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Annes Glück scheint zum Greifen nah: Die hübsche Münchnerin kauft in ihrem Heimatdorf das Haus des verstorbenen Geigenbauers, um sich dort selbstständig zu machen. Voller Elan stellt sie sich dieser neuen Herausforderung. Als ihr Jugendschwarm Peter wieder in ihr Leben tritt, fangen die Turbulenzen erst richtig an. Die beiden ziehen einander magisch an und geraten dennoch von einem Konflikt in den nächsten. Anne muss lernen, dass der Weg zur großen Liebe, wahren Freundschaft und beruflichen Erfüllung von vielen Stolpersteinen gesäumt ist. Entschlossen kämpft sie für ihre Träume.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
LESEPROBE zu
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014
© 2014 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com
Titelfoto: © Sandy Schulze – Fotolia.com (oben) und
Peter Atkins – Fotolia.com (unten)
Lektorat: Iris Erber, Aistersheim
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
eISBN 978-3-475-54361-6 (epub)
Gabriele Raspel
Der Ruf der Heimat
Annes Glück scheint zum Greifen nah: Die hübsche Münchnerin kauft in ihrem Heimatdorf das Haus des verstorbenen Geigenbauers, um sich dort selbstständig zu machen. Voller Elan stellt sie sich dieser neuen Herausforderung. Als ihr Jugendschwarm Peter wieder in ihr Leben tritt, fangen die Turbulenzen erst richtig an. Die beiden ziehen einander magisch an und geraten dennoch von einem Konflikt in den nächsten. Anne muss lernen, dass der Weg zur großen Liebe, wahren Freundschaft und beruflichen Erfüllung von vielen Stolpersteinen gesäumt ist. Entschlossen kämpft sie für ihre Träume.
München atmete auf. Das Thermometer hatte auch heute wieder die Dreißig-Grad-Marke überschritten, und jeder freute sich auf ein freies Wochenende, das erneut so warm zu werden versprach wie die vergangenen. Selten hatte man eine so lang anhaltende Schönwetter-Periode erlebt wie in diesem heiteren Sommer.
Leicht erschöpft verließ Anne den Stoffladen in der Innenstadt, erleichtert, dass sie endlich geschlossen hatten. Die schnurglatten blonden Haare, die, wenn sie sie zu seltenen Gelegenheiten offen trug, nur mit Mühe ihre etwas abstehenden Ohren bedeckten, hatte sie am Hinterkopf zusammengebunden, damit sie nicht wie Spaghetti herabhingen. Der feine Pony kitzelte ihre hohe Stirn, an der eine Schweißperle die andere ablöste. Bei jedem Schritt umspielte ihr Batist-Rock ihre langen Beine, und die Bluse klebte nach neun Stunden in der Glut des Geschäfts, in dem sich die Kunden ausnahmsweise die Klinke in die Hand gegeben hatten, an ihrer Haut. Sie lechzte nach dem freien Wochenende, das ihr kühle Duschen, kurze Shorts mit einem luftigen Oberteil, einen neuen Schmöker und ansonsten süßes Nichtstun bescheren würde. Ja, sie würde es sich nett machen. Doch wenn sie an Gesine, ihre Chefin, dachte, die ihr im Laufe der Jahre auch eine Freundin geworden war, schämte sie sich beinahe angesichts dieser Belanglosigkeiten. Gesine hatte wirklich Grund zu klagen, sie kämpfte schlicht ums Überleben mit ihrem Geschäft.
In Münchens bester Lage betrieben sie einen kleinen, feinen Stoffladen, der seinen guten Ruf nicht nur der ausgesuchten Qualität ihrer Waren, sondern auch dem beständigen Bemühen um ihre Kundinnen verdankte. In der Adventszeit durchzog der Duft von selbst gebackenen Plätzchen und Kaffee die beiden Geschäftsräume. Extra angefertigte Decken und Läufer mit Weihnachtsoder Ostermotiven sollten die Damen animieren, sich selbst ans Werk zu machen. Das war Annes Spezialgebiet. Sie liebte es seit jeher, zu handarbeiten. Was für andere Frauen der Anblick von Schmuck war, war für sie eine besondere Wolle oder ein exquisiter Stoff. Die Vorstellung der schönen Dinge, die daraus entstehen konnten, ließ ihr Herz höher schlagen – was ihre Freundinnen zum Lächeln brachte und im Grunde nur ihre Mutter und natürlich Gesine nachvollziehen konnten. Ja, sie waren überzeugt, dass die Atmosphäre eines gemütlichen Ladens und das freundliche Eingehen der Verkäuferin auf die Wünsche der Kunden nicht durch ein anonymes Bestellen im Internet ersetzt werden konnten. Und natürlich hatten sie einigen verwöhnten Kundinnen den feinen Stoff frei Haus geliefert.
Tage wie diese, sinnierte Anne, stählten sie oder beförderten einen vorzeitig ins Grab. Damit Letzteres nicht geschah, betrat sie die neu eröffnete Kaffeerösterei nebenan und erstand sechs Kaffeekugeln. Kaffeebohnen, umhüllt mit Schokolade, gefüllt mit einer weiteren, halbflüssigen Köstlichkeit – ein Hochgenuss, der ihr Tagesbudget sprengte. Aber diese Kaffeekugeln waren eine Sünde wert. Sie steckte die Nase in die Tüte und war überwältigt von dem Duft. Übermütig legte sie eine Kugel in die Hand des jungen Mannes, der neben der Tür stand und ihre Tüte begehrlich anschaute – jedenfalls schien es ihr so. Sie kannten sich gut, denn jeden Morgen verkaufte er die Obdachlosenzeitung neben dem Laden, und jeden Monats-Ersten kaufte sie ihm eine ab. Dass sie ihn einmal täglich auf einen Kaffee und eine Wurstsemmel einluden, verstand sich fast von selbst.
Sie wusste, dass sie trotz des bevorstehenden Wochenendes und der Leckereien nicht so schnell würde abschalten können. Sie quälten die gleichen Sorgen wie Gesine. Kein Wunder, dass deren Nerven blank lagen. Anne rechnete jederzeit damit, dass die achtundsechzigjährige Chefin, die im Laufe der Jahre immer mehr zur Freundin geworden war, dem Druck des neuen Vermieters nachgab und das Geschäft schließen würde. Heute hatte sie vor dem Erben des alten Brunner derart die Fassung verloren, dass Anne sie in den privaten Bereich des Lädchens – eine Ecke ohne Fenster, ausgestattet mit zwei Sesseln, die schon bessere Tage gesehen hatten, und zwei Fußbänkchen davor – hatte führen müssen, um sie zu beruhigen.
