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Katharina lebt mit ihren Eltern in einem wunderschönen alten Bauernhaus. Sie ist unglücklich in Oliver verliebt, der ebenfalls auf dem Hof wohnt. Ihre Arbeit als freie Journalistin für "Idyllisch Leben" bietet ihr eine willkommene Ablenkung vom Liebeskummer. Für einen Artikel soll sie in einem Landhotel übernachten. Dummerweise vergisst sie, ein Zimmer zu reservieren. Als sie im Hotel mitbekommt, dass Luca, einer der Gäste, ein Zimmer für seine Freundin gebucht hat, diese jedoch erst später ankommen wird, nutzt sie die Gelegenheit und gibt sich als Lucas Freundin Kerstin aus. Doch Luca trennt sich genau in diesen Tagen von Kerstin. Seine Überraschung ist groß, als er eine fremde Frau in dem Zimmer vorfindet …
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Veröffentlichungsjahr: 2016
LESEPROBE zu
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2016
© 2016 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelfoto: © Jenny Sturm – Fotolia.com (oben) und
© Kzenon – Fotolia.com (unten)
Lektorat: Christine Weber, Dresden
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Worum geht es im Buch?
Gabriele Raspel
Ein Zimmer für zwei
Katharina lebt mit ihren Eltern in einem wunderschönen alten Bauernhaus. Sie ist unglücklich in Oliver verliebt, der ebenfalls auf dem Hof wohnt. Ihre Arbeit als freie Journalistin für »Idyllisch Leben« bietet ihr eine willkommene Ablenkung vom Liebeskummer. Für einen Artikel soll sie in einem Landhotel übernachten. Dummerweise vergisst sie, ein Zimmer zu reservieren. Als sie im Hotel mitbekommt, dass Luca, einer der Gäste, ein Zimmer für seine Freundin gebucht hat, diese jedoch erst später ankommen wird, nutzt sie die Gelegenheit und gibt sich als Lucas Freundin Kerstin aus. Doch Luca trennt sich genau in diesen Tagen von Kerstin. Seine Überraschung ist groß, als er eine fremde Frau in dem Zimmer vorfindet …
1
Es war ein glasklarer Freitagmorgen, als Katharina durch Kirchdorf radelte, nachdem sie rasch frische Semmeln gekauft hatte. Ihr Arbeitstag begann erst um zehn, dem Himmel sei Dank. Dieser späte Arbeitsbeginn kam ihr sehr entgegen. Sie hob den Kopf und genoss die Sonnenstrahlen, die jetzt, Ende April, das mulmige Grau der vergangenen Woche abgelöst hatten. Da Kirchdorf überschaubar war, die meisten Geschäfte nah beieinander lagen und sie obendrein keinen Großeinkauf zu tätigen hatte, hatte sie das Auto zu Hause gelassen. Das mittlerweile recht betagte Vehikel von zweiundzwanzig Jahren hatte auch eine Ruhepause verdient. Lediglich zur Arbeit und in Notfällen zwang sie es noch auf die Straße – was es gnädig über sich ergehen ließ und nur gelegentlich mit Motorstillstand bestrafte.
An der Glasfabrik, die so klein war, dass sie die Bezeichnung »Fabrik« kaum verdiente, verlangsamte Katharina ihre Fahrt. Noch war alles ruhig. In der Regel setzte erst gegen zwölf ein lebhaftes Treiben in den mit zahlreichen Lichtgirlanden illuminierten Verkaufsräumen ein – nicht zuletzt dank der vielen Touristen, die in Bussen auf der »Glasstraße« unterwegs waren, um verschiedene Glasbläsereien zu besichtigen.
Die Fabrik war nach einem Großbrand in sehr viel kleinerem Ausmaß neben der alten, einst stattlichen aufgebaut worden. Die Außenmauern der ehemals riesigen Produktionshalle, in der nun große Glaspavillons standen, konnten jedoch gerettet werden. Hier wurden Produkte aus der Region verkauft, was der Halle einerseits ein modernes Ambiente verlieh, andererseits aber an die alte Fabrik erinnerte, in der einmal mehr als sechshundert Arbeiter beschäftigt gewesen waren. Heute erfreute nur mehr eine Handvoll Glasmacher die Besucher mit ihrer Kunst, dem Schauglasblasen.
Katharina schloss das Rad an. Sie wollte noch ein wenig Obst und Gemüse einkaufen, denn heute war Wochenmarkt, und die überfüllten Stände der Bauern zwischen den regensicheren, futuristischen Glaspavillons verlockten allzu sehr.
Da sie ein wenig in Eile war, verzichtete sie darauf, bei Hanna vorbeizuschauen, wie sie es sonst manchmal hielt, um bei ihrer besten Freundin das Frühstück einzunehmen. Hanna Wolf war die Chefin des hübschen Bistros, das sie gemeinsam mit ihrem Mann führte.
Katharina schaute kurz durch das mit Glasprismen und grünen Zweigen geschmückte Fenster. Das Café, an dessen Wänden Bilder aus alten Zeiten der Fabrik hingen, war noch leer, und Hanna ging gerade prüfenden Blickes zwischen den Tischen umher. Der Freundin war nie auch nur die Spur von Hektik anzumerken, zumeist umspielte ein leichtes Lächeln ihre Lippen. Immer schien sie ein wenig in den Wolken zu schweben, was jedoch täuschte. Ihren Blicken entging nichts, daher war das Café auch so beliebt.
Schnell überquerte Katharina die belebte Hauptstraße und bog dann in die ruhige Seitenstraße ein, in der sie wohnte, den Malerwinkel Nr. 3. Wie immer ging ihr das Herz auf, wenn sie vor ihrem Zuhause einen Moment innehielt und sich ganz dem Anblick hingab.
»Malerwinkel« war die passende Bezeichnung für dieses hübsche Plätzchen, denn hierher pilgerten in der Tat die Hobby- und Sonntagsmaler aller Couleur – was dem Antiquitätengeschäft von Daniel, einem ihrer Mieter, nur allzu gut bekam. In Wahrheit handelte es sich eher um einen Trödelladen, doch Daniel bevorzugte es, den Trödel als »Antiquitäten« zu bezeichnen. Sein Geschäft befand sich in Katharinas Haus – genauer gesagt, dem ihrer Eltern. Es würde gewiss längst nicht so gut laufen, gäbe es nicht die Maler und deren Bewunderer, die die Bänke auf der Südseite des Sees besetzten – auf der Nordseite gab es zum Schutz der seltenen Vögel keine Bänke. Täglich genossen unzählige Besucher die fantastische Aussicht auf den fast kreisrunden Moorsee, der umschmeichelt war von sumpfigen Wiesen und Almen und gekrönt von den grauen Zacken des Karwendels. Auf dem See tummelten sich im Winter nicht nur die Schlittschuhläufer und Eisstockschützen, sondern er bot im Sommer mit seinem dichten, Natur belassenen Uferbewuchs zahlreichen seltenen Vögeln und Insekten Schutz.
Kirchdorf, der hübsche Glasmacherort, der mittlerweile fast so viele Einwohner wie eine Kleinstadt zählte, war ihre Heimat. Hier zog es sie nicht fort wie ihre Eltern, die sich auf eine einjährige Abenteuerreise durch Europa gemacht hatten, die in Island begonnen hatte. Kurze Urlaube reichten Katharina völlig aus, es mussten auch keine Fernreisen sein – außer vielleicht einmal ein Wüstentrip, denn ab und zu genoss sie die Einsamkeit. Hier gab es alles, was sie brauchte: kleine Lebensmittelgeschäfte, die sich trotz der obligatorischen Supermärkte gehalten hatten, oder mehrere Kunsthandwerkerläden in den Pavillons der alten Glasfabrikhalle. Zur Freude der jungen Frau verfügte der Ort ebenfalls über einen gut sortierten Buchladen, den Katharina oft aufsuchte und der auch ein kleines Sortiment von Schul- und Büromaterial vorrätig hatte. Gerlinde Moser, die Inhaberin, war eine patente Geschäftsfrau, deren Geheimnis unter anderem darin bestand, dass sie gleichzeitig eine wunderbare Psychologin war. Ständig hielt sie heißen Kaffee und Tee auf Stövchen oder an heißen Tagen eisgekühlte Getränke bereit, was den Besucher ihres Ladens schon aus moralischen Gründen animierte, nach dem unweigerlichen Schwatz mit ihr ein Buch, eine Zeitschrift oder Ähnliches zu kaufen.
Der Anblick des schönen, schlichten Hauses mit dem Stufengiebel, dessen solide Mauern im Winter die Wärme hielten, im Sommer Schutz boten vor allzu großer Hitze und in dem Katharina ein großzügiges Appartement unter dem Dach bewohnte, erwärmte ihr Herz.
Das wuchtige Steinhaus bot vom Dachfenster aus einen bezaubernden Rundblick auf einen Zipfel der von Linden gesäumten Hauptstraße, aber auch auf die stattlichen Berge und Höhen des Karwendels mit seinem Mischwald aus Waldkiefern, Rotbuchen, Ebereschen, Hängebirken und Schwarzerlen. Es beherbergte im Parterre den Antiquitätenladen von Daniel Stadler und dessen Wohnung, im ersten Stock ihre Eltern, die sich vor einem Monat auf Abenteuerreise durch Europa gemacht hatten. Ihnen gegenüber wohnten Alex und Sylvia Jäger, und im Dachgeschoss in zwei einzelnen Wohnungen Katharina sowie Oliver Waldmüller – der Nachbar, der ihr Herz zum Flattern brachte. Seine Werkstatt, deren von Efeu umrahmte Fensterreihe zu dem wildromantischen, mit holzigen Lavendelbüschen und glutroten Kletterrosen bewachsenen Innenhof wies, lag geschützt im hinteren Teil des Hauses.
