf einen solchen Besitz konnte man stolz sein. Doch manchmal war dieser auch eine Last, den es mit dem nötigen »Kleingeld« zu erhalten galt, dachte Anna seufzend. Dennoch würde nichts und niemand sie je von hier vertreiben können. Dafür liebte sie ihr Heim viel zu sehr. Sie würde eben fleißig arbeiten und so viel wie möglich sparen, damit sie das Haus immer so gut in Schuss halten konnten, wie es heute da stand.
Mittlerweile hatte sich der Nebel, der sich im Laufe des Tages ein wenig gelichtet hatte, wieder verdichtet, sodass das Hofensemble einem hingehauchten Gemälde glich – so einem, wie Annas Mutter es immer wieder in ihren Miniaturen zu Papier gebracht hatte.
Vorsichtig steuerte sie den Wagen über den holprigen Pfad, der sich durch das Anwesen schlängelte, und wich dabei gekonnt einigen runden Felssteinen aus. Wie gewöhnlich parkte sie nicht sogleich im Schuppen neben der Scheune, sondern hielt erst einmal auf dem schmalen Kopfsteinpflasterweg vor dem Haupthaus, um die Lebensmittel, die sie im Dorf auf der Rückfahrt eingekauft hatte, auszupacken.
Das Haupthaus des Leitnerhofs war ein märchenhaftes Gebäude, großzügig, jedoch nicht protzig. Sein hölzerner Drachenkopf am Obergeschoss diente der Abwehr des Bösen, und auch für die Seelen von Verstorbenen war gesorgt – durch das Seelenfensterchen unter dem Dach, so glaubte man hier, konnten sie sich befreien. Der Hof bot Anna, ihrem Vater Wastl, und Hanni Hartmann mit deren Mann Wiggerl ein heimeliges Zuhause. Hanni und Wiggerl als »Angestellte« zu bezeichnen, konnte in keiner Weise das gute, beinahe familiäre Verhältnis beschreiben, in dem Anna und ihr Vater zu den beiden standen. Von Angestellten und später Freunden hatten sich Hanni und Wiggerl im Laufe der Jahre zu geschätzten Familienmitgliedern entwickelt, ganz besonders nach dem Tod der Mutter.
Manchmal vergrößerte ein weiteres Familienmitglied zeitweise die Wohngemeinschaft. Viel zu häufig für ihrer aller Geschmack tauchte der ungeliebte Cousin Korbinian in letzter Zeit bei ihnen auf, um seiner Angelleidenschaft nachzugehen. Er war der Stiefsohn von Onkel Eduard, von dessen Frau Brigitte mit in die Ehe gebracht. Eduard hatte erst spät geheiratet und wurde als stilles Familienmitglied von allen gemocht. Erst als Brigitte auftauchte, hatte sich die Situation verschärft. Zum Glück waren die drei vor Jahren nach Mallorca gezogen, wo sie das Hotel von Brigittes Eltern leiteten.
Anna entsann sich noch genau, wie gespannt die Atmosphäre oft zu Hause gewesen war, als sie gemeinsam unter einem Dach gewohnt hatten. Vor allem ihre Mutter hatte kleine Fehden mit Brigitte ausgetragen. So waren alle erleichtert, als die Familie sich entschloss, das Hotel von Brigittes Eltern zu übernehmen.
Lange hatten sie nichts von Korbinian gehört. Sie wussten nur, dass er nach Bayern zurückgekehrt war und sein BWL-Studium abgeschlossen hatte. Seitdem arbeitete er in Berchtesgaden in einer Bank; laut eigenem Bekunden stand er kurz davor, die Direktorenstelle einzunehmen, was ihm niemand glaubte, denn ein Aufschneider war er immer schon gewesen. Da sie das Gästezimmer im Erdgeschoss bereithielten, falls die Familie einmal zu Besuch erscheinen sollte – was seit ihrem Auszug nie mehr der Fall gewesen war – logierte nun zeitweise Korbinian darin, ohne groß an der Hausgemeinschaft teilzunehmen. Er war unverheiratet und soweit bekannt auch ohne Freundin, zu der er es wohl auch nie bringen würde, wenn man bedachte, wie er ihre Freundin Katharina gequält hatte: Diese hinkte wegen einer Kinderlähmung leicht und hatte schon früher bei den ausgelassenen Spielen am See nicht immer mithalten können.