Wie konnte sie Gesine, und im Endeffekt auch sich selbst, nur helfen? Sie gaben sich alle Mühe, doch die Lage wurde immer prekärer. Ihr Vermieter wollte sie schlicht aus dem Haus haben. Heute hatte er Gesine seine neue Mietforderung vorgelegt, unbezahlbar für sie, sie hatten ja vorher nur mit Mühe überlebt, nachdem die Miete Jahr für Jahr gestiegen war. Ihnen stand mithin die Schließung ihres Ladenlokals ins Haus. Der Erbe des alten Vermieters hatte vor, in dem alten Gebäude neue, hochpreisige Eigentumswohnungen zu errichten, und nur ein Wunder konnte sie noch retten. Dieses Wunder hatte Gesine sich von Anne erhofft, die ihr einmal nach einem guten Essen bei ihr zu Hause gestanden hatte, dass sie daran interessiert wäre, den Stoffladen zu übernehmen, wenn Gesine nicht mehr weitermachen wollte oder konnte.
Allerdings war das in der Weihnachtszeit im letzten Jahr gewesen. Mittlerweile sah die Situation nicht mehr rosig aus, und Anne hatte nicht vor, das Geld, das sie mühsam zusammengespart hatte – und das sich dank Onkel Ludwigs Erbschaft so wundervoll vermehrt hatte –, in den Sand zu setzen. Wenn sie sich mit einem Geschäft selbstständig machen würde, musste alles Hand und Fuß haben, sie wollte nicht umsonst so geknausert und sich so gut wie nie einen Urlaub gegönnt haben. Gesine und sie hätten sich über das Finanzielle geeinigt, aber immer wieder neue Mietforderungen und das bleibende Risiko, irgendwann möglicherweise vor die Tür gesetzt zu werden, konnte sie nicht eingehen.
Sie beeilte sich, um rasch das Abendessen zu richten, denn heute kam ihre Mutter zu Besuch. Sie hatte gefüllte Paprikaschoten vorbereitet, die ihre Mutter so gern aß. Den Salat dazu hatte sie frisch aus dem Laden besorgt, danach würde es Vanille-Eis und als Krönung für jeden eine Schokoladen-Praline geben. Am Blumenstand kaufte sie einen Strauß frischer Freilandrosen, dann eilte sie zum Parkhaus, um ihren Wagen zu holen. Doch wie es immer ist, wenn man es eilig hat und wenn bereits die Hälfte des Tages unerfreulich verlaufen ist, so hielt sich auch ihr alter Golf an das Gesetz der Serie und gab vollends seinen Geist auf – sie hatte es lange kommen sehen. Und diesmal würde selbst der beste aller Mechaniker keine Wunder mehr vollbringen können, hatte ihr der beste aller Mechaniker unmissverständlich klargemacht. So ein Mist!
Sie raffte ihre Einkäufe zusammen und verließ das Parkhaus, um die Fahrt in der dampfenden, voll besetzten Straßenbahn zurückzulegen. Der Schweißgeruch, der ihr entgegenschlug, raubte ihr beinahe den Atem, sodass sie eine weitere Schoko-Kugel nachschob. Wenn das so weiterging, reichten diese Seelentröster nicht, bis sie zu Hause angelangt war. Der Gedanke an die Enge ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung, die sie vor allem im Sommer nervte, und die fürchterliche Hitze unter dem Dach gaben ihr beinahe den Rest.
Ihre Mutter, die sie am Hauseingang traf, bemerkte, wie niedergeschlagen Anne war und übernahm resolut die Führung.
»Du setzt dich jetzt erst einmal hin und legst die Füße hoch. Ich wärme das Essen auf, und du trinkst ein kaltes Mineralwasser«, bestimmte sie, nahm Anne die Schlüssel ab und öffnete die Tür des heruntergewirtschafteten Mietshauses.
Anne schmunzelte, so gefiel ihr ihre Mutter. Sie nahm Mia die Schlüssel ab, öffnete noch rasch den Briefkasten und sah, dass neben den zahlreichen Prospekten ein Brief aus der Schweiz dabei war.
»Sieh mal, aus Luzern, von den Schürners«
»Ach, sie haben mich bereits angerufen und mitgeteilt, dass die Wohnung nun fertig ausgeräumt ist«, sagte Mia. »Da wird sicher die Schlussrechnung drin sein.«
Anne dachte daran, dass sie vor fast einem halben Jahr ebenfalls einen Brief erhalten hatten, in dem ihnen der Notar den Tod ihres Onkels Ludwig mitteilte. Mias Bruder und sie hatten von jeher kein gutes Verhältnis zueinander gehabt. Mit seiner unwirschen und groben Art war Ludwig viel zu oft mit seiner jüngeren Schwester aneinandergeraten. Dass er auch noch den Eltern vorgelogen hatte, Mia hätte das Urlaubsgeld aus der Schatulle gestohlen, brachte schließlich das Fass zum Überlaufen. So hatte sie ihm keine Träne nachgeweint, als er sich ein paar Wochen später aufmachte, um München zu verlassen. Von den Eltern erhielt sie dann und wann sparsame Informationen, dass er in Amerika sein Glück zu machen gedenke. Dann war jahrelang Pause gewesen.
Zuletzt hatten sie sich bei der Beerdigung ihrer Eltern gesehen, die bei einem Unfall durch einen Geisterfahrer auf der Autobahn ums Leben gekommen waren. Dabei hatten die Geschwister kaum ein Wort miteinander gewechselt. Allerdings schien es ihm nicht sonderlich gut zu gehen, seiner Kleidung nach zu urteilen. Danach hatte endgültig Funkstille zwischen ihnen geherrscht. Eigentlich hatte Anne ihren Onkel ganz gern gemocht, seine unbeschwerte Art, seinen Humor, seine Intelligenz. Das, was ihre Mutter als Grobheit ansah, empfand sie als sein Temperament. Aber dass er damals ihre Mutter des Diebstahls bezichtigt hatte, ließ sie dennoch auf Distanz gehen, allein aus Loyalität ihrer Mutter gegenüber.
»Ich bin froh, wenn die ganze Angelegenheit dann vom Tisch ist«, seufzte Mia.
Sie stiegen die abgetretenen Stiegen hoch in den vierten Stock und schlossen die Wohnung auf. Brühwarme Luft schlug ihnen entgegen, obwohl Anne morgens die Dachfenster offen gelassen hatte. Nachdem sie sämtliche Fenster aufgerissen hatten, damit wenigstens ein Hauch frischer Luft durch die kleinen Räume zog, holte Anne das vorbereitete Essen aus dem Kühlschrank und stellte den Topf auf den Herd.