Katharina war im Gegensatz zu ihren Eltern keine Abenteurerin, nur die Neugierde auf Menschen einte die drei. Das dichte braune Haar fiel der hochgewachsenen jungen Frau bis über die Schultern. Ihre schmale Statur – die Eltern hingegen waren beide etwas kräftiger – unterstrich Katharinas sensibles Wesen.
Lange hatten die Eltern auf ihr Europa-Abenteuer hin gespart. Jeden Cent hatten sie auf ein Sparbuch gelegt und jeden Nebenjob angenommen, der sich geboten hatte, wodurch ihre Freizeit sehr begrenzt gewesen war und auch die Bausubstanz des Hauses mehr und mehr gelitten hatte, da sie keinen Cent in seinen Erhalt stecken konnten. Eine Rundum-Renovierung war dringend nötig, aber die beiden hatten in den letzten Jahren nur ihre Reise auf den TukTuks im Sinn gehabt, dreirädrigen Rikschas, und sich nicht am maroden Charme des alten Gebäudes gestört. Die Mutter, Kathrin, hatte wie ihr Mann Peter hart für dieses Ziel gearbeitet und tagsüber in einem Notariat das Büro geleitet. Der Vater war im Reisebüro des Ortes angestellt gewesen, abends half er den Nebenerwerbs-Bauern bei ihren Abrechnungen. Nun waren die beiden in den Ruhestand gegangen und hatten sich auf die Reise begeben.
Aber vorher hatte Katharina ihnen ein Geschenk überbracht. Sie entsann sich noch genau an die Miene, als Kathrin es geöffnet hatte. Ihre Mutter hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und laut aufgeschrien.
»Da hast du uns aber wirklich eine Freude gemacht!« Peter war in lautes Lachen ausgebrochen.
»Mama kann vor Schreck ihrer Freude noch nicht so richtig Ausdruck verleihen.«
»Doch Schatz, ich freu mich wirklich«, hatte auch Kathrin dann angesichts des neuesten Smartphones fröhlich versichert. ›So ein Teil kommt mir niemals ins Haus‹, hatte sie immer gesagt und sich strikt geweigert, dafür auch nur einen Cent auszugeben. »Ich schätze, wir werden auf unserer Reise genügend Zeit haben, dieses Monsterinstrument zu studieren.«
»Und außerdem hast du ja mich«, spöttelte Peter, und alle waren in sein Lachen eingefallen, denn er war noch weniger technikbegeistert als seine Frau. »Aber dank dir schön, Schatz. Ich finde, es ist eine super Idee.«
»Damit könnt ihr alles machen, selbst telefonieren«, versprach Katharina.
»Ich bin guten Mutes, dass ich dazu bis zum Ende der Reise in der Lage sein werde«, Kathrin schmunzelte. »Ich werd mir alle Mühe geben.«
»Dann ist ja alles gut. Ich erwarte, dass ihr euch zumindest einmal die Woche bei mir meldet«, befahl Katharina streng.
»Hoffentlich gibt es auch noch Festnetz-Telefone in Island«, fügte Kathrin hinzu.
»Island ist ein moderner Staat, Mama.«
Dort hatte die Abenteuerreise begonnen. Das alles war jetzt vier Wochen her, und die Eltern hatten sich nach Skandinavien begeben.
Katharina betrat das Haus und ging die Treppe hinauf in ihre Wohnung. Nachdem sie gefrühstückt, sich eine Jacke über die Bluse gezogen und ihre Tasche geholt hatte, schwang sie sich wieder aufs Fahrrad. Heute Morgen gab es für sie nur die Redaktionskonferenz, nächste Woche würde sie ihre Recherche in einem Vier-Sterne-Hotel ihrer Wahl beginnen, und nachdem diese abgeschlossen war, begann ihr Urlaub. Wobei man diese Recherche ja auch schon als Urlaub bezeichnen konnte. Katharina musste keine Termine mehr einhalten, keine Tour irgendwohin war geplant, sie musste lediglich ins Büro, und dann war sie frei. So hatte sie sich kurz entschlossen für das Fahrrad entschieden.
Ein feines Lächeln umspielte ihre vollen Lippen, als sie das Ende des Dorfes erreicht hatte und auf den oberen Horizontalsteig einbog. Wie gut sie es getroffen hatte! Wer mochte da auch schlecht gelaunt sein? – Sie konnte sich zu einem Traumjob in einer Traumgegend gratulieren, der ihr eine interessante Arbeit bescherte, die sie nicht weit von daheim in dem hübschen oberbayerischen Alpenzipfel ausüben konnte. Lediglich acht Kilometer von Kirchdorf entfernt lag Waldeck, die Kreisstadt, in der sich die Redaktion der Zeitschrift Idyllisch leben befand – der Zeitschrift für den ländlichen Raum, für die Katharina als freie Journalistin arbeitete.
Zum ersten Mal in diesem Jahr hatte sie sich für einen kurzen Rock entschieden, was ihr bei den Kollegen belustigte, aber durchaus anerkennende Kommentare bescheren würde, denn Röcke und Kleider trug sie so gut wie nie, lediglich im Sommer bei heißem Wetter. Sie war durch und durch ein Hosentyp, aber bei diesem herrlichen Frühlingstag musste man einfach Bein zeigen.
Sie genoss den kühlen Fahrtwind und strich sich die feinen dunklen Haarspitzen aus dem Gesicht, die sie immer wieder an der Stirn kitzelten. Mit dem Fahrrad benutzte sie natürlich nicht die lebhafte Landstraße, sondern den Höhenweg, der nicht einmal länger und zudem viel reizvoller war. Außerdem wies er keine nennenswerten Steigungen auf, sodass sie nicht verschwitzt zur Arbeit käme. Sie war eine Genussfahrerin, liebte jedoch auch die sportlichen Herausforderungen, wenn sie mit dem Mountainbike ihrer Schwester, die es von den Eltern geschenkt bekommen hatte, es der Jüngeren jedoch irgendwann überlassen hatte, die Berge erklomm. Manchmal überlegte sie, ob sie nicht den Motorrad-Führerschein machen sollte, denn Ausfahrten mit diesem Gefährt würden sie schon reizen.
Sie wandte den Blick nach links. Wie Perlen lagen sie hintereinander aufgereiht im weiten Tal: die heimeligen Dörfer ihrer Heimat. Und wie lieblich es wieder einmal im feinen Dunst strahlte! Die Frühlingssonne kämpfte tapfer, die zarten Morgennebel zu verscheuchen, die über Nacht die Landschaft umhüllt hatten.
Tief drunten plätscherte ein Fluss breit und behäbig zum Meer hin. Weit vor den Toren der Stadt wurde er umsäumt von breiten Flussauen. Doch anstatt seinem direkten Weg zu folgen, machte er urplötzlich eine eigenwillige Schleife und schloss eine riesige Halbinsel ein, die von einem undurchlässigen Bannwald bedeckt war: mit felsigen, weiß schimmernden Zacken, die über vierhundert Meter in die Höhe ragten. Danach nahm der Fluss seine ursprüngliche Richtung gen Norden und zur Stadt wieder auf. Warum er diese Kehre machte, wusste niemand zu sagen, doch von oben bot das dichte Grün, durchbrochen von den silbrigen Tupfen der Granitspitzen, einen bezaubernden Ausblick. Selbst heute konnte man dieses Paradies, die »Waldecker Schlinge«, wie sie genannt wurde, nur mit einem Boot erreichen.
Diesseits der Stadt schlossen oberhalb der Wiesen breite Äcker und Weiden an die zahlreichen Dörfer an. Hinter ihnen erhob sich schließlich das Karwendel, nicht etwa trutzig und hart und abweisend, sondern in diesem Winkel gemächlich von sanften Hügeln zu hartem Fels übergehend, sodass die Häuser nicht von dessen Wucht erdrückt wurden.
Es war ein Ort, wo das Atmen leichtfiel, wo man unbeschwert die Sonne genießen konnte und wo es noch stille Winkel zuhauf gab. Zum Glück war hier das Dörfersterben noch nicht eingetreten – woran die quirlige Kreisstadt natürlich nicht unschuldig war, sinnierte Katharina. Nein, sie gelüstete es nicht wie die Eltern nach Reiseabenteuern. Höchstens vielleicht nach einer Motorradfahrt durch Marokko. Den sternenreichen Wüstenhimmel betrachten – das würde sie schon reizen. Momentan aber hatte sie überhaupt noch keine Ahnung, wie sie die vor ihr liegenden drei freien Wochen verbringen würde, was sie jedoch nicht im Geringsten störte, sie lebte ganz gern einmal in den Tag hinein. Sie hatte diesen frühen Jahresurlaub antreten müssen, weil die Kollegen – allesamt Mütter und Väter – in den Sommerferien freinehmen wollten. Ihr war es recht, sie liebte den Frühling sowieso mehr und würde die Stille und sommerliche Hitzewellen in der ungewohnt einsamen Redaktion genießen.
Eigentlich hatte sie nur einen Wunsch. Sie wollte endlich mit dem Schreiben ihres Romans beginnen – ein Unterfangen, das ihr schon lange auf dem Herzen lag. Ansonsten hegte sie keine Pläne. Ein wunderbares Gefühl! Sie atmete tief ein und aus und fühlte sich leicht und unbeschwert. Ohnehin hatte sie noch nie einen großen, allumfassenden Lebensplan verfolgt. Natürlich wollte sie heiraten und Kinder bekommen, wie ihre Schwester und all ihre Freundinnen. Doch nichts hatte Eile. Sie war neunundzwanzig, und es bestand kein Grund zur Torschlusspanik, beruhigte sie sich immer, wenn die Sehnsucht nach einem Mann und einer Familie sie zu überwältigen drohte.