Wie es Korbinian heute ging, wusste Anna nicht, da sie in den letzten zwei Jahren mit Vorliebe jene Arbeit angenommen hatte, die sie möglichst weit von Zuhause wegführte. Der Grund war natürlich Christoph. Umso glücklicher war sie, jetzt wieder einmal eine lange Zeit zu Hause verbringen zu können.
Als sie die kunstvoll geschnitzte Eingangstür öffnete, neben der alte, mittlerweile ausrangierte bäuerliche Gerätschaften zusammen mit bauchigen Tontöpfen standen, die von Hanni mit rostroten Eriken üppig bepflanzt worden waren, empfing sie nichts als Stille. Sie warf einen Blick in die Küche. Niemand da. Nicht einmal die Klänge der bayerischen Volkslieder, die Anna ihr vor Urzeiten auf Kassetten übertragen hatte und die Hanni wie ihre Augäpfel hütete, begrüßten sie. Nur Brauner, der von allen geliebte amerikanische Waldkater, verließ seinen Lieblingsplatz unter dem urtümlichen Holzherd sofort mit dem typischen sanften Gang, um Anna zu begrüßen. Seinen Namen hatten die Frauen früher nicht sonderlich gemocht. Doch Annas Vater und Wiggerl hatten den Kater von Anfang an wegen der braunen Flecken so genannt, die seinen großen Körper zierten, und so hatten sie ihn schließlich übernommen. Den Herd, der mit Holz oder Kohle zu befeuern war und den sie nur an hohen Feiertagen zusätzlich zum elektrischen für opulentes Essen nutzten, oder wenn Gäste erwartet wurden, schützte vor allem Hanni vor seinem Ende auf dem Schrottplatz. Und niemand spöttelte mehr über ihn, den Trumm, wie Wastl ihn gern nannte, seit er es nach einem Stromausfall von fast vier Stunden ermöglicht hatte, alle mit ausreichend Kaffee zu versorgen, der ihnen bereits nach einer Stunde unentbehrlich wie Wasser dem Verdurstenden in der Wüste erschienen war. Der geschützte Platz unter dem Trumm war das geliebte Refugium des Katers.
Der flüchtige Duft vom Kaffee, den die Familie stets um fünf trank, hing in der Luft, und Anna stibitzte sich ein Stück vom Teekuchen. Die Küche konnte man trotz der geringen Höhe als prächtig bezeichnen, war sie doch recht geräumig. Die Räume des Hauses waren ohnehin nicht so hoch wie heutzutage, weswegen die Familie reichlich Heizkosten einsparte – ein willkommener Nebeneffekt. Und natürlich wurde es auch im Sommer so gut wie nie unerträglich heiß im Haus.
Zugleich war die Küche ausgesprochen gemütlich, was auch an der Farbgebung lag. Die dicken Wände in blassem Rosa und die tiefen Fensternischen ließen sie heimelig wirken, vor allem, wenn Hanni oder Anna Kerzen in den alten Messingleuchtern anzündeten, die sie in die Fensternischen gestellt hatten.
Das Besondere an diesem alten Raum, der baulich nie verändert worden war, bildeten die zwei Feuerstellen. Zum einen gab es an der linken Schmalseite des Zimmers den offenen Kamin, neben dem sich ein Klapptisch und zwei Hocker befanden, an denen man einen raschen Kaffee trinken oder kurz die Zeitung durchblättern konnte. Zum anderen bereicherte den Raum eine weiß gestrichene, rundförmige Feuerstelle gegenüber, an der man sich früher einfand, um den Lichtschein zu nutzen, der von den Wänden zurückgeworfen wurde. Anna und der Rest der Familie waren froh, dass der neue, besonders strenge Kaminkehrer sie auch diesmal wieder abgenommen hatte. So konnten sie die Feuerstelle weiterhin nutzen, vor allem, wenn sie ein großes Fest mit Freunden und Verwandten feierten. Was leider nach dem Tod von Mutter und Bruder nicht mehr der Fall gewesen war, sinnierte Anna.