Dumm, dachte sie, jetzt auch noch den Herd in dieser Bruthitze einschalten zu müssen. Ein großer Salat hätte völlig gereicht. Doch sie hatte nur einen Salatkopf mitgenommen. Eigentlich hätte sie sich mittlerweile etwas Besseres als diese Altbauwohnung leisten können, die über keinen Balkon verfügte, was ihr vor allem im Sommer sehr abging. Aber Anne hatte eben auch bei ihrer Wohnung sparen wollen, damit ihr nur ja von dem bescheidenen Gehalt wenigstens ein bisschen Geld blieb, das sie für einen eigenen Laden zur Seite legen konnte. Und nun die Erbschaft für eine größere Wohnung zu verplempern, das kam für sie überhaupt nicht infrage.
»Du setzt dich jetzt hin, und ich richte den Salat her«, bestimmte Mia, ging zum Kühlschrank und nahm das Mineralwasser heraus. Anne holte die Gläser und schenkte ihrer Mutter und sich ein. Nachdem sie die Rosen versorgt hatte, setzte sie sich auf den Küchenstuhl und schaute ihrer Mama zu, so wie sie es früher häufig getan hatte.
»Ach, Mama, du bist ein Engel«, sagte sie dankbar. »Wie ging’s bei dir heute? Du musst doch auch geschafft sein, die Sonne knallt dir schließlich auch den ganzen Tag in dein Atelier.« Sie nahm die Kaffeekugeln heraus und bot ihrer Mutter eine an.
»Wie du schon sagst: Die Sonne knallte ganz schön«, lachte Mia.
Sie arbeitete als Änderungsschneiderin in ihrem Mini-Atelier und kam gerade eben über die Runden mit ihrer Arbeit.
»Und wie geht’s sonst so?«, erkundigte sich Anne.
»Nun ja, so lala«, antwortete Mia vage und steckte zerstreut die Kugel in den Mund. »Oh mein Gott, sind die gut!«, rief sie aus.
»Delikatesse, gibt’s gleich als Nachtisch«, nickte Anne. »Also, wie geht’s dir?«, insistierte sie, während sie kurz die Post durchging.
»Wie es halt so geht, wenn man allein lebt, das muss ich dir doch nicht sagen. Da freut man sich, dass man so langsam die Krise über den Tod des Mannes überstanden hat und wieder Lust am Leben verspürt, da muss man erkennen, wie sehr man sich geirrt hat. Meine verheirateten Freundinnen sind die meiste Zeit anderweitig verplant. Die Erika spielt nur noch mit den Enkeln, Angelika ist ständig mit ihrem Mann auf einer Bustour irgendwo in Europa unterwegs, die Hedwig hat ihre Liebe zur Kirche entdeckt und mischt kräftig im Pfarrgemeinderat mit, sodass sie schon gar keine Zeit für mich hat, und die Moni ist beruflich so eingespannt, dass sie am Wochenende kaum Lust hat, das Haus zu verlassen.« Heftig rührte sie im Topf mit den gefüllten Paprika. »Wenn ich nicht meinen Näh-Salon hätte, ginge ich ein wie eine Primel. Zum Glück habe ich nette Kunden.«
»Du musst eben schauen, dass du dir ein Hobby zulegst«, schlug Anne müde vor, nahm noch einen Schluck von dem Mineralwasser und stand auf, um im Wohnzimmer den Tisch zu decken.
Mia folgte ihr mit dem Holzbrett, auf das sie den heißen Topf stellen wollte. Sie legte es auf den runden Tisch im Wohnzimmer. »Tja, ein Bücherwurm bin ich ja nie gewesen. Wenn ich die Zeitung gelesen habe, reicht es mir. Handarbeiten tu ich gern, und wandern auch, wie du weißt. Aber allein durch München zu schlendern, dazu fehlt mir einfach die Lust. Und du bist auch viel zu sehr im Laden eingespannt und führst dein eigenes Leben.«
Anne legte zwei Sets auf den Tisch, darauf platzierte sie das Besteck, Servietten und ihre Wassergläser.
Ihr eigenes Leben … das könnte momentan auch eine kleine Auffrischung vertragen. Ihre Beziehung mit Sascha Neumeier, einem engagierten Sozialarbeiter, war Anfang des Jahres in die Brüche gegangen, als sie nach fünf Jahren allen Mut zusammengenommen und das Wort Heirat in den Raum gestellt hatte. Woraufhin er noch am gleichen Abend um eine kurze Auszeit gebeten hatte. Die hatte sie ihm natürlich nicht verwehrt. In den ausbedungenen drei Monaten hatte er sich anderweitig von dem Schock erholt, wie sie durch ihre Freundin Sophie erfuhr, und ihr am Ende per SMS den Laufpass gegeben. Diese neue Flamme hatte er wiederum mit einer anderen betrogen, dann hatte auch ihre Freundin Sophie nichts mehr von ihm gehört. Und Anne war froh darüber, so langsam erholte sie sich von ihrem Liebeskummer. Aber ein Liebesleben fand zurzeit eben auch nicht statt.
»Ich fürchte, am Ende des Jahres werde ich viel zu viel Zeit für dich haben, Mama.«
»Ach ja?«, fragte Mia alarmiert. Sie holte den Topf, stellte ihn auf das Holz und verteilte die duftenden Paprikaschoten auf ihre Teller. Sie setzten sich an den ausladenden Eichentisch mit geschwungenen Beinen, zu dem vier Fünfziger-Jahre-Sessel – ausgediente Möbel ihrer Eltern – gehörten. Anne legte sich die Serviette auf den Schoß und sog tief den köstlichen Duft der Tomatensoße ein, dann schilderte sie ihrer Mutter die Situation des Geschäfts.
»Sehr wahrscheinlich müssen wir bis Ende des Jahres raus aus dem Haus«, seufzte sie. »Und Gesine rechnete so fest damit, dass ich ihr den Laden abkaufe. Wir hatten den Finanzierungsplan schon aufgestellt, sie hätte mir viel Luft gelassen, sodass ich nicht die gesamte Summe auf einmal hätte zahlen müssen. Aber das ist jetzt natürlich Schnee von gestern. Heute ging es ihr ganz furchtbar. Dieser Brunner-Erbe ist so ein knallharter Bursche.«
»Daran kannst du aber nun nichts ändern«, sagte Mia traurig. »Und was wäre, wenn du dir eine andere Gegend für das Geschäft suchst?«
»Ach, Mama, du kennst doch die Mietpreise in München. Selbst außerhalb wäre es utopisch. Und das Erbe wäre damit auch bald aufgebraucht.«
»Stimmt. Da kannst du dir eher ein altes Schloss in der Provinz zulegen als hier in dem Moloch an bezahlbare Wohnungen, geschweige denn bezahlbare Ladenlokale in der Stadtmitte zu kommen. Aber – kommt Zeit, kommt Rat. Wie findest du übrigens mein neues Kleid?«, beendete Mia dieses Thema, wie so oft schnell bereit, den Kopf in den Sand zu stecken, wenn’s schwierig wurde.