Sie erreichte die Ausläufer der Stadt. Neben dem Anger der evangelischen Kirche befand sich in einer schmalen Häuserzeile die Redaktion der Idyllisch leben. Sie stellte das Rad an der vorgesehenen Stelle ab, schloss es ab und betrat die Räume, deren moderne Einrichtung einen reizvollen Kontrast zu den dämmrigen Zimmern mit den schweren Eichenbalken bot. Dank der weißen Wandfarbe wirkten die Zimmer jedoch nicht düster oder bedrückend.
Das Verhältnis der Kolleginnen und Kollegen untereinander war angenehm entspannt. Die Arbeit erdrückte sie nicht, im Gegenteil, es galt immer wieder, interessante Themen zu finden, das Schwerste aller Unterfangen. Auch heute würde man sich den Kopf zerbrechen müssen, aber das war ein Teil der Arbeit, den Katharina besonders liebte, denn sie steckte voller origineller Ideen.
Sie strich sich den Rock glatt, fuhr sich ein letztes Mal durch die Haare und betrat den Konferenzraum.
Zwei Stunden später war es geschafft. Strahlend verabschiedete sie sich von den Kollegen. Draußen ließ sie das Rad stehen und schlenderte zur Eisdiele. Der Urlaub konnte beginnen, und zwar mit einer Recherche in einem feinen Hotel – gab es etwas Schöneres? Sie sollte hinter die Kulissen eines gediegenen Landhotels blicken, den Betreibern möglicherweise das Geheimnis ihres Erfolges entlocken, Menschliches, aber auch Skurriles zutage fördern. Etwas in der Art, keinen Nullachtfünfzehn-Hotel-Report.
Normalerweise bestand ihre Arbeit vor allem im Aufspüren alter, fast ausgestorbener Handwerks-Techniken und Werkstätten. Nebenbei war sie Mädchen für alles, so wie jetzt, da sie die Arbeit einer Kollegin übernahm, die sich kurzfristig einer Operation hatte unterziehen müssen. Zwar würde Katharina sich sofort in die Arbeit stürzen müssen, aber das stellte keine Schwierigkeit für sie dar. Das Landhotel würde eine schöne Bereicherung sein. Ihr Chef hatte ihr ausdrücklich nahegelegt, dass sie drei Nächte dort verbringen sollte, um einen genauen Einblick zu erhalten. Wie, so hatte er auf ihr verdutztes Gesicht lächelnd reagiert, wollte sie sonst über Hotelbetten berichten, wenn sie nicht einmal darin gelegen hatte? Wie den Hotelbetrieb loben, der ihr mitten in der Nacht eine außergewöhnlich köstliche Speise auftischte, nach der es ihr, dem verwöhnten Gast, gelüstete? Na also. Sie hatte strahlend versprochen, bis Ende nächster Woche den Artikel abzuliefern. Ein Leichtes für sie.
2
Während sie zur Eisdiele schlenderte, dachte sie daran, dass sie zum ersten Mal im Leben ganze drei Tage und Nächte auf sich gestellt sein würde – und das in ihrem Alter. Gut, ganz so schlimm würde das schon nicht werden, schließlich konnten ihre Freunde oder die anderen im Haus ihr notfalls gute Ratschläge mit auf den Weg geben. Obwohl sie so unterschiedliche Leben führten, verstanden die Mieter sich sehr gut. Wieder einmal wanderten Katharinas Gedanken zu den Jägers, einem etwas seltsamen Paar.
Alex Jäger – Sylvias Mann, dessen rundes Gesicht ein eisgrauer, sorgfältig getrimmter Vollbart zierte, gab sich ein wenig offener als seine eher einsilbige Partnerin und erzählte dann und wann gern einmal von sich. Wohlbeleibt und noch eine Spur kleiner als seine zierliche Ehefrau, hatte er Katharina und den Eltern anvertraut, dass er die Wohnung allein wegen der Lage gemietet habe – gegen den Wunsch seiner Frau, die sich eine etwas luxuriösere Behausung gewünscht hätte, denn »das Geld dazu wäre vorhanden«, hatte er augenzwinkernd erzählt. Und das habe ihm die zwanzig Jahre jüngere Sylvia auch immer noch nicht verziehen, hatte er ein wenig melancholisch hinzugefügt. Das Gespräch war noch gar nicht so lange her und zustande gekommen, als Daniel in Ermangelung an Kunden für Alex und Katharina, die ab und zu zum Plaudern vorbeischneiten, in seinem Laden eine Runde Orangenlikör ausgegeben hatte.
Genau wie Katharina liebte auch Alex das Geschäft, und erstand des Öfteren eine Kleinigkeit für die Wohnung. Dass er diese ohne Sylvias Wissen gemietet hatte, konnte sie ihm also nicht verzeihen, was vielleicht auch noch auf einige andere Sachen zutraf, spekulierte Katharina – ging man von den zahlreichen Streitereien aus, die oft durch den Hausflur schallten. Alex, den sie seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen hatte, war ein leidenschaftlicher und erfolgreicher Landschaftsmaler, der überall auf der Welt schon für Ausstellungen gebucht worden war. Hier, so hatte er Katharina begeistert erzählt, musste er nur aus der Tür gehen und schwelgte sofort in Farben und Stimmungen. Selbst wenn das Wetter es nicht zuließ, brauchte er sich nur auf den überdachten Balkon zu setzen, der dank des seitlich angebrachten Holzpaneels eher einem Erker glich, und genoss die grandiose Aussicht auf den Waldsee und das Gebirge. Die Eltern hatten den beiden die Wohnung erst vor einem knappen Jahr vermietet – weil die Mutter sich in die Malereien von Alex verliebt hatte, wie sie immer wieder betont und auch bewiesen hatte, indem sie später zahlreiche Bilder von ihm erstand.
Katharina betrat die Eisdiele und blieb freudig überrascht stehen, als sie Daniel erblickte, der sich gerade von einem anderen Mann verabschiedete, mit dem er an einem der Tische zusammengesessen hatte.
»Du, ich hab nicht viel Zeit, nur eine kurze Frage«, begann er nach einer saloppen Begrüßung.
Sie sah, dass er in Eile war, und blieb stehen, sonst hätte sie ihn zu einem Eis eingeladen. »Schieß los, ich bin ganz Ohr.«
»Ich habe vor, nach Venedig in den Urlaub zu fahren. Es gab noch keine Gelegenheit, mit deinen Eltern zu sprechen, und da möchte ich dich nun fragen. Ich werde zwei Wochen weg sein und würde gern einen Freund von mir bitten, mich solange im Laden zu vertreten. Dafür müsste er allerdings auch in meiner Wohnung leben. Ich hoffe, du hast nichts dagegen? Du kennst ja meine Situation, und ich kann ehrlich gesagt nicht auf die Einnahmen verzichten. Daher meine Bitte, meinem Freund solange Unterkunft zu gewähren. Er ist ein netter Kerl. Ganz ruhig, macht kein Remmidemmi, wenn du das fürchten solltest – was du nicht tust«, fügte er grinsend hinzu, »so, wie ich dich kenne. Also, hab ich dein Einverständnis?«
»Keine Sorge, das ist hiermit erteilt«, erwiderte sie lachend.
Er umarmte sie spontan, und die beiden verabschiedeten sich wenig später.
Katharina schaute sich um, das Café war proppenvoll. Sie entschied sich für ein Eis zum Mitnehmen und verließ dann das Café, denn heute hatte sie ja noch etwas Schönes vor. Gestern hatte sie sich entschieden, den Vorschlag ihrer Bekannten, Grete Weißdorn, anzunehmen, die angeboten hatte, sie mit nach München zu nehmen. Grete war wirklich nett.
Sie würden jede für sich ihre Einkäufe tätigen – sofern Katharina überhaupt etwas kaufen würde, denn sie hatte vor, in der Zukunft etwas zu sparen –, aber zumindest gemeinsam einen Kaffee trinken gehen.
Sie genoss ihr Eis, dann schwang sie sich aufs Fahrrad und fuhr heim. Die Nachbarin war pünktlich, und sie erreichten München ohne Probleme.
Katharina sah auf die Uhr. Noch fast eine Stunde, bis sie sich vor dem Kaufhaus wiedertreffen würden. Unschlüssig, wie sie die Zeit verbringen sollte, durchstreifte sie das Münchner Kaufhaus, das sie so sehr liebte. Entgegen aller guten Vorsätze hatte sie doch viel zu viel Geld für Kleidung unters Volk gebracht, schließlich wartete ein schickes Landhotel auf sie.
Plötzlich hielt sie inne.
Sie erkannte Antoine Aigner sofort.
Insgeheim imponierte ihr die Art und Weise, in der er mit gelangweilter Miene das gleiche Radio eines italienischen Designers, für das sie sich soeben von einem beträchtlichen Teil ihres Gehalts getrennt hatte, in eine hauseigene Tüte mit hübschem Logo verschwinden ließ. Obwohl ihr bewusst war, dass sie den Vorfall unverzüglich melden sollte, folgte sie dem Mann, neugierig, ob er es schaffen würde, unbesehen sein Beutestück in Sicherheit zu bringen. Doch schon löste er eine unsichtbare Alarmanlage aus und der gellende Ton der Sirene erfüllte die Halle.
Was dann geschah, entzog sich völlig ihrer Kontrolle, war schlichte Eingebung. Später vermutete sie, dass sie es nur tat, weil ein Mensch auf der Flucht ihr Mitleid erregt hatte – und dieser Mann war definitiv auf der Flucht, wie jeder mit einem normalen Maß an Menschenkenntnis sofort sehen konnte. Unauffällig ließ sie ihre Tüte mit dem bezahlten Radio in der Umkleidekabine verschwinden, die sie gerade passierte, und eilte dann zu Antoine Aigner und dem Hausdetektiv, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien und Antoine in den Schwitzkasten genommen hatte.