Sie wollte gerade hinauf in ihre Zimmer gehen, als sie Hanni im Flur hörte.
»Ah, endlich bist wieder da! Ich hab schon gedacht, dir ist was passiert«, brachte diese mit atemloser Stimme hervor.
»Was sollte mir denn passieren? Du weiß doch, dass ich vorsichtig fahre.«
»Vor allem weiß ich, dass das auch bitter nötig ist, bei dem Tempo, das du immer einschlägst«, murrte Hanni, die eine schlechte Autofahrerin war und das Auto von Wastl – sie und Wiggerl besaßen kein eigenes – nur in Ausnahmefällen nahm, um für Großeinkäufe ins Dorf zu »schleichen«. Anders konnte man ihre Fahrweise nicht bezeichnen. Normalerweise nahm sie für die alltäglichen Erledigungen das Fahrrad.
»Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast, nächstes Mal ruf ich dich vorher an, falls es länger dauert«, gab Anna mit schlechtem Gewissen zurück. Sie wusste doch um Hannis Ängste, wenn sie später kam, denn eigentlich hatte sie schon zu Mittag daheim sein wollen.
»Bittschön, des machst!« Hanni nahm den Wasserkocher. »Magst einen frischen Kaffee oder Tee?«
Anna trat zu ihr und schlang einen Arm um die kleine Frau, die ihr zur zweiten Mutter geworden war. »Nein, danke. Aber ich nehm mir noch ein Stück von deinem Teekuchen. Hast du ihn diesmal anders gemacht?«
Hanni füllte den Wasserkocher, stellte ihn an, dann schnitt sie zwei dicke Stücken Teekuchen ab und legte sie auf einen Teller. »Ja, schmeckt er dir nicht?«
»Im Gegenteil, ich finde, er ist noch besser als sonst, obwohl das eigentlich kaum möglich ist.« Anna lächelte. Sie ging zum Tisch am Fenster und schnappte sich die zusammengelegte Tageszeitung.
»Es gibt auf dem Markt einen neuen Gewürzhändler. Er hat mir Tonkabohnen verkauft. Ich muss sagen, ich könnt mich glatt drin wälzen.« Hanni liebte ausgefallene Rezepte und freute sich über neue Gewürzkreationen wie andere Frauen über ein neues Kleid. »Heute Abend gibt’s eine Creme, in die ich sie auch gegeben hab. Sie schmeckt göttlich. Aber wenn du kochst, dann nimm nicht zu viel davon. Der Mann hat mich gewarnt, das wäre unbekömmlich.«
»Denk dran, dass du sie jetzt nicht wie sonst immer an alles tust, was du auftischst«, bat Anna. Sie dachte dabei an die diversen Gewürzabenteuer, die Hanni so begeistert kreierte. Das letzte waren die »afrikanischen Wochen« gewesen, davor die thailändischen und so weiter. Irgendwann hatten sie nach anfänglicher Begeisterung die neuen Gewürze über, dann ging alles wieder von vorne los. Dennoch war es noch jedes Mal eine Bereicherung, und Anna war gespannt, wie dieses neue Gewürz schmeckte.
»Bisher hat dir noch alles gemundet. Aber du hast ja recht«, gab Hanni lachend zu, »ich werd aufpassen. Heute sind es nur zwei Gerichte. Und morgen probiere ich was anderes – ein ganz neues Gewürz aus Japan, mehr wird nicht verraten.« Sie tat geheimnisvoll und goss Wasser auf den gefüllten Teefilter.