Anne seufzte innerlich. Nein, ihre Mutter war immer noch nicht sonderlich belastbar. Sie würde sie von ihren Zukunftsängsten verschonen, schien sie doch selbst heute nicht glücklich zu sein, dabei war dieses heiße Wüstenklima, das in diesem Sommer herrschte, doch ganz nach ihrem Geschmack. Früher hatte Anne Mias Niedergeschlagenheit immer auf das Wetter geschoben. Doch dieser Sommer war ein Traum, wenn man Wüstentemperaturen liebte wie ihre Mutter. Nein, sie würde ihnen nicht den heutigen Abend verderben, indem sie ihr auch noch den Verlust ihres Wagens mitteilte.
Seit vor zwei Jahren Annes Stiefvater Stefan gestorben war, hatte sich so vieles verändert. Und Onkel Ludwig war daran nicht unschuldig – wenn auch in positivem Sinn. Nach dem Tod ihres Mannes hatte ihre Mutter mit großem Verlust die Lebensversicherung auflösen müssen, nicht nur, um für die Beerdigung aufzukommen, sondern auch, um ihr kleines Atelier eröffnen zu können, denn in den letzten Jahren war Mia nur Hausfrau gewesen. Anfangs war ihr Einkommen so schmal, dass sie sich nicht die kleinsten Extras leisten konnte. Und eigentlich hätte sie ihr Auto aufgeben müssen, doch das war ihr einziger Luxus, eine Freiheit, für die sie auf andere Dinge verzichtete. Aber es war ja nicht die chronische Geldknappheit, die ihre Mutter traurig machte, denn das Erbe ihres Bruders diente allein ihrer Altersvorsorge. Sie litt unter Einsamkeit, und da half kein Geld der Welt. Auch nicht das von Onkel Ludwig.
Anne wünschte, sie könnte ihr mehr helfen, doch ihre Zeit war eben begrenzt – was sich wahrscheinlich in wenigen Monaten ändern würde, dachte sie resigniert. Bis sie eine neue Arbeit gefunden hätte, war möglicherweise viel Zeit zu überbrücken.
»Was hältst du davon, wenn wir zwei morgen einen schönen Ausflug an den Ammersee machen?«, unterbrach Mia ihre betrübten Gedanken.
Anne schluckte. Jetzt musste sie aufpassen, sonst würde sie doch mit der zweiten miesen Nachricht an diesem Abend herausrücken müssen. »Gern. Vielleicht können wir dein Auto dafür nehmen. Ginge das?«
»Ach, nein, leider nicht. Ich hab es Erika für das Wochenende geliehen«, bedauerte Mia.
Anne seufzte. Erika war Mias beste Freundin, die nach ihrer Scheidung in eine neue Wohnung gezogen und noch mit dem Umzug beschäftigt war. »Dann wird’s schwierig, denn meines hat heute endgültig seinen Geist aufgegeben.«
Sofort trat wieder dieser unglückliche Ausdruck in die Augen ihrer Mutter. »Das nicht auch noch«, sagte sie so traurig, als ginge die Welt unter. »Dann nimmst du eben meins für deinen Weg zur Arbeit, ich brauche es ohnehin nur ab und zu, um zum Supermarkt zu fahren.«
»Danke, Mama, aber die Verbindung zum Laden ist so gut, da kann ich ruhig mit der Bahn fahren«, lehnte Anne ab. »Also sollen wir morgen mit dem Zug fahren?«
»Damit wir erst am Abend ankommen? Du weißt doch, wie pünktlich die heutzutage sind«, schüttelte Mia den Kopf. »Kommt gar nicht infrage. Wir fahren ein andermal. Wir könnten ja wieder mal ein Picknick im Englischen Garten machen, was meinst du? Oder ein Frühstück an der Isar?«
»Nein, bitte kein Frühstück, ich möchte morgen lange ausschlafen. Ich komm um zwölf zu dir, und wir bummeln in den Park. Einverstanden?«
»Gern. Ich richte uns was Feines her, ein paar Früchte und einen kleinen Salat.«
Anne freute sich. Ihre Mutter wohnte nicht weit vom Englischen Garten entfernt. Auch ihre Wohnung verfügte über keinen Balkon, und so trafen sie sich gern im Park.
»Schön, das haben wir lange nicht gemacht«, sagte Mia, deren Heiterkeit wieder zurückgekehrt war angesichts eines Ausflugs mit ihrer Tochter.
»Also abgemacht.«
Anne überlegte sich, wie sie den Rest des Samstags verbringen könnten, denn sie wollte ihrer Mutter eine Freude machen. Kino am frühen Abend liebte Mia. Vielleicht lief ein netter Film. Am liebsten wäre sie ja wieder einmal nach Schönau gefahren, doch das lag leider zu weit entfernt und lohnte sich nicht für einen Sonntagsausflug. Wie schade! Dieser Ort war immer noch der schönste, ihr Paradies aus der Jugend. Wie lange sie schon nicht mehr dort gewesen war. Irgendwann würde sie mit ihrer Mutter ein verlängertes Wochenende nutzen, um den Ort und alte Freunde aufzusuchen, nahm sie sich vor.
Sie musste lächeln, als sie daran dachte, wie sie an dieses Geld gelangt waren. Es war gleich nach dem Tod ihres Stiefvaters gewesen und hatte ihnen einen Großteil der Sorgen abgenommen, wie es finanziell für Mia weitergehen sollte.
Es hatte gleichfalls mit einem Brief begonnen, den sie vom Notar aus der Schweiz erhalten hatten. »Es geht um Onkel Ludwig«, hatte sie ihrer Mutter erstaunt mitgeteilt. Es war ebenfalls an einem Wochenende gewesen und beinahe genauso heiß wie heute.
»So? Was hat er denn diesmal ausgefressen?«
»Nichts. Er ist gestorben.«
Mia, die gerade ein Stück Apfel in den Mund schieben wollte, legte den Bissen zurück auf den Teller. »Wann?«, fragte sie, und Anne erkannte, dass sie doch ein wenig blass geworden war.
»Vor vier Wochen«, antwortete Anne.
»Dieser … dieser Mensch! Jetzt gibt er uns nicht einmal Gelegenheit, sich anständig von ihm zu verabschieden«, sagte Mia mit heiserer Stimme.