»Lassen Sie doch bitte meinen Mann los! Es kann sich hier nur um ein Missverständnis handeln.« Ihre Stimme klang laut und resolut, was zur Folge hatte, dass ihr die Aufmerksamkeit sämtlicher Gaffer im Rund sicher war. Sie legte eine Hand betont vertraulich auf Antoines Arm. »Liebling«, der Schmelz in ihrer Stimme verwunderte sie einen Moment selbst, »bleib ganz still. Ich werde das Missverständnis sofort aufklären.«
Antoine reagierte so, wie es die Kaltblütigkeit bei der Durchführung seines Coups hatte vermuten lassen. Sein anfänglich schockiertes Verhalten dem Hausdetektiv gegenüber verwandelte sich nur für den Bruchteil einer Sekunde in unverhohlenes Erstaunen. Dann fing er sich wieder, mit einer Geistesgegenwart, die Katharina trotz allem Anerkennung abrang. Sie zückte ihr Portemonnaie und bewies anhand ihrer Quittung, dass sein Radio bereits bezahlt sei.
Der Detektiv bat sie in einen Kabuff, wo er die beiden und Katharinas Einkaufstüten durchsuchte und die Waren mit ihren Quittungen verglich. Da er keine unbezahlten Gegenstände fand, entschuldigte er sich und ließ Antoine und Katharina laufen. Als er ihnen nachschaute, schwankte seine Miene zwischen Verlegenheit angesichts seines vermeintlichen Irrtums und dem Gespür seines gesunden Instinkts, dass das, was sich ihm gerade geboten hatte, in Wirklichkeit genau das darstellte, was es in Wahrheit gewesen war – eine Farce. Und als die zwei das Haus verlassen hatten, erkannte man die Entschlossenheit, dass ihm so etwas nie wieder passieren würde – zumindest nicht mit diesem Pärchen.
Mit festem Griff nahm Katharina Antoine am Arm – sicherheitshalber – und zog den noch immer Verdutzten erbarmungslos mit sich fort; im Eilschritt und in völligem Schweigen legten sie den Weg zum nahe gelegenen Eiscafé zurück. Sie strebte zur hintersten Ecke des überfüllten Raumes und ließ sich ein wenig atemlos auf den zierlichen roten Plastikstuhl fallen. »Kommen Sie!«, ermunterte sie den Dieb, der stocksteif vor ihr stehen blieb. »Das Eis hier ist berühmt. Und da Sie unter Geldknappheit zu leiden scheinen, sind Sie eingeladen«, zwitscherte sie.
Antoine betrachtete sie immer noch sprachlos von oben bis unten.
»Setzen Sie sich endlich«, gab sie sich forscher, als ihr zumute war. Erst jetzt wurde ihr klar, was sie getan hatte: Sie hatte einen dreisten Dieb quasi auf offener Bühne gekapert, was nur an ihrem Horoskop liegen konnte, das ihr für diesen Tag eine wunderliche Fügung des Schicksals vorausgesagt hatte. Mit anmutiger Geste wies sie auf den freien Platz an dem runden Tisch.
Ihr überrumpeltes Opfer – die Eleganz in persona – platzierte sich an dem winzigen Tisch, schlug die langen Beine mit einer eleganten Bewegung übereinander und legte die verschränkten Hände in den Schoß.
Einen Moment maßen sich stumm ihre Blicke. Die Spannung zwischen ihnen war fast körperlich spürbar. Plötzlich breitete sich ein Grinsen über Antoines nahezu faltenlosem Gesicht aus, was in völligem Widerspruch zu seiner verwerflichen Tat stand. Beinahe zur gleichen Zeit brachen sie in schallendes Gelächter aus, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen.
»So etwas ist mir in der Tat noch nie passiert.«
»Na, und mir erst recht nicht«, prustete Katharina.
»Und jetzt erzählen Sie mir auf der Stelle, womit ich Ihre unvermutete Hilfe verdient habe«, forderte er und zückte ein Taschentuch, um sich die Tränen abzutupfen.
Katharina sog den angenehm unaufdringlichen Duft seines Parfums ein. Ihre Beine fühlten sich selbst jetzt im Sitzen noch immer weich wie Pudding an, und das heftige Zittern, das sie am ganzen Körper ergriffen hatte, war eindeutig die verspätete Reaktion auf ihr soeben überstandenes Abenteuer. Sie schwenkte den Zeigefinger. »Noch haben Sie sich gar nichts verdient.«
Während er das Taschentuch zurück ins Jackett steckte, verflüchtigte sich die Heiterkeit aus seinen Augen, und an ihre Stelle trat ein wachsamer Zug. Er drehte sich um und gab der jungen Kellnerin ein Zeichen, woraufhin diese beflissen an ihren Tisch kam. »Was möchten Sie?«, fragte er Katharina, »Eis oder Kaffee?«
»Einen Kaffee bitte«, sagte sie, an die Kellnerin gewandt.
»Und mir bringen Sie bitte einen Kognak.« Er neigte sich kurz nach unten und überreichte Katharina dann die Plastiktüte mit dem Radio. »Ihr Eigentum. Mit herzlichem Dank zurück.«
Sie nickte und nahm die Tüte wortlos in Empfang.
»Nun erlösen Sie mich bitte von meiner Neugier«, bat er.
Sie stellte die Tüte neben ihren Stuhl und fuhr sich durch die Haare, die schon lange keinen Schnitt von professioneller Hand genossen hatten. Was sollte sie ihm sagen? Sie wusste ja selbst nicht so recht, was sie zu ihrem Tun veranlasst hatte. Oder vielleicht doch? Dass er ihr leidgetan hatte? Nein, das musste sie ihm nicht auch noch auf die Nase binden.
»Sie sind Antoine Aigner, der berühmte Schönheitsguru«, begann sie.
»Vom Scheitel bis zur Sohle.«
»Und Sie stehen in meiner Schuld.« Sie wunderte sich einen Moment selbst, wie kühl ihr die Worte über die Lippen kamen. Als würde sie mit dem Einfangen einer Berühmtheit ihr täglich Brot verdienen – was gewiss nicht der Fall war.
Der wachsame Ausdruck in Antoines Augen vertiefte sich. »Gewissermaßen.«
»Ich habe Ihren Ruf und somit Ihr Leben gerettet.«
»Ein wenig übertrieben … aber so ungefähr könnte man es nennen.«
»Gut.« Auf einen Schlag fiel die Gelassenheit von ihr ab, ihr fehlten die Worte und vor allem auch nur die Spur einer Idee, wie sie weiter vorgehen sollte. Nervös nestelte sie an der Eiskarte auf dem Tisch und ließ den Blick durch den überfüllten Raum schweifen, ohne dass sie wirklich etwas registrierte. »Warum um alles in der Welt macht jemand wie Sie so etwas?«
»Ist das der Grund, weswegen Sie mir zu Hilfe gekommen sind? Pure weibliche Neugierde?«, fragte er mit leisem Spott in der Stimme.
Sie lächelte. »Nein, natürlich nicht. Außerdem sind nicht nur wir Frauen neugierig. Neugierde ist ein Wesenszug, der nicht nur den Menschen – Männern wie Frauen – eigen ist, sondern auch in der Fauna anzutreffen ist … und möglicherweise sogar in der Flora«, setzte sie überlegend hinzu. Sie hielt inne, dankbar, dass die Kellnerin erschien und das Gewünschte brachte. Es wurde Zeit, sich zu konzentrieren und kein dummes Zeug von sich zu geben.
Sie nahm einen kleinen Schluck von dem heißen, belebenden Getränk und stellte dann vorsichtig die Tasse zurück auf den Unterteller. Mit einer entschlossenen Bewegung hob sie den Kopf. »Schauen Sie mich an!«
Ein winziges Lächeln milderte seinen misstrauischen Gesichtsausdruck. »Das tue ich seit geraumer Zeit.«
»Und was sehen Sie?«
»Eine junge, mutige Frau, die irgendetwas im Schilde führt. Eine außergewöhnliche Frau, eine Frau, die mich an eine Katze erinnert, die soeben den Sahnetopf ausgeschleckt hat, wenn ich es genau überlege.«
»Sie sehen eine Frau, die demnächst in einem Nobelhotel nächtigen wird und dafür eine Rundumbehandlung für angebracht hält.«
Gefasst faltete sie die Hände auf der marmornen Tischplatte und hielt die Augen fest auf den Mann vor sich gerichtet.
Er begegnete ruhig ihrem Blick, erwiderte jedoch nichts.
Katharina räusperte sich, damit ihre Stimme die alte Festigkeit zurückerlangte. »Ich brauche keine Operation, aber der Begriff ›Rundumbehandlung‹ umfasst ja auch das Äußere, ohne irgendwelche Eingriffe. Kurzum, ich würde mich freuen, wenn Sie mir ein paar Make-up-Tipps geben und mir einen guten Friseur empfehlen könnten. Und vielleicht auch eine Massage … oder so. Wenn Sie zustimmen würden, wären wir quitt. Auf ewig, versprochen. Ich bin keine, die … die jemanden anschwärzen würde. Nie! Und wenn Sie jetzt sagen, ich solle mich verdünnisieren, dann tu ich das. Aber wie gesagt … es wäre sehr nett, wenn Sie mir den Gefallen tun könnten.« Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, das Ganze ebenfalls für eine Reportage zu nutzen – sie könnte über die Geschehnisse hinter den Kulissen einer Schönheitsklinik berichten. Aber sie befürchtete, dass der Mann vor ihren Augen in Ohnmacht fallen würde, wenn sie ihn jetzt geradeheraus mit der Tatsache konfrontierte, dass ihn eine Journalistin auf frischer Diebestat ertappt hatte. Sie würde auch hier – wie schon einige Male zuvor – ihren geheimen Schwur einhalten: Niemals wollte sie jemanden anschwärzen, dem sie Geheimhaltung versprochen hatte. Ihr Wort galt noch etwas, und darauf war sie stolz.