»Ich bin gespannt.« Mit diesen Worten nahm Anna das Tablett mit dem Kuchenteller und der Tasse Tee, die Hanni ihr natürlich mit daraufgestellt hatte. Hanni tat immer das, was ihr in den Sinn kam, doch man nahm es ihr nicht übel, denn sie meinte es gut. Anna war da nicht anders, wenn sie den Tee nicht trinken wollte, würde Hanni ihn selbst nehmen. Aber sie murrten nicht übereinander, sie kannten und akzeptierten sich, was dem Frieden im Haus sehr guttat. Die Männer hatten es eh aufgegeben, sich gegen Hanni durchsetzen zu wollen, was ihnen natürlich auch sehr gut bekam.
»Ruh dich aus, Schatzl«, verabschiedete Hanni die junge Frau und begann mit den Vorbereitungen für das Abendessen.
»Werd ich machen«, Anna grinste. Für Hanni war eine Fahrt von St. Egidien nach Garmisch eine Weltreise.
»Mei, bin i froh, dass’d wieder da bist«, schickte Hanni hinterher.
»Und ich erst«, lachte Anna glücklich. Sie schloss die Tür und ging mitsamt dem Tablett hinauf in ihre privaten Räume, gefolgt vom graubraunen Stubentiger.
2
Sie betrat das Wohnzimmer ihrer Wohnung im ersten Stock, zu der noch ein Schlafzimmer und ein Bad gehörten. Wie schön, endlich wieder einmal zu Hause angekommen zu sein! Viel zu oft hatte sie Projekte angenommen, die sie so weit wie möglich von Christophs Nähe fortführten, in einfachen Quartieren gewohnt und war ihrer Arbeit nachgegangen. Jetzt war die Zeit reif, heimzukehren. Sie würde wieder Aufträge bearbeiten, die es ihr erlaubten, am Wochenende daheim zu regenerieren; möglicherweise konnte sie sogar jeden Abend heimfahren. Es gab ja keinen Grund mehr, ihr Heim zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.
Rita war fort! Gab es einen schöneren Satz?
Ihr Herz begann sogleich zu stolpern, als sie in Gedanken Christoph vor sich sah, nun frei für andere Frauen. Für sie? – Anna wusste es nicht. Erst einmal war die Nebenbuhlerin verschwunden. Das reichte – zumindest für den Anfang.
Einen Moment blieb sie im Türrahmen stehen. Es war ein besonders hübsch eingerichtetes Zimmer, befand sie. Von ihrem Vater wurde es spöttelnd Salon genannt, weil Anna es so weiblich eingerichtet hatte. Wie alle Räume, so war auch dieser so groß, dass er Platz für ausreichend Schränke, Regale und Kommoden bot. Sie nahm eines von den bereitliegenden Zündhölzern und entfachte ein behagliches Feuer im offenen Kamin, den ihr Großvater netterweise für seine junge Frau aus der Stadt hatte einbauen lassen, da sie ständig fror.
Nachdem das Anmachholz genug Hitze bot, legte Anna zwei Scheite vom Buchenholz darüber und schaltete das Radio ein. Sie kuschelte sich in eine Ecke des tiefen Sofas, das sie mitten im Raum aufgestellt hatte, und lauschte den Klängen aus dem Radio. Es war schade, dass sie nicht mehr im Chor mitsang, doch die Arbeit hatte es einfach nicht ermöglicht, regelmäßig an den Proben teilzunehmen, die der Vater leitete. Er sammelte die alpenländischen Weisen und hatte im Selbstverlag bereits etliche Heftchen herausgebracht. Außerdem komponierte er eigene geistliche Lieder. Anna hatte das Singen im Chor immer so geliebt wie ihre Mutter. Früher waren sie gemeinsam in Kirchen und auf Festen aufgetreten, mit den anderen Freunden aus dem Dorf. Sie vermisste sie, diese Gemeinschaft, doch das war momentan leider nicht zu ändern.
Mit einem Mal dachte sie an Martin. Ein interessanter Mann, der ihr Herz schneller schlagen ließ. Ein Mann, der nicht geschaffen war für eine Frau allein. Sie kannte die Männer. Obwohl – Herbert war auch gut aussehend, und er war treu. Falls nicht, hätte Evelyn ihn längst in die weite Welt geschossen, da war Anna sich ganz sicher. Diese schöne stolze Frau würde Untreue nie tolerieren.