Anne merkte, dass die Stimme ihrer Mutter zu versagen drohte, und fügte schnell hinzu: »Und er hat uns als seine Erben eingesetzt.«
Mia räusperte sich. »Als Erben seiner Schulden wahrscheinlich«, stellte sie fest, doch ihre Stimme klang immer noch wacklig.
Anne schüttelte ernsthaft den Kopf. »Nein, im Gegenteil. Lies selbst. Es geht um ein Barvermögen.«
Sie reichte ihrer Mutter den Brief. Mia öffnete einen weiteren Knopf ihrer Bluse und fächelte sich mit der Serviette Luft zu.
Liebe Mia, liebe Anne!
Ich bin, wie ihr wisst, kein Mann der großen Worte. Bei dir, liebe Mia, möchte ich mich endlich entschuldigen wegen damals. Ich weiß, dass du es mir nie verziehen hast. Aber ich hatte so große Spielschulden, und die Bande war mir auf den Fersen. Und du kennst ja Papa, wenn der rausgekriegt hätte, dass ich wieder mit dem Spiel angefangen hatte, hätte er mich grün und blau geschlagen. Da hab ich halt gelogen. Und es war eine meiner schlechtesten Lügen. Darum noch einmal: Bitte verzeih mir. Ich kann es nur damit entschuldigen, dass die Bande mich mehr als nur grün und blau geschlagen hätte. Darum bin ich auch gleich darauf abgehauen.
Dass ich doch noch die Kurve gekriegt hab, lag an einem väterlichen Freund, den ich hier in Luzern getroffen habe. Er hat vor Jahren mit Trödel angefangen und später ein recht ansehnliches Unternehmen aufgebaut, das er mir vermachte. Wir handelten mit billigem Zeug, das wir aus Konkursmassen kauften. Aber es hat sich gelohnt, und ich kam auf die Beine. Dieser Mann hat mir das Leben gerettet, sich um mich gekümmert, als es mir so dreckig ging, ich werde ihm das nie vergessen.
An euch geht jetzt also das, was vom Verkauf übrig geblieben ist. Viel ist es nicht mehr, denn meine Krebsbehandlung hat einen großen Teil geschluckt. Ich hatte nie eine Krankenversicherung, habe mir aber die beste Behandlung geleistet, ich wollte einfach nicht einsam zu Hause krepieren. Man gibt mir hier ausreichend Schmerzmittel, sodass das Sterben leichter fällt. Vielleicht ermöglicht euch die Barschaft dennoch, irgendeinem Traum ein wenig näher zu kommen, vor allem dir, liebe Anne. Wie du mir verraten hast, wäre es dein größter Wunsch, ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Das Geld soll dir den Weg bereiten, so wie es mir mein Freund damals ermöglicht hat.
Ich hoffe, dass du, liebe Mia, dich mit dem, was übrig geblieben ist, ein wenig verwöhnst. Ich wünsche euch alles Gute und viel Glück in eurem weiteren Leben. Behaltet mich bitte nicht in allzu schlechter Erinnerung. Darum bittet euch euer Ludwig.
Anne schluckte, und sie sah, dass ihre Mutter zu weinen begonnen hatte.
»Warum kann man sich oft erst im Tod verzeihen?«, fragte Mia, nachdem sie sich mit der Serviette über die Augen gewischt hatte. »Jetzt bereue ich es, dass ich mich nicht mit ihm ausgesprochen habe.«
»Es gibt so vieles, was man später bereut, wir sind doch alle nur Menschen. Ludwig hat dich ja auch nicht auf seinen Fehler angesprochen, an ihm hätte es doch zuerst gelegen«, versuchte Anne, sie zu trösten.
»Und du? Mit dem, was er dir hinterlassen hat, könntest du dich vielleicht tatsächlich endlich selbstständig machen«, sagte Mia und ergriff Annes Hand.
Anne bemerkte, dass die Hand ihrer Mutter trotz der Wärme ganz kalt war. »Ja, Mama, damit könnte ich es wirklich schaffen«, antwortete sie versonnen.
»Ach, Schatz, so beginnt etwas Neues. Ich bin guten Mutes, dass du glücklich sein wirst.« Die Stimme Mias klang ungewohnt lebendig, so, wie Anne sie von früher in Erinnerung hatte.
»Ich muss Gesine fragen, ob ich Urlaub nehmen kann«, nickte Anne und stand auf, um ihre Chefin anzurufen.
Keine zehn Minuten später sahen die beiden Frauen sich grinsend an. »Alsdann, Mama, Montag geht’s auf nach Luzern. Und angesichts unseres satten Erbes, das es hoffentlich ist, lade ich dich ein, noch eine Nacht in Luzern dranzuhängen. Gesine hätte nichts dagegen«, sagte sie vergnügt.
»Das ist so aufregend«, ihre Mutter schien aufgekratzt. »Und im Horoskop steht, du hast während des ganzen Jahres Glück mit Jupiter«, sagte sie im Brustton der Überzeugung.
Anne lachte sie aus, denn sie glaubte nicht an Horoskope. Nur an die guten, überlegte sie und klopfte dreimal auf Holz. Denn dass sie möglicherweise Schulden geerbt hatte, diesen Gedanken ließ Anne erst gar nicht zu.
Sie beschlossen, Montag gleich in der Früh loszufahren.
»Und weißt du, Mama, da wir anscheinend richtig Geld geerbt haben, mache ich endlich einmal wieder einen Besuch bei Evi. Ich hab sie so lange nicht gesehen. Und Eduard würde ich auch gern mal wieder besuchen. Es ist ewig her, dass wir uns getroffen haben, denn bei meinem letzten Besuch bei Evi war er in Italien bei seiner Freundin, der berühmten Violinistin«, sagte sie augenzwinkernd.
»Ja mei, der Eduard. Er hat dich geliebt wie eine Tochter«, bemerkte Mia versonnen. »Und den Peter, an dem hing er wie am eigenen Sohn. Ihr wart für ihn der Kinderersatz.«
»Und wir haben so viel bei ihm gelernt«, nickte Anne.
»Ja, die süßen Vögelchen, die er geschnitzt hat, ich hab sie heute noch alle aufbewahrt, auch deine ersten Versuche bei ihm.«
»Nun, so gut wie er bin ich leider nie geworden.«
»Oh, das finde ich schon. Stell dein Licht nicht so unter den Scheffel. Schade, dass du mit dem Schnitzen aufgehört hast.«
»Ja, leider. Aber weißt du, die Arbeit im Laden – da bin ich abends einfach zu müde.«
Sie hielt inne. Es war wirklich schade, dass sie ihr Hobby nicht mehr ausübte. Früher hatte es kaum einen Tag gegeben, an dem sie nicht in die Werkstatt von Eduard Sander gelaufen war, um ihm und Peter bei der Arbeit an den Geigen zuzuschauen. Und nebenbei hatte Eduard ihr das Schnitzen seiner wunderschönen Vögel beigebracht, die sie im Anschluss stets mit den passenden Farben bemalt hatte. Oft war ihr angeboten worden, sie ihr abzukaufen, doch sie hatte sich nie von einem getrennt, nur verschenkt hatte sie sie. Doch auch das war lange her.