Antoine schwieg, und ein paar Sekunden lang hatte Katharina das schreckliche Gefühl, er könnte ohne Kommentar aufstehen und die Eisdiele verlassen. Mit Bestürzung wurde ihr klar, was ihre Worte bedeuteten. War das, was sie hier machte, nicht mindestens ebenso verwerflich wie die Tat des Mannes, deren Zeugin sie geworden war? »Sie müssen nicht –«
Er hob die Hand. »Ich bin Ihnen tatsächlich zu Dank verpflichtet. Und ich bin sicher, dass ich Ihnen helfen kann. Geben Sie mir zwei Monate Zeit, und Sie sind eine Schönheit.«
»Das wäre klasse«, rief Katharina strahlend, um sich dann geschockt zu vergewissern: »Für eine simple Verschönerung meinerseits brauchen Sie zwei Monate?«
Endlich kam Leben in das Gesicht ihres Gegenübers. »Nein, um Himmels willen! Sie sind sehr hübsch, doch ich könnte Sie in meiner Klinik einer Diät unterziehen, Ihre Haare würden geschnitten und getönt und noch einige kleinere Eingriffe vorgenommen – ein Klacks zwar, aber dafür benötigen wir ungefähr zwei Monate, Ihre Hilfe vorausgesetzt.«
Sie legte den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus, sodass sie die Blicke der anderen auf sich zogen. Katharina konnte sich recht gut einschätzen. Sie war nie eine Schönheit gewesen, fand sie selbst. Und sie verspürte keinerlei Gelüste, eine Schönheit zu werden. »Danke, nein. Ich finde, dass ich schlank genug bin. Mir würde es reichen, wenn sie in ein, zwei Tagen das Schönste von mir zum Strahlen bringen könnten, damit ich mich in dem Hotel wie eine Königin fühlen würde. Alles andere brauche ich nicht. Selbst wenn ich bei Ihnen abnehmen würde, so hätte ich es drei Wochen später wieder auf den Rippen. Ich esse einfach gern. Und ich finde mich so, wie ich bin, in Ordnung.« Sie räusperte sich erneut. »Zwei Monate wären definitiv zu viel für einen kleinen Gefallen. Außerdem möchte ich nicht, dass Sie denken, ich wollte Sie unter Druck setzen. Das hier soll keine …«, Erpressung hatte sie sagen wollen, doch das Wort kam ihr einfach nicht über die Lippen. »Also, wie gesagt, ein oder zwei Tage würden völlig reichen, wenn Sie meinen, dass die Zeit Ihnen ausreichen würde«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.
»Keine Widerrede. Ich lade Sie zu einem Drei-Tage-Wohlfühlprogramm ein. Ich vertraue Ihnen«, sagte er mit warmherzigem Lächeln und legte seine Rechte auf ihre gefalteten Hände. »Und eigentlich haben Sie völlig recht. Ihre Figur ist wunderbar, und alles an Ihnen ist hübsch. Ich bin nur so oft umgeben von Frauen, die unglücklich über ihr Aussehen und vor allem ihr Gewicht sind, dass eine Frau mit normalen Kurven, die sich mag, beinahe ungewohnt für mich ist. Und nun zur Beantwortung Ihrer Eingangsfrage, warum ich es tat.«
Er zögerte, schaute sich kurz um, und Katharina wartete geduldig, dass er fortfuhr.
»Können Sie sich etwas Langweiligeres im Leben vorstellen als Reichtum?«, fragte er schließlich, den Blick unschuldig wie ein kleiner Junge auf sie gerichtet.
Sie grinste. »Ich könnte Ihnen auf der Stelle hundert Dinge aufzählen, die mir langweiliger erscheinen. Außerdem haben Sie doch Ihre Arbeit, die Ihnen die langweiligen Stunden versüßt.«
»Sicherlich.« Er wurde ernst. »Früher, als ich vor allem die Gesichter von Unfallopfern wiederherstellte, erfüllte meine Tätigkeit mich wirklich mit Stolz. Ich bin wirklich gut in meinem Job. Aber seit die Schönen und die Reichen mich entdeckt haben, ist alles anders. Die lassen mir für den wichtigen Teil meiner Arbeit einfach keine Zeit mehr.«
»Aber das haben Sie doch in der Hand«, warf sie leise ein.
Er zuckte die Schultern. »Natürlich haben Sie recht. Aber dieser kleine Ausrutscher von vorhin – und ich betone, es war ein Ausrutscher – schenkte mir ein wenig Nervenkitzel, den ich nötig hatte wie die Luft zum Atmen, sonst wäre ich auf der Stelle vor Langeweile gestorben.«
»Was das Ganze aber nicht unbedingt entschuldigt«, maßregelte sie ihn streng. »Und da ich annehme, dass dieser kleine Ausrutscher, wie Sie es nennen, der einzige bleibt …« – wovon sie seltsamerweise überzeugt war – »will ich darüber hinwegsehen und hoffen, dass er Ihnen leidtut.«
»Womit wir das Thema ja nun vergessen können.« Seine Stimme klang sachlich, keine Spur von Reue. »Wann wollen wir beginnen?«
»Auf der Stelle«, schoss es aus Katharina heraus. »Das verlängerte Wochenende wäre prima, denn Dienstag müsste ich wirklich dringend in dieses Hotel.«
»Sie sind nicht nur hübsch, sondern auch spontan. Sie wissen, was Sie wollen. Sehr interessant.«
»Danke nochmals. Ich wusste von der ersten Sekunde an, dass Sie mein Mann sind«, sie seufzte.
»In gewisser Weise.«
»In gewisser Weise«, stimmte sie lächelnd zu.
»Gut. Ich würde vorschlagen, wir zahlen und leiten dann alles in die Wege.«
»Ich begebe mich ganz in Ihre Hände«, antwortete sie mit einem Glucksen in der Stimme. Sie fühlte sich auf einmal so schwindlig, als hätte sie statt seiner den Kognak in einem Zug die Kehle hinuntergeschüttet.
Um keine Zeit zu verlieren, verabredeten sie, dass Katharina sofort am frühen Samstagmorgen Antoines Klinik in München aufsuchen sollte. Oh Gott, sie musste sofort Oliver von ihren Plänen unterrichten! Vielleicht würde der Mann, für den sie insgeheim schwärmte, sie ja sogar ein wenig vermissen.
Um Viertel nach fünf war Katharina wieder daheim. Als sie schließlich aus dem Auto der Nachbarin stieg, hatte sie trotz ihrer schmerzenden Füße in den viel zu engen Pumps, die sie schon in München angezogen hatte – ein Fehlkauf, der auf das Konto ihrer geplanten Hotelrecherche ging – das Gefühl, zu schweben. Antoine Aigner würde alles an Attraktivität aus ihr herausholen, was möglich war. Und vielleicht würde diese wundersame Verwandlung dazu führen, dass Oliver sie endlich als attraktive Frau zur Kenntnis nahm.
Katharina winkte Daniel, der soeben eine Kundin in seinem Antiquitätenladen bediente, kurz zu. Ohne Zweifel, sie würde ihn vermissen in den nächsten zwei Wochen, wenn er unterwegs war. Ganz der gutmütige, angenehme Mieter Mitte dreißig, hatte er bezogen auf ihre Partnerwahl nur ein Manko: Er interessierte sich für Männer. Er war lieb und freundlich, sie konnten sich gut unterhalten, aber mehr nicht.
Ein wenig müde tappte sie die Eichenstiegen hinauf und betrat ihre Wohnung. Sie hatten überlegt, ob sie die Wohnung der Eltern nicht vermieten sollten, aber dann davon abgesehen.
Nachdem sie die engen Schuhe gegen bequeme getauscht hatte, ging sie vergnügt auf einen Tee hinunter zu Oliver Waldmüller.
Oliver Waldmüller war Musiker – jedenfalls in ihren Augen –, doch eigentlich war er Klarinettenbauer, genauer gesagt, Holzblasinstrumentenbaumeister. Allein diese Berufsbezeichnung glich ihrer Meinung nach einer komplizierten Partitur. Sein Leben gehörte der Klarinette und, nicht zu vergessen, seinen Musikerfreunden. Oliver war berühmt bis weit hinter München. Regelmäßig kamen die Musiker angereist, um ihre wertvollen Instrumente von ihm generalüberholen zu lassen. Katharina bewunderte seine Musikalität und hörte ihm gern zu beim Musizieren, ihm und seinen Freunden. Mittwochs kamen die vier, die klassische Musik bevorzugten, wobei Oliver die anderen auf der Klarinette begleitete. Am Samstagmorgen hingegen erschienen meist andere Freunde von ihm, Jazzmusiker. Dann spielte Oliver auf dem Saxofon, dessen Klang Katharina beinahe noch mehr liebte als den der Klarinette. Ob die Musik nun gut war oder nicht, spielte keine Rolle, sie gefiel ihr, egal ob die Freunde sich der Klassik oder Moderne widmeten.