Eingewickelt in ihre Lieblingsstrickjacke, kraulte sie den Kater, der nicht wie sonst auf der gepolsterten Bank vor dem Sofa, sondern neben Anna Platz genommen hatte – allerdings mit einem Zwischenraum von vierzig Zentimetern. Anna schmunzelte. Brauner war zwar anhänglich und folgte ihnen in gebührlichem Abstand von Zimmer zu Zimmer, sodass er nicht zwischen die Füße geriet, was ohnehin sein Glöckchen verhinderte, auf dem Hanni aus genau diesem Grund schon in seiner Jugendzeit bestanden hatte. Doch wenn sich jemand zum Lesen hinsetzte, wusste er, dass er sich gedulden musste, bis man ihn auf den Schoß nahm, um ihn zu kraulen oder mit ihm zu spielen.
Er verfügte mit seinen zwölf Jahren über ausreichend Intelligenz und hatte gelernt, dass weder ihr Vater noch Wiggerl es schätzten, wenn er ihnen zu nahe auf die Pelle rückte. Also setzte er sich auf den Stuhl oder den ausreichend entfernten Platz auf der Couch neben seinen geliebten Menschen – sofern er nicht ein interessantes Spiel erfand, mit dem er sich beschäftigte. Hanni und Anna schätzten seine Nähe ganz besonders und schenkten ihm bereitwillig die geforderten Kuscheleinheiten, auch das notwendige Striegeln bereitete ihnen allen Freude. Wobei Anna sein erklärter Liebling war – auch wenn er eine ganze Weile gebraucht hatte, bis er seinen beleidigten Blick aufgab und ihr erlaubte, ihn zu streicheln, nachdem sie ihn diesmal geschlagene drei Monate allein gelassen hatte.
Entspannt lehnte Anna sich zurück und gab sich ganz ihren Träumen hin. Als sie Hanni im Flur ihren Namen und den ihres Vaters rufen hörte, schreckte sie hoch. Himmel, sie war tatsächlich eingeschlafen. Sie schaute auf die Uhr. War es tatsächlich schon sieben? Sie streckte sich und stand auf. Brauner, der die Zeit ebenfalls zu einem seiner zahlreichen Nickerchen genutzt hatte, tat es ihr nach.
Anna ging ins Bad, wusch sich die Hände und kämmte sich. Ja, die neue Frisur stand ihr gut. Sie hatte sich für eine Anzahl von Haarbändern in den verschiedensten Farben entschieden, die sie gut mit ihrer Kleidung kombinieren konnte. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen trug sie zu Arbeitszeiten stets bequeme Funktionskleidung, weil das die zum Teil recht schmutzige Arbeit mit sich brachte, in der Freizeit dagegen mochte sie Röcke und Kleider.
Mit den Geschenken für ihre Lieben stieg sie die Treppe hinunter. Gegessen wurde unter der Woche immer in der Küche. Nur wenn sie Besuch hatten und an den Sonntagen deckten sie den Tisch im Wohnzimmer. Der Duft nach Annas Lieblingsessen drang aus der Küche.
Sie öffnete die Tür und trat ein. »Maultaschen! Klasse, Hanni, dass du die gemacht hast«, freute sie sich.
»Die waren eigentlich schon für heute Mittag vorgesehen, aber da warst du ja nicht da«, antwortete Hanni leicht strafend.
»Ich weiß, tut mir leid. Hallo, ihr beiden«, begrüßte sie den Vater und Wiggerl, die soeben aus dem Garten kamen und den Raum mit geröteten Wangen betraten – müde, aber glücklich, wie es schien. »Damit du mir nicht mehr böse bist, hab ich dir auch was mitgebracht«, sagte sie lächelnd zu Hanni und überreichte ihr den Seidenschal, der hübsch in Seidenpapier eingeschlagen war.