Das alles lag nun schon länger zurück. Sie hatten Ludwig beerbt, und es hatte sich tatsächlich um eine stolze Summe gehandelt. Mia betrachtete sie als Zusatz zu ihrer Altersvorsorge, und Anne sah sich ihrem Traum von einem eigenen Laden einen gewaltigen Schritt näher.
Eduard Sander stützte beide Hände auf die Werkbank und stemmte sich von seinem Stuhl hoch. Eine Stunde hatte er auf seinem Schemel gesessen, und seine Knochen nahmen es ihm übel, dass er sie für ihre Begriffe viel zu lange nicht mehr bewegt hatte.
Zum Glück waren nur seine Beine ein wenig steif. Das galt nicht für seine Hände. Mit ihnen würde er noch so manche Geige restaurieren oder selbst bauen können. Er hängte seine Schürze aus Leder mit bedächtigen Bewegungen an den Haken neben der Tür, wie er es die letzten sechzig Jahre gehalten hatte. Mit vierzehn war er in die Lehre gegangen – bei seinem Vater, dem Geigenbauer, dessen geräumiges Haus, das Geigenhäusl, wie es allgemein in Schönau genannt wurde, er zum Schluss geerbt hatte. Die Violine, eine Guarneri, die er vom Holzwurm befreit hatte, war fertig für den Virtuosen, Viktor Scherrer, der sie ihm anvertraut hatte.
Eigentlich hatte er die Arbeit ablehnen wollen, weil ihm der Musiker, obwohl er ihn so viele Jahre kannte, immer unsympathischer wurde. Aber dann hatte er doch nicht widerstehen können, einmal wieder eine echte Guarneri in Händen zu halten, und nicht zuletzt hat diese Arbeit sein nicht unbeträchtliches Vermögen erneut um ein saftiges Sümmchen erhöht.
Und wieder schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit. Aurelia war eine gefeierte Violinistin gewesen, die als Solistin mit internationalen Orchestern weltweit konzertiert hatte. Eines Tages, als er sich schon einen europaweiten Kundenstamm aufgebaut hatte, brachte sie ihm ihre zwei Stradivaris zum Überholen. Sie und er waren einander von der ersten Stunde an verfallen – ungeachtet der Tatsache, dass sie verheiratet war. Ihr Mann, Paolo Conti, war auch ihr Manager. Ein feiner Mann, der mit der Situation, dass Aurelia Eduard mit der gleichen Intensität geliebt hatte wie ihn, generös umgegangen war – nachdem er sich von seinem Schock erholt hatte natürlich, denn auch er war nur ein Mensch, und Italiener obendrein. Als Aurelia nach kurzer schwerer Krankheit vor einem Jahr im Sterben gelegen hatte, hatte Paolo ihn, Eduard, nach Italien geholt, und gemeinsam hatten sie die letzten Stunden am Sterbebett Aurelias gesessen.
Er schaute auf den Reisewecker, ein Geschenk Aurelias nach ihrer letzten Welttournee, der auf der Fensterbank hinter seiner Werkbank stand. Gleich zwölf. Die Sonne schien voll durch das blitzblank geputzte Fenster seiner Werkstatt und ließ die feinen Staubkörnchen, die in der Luft schwirrten, leuchten. Auf saubere Fenster hatte er stets Wert gelegt – zur Freude von Hanni, seiner Putzfrau, Hauswirtschafterin und in gewisser Weise auch Freundin, der diese Arbeit Spaß machte. Schließlich wollte man die Aussicht auf den See, die Wälder und die Berge dahinter streifenfrei genießen, wenn man schon den ganzen Tag im Haus saß. Auf der Fensterbank waren sie alle versammelt, seine kleinen Vogerl aus Lindenholz und Weymouthskiefer, die zwei Hölzer, die er am liebsten verwendete. Sein Herz ging ihm wie immer bei ihrem Anblick auf. Ja, er hatte einfach den schönsten Beruf der Welt! Die Arbeit mit Holz war etwas, das ihn zutiefst befriedigte.
Er musste an die zwei jungen Menschen denken, die ihm die liebsten gewesen waren. Wenn er einmal nicht mehr war, würde Anne sich über seine geliebten Werkzeuge freuen. Sie hatte ein Händchen fürs Vogerl-Schnitzen und recht schnell gelernt, die kleinen Tierchen nachzuarbeiten, wobei ihr ihr gutes Auge und die Liebe zur Natur natürlich eine große Hilfe waren.
Er nahm den Koffer für die Violine des Künstlers und legte sie vorsichtig hinein. Eine feine Arbeit von diesem Guarneri. Unzählige Kopien hatte er in den letzten Jahrzehnten gefertigt, die ihm handwerklich das Äußerste abverlangt hatten. Er wüsste da schon jemanden, der in seine Fußstapfen treten würde, denn er war sich ziemlich sicher, dass Peter irgendwann bereit war, wieder hier in Schönau seiner Berufung, dem Geigenbau, nachzugehen, da war sich Eduard ganz sicher.
Der Fußboden knarrte vertraut, als er zum anderen Ende der Werkstatt ging und die wertvolle Geige in den Schrank schloss. Im Gegensatz zu den Fenstern war er hier mit der Reinlichkeit nicht so pingelig gewesen und hatte Hanni manches Mal wieder hinausbefördert – mit Worten natürlich, denn ihre Kraft überstieg bei Weitem die seine.
Er verließ die Werkstatt, die er ebenfalls abschloss, seit er mit den wertvollen Geigen arbeitete, und überquerte den Flur, schlurfte durch sein heimeliges Wohnzimmer, das recht großzügig geschnitten war, und betrat die Küche, in der er seit Jahrzehnten nichts verändert hatte. Sie war zwar nicht ganz so groß wie das Wohnzimmer, aber sie war schön. Und sie war praktisch, weil in ihr alles sorgfältig geordnet war. Er brauchte nicht die neumodischen Fertigmodelle. Sein Buffet, sein Arbeitstisch, seine riesige Spüle und der große Schrank, in dem sich das Porzellan befand, das die Familie seit Generationen benutzte, reichten ihm. Dazu oberhalb das Holzbrett, auf dem die alten Modeln und Schüsseln bereitstanden.