»Schön, dass du kommst, ich hab dich schon vermisst«, begrüßte er sie, über den langen Arbeitstisch gebeugt, eines seiner unfertigen Kunstwerke in Händen. »Setz dich, und bedien dich schon, ich bin gleich so weit.«
Nachdenklich betrachtete sie Oliver, vielmehr seinen erstaunlich breiten Rücken. Erstaunlich deshalb, weil Katharina immer der Meinung gewesen war, Musiker wie er könnten keinesfalls über einen muskulösen Oberkörper verfügen. Sie hatte sich geirrt. Nachdem sie sich Tee in die Glastasse gegossen hatte, ließ sie sich in den winzigen Sessel im Fünfzigerjahre-Design fallen. Wie sie diesen lang gestreckten Arbeitsraum liebte! – Die Werkstatt eines echten Künstlers, dachte sie verträumt. Das Zimmer war eine Insel der Stille.
Die Schönheit des Raumes mit dem Ausblick auf den bezaubernden Garten wurde noch unterstrichen durch den charakteristischen Duft des Grenadill-Holzes, das schwarz wie Ebenholz war und eine so wunderbar samtige Oberfläche besaß, dass Katharina bei ihrem ersten Besuch beinahe ehrfürchtig mit den Fingerspitzen darüberfahren musste. Es stammte aus Südafrika und war das Holz für Klarinetten, wie Oliver ihr in einer seiner mitteilsamen Stunden begeistert kundgetan hatte, da es aufgrund des langsamen Baumwuchses nicht so schnell riss wie andere Hölzer. Es war sehr teuer, richtiggehend kostbar – so kostbar, dass es nach Gramm bezahlt wurde. Der Duft des Holzes vermischte sich mit dem des Leinöls, in das die unfertigen Röhren für zwei Wochen zum Aushärten gesteckt wurden. Dieses spezielle, so unverwechselbar mit Oliver verbundene Duftgemisch und das diffuse Zwielicht, in das die Werkstatt getaucht war, schufen eine angenehm weltfremde Atmosphäre – etwas, das Katharina umso mehr beeindruckte, denn sie war alles andere als weltfremd. Diese Atmosphäre wurde durch die Strahler über der Arbeitsplatte verstärkt, die Oliver genügend Licht zum Arbeiten schenkten und kleine, helle Lichtinseln zauberten.
Von der Atmosphäre zu lautem Denken inspiriert, nahm Katharina einen Schluck vom heißen Tee und überlegte, ob sie Oliver von der Begegnung mit Antoine Aigner erzählen sollte. Den ganzen Weg zu ihrer Wohnung hatte sie sich den Kopf zerbrochen, ob sie ihm von dem Coup und der geplanten Verschönerung berichten sollte. »Übrigens, ich habe seit heute Urlaub«, begann sie.
Er legte ein halb fertiges Instrument zur Seite und drehte sich in ihre Richtung. »Ich dachte, du hast die ganze Zeit Urlaub«, gab er augenzwinkernd zurück, schwang sich rollend auf seinem Stuhl neben ihren Sessel und schenkte sich Tee ein.
»Moment! Auch wenn ich dann und wann zu Hause schreibe, ist das durchaus mit Arbeit gleichzusetzen«, protestierte sie. »Schließlich verdiene ich mit der Schreiberei mein Geld.« Vorsichtig stellte sie die Tasse ab.
»Stimmt, hätte ich beinahe vergessen. Aber selbst das musst du ja nun nicht mehr, nachdem du jetzt unsere Mieten kassierst.«
Es stimmte, ihre Eltern hatten ihr völlig unverhofft und zu ihrer großen Freude die kompletten Mieteinnahmen dieses Jahres geschenkt.
»Verbringst du den Urlaub gemeinsam mit jemandem?«, arglos rührte er in seinem Tee, nachdem er ihn gesüßt hatte.
Ihr Herzschlag erhöhte sich. Sollte sie ihn anflunkern und einen neuen Freund vortäuschen? Nein, lieber nicht, schließlich wollte sie ja ihn um den Finger wickeln. »Nein. Ich bin ab morgen erst mal nur drei Tage weg, also bis Montagmittag oder -abend. Allein.«
»Soso. Eigentlich schade. Ich nehme nicht an, dass du deinen restlichen Urlaub hier im Hinterhof verbringen willst.«
»Warum nicht? Hier ist’s doch ganz nett.«
»Du wirst aber nicht die ganze Zeit bei mir auf dem Schoß sitzen wollen.«
Sie schluckte. »Keine Sorge, ab und zu wandere ich auch auf den Schoß von Daniel – ach nein, doch nicht«, verbesserte sie sich. »Der ist ja in Venedig. Schade.«
Er hob den Finger. »Und zwar bei seinem Freund. Mit anderen Worten, sein Schoß ist sowieso nicht allzu reizvoll.«
»Woher willst du das denn wissen?«, scherzte sie. »Hast du ihn schon ausprobiert?«
»Auf solche Fragen antworte ich aus Prinzip nicht«, entgegnete er ernsthaft.
»Da hast du recht. Tu ich auch nicht.«
»Darf man fragen, was du im Besonderen an den drei Tagen zu tun gedenkst, die du dort so allein verbringst?«
»Darf man nicht.« Es freute sie, dass er Interesse zeigte – was durchaus nicht immer der Fall war. Doch sie kam zu dem Schluss, dass sie Oliver nichts von Antoine Aigner erzählen würde, schon gar nichts von ihrem etwas skurrilen Zusammentreffen; Olivers Reaktion auf die Art und Weise, in der sie die Sache in die Hand genommen hatte, würde möglicherweise aus nichts anderem als bohrenden Fragen bestehen. Sie würde ihn zu gegebener Zeit einfach mit ihrer neu erblühten Schönheit überraschen.
Mit einem kleinen Lächeln strich sie sich die Haare aus der Stirn. »Ich werde auch Sylvia Bescheid geben. Dann kann sie sich danach richten und jemand anderen zum Putzen bestellen.«
»Oder selbst Hand an den Besen legen«, gab ihr Wohnungsnachbar trocken von sich.
Katharina kicherte und schwang die Füße auf einen gepolsterten Fußhocker mit verblasstem Rosenmuster. »Übrigens, hast du inzwischen mal was von Alex gehört?«
»Nein. Ich glaub auch nicht, dass er so schnell wieder auftaucht«, sagte Oliver kopfschüttelnd. »Wenn er klug ist, macht er sich ein schönes Leben, außerhalb der Reichweite seines lieben Weibes, dieser alten Giftspritze.«
»Na! Wie kannst du so von Sylvia reden! Ich finde sie ganz nett.«
Er blickte sie streng an. »Du bist viel zu gutmütig. Sie nutzt dich nur aus.«
Sie hatte die Putztätigkeit bei den beiden von ihrer Mutter übernommen, der das in den letzten Wochen zu viel geworden war. Oliver fand die Putzerei völlig überflüssig. »Stimmt gar nicht, ich mach das alles freiwillig.«
»Dumm genug, vor allem bei dem jämmerlichen Hungerlohn, den Sylvia zahlt«, brummte er. »So.« Er schob das Tablett mit dem Tee zur Seite. »Ich werde mich jetzt wieder meiner Arbeit widmen. Wann soll’s denn losgehen mit deiner dreitägigen Auszeit? Sieht man sich vorher noch mal?«
»Sicher. Ich fahre erst morgen früh gegen zehn und werde mich vorher natürlich noch von dir verabschieden.«
»Fein.« Er drehte sich um und schien in Gedanken schon wieder bei seinem Instrument.
Mit einem Anflug von Wehmut verabschiedete sie sich und verließ sein Reich, in dem er normalerweise abgeschottet wie in einem Kloster werkelte. Leider auch so keusch, vermutete sie. Da fiel ihr Moni ein, und schon war sie sich ihrer Sache doch nicht mehr so sicher.
Moni war eine nette junge Frau, der der Friseurladen im Ort gehörte und die Oliver mittlerweile mit der gleichen Regelmäßigkeit wie Katharina besuchte, da sie nicht zuletzt dank ihrer beiden Angestellten flexibel war, was eigene Arbeitszeiten anging. Wenn Oliver, mit dem sie sich wirklich gut verstand, doch auch der Sinn nach mehr als nur Gesprächen stünde! Doch wahrscheinlich musste sie bei ihm die Geduld des Dalai-Lama aufbringen.
Langsam stieg sie die Treppe hinauf, mit jedem Schritt siegte die Vorfreude, und lächelnd drückte sie auf die Klingel an der Tür von Sylvia Jäger, um der Nachbarin die Nachricht ihrer Reise zu überbringen, damit sie für eine neue Putzhilfe sorgen konnte. Sie wusste, dass Sylvia sich nicht die Plastiknägel mit Putzen ruinieren wollte. Doch sie selbst hatte Besseres vor, als die Wohnung ihrer Mieterin zu pflegen. Sie klingelte erneut, aber niemand öffnete die Tür, und so machte sich Katharina wenig später daran, ein paar Sachen fürs Wochenende zu packen.
Antoine Aigner hielt Wort. Er vollbrachte das Wunder, das sich die junge Frau in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte: Er ließ ihre Haut von einer Kosmetikerin beackern, Katharina ging schwimmen, aalte sich in der Sauna, und ließ sich am Ende eines jeden Tages von einer Massage verzücken, die sie sich noch nie in ihrem Leben gegönnt hatte. Eigentlich eine Schande, dachte sie vergnügt.