»Und für dich, Papa, und dich, Wiggerl, hab ich auch noch was Feines.« Mit diesen Worten gab sie den beiden die Mitbringsel.
»Bei dir scheint der Wohlstand ausgebrochen zu sein«, neckte der Vater munter. »Was das wohl sein mag?« Er schmunzelte und riss dann das Papier von der Schallplatte. »Violinkonzert D-Dur von Tschaikowsky. Auch noch das mit der Anne-Sophie Mutter und den Wiener Philharmonikern unter Karajan, von achtundachtzig! Wunderschön, Schatzl, die besitz ich noch gar nicht. Mei, da war das Madl gerade mal fünfundzwanzig, als sie den Tschaikowsky aufgenommen hat«, erinnerte er sich andächtig.
»Weiß ich doch.«
»Wo hast du die her?«
»Na, vom Stangl-Peter. Ich hab ihn gefragt, ob er diese Rarität tatsächlich zum Schleuderpreis verramschen will. Aber er hat gesagt, wenn er weiß, die Platte ist für dich, dann soll es bei dem Preis bleiben. Ich hab ihm aber trotzdem mehr gegeben.«
Hanni hatte ebenfalls das Papier entfernt. »Ein Schal, mei, ist der schön. Er lag beim Bucher-Fritz im Fenster, gell? Beinahe hätt ich ihn mir selbst gekauft.« Sie hob den Zeigefinger. »Du, der war aber sehr teuer.«
»Wozu ist Geld da? Um es für schöne Dinge auszugeben.« Anna lachte.
»Für dich, Wiggerl, hab ich was ganz Besonderes gefunden. Ich bin sicher, die hast du noch nicht.« Sie gab ihm die Pfeife, die seine Sammlung gut ergänzen würde.
Lächelnd betrachtete sie ihre Lieben, die sich herzlich bei ihr bedankten. »Mein Chef hat mir eine Belohnung geschenkt, weil ich so gute Arbeit geleistet hab.«
»Das soll er auch. Er weiß hoffentlich, was er an dir hat.« Hanni drehte sich um und legte den Schal auf die Anrichte. »Den zieh ich zum Dorffest an«, sagte sie noch. Dann machte sie sich daran, die Suppe mit den Maultaschen in die Teller zu geben. Anna half ihr und schnitt das Brot auf, das sie dazu reichten.
»Das weiß er schon. Heut hab ich ihm klargemacht, dass er an mir eine Kapazität hat«, übertrieb Anna stolz, als sich alle am Tisch versammelt hatten. »Und da hat er mir gleich einen Azubi zur Ausbildung mitgegeben für die Kapelle.«
»Da schau ihm nur schön auf die Finger, dass er alles recht macht und er uns nicht die Kapelle verhunzt«, mahnte Wiggerl.
»Keine Sorge, das werde ich schon tun.«
»Ist er nett?«
Die Frage kam natürlich von Hanni. Anna legte den Löffel in den Suppenteller und überlegte. »Ich denk schon.«
»Wie alt ist er?«
»Ich schätze ihn auf Anfang dreißig.«
»Und dann noch Azubi? Also weißt, die Welt ist verrückt, und die Leut’ sind’s erst recht. Die Lehre beginnen’s mit dreißig, Kinder kriegen’s mit vierzig, und die Alten besuchen mit siebzig die Uni. Dafür bekommen die ungeborenen Babies Chinesisch eingetrichtert und wachsen im Kindergarten dreisprachig auf. Schulkinder dürfen eine Vierzig-Stunden-Woche bewältigen, danach erlauben ihnen die Eltern, dass sie den Rest des Tages vor dem Computer verbringen, da kann i nur sagen: Pfia Gott!«, ereiferte sich Hanni.
Anna grinste und löffelte still ihre Suppe. Hanni hatte nun einmal ihre Prinzipien. Über einige ärgerte sie sich ab und zu, manche belustigten sie, doch befürwortete sie nicht wenige von ihnen.