Er füllte den elektrischen Wasserkocher und gab Kaffee in den Filter. Anne und Peter musste er unbedingt einmal herbitten. Peter arbeitete in der Nähe, in Mittenwald, er kam öfter vorbei. Anne allerdings hatte er seit über einem Jahr nicht gesehen. Die wollte er unbedingt anrufen. Dann fiel ihm ein, dass er ihre Telefonnummer verloren hatte, genauer war ihm das Telefonbücherl ins Spülwasser gefallen, als er es nur ein wenig hatte abwischen wollen, und auch Annes Nummer war unleserlich geworden. Aber dabei konnte Peter ihm sicherlich helfen. Wenn nicht er, dann sicher Hanni, die das halbe Dorf kannte. Oder Annes Freundin, die Evi. Der Schatz, den er ihnen überlassen würde, wäre bei ihnen gut aufgehoben. Er liebte diese beiden jungen Leute, als wären sie seine eigenen Kinder. Eduard war mittlerweile vierundsiebzig, und auch, wenn er sein Ende noch nicht fühlte, so sollte man sie in seinem Alter langsam in seine Pläne einweihen.
Mein Gott, wie oft hatte er die Stradivari wohl in den Händen gehalten, seitdem Aurelia sie ihm geschenkt hatte. Er spielte immer noch gern auf ihr. Auch Peter hatte oft auf ihr gespielt – ohne allerdings zu wissen, was er wirklich in Händen hielt. Als er damals den Geigenzettel entdeckte und fragte, ob es sich tatsächlich um eine echte Strad handele, wie die Stradivari unter Kennern manchmal genannt wurde, hatte Eduard verneint und ihm vorgelogen, dass es eine – wenn auch perfekte – Fälschung sei. Als Peter daraufhin vorschlug, sie der Expertenkammer des Geigenbauerverbandes zur Überprüfung zu geben, hatte er schwer kämpfen müssen, ihn davon abzubringen. Er wusste selbst zu gut, dass es sich um eine echte Strad handelte. Genauer um die gestohlene Oistrach Stradivarius, die 1671 gebaut wurde und vor Jahren als gestohlen gemeldet worden war. Seine Aurelia war im Besitz dieser Geige gewesen und hatte sie ihm vermacht. Er hatte das gute Stück sogleich erkannt, es jedoch nie übers Herz gebracht, ihren Ehemann Paolo danach zu fragen, wie sie in ihren Besitz gelangt war. Er wäre möglicherweise Gefahr gelaufen, sich von dem Stück trennen zu müssen, und von einem Geschenk Aurelias trennte er sich nicht, erst recht nicht, wenn dieses Geschenk sie unter Umständen in einem schlechten Licht erscheinen ließe.
In Gedanken versunken, schaltete er das Radio ein und lauschte den Klängen des Klassiksenders. Gleich würde Alois eintreffen. Er dachte zwar noch nicht ans Sterben, denn er fühlte sich noch recht gesund, doch wenn man die Siebzig einmal überschritten hatte, war es an der Zeit, seine Angelegenheiten zu regeln. Sein Testament hatte er bereits mit sechzig verfasst. Bei Alois wäre das Wissen um das Versteck zwar sicher – dieser bisher geheim gehaltene Ort, der neben der Strad auch sein Testament und das satte Vermögen, das er sich im Laufe seines arbeitsreichen und bescheidenen Lebens angespart hatte, beherbergte. Aber vielleicht war es doch besser, diese Werte ausnahmsweise einer Bank anzuvertrauen. Wobei sich sein Vertrauen in Banken nicht nur in Grenzen hielt, sondern nicht vorhanden war. Aber sollte ihm etwas passieren – oder dem Haus –, wüsste niemand über das Versteck Bescheid. Und das wäre wirklich eine Katastrophe.
Ja, er wollte rasch in den Keller gehen und die Sachen sogleich heraufholen. Sollte Alois die Strad und das Geld mitsamt dem Testament doch endlich in die vermaledeite Bank bringen. Er selbst würde sich nicht dorthin begeben. Diese Stätte hatte er stets gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Und seine Angewohnheiten änderte man nicht im Alter.
Alois hatte natürlich keine Ahnung, dass Eduard ein sattes Vermögen angehäuft hatte. Ihm würde wahrscheinlich vor Aufregung das Herz stehen bleiben, wenn er ihm davon erzählte. Und außerdem, das fiel ihm gerade erst ein, könnte er ihm bereits jetzt ein wenig von dem Geld schenken, denn Alois ging es finanziell nicht sehr gut.
Froh über diesen guten Einfall, öffnete er die Kellertür und schaltete das Licht ein.
In diesem Moment geschah es. Er bekam es ja gar nicht mehr mit, dass dies sein letzter Gedanke sein sollte. Der Schwindel überfiel ihn derart unverhofft, dass er nicht einmal Gelegenheit hatte, sich am Geländer festzuhalten. Er stürzte und rumpelte eine Schrecksekunde später die steile Treppe hinunter. Als er unten ankam, spürte er gar nichts mehr.
Wie rasch sich Annes Leben tatsächlich verändern würde, das erfuhr sie von Gesine, als sie am Montag wieder bei der Arbeit erschien.
»Ich hab mich entschieden, noch diesen Monat alles aufzulösen. Ich denke, ein rascher Schlussstrich ist für uns beide das Beste«, sagte diese mit Tränen in den Augen.
Anne hatte Mühe, ihre eigenen Tränen zurückzuhalten. Spontan umarmte sie die Ältere. »Wir haben schöne Zeiten zusammen gehabt, dafür bin ich dankbar«, erwiderte sie mit belegter Stimme. »Und du hast recht, so schnell wie möglich aufzuhören, ehe dieser Spekulant dir den letzten Cent aus der Tasche zieht.«
»Ich wusste, dass du mich verstehen würdest«, nickte Gesine, fuhr sich dann energisch über die Augen und straffte den Rücken. »Ich werde sehen, dass ich die Ladeneinrichtung noch gut verkaufe.«
»Das Geld könntest du jetzt sicher gut gebrauchen«, seufzte Anne. Sie hatten immer vorgehabt, dass sie die Einrichtung von Gesine übernehmen würde, doch dazu war es nun ja nicht gekommen. »Aber weißt du, ich kann mir einen Laden in München einfach nicht leisten.«
Gesine hob die Hand und sagte gewohnt energisch: »Keine Trauer, Anne. Es kommt, wie es kommt. Ich habe wundervolle Jahre hier verbracht. Und nun ist Schluss. Mir tut es um dich leid, denn du hättest das Geschäft in meinem Sinne weitergeführt, da bin ich sicher.«
»Freilich«, stimmte Anne zu.