Als Zuckerl schickte Antoine sie zu Frank, dem Friseur, dessen Preise allein fürs Ponyschneiden ihr für eine kleine Urlaubsreise gereicht hätten, wie sie auf der Tafel im Schaufenster feststellen konnte. Der Coiffeur richtete ihr die Haare so weit, dass sie sich seiner Aussage zufolge »wieder unter Menschen trauen« konnte – fürs Erste zumindest. Er bat sie händeringend, ihm zu gestatten, wenigstens ein paar Zentimeter abzuschneiden, damit die trockenen Spitzen ihres fisseligen Haares, wie er sich auszudrücken beliebte, nicht mehr so ungepflegt aussehen würden, und sie hatte seinen Rat schweren Herzens befolgt. Dabei hatte sie ihre dunkle Mähne so lange gezüchtet! Nur seinen flehentlichen Rat, ihre hohe Stirn abzumildern, indem sie sich von ihm einen Pony schneiden ließ, hatte sie abgelehnt. Allein bei dem Gedanken kitzelte es auf ihrer Stirn. Und was gab es schon gegen eine hohe Stirn einzuwenden? Die stand schließlich für Intelligenz!
Angesichts sich anbahnender Langeweile – sie hatte immer noch keinen Schimmer, worum es in ihrem Roman gehen sollte – hatte sie sich sogar zu dem Besuch einer Modeberaterin hinreißen lassen, die Katharina nicht nur darin unterrichtete, welchen Kleiderstil und welche Farben sie in Zukunft besser tragen sollte, sondern ihr auch noch zu grünen Kontaktlinsen geraten hatte – für »besondere Gelegenheiten«, wie sie augenzwinkernd sagte. Aber auch hier hatte sie lediglich Katharinas Gelächter geerntet, die sich nicht sehr viel aus Mode machte. Und diese hohen Schuhe, hatte Katharina der stark geschminkten Mittfünfzigerin versichert, könnte sie auch nicht tragen, sie war doch keine Masochistin. Womit sie in der Achtung der Frau noch ein wenig tiefer rutschte, aber das war ihr egal. Sie war kein Modepüppchen und würde auch nie eines werden.
Dennoch, Antoine und der Aufenthalt in seiner Klinik hatten sie, beinahe jedenfalls, zu einer Göttin gemacht. Seelisch auf jeden Fall, denn sie fühlte sich wie neugeboren. Dafür würde sie den Schönheitsguru auf ewig lieben – rein platonisch.
Oliver hingegen war ein Wermutstropfen, der ihr fast die gute Laune verdarb. Sie besuchte ihn nach diesen drei Tagen wie üblich zur Teestunde in der Werkstatt.
»Fällt dir nichts an mir auf?« Sie legte eine Pirouette hin, die jeder Ballerina Ehre gemacht hätte, damit er ihre Beine unter dem kurzen Rock bewundern konnte und den Schwung ihrer glänzenden Haare, die ihren Kopf in den eines Engels verwandelten, wie sie befand.
»Nein. Müsste es?«, fragte er ohne die erhoffte Neugierde.
»Sicher doch«, entgegnete sie und strich sich die Haare zurück. »Na?«
Mit einem abschätzenden Blick aus wundervollen braunen Augen erforschte er ihr Gesicht, was so häufig vorkam wie eine Sonnenfinsternis und sie wohlig erschauern ließ. »Du siehst erholt aus. Kein Wunder, wenn man sein Wochenende mit Nichtstun verbringt.«
Sie ließ den Haarvorhang fallen und war geneigt, die Werkstatt auf der Stelle zu verlassen. »Du bist ein hoffnungsloser Fall. Ich war beim Friseur und habe eine nigelnagelneue Frisur, die mir sehr gut steht, wie mir jeder, den ich traf, versicherte.« Letzteres war natürlich gelogen. »Und woher willst du überhaupt wissen, dass ich nichts getan habe? Ich war sehr aktiv. Sportlich gesehen. Und nicht nur das«, fügte sie hinzu, um seine Neugierde anzustacheln. Doch er schien auch immun, was Rätselraten anbelangte.
»Jetzt, wo du’s sagst …«
Sie gab sich immer noch beleidigt, aber sein Schmunzeln besänftigte sie ein wenig. »Ich bin außerdem geschminkt, und zwar so, dass es niemand merkt. Es hebt einfach meine Schokoladenseite hervor.« Bei ihm musste man schon sehr deutlich werden, auch wenn sie sich dabei ganz schön albern vorkam.
»Schade. Deine natürliche Schönheit fand ich interessanter.«
Sie warf den Keks, den sie sich zum Tee genehmigt hatte, zurück aufs Tablett. »Also bitte!« Doch sie war nur ein wenig erbost, schließlich hatte er das Wort »natürliche Schönheit« in Bezug auf sie gebraucht. Immerhin ein Kompliment, wenn auch ein indirektes.
»Nichts für ungut. Aber ich mag halt gern Gesichter mit Ausdruck und nicht diese Nullachtfünfzehn-Mienen, die zugekleistert sind mit Make-up.«
»Ich bin nicht zugekleistert, sondern sehr dezent zurechtgemacht. Meine Nase muss als starker Ausdruck reichen.«
Er heftete den Blick auf ihre Stupsnase. »Richtig, das tut sie in der Tat«, nickte er frech.
Sie schmiss ihm eine schnell zusammengeknüllte Serviette an den Kopf. »Und außerdem musst du morgen wieder auf meine erfreuliche Anwesenheit verzichten. Da bin ich unterwegs.«
»Wohin geht’s denn diesmal?«
»An den Starnberger See.«
Er sah kurz zu Boden, was ihr wieder einmal Gelegenheit bot, seine langen Wimpern zu bewundern. »Schön. Ein paar Urlaubstage einschieben, schätze ich?«
»Falsch, Recherche«, erwiderte sie von oben herab.
»Oh, richtig, ich vergaß, du schreibst ja an einem großen Roman.«
»Genau.«
»Und? Schon über die Einleitung hinweg?«
»Noch nicht ganz. Schließlich heißt es Recherche, weil man recherchieren muss, bevor man mit dem Schreiben startet.«
»Macht Sinn«, er nickte und wuschelte ihr durchs Haar.
Ihr Herz erwärmte sich auf der Stelle. Er hatte sie berührt! Vielleicht ja doch kein so hoffnungsloser Fall. »Also, du weißt Bescheid.«
»Wann soll’s losgehen?«
»Morgen. Aber ich recherchiere nur nebenbei für meinen Roman. Eigentlich muss ich aus beruflichen Gründen dorthin. Ich will –«
»Fein, dann viel Vergnügen«, fiel er ihr ins Wort, erhob sich und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Sie war entlassen.
»Ich melde mich, wenn ich wieder hier bin«, informierte sie ihn über seinen gesenkten Schopf hinweg.
»Ich hab’s fast befürchtet.«
Sie schenkte sich die Antwort. Vielleicht würde ihr dieser Besuch ja einen reichen, attraktiven Mann bescheren, und dann würde sie diesen unsensiblen Klotz keines Blickes mehr würdigen, nahm sie sich vor, stand auf und verließ die Werkstatt.
Für ihre zukünftige Karriere als ernst zu nehmende Schriftstellerin war Oliver keine große Hilfe. Immerhin war er ein guter Zuhörer, doch leider interessierten ihn ihre ausgedachten Liebesgeschichten nicht, die sie ihm so gern in Kurzfassung zukommen ließ, um seine Meinung zu hören. Ohnehin war er nicht die Bohne an spannenden Roman-Ideen interessiert, die nur so in ihrem Kopf kreisten. Selbst Thriller ließen ihn kalt, in denen das Blut nur so spritzte. Sie hatte sich sogar einen ganz guten zurechtgelegt, obwohl Thriller zukünftig nicht ihr Metier sein würden, das stand fest.
Ein zwiespältiges Gefühl von Einsamkeit überfiel sie, wie so oft, wenn sie Olivers Werkstatt verlassen hatte. Aber diesmal wurde es abgelöst von einem Gefühl des Schreckens. Sie hatte völlig vergessen, sich ein Zimmer für die drei Nächte zu reservieren. Es war Montagabend, bis Freitag in der Frühe hatte der Bericht fertig zu sein. Ach, es würde schon nicht so schlimm werden. Noch war ja keine Hochsaison, und sie wollte schließlich auch keine Suite. Optimistisch öffnete sie die Wohnungstür und ging schnurstracks zum Telefon. Sie – genauer gesagt, ihr Chef – hatte sich bereits für ein Hotel entschieden, das seinen Ansprüchen von einem feinen, gediegenen Landhotel im Vier- oder Fünf-Sterne-Bereich gerecht wurde: nichts Geringeres als das Seeschlößl am Starnberger See.
Fünf Minuten später legte sie schweißgebadet auf. Das Hotel war komplett ausgebucht. Es gab keinen Winkel in dem großen Haus, in dem sie Unterschlupf hätte finden können.
Nahe daran, sich mit ihrem Beruf und Ansinnen in der Hoffnung zu erkennen zu geben, dass man begeistert sein und vielleicht doch noch eine Besenkammer herrichten würde, hatte sie sich in letzter Sekunde zurückgehalten, denn dies hatte ihr Chef zuvor strikt untersagt. Sie hatte inkognito zu recherchieren, damit ihr die Angestellten so ungezwungen wie möglich begegneten. Und nun bot ihr das Haus keine Möglichkeit dazu. Na super! Natürlich konnte sie mit dem Redaktionsleiter sprechen und ein anderes Domizil wählen, doch so schnell gab sie nicht auf.
3
Am nächsten Tag hatte sie sich so weit erholt, dass die Reisetasche fertig gepackt war und sie die Reise zum Seeschlößl antrat. Vielleicht war ihr das Glück ja hold, und irgendjemand stornierte seine Buchung. Entgegen jeglicher Vernunft war sie bester Laune. Sie fühlte sich zwar nicht gerade euphorisch, dennoch segelte sie auf einer Woge der Freiheit, ach was, auf dem Wellenkamm der Woge! Sie hatte Urlaub, und irgendwie würde sie schon in dieses schöne Landhotel gelangen und den Artikel zustande bringen.