»Dafür sterben’s auch erst mit hundertzwanzig«, gab Wiggerl zu bedenken.
»Erzähl mir nix. Wer will denn schon hundertzwanzig werden. Nein, nein, für mich muss alles seine Ordnung haben«, gab Hanni streng zurück.
»Also, i hätt nix dagegen, hundertzwanzig zu werden.«
»Und i pfleg di dann bis zu deinem letzten Atemzug. Habe die Ehre!«
Alle lachten. Hanni gab sich gern drakonisch, doch sie hatte eine wachsweiche Seele, führte halt gern das Regiment. Sie war es allerdings auch, die im Haushalt Ordnung geschaffen hatte, war Anna überzeugt. Sie hatte von ihrer Mutter erfahren, wie chaotisch es früher in der Familie zugegangen sein musste, bevor Hanni und Wiggerl bei ihnen eingezogen waren. Ihre Mutter war mit den zwei kleinen Kindern und all der Arbeit in der Praxis völlig überfordert gewesen und hatte keine Zeit gefunden, pünktliche Mahlzeiten auf den Tisch zu bringen, und der Vater wurde viel zu oft in seinen Freistunden herausgeholt, als dass er sich groß um Haus und Hof hätte kümmern können. Zudem war ihre Mutter keine gute Köchin gewesen, und erst mit dem Entschluss, dass jemand hermusste, der der Familie half, gab es dank Hanni und Wiggerl eine geregelte Haushaltsführung, auf deren Einhaltung Hanni strikt achtete. Frühstück gab es morgens Punkt sieben. Dann hatten alle gewaschen und gekämmt am Frühstückstisch zu erscheinen. Das Gleiche mittags.
Es hatte lange gedauert, bis es sich eingespielt hatte, dass um zwei – und wenn Hanni »zwei« meinte, dann war das Gesetz – alle bei Tisch saßen, um gemeinsam die Mahlzeit einzunehmen. Um fünf gab es Kaffee und abends um sieben das Abendbrot. Für alle. Und wehe, jemand rief zu diesen Zeiten den Doktor an, um ihm seine Wehwehchen mitzuteilen und womöglich um sein Erscheinen zu bitten. Der zog sich Hannis Missbilligung bis zum Nimmerleinstag zu. Aber diese Zucht, der sich sogar Annas willensstarke Mutter unterzuordnen wusste, hatte ihnen allen gut getan.
»Wastl, heut hat die Cilli nach dir gefragt«, unterbrach Wiggerl Annas Gedanken.
Alle schauten hoch. »Und, was hat sie gewollt?«
»Weiß nicht. Sie wollte es nur dir sagen.«
»Wann war denn das?«
»Na, heut Nachmittag so gegen vier.«
»Da war ich oben.«
»Hab ich nicht gewusst. Hab sie wieder fortgeschickt. Sie kommt eh heute noch mal, wie ich sie kenn«, sagte Wiggerl ohne großes Interesse.
»Du Depp«, fuhr Hanni ihn an. »Du hättest sie doch hoch zum Wastl führen können.«
»Wieso? Er hätt ja im Bett liegen können«, erwiderte ihr Mann.
»Stimmt. Da hab ich geschlafen«, pflichtete der ihm bei.
»Wahrscheinlich wär sie sogar gern zu ihm gestiegen«, lästerte Wiggerl grinsend.
»Also weißt, du bist wirklich unmöglich! Mach nicht immer deine Witze über die arme Frau.«
»Die Cilli ist nicht arm, sondern weiß genau, was sie will.« Wiggerl löffelte ungerührt seine Suppe.
Anna sagte nichts. Arme Cilli, so nannten sie und Hanni ihre Nachbarin, die häufig unter einem Vorwand zu ihnen kam. Und das nur, um den Vater zu sprechen, darüber waren sie sich einig. Doch der befand sich oft unauffindbar irgendwo in der Landschaft oder steckte in seinem Zimmer und komponierte. Und wenn sie sich anboten, ihn zu rufen, dann wiegelte Cilli ab und lief heim zum Ahornhof.