Sie könnte sich, sinnierte sie, zum Beispiel einen netten Angestellten angeln und ihn einweihen. Der würde sie dann durch die geheimen Winkel des Hauses lotsen und ihr vielleicht sogar Geheimnisse verraten, die niemand der Gäste kannte oder gar vermutete. Sie kam leicht mit anderen Menschen in Kontakt. Irgendwie würde es gehen, sie war guten Mutes. Zwar hatte sie bei früheren Aktionen dieser Art auch immer das Gefühl gehabt, dass es schon funktionieren würde, ihr Optimismus hatte ihr jedoch oft genug einen Streich gespielt. Aber diesmal war sie wirklich davon überzeugt, dass sie den Artikel pünktlich und zur vollen Zufriedenheit des Chefs abliefern würde.
Und auch für ihren Roman durfte sie sich ein Quäntchen Zuversicht leisten – wenn nicht sie, wer dann? Obwohl sich die literarischen Dinge noch nicht so recht in ihrem Sinne gestalteten, war sie immerhin auf einem guten Weg, auf dem Weg, mit dem alles begann: dem der Recherche.
Gestern hatte sie wie jeden Abend an ihrem Computer gesessen. Doch das Glücksgefühl, das sie früher als kleines Mädchen stets überwältigt hatte, wenn sie ein blütenweißes neues Schreibheft aufgeschlagen und die ersten Füllerstriche gesetzt hatte, hatte sich ein wenig verflüchtigt. Sie hatte gebrütet, Spielszenarien beschworen und Dialoge erfunden. Doch so richtig hatte es nicht gezündet. Es galt immer noch, die klitzekleine Hürde bezüglich des Romaninhalts zu bezwingen. Bisher war nur klar, dass er in einem eleganten Milieu spielen musste. Das Sprungbrett würde jetzt also ein Vier-Sterne-Hotel sein. In ihrer Fantasie begann der Roman dort, wohin das Schicksal, die Zeitungsredaktion, sie getrieben hatte. Und dass es sich um einen Liebesroman handeln würde, war für sie ebenso klar. Die Liebe war ihr Metier! Im Fernsehen liefen fast nur noch Krimis, dem galt es mit ganz viel Herzschmerz entgegenzuhalten.
Und nun stand sie hier in Starnberg. Sie war mit dem Bus gekommen – die fast dreistündige Fahrt hätte mit dem Auto gerade mal eine Stunde gedauert, doch ihrem eigenen Wagen hatte sie die Reise nicht zumuten wollen.
Beeindruckt schaute sie an der Fassade des Hotels hoch, einem wahrlich prächtigen Landhotel. Es strahlte jene unbestimmte Mischung aus gediegener Eleganz und bayerischer Gemütlichkeit aus, war neu verputzt, und nicht nur der frisch geharkte Kiesweg, sondern auch die Blumenbeete wirkten gepflegt. Das Haus sah nicht protzig aus, sondern im Gegenteil sehr einladend. Die beleuchteten Fenster, aus denen ein warmer Lichtschein bis auf das Trottoir fiel, und reichlich Blumenschmuck auf den Fensterbänken und am Eingang verleiteten ebenso wie die weit geöffnete Tür dazu, auf der Stelle das Innere des Hauses erforschen zu wollen.
Hier würde sie die Recherche beginnen, wenn auch nur der Himmel wusste, wie. Im Internet hatte es fast nur gute Empfehlungen gegeben, die einzigen Kritikpunkte galten dem etwas abgewetzten Charme des Mobiliars, dem eine Überholung nicht schaden konnte. Sie war gespannt auf das Hotel.
Sie atmete tief ein und öffnete den obersten Knopf des neuen Mantels. Die Luft war dank eines Föhneinfalls seidenweich und warm. Zu warm für diesen Mantel. Katharina war der Meinung, dass sie ein solches Hotel nur in eleganter Kleidung betreten konnte, vor allem, um selbstsicherer aufzutreten und so an all die verborgenen Geheimnisse des Hauses zu kommen.
An diesem klaren Nachmittag strahlte der wolkenlose Himmel azurblau. Eine leichte Brise wehte über die Wiesen zum See und trug einen frischen Frühlingsduft zu Katharina herüber. Dass sie nicht mit dem Wagen gekommen war, hatte sich als gute Idee erwiesen. Womöglich wäre ihr das alte Auto zum ersten Mal im Leben ein wenig peinlich gewesen angesichts der Nobelkarossen auf dem hoteleigenen Parkplatz. Auch wenn sich ihr Wagen niemals mit einem Daimler oder Porsche den Platz hätte teilen dürfen, so würde sie zu Hause doch die Blumen-Aufkleber der Spülmittel-Flaschen ihrer Großmutter vom Heck des Wagens entfernen und die Roststellen übermalen lassen. Vielleicht würde sie ja nach ihrem Weltbestseller diese Herberge ein zweites Mal aufsuchen, und da war Eleganz angesagt, überlegte sie aufgekratzt.
Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf nur so durcheinander. Irgendwie würde es ihr schon gelingen, wenigstens eine Nacht hier zu verbringen, um den Chef zufriedenzustellen! Jetzt war es das Gebot der Stunde, die eigene Fantasie einzusetzen, davon besaß sie doch genug.
Katharina reckte das Kinn und lächelte, ungeachtet der schmerzenden Füße in den engen, ungewohnt hochhackigen Pumps, die so gar nichts mit den Turnschuhen gemein hatten, die sie normalerweise bevorzugte. Dann tauchte sie ein in die behagliche Eleganz der großzügigen Hotelhalle.
Anerkennend ließ sie den Blick schweifen. Dies hier war tatsächlich eine Bühne. Die Hotelhalle war nicht zu vergleichen mit dem kühlen Stil der Lobby internationaler Hotels. Mit den Landschaftsbildern an den getäfelten Wänden, den Perserteppichen und dem hohen Eichengebälk strahlte die Empfangshalle eher die Gediegenheit eines alten Landsitzes aus.
Bevor sie um ein Zimmer kämpfen würde – und sie würde kämpfen, so wahr sie Katharina Wegner hieß –, wollte sie sich ein wenig umschauen. Jetzt, um siebzehn Uhr, waren alle Tische besetzt. Hier unten, stellte sie fest, traf man sich, um Tee oder Kaffee zu trinken, die zahlreich ausliegenden internationalen Zeitungen zu lesen oder um in Ruhe den Aperitif bei einem Kartenspiel, einer Partie Bridge oder Backgammon zu genießen, wie sie bei einigen der Gäste bemerkte. Sie konnte weder das eine noch das andere.
Suchend schaute sie zu den Sitzgruppen, bis sie in der äußersten Ecke einen schwarzen Lederfauteuil entdeckte, aus dem sich gerade ein älterer Herr erhob. Zielstrebig steuerte sie auf den Tisch aus glänzendem Nussbaum zu, auf dem einladend Patisserien und Salzmandeln zum Genuss der Gäste auslagen, in feinen Silberschalen, alle versehen mit dem Signet des Hauses, einem trutzigen Turm. Am Tisch zog sie den neuen Mantel aus und legte ihn behutsam über die Lehne des Sessels.
Sie sank in die Tiefen des Polsters und seufzte glücklich. Für solch einen Sessel würde sie sich nur zu gern von ihrer Wohnzimmercouch trennen. Kaum hatte sie Platz genommen, erschien ein Kellner, um ihre Wünsche entgegenzunehmen. Er hatte sie gleich entdeckt, was sicherlich an den zahlreichen Spiegeln lag, die die Wände schmückten, sodass man wirklich jeden Gast von allen Seiten betrachten konnte, und das auf die unauffälligste Art und Weise. Gut für ihre Zwecke. Katharina lächelte unbewusst. Die warme, fast häusliche Gemütlichkeit der Halle lud zum Träumen ein.
Unauffällig beobachtete sie die anderen Gäste. Gut, dass sie beim Kauf der Kleidung, einschließlich der seidenen Unterwäsche, der sie im Vorübergehen verfallen war, nicht gespart hatte, womit ihre Mieteinnahmen um einen saftigen Batzen geschrumpft waren. Dennoch: Überall um sie herum saßen augenscheinlich glückliche Paare, und für einen Moment beschlich sie der Anflug von Melancholie. Sie war allein, und manchmal kroch die Angst in ihr hoch, dass sich das auch nicht ändern würde.
Genug des Selbstmitleids, rief sie sich zur Vernunft. Sie war schließlich nicht die einzige Frau ohne Partner auf der Welt, ein Singledasein konnte auch Vorteile bieten. Und hatte sie nicht Spaß gehabt in der Vergangenheit, auch ohne Mann? Na also.
Aber da gab es eben auch Oliver. War sie vielleicht zu launisch und egoistisch, sodass er als sensibler Instrumentenbauer und Musiker abgeschreckt wurde und immer noch nicht angebissen hatte? Nein, sie bevorzugte für sich den Ausdruck »exzentrisch«. Sie war eine Frau und hatte ein gewisses Recht auf kapriziöses Verhalten. Zumindest nahm sie das für sich in Anspruch.
Der Ober brachte wenig später den bestellten Kaffee und unterbrach ihre konfusen Gedanken. Katharina goss Sahne in die Tasse aus feinstem Porzellan und widmete sich den Leckereien auf dem Tisch.
Gerade als sie über eine Melodie rätselte, die im Hintergrund erklang, verführte sie eine energische männliche Stimme am Nachbartisch zum Lauschen.
»Du fürchtest also, die Sache mit Nadine Wagner gerät ins Wanken?«
»Wanken will ich nicht sagen. Ich hab einfach ein unsicheres Gefühl bei ihr.«
»Also war’s wohl wieder nichts mit der großen Liebe.«