In Bezug auf den Alten verhielt sie sich manchmal wie ein scheuer Teenager – der sie nun wirklich nicht war, normalerweise war sie sogar recht lebhaft. Dabei war er alles andere als einschüchternd. Er war mollig, hatte fast weiße Haare, war einen Kopf kleiner als seine hübsche Nachbarin und hatte eine sanfte Stimme. Cilli war in ihn verliebt, kein Zweifel. Wenn man nur wüsste, wie man ihren dummen Vater wecken könnte. Cilli war nicht nur nett, sondern auch eine immer noch gut aussehende Frau von bald einundsechzig Jahren. Sie hatte eine hübsche weibliche Figur und gab sich lustig, wenn sie sich mit Hanni und Anna unterhielt. Anna hätte sie gern als Stiefmutter gehabt. Und früher als Schwiegermutter.
In diesem Moment vernahmen sie ein Klopfen. Alle schauten hoch.
»Wenn man vom Teufel spricht«, lästerte Wiggerl erneut.
»Mann, halt den Mund«, befahl Hanni mit scharfer Stimme und stand auf. Sie ging in den Flur. »Cilli, wie nett, wir haben gerade über dich gesprochen.«
»Ach, ich hoffe, ich störe euch nicht.« Cilli blieb an der Küchentür stehen. Sie trug einen grauen Rock mit einer weißen Bluse und darüber eine leuchtend rote Strickjacke aus dicker Wolle. Sie war dezent geschminkt, wie Annas kundiges Auge feststellte, jedoch so, dass kein Mann es erkennen würde.
»Oh, ihr esst gerade!«
»So wie immer um diese Zeit«, sagte Wastl in Hannis Richtung und zwinkerte ihr belustigt zu.
»Tut mir leid. Ich komme ein anderes Mal wieder.« Mit diesen Worten drehte Cilli sich herum und wollte flüchten.
»Halt, stopp, dableibst«, hielt Hanni sie zurück.
Cilli kam nun ganz herein.
»Setz dich her und iss mit uns. Ich hab eine feine Suppe gekocht.«
Die Wangen der Nachbarin waren gerötet, was die Schönheit ihrer blauen Augen unterstrich.
»Du magst doch sicher Maultaschen. Meine sind die besten, das garantier ich«, sagte Hanni eilfertig und zog noch einen Stuhl heran.
»Das ist nett. Ich habe heute Abend noch nichts gegessen.« Cilli setzte sich. »Ich war so beschäftigt mit den Decken und einer eiligen Lieferung, dass ich einfach noch keine Zeit dazu hatte.«
»Anstatt deinen Ruhestand zu genießen, musst immer arbeiten. Dafür hast doch deinen Christoph«, meldete sich Wastl, wischte sich den Mund ab und legte die Serviette neben den leeren Teller.
Hanni füllte den neuen Teller, legte Löffel und Serviette dazu und stellte alles vor Cilli hin.
»Er hat genug um die Ohren«, wiegelte die ab. »Für die Seidenkanten bin nun mal ich zuständig. Und außerdem macht diese Arbeit mir Spaß.«
Sie wechselten das Thema. Als sie die Nachspeise genossen und Hanni Lob gezollt hatten, gingen sie hinüber ins Wohnzimmer, wo Anna, Cilli und Wastl noch einen Kaffee tranken, während Hanni – sie hatte Annas Hilfe energisch abgelehnt – sich um die Küche kümmerte und Wiggerl hinüber ins Fernsehzimmer schlurfte.
Wastl nahm einen Schluck vom Kaffee und stellte dann die Tasse zurück auf den runden Tisch: »Und worüber nun, Cilli, wolltest du mit mir sprechen?«
Sie strich sich das braune Haar, das sie halblang trug, und das in weichen Wellen ihr hübsches Gesicht umrandete, hinter die Ohren. »Ich hab überlegt, dass ich tatsächlich einmal öfter rausmüsste. Ich wollte daher fragen, ob ihr noch ein Chormitglied gebrauchen könntet.«