»Vor allem wird mir bang vor den langen Tagen, die bald vor mir liegen«, fuhr Gesine leise fort. »Zum Glück habe ich immer darauf geachtet, dass ich für mein Alter spare, sodass der finanzielle Einschnitt nicht so schlimm ist.«
Anne sagte nichts darauf, denn sie musste an ihre Mutter denken. »Du wirst etwas finden«, sagte sie betont munter. »Ich kenn dich doch, irgendetwas wird dir sicher einfallen.«
»Ja, das hoffe ich auch.« Gesine klatschte in die Hände. »Doch bevor wir dichtmachen, bitten wir unsere Stammkunden noch zu einem kleinen Umtrunk, damit ich mich bei ihnen bedanken kann.«
Und so hielten sie es auch. Eine ganze Woche lang ließen sie das Geschäft noch geöffnet, um sich von ihren Stammkunden zu verabschieden, und als die Woche vorüber war, fiel es ihnen beiden leichter, endgültig diesen Lebensabschnitt zu beenden.
Anne steckte mittendrin in der traurigen Arbeit, das Geschäft aufzulösen, als sie einen Anruf aus Schönau erhielt. Ihre Freundin Evi teilte ihr mit, dass ein alter Gefährte aus ihrer Jugend nicht mehr lebte. Der Geigenbauer Eduard Sander war tot, er war auf der Kellertreppe ausgerutscht und hatte sich dabei das Genick gebrochen. Sein Neffe Alois hatte ihn gefunden, leider zu spät. Der Sturz musste keine Stunde vor seinem Eintreffen passiert sein, wie der Arzt bestätigte.
Anne traf der Tod des Mannes hart. Bei ihm hatte sie so viele Stunden verbracht, die mit zu ihren schönsten gehörten.
»Natürlich komme ich Freitag zu der Beerdigung, das ist doch ganz klar«, sagte sie zu Evi. Gesine würde Verständnis dafür aufbringen, dass sie dem Mann, den sie geliebt hatte wie einen Großvater, die letzte Ehre erweisen wollte. Und sie würde das Wochenende bei Evi verbringen. So hatte ihre Mutter, die sie natürlich begleiten würde, Gelegenheit, alte Bekannte aufzusuchen und ein wenig Abwechslung in ihren Alltag zu bringen.
Doch wieder wurden ihre Pläne durchkreuzt. Gesine hatte dummerweise zugestimmt, das Lokal bis zum Monatsende zu räumen. Das war schon schlimm genug, wie sie feststellen mussten. Doch gerade, als Anne sie fragen wollte, ob sie das Wochenende frei nehmen könne für die Beerdigung, fiel Gesine so unglücklich von der Leiter, dass sie sich das Bein brach. So blieb die ganze Arbeit an Anne hängen. Mit dem neuen Eigentümer war nicht zu reden, sie hatten die Räume bis Sonntagabend frisch gestrichen und ohne jeglichen Müll, wie er sich ausdrückte, zu übergeben. Auch wenn Anne einige Freunde zu Hilfe kamen, so konnte sie doch nicht fort. Sie befand sich in einer fürchterlichen Zwickmühle. Doch dann siegte ihre Freundschaft zu Gesine, und sie entschied, nicht zu der Beerdigung von Eduard zu fahren.
Am Samstagabend, einen Tag nach der Beerdigung, erhielt sie einen Anruf von Evi. Das Geigenhäusl sollte vom einzig existierenden Erben, dem Alois Sander, verkauft werden. »Und da du deinen eigenen Laden aufmachen möchtest, wäre das doch die Gelegenheit für dich!« Evi rief dermaßen laut ins Telefon, dass Anne sich den Hörer vom Ohr hielt. »Wenn etwas für deinen Laden geeignet ist, dann das Geigenhäusl. Und bei deiner Erbschaft wäre das doch die Gelegenheit!«
Anne brachte im ersten Moment keinen Ton hervor. Das Geigenhäusl war schlichtweg ein Traum. Ein riesengroßes Haus, zwar renovierungsbedürftig, doch ein Schatzkästchen für jemanden, der alte Gemäuer liebte.
»Also, was sagst du?«, schrie Evi immer noch begeistert in den Hörer.
»Wann, sagtest du, soll der Verkauf stattfinden?«
»So schnell es geht. Möglichst noch in der nächsten Woche. Der Alois steckt bis zum Hals in Schulden, heißt es.«
Anne brummte der Schädel. Alles ging so rasch. Sie, die immer erst ein wenig Zeit benötigte, ehe sie etwas Neues in Angriff nahm, wurde mittlerweile von den Ereignissen beinahe überrollt. Aber Evi hatte schon recht: Dies wäre eine einzigartige Gelegenheit, ihrem Traum vom eigenen Geschäft ein wenig näher zu kommen – wenn denn ihr Geld reichte. Sie hatte ja keine Ahnung, mit welcher Summe sie bei einem so alten Haus zu rechnen hatte. »Ich komme. Auf jeden Fall«, entschied sie mit heiserer Stimme. »Hast du zufällig die Telefonnummer vom Alois?«
»Logisch, ich denke doch mit«, lachte Evi. Dann gab sie die Nummer durch. »Und wohnen wirst natürlich bei uns«, bestimmte sie dann. »Ich habe sturmfreie Bude.«
Sie sprachen noch eine ganze Weile, dann beendete Anne mit einem leichten Druck im Kopf das Gespräch.
Sollte es das hier sein? Sollte es sich hierbei tatsächlich um die einzigartige Chance handeln, sich ihren Traum zu verwirklichen? Dazu noch in ihrem Schönau? Dass sie nun möglicherweise München, und somit auch ihrer Mutter und einigen wenigen guten Freunden, den Rücken kehren würde, dieser Gedanke fiel ihr natürlich nicht leicht.
»Ach, denk doch nicht immer nur an mich«, schimpfte Mia am Telefon, nachdem Anne sie von der Versteigerung unterrichtet hatte. »Es scheint doch grad, als hätte der liebe Gott es so verfügt«, murmelte sie, die sich nach der Erbschaft richtig gut erholt hatte. »Wenn ich mich auch an den Gedanken, dass du von München fortziehen könntest, noch gewöhnen muss.«
»Warten wir es ab, Mama. Noch ist ja nichts geschehen. Und außerdem haben wir doch schon besprochen, dass du so schnell wie möglich nachkommen wirst, sollte alles so eintreffen, wie wir uns das wünschen.«
»Was natürlich bedeutet, dass ich meinen Näh-Salon auch aufgeben müsste«, gab Mia zu bedenken.
»Schon, aber auch für dich würde sich in Schönau sicher eine Möglichkeit für einen Neuanfang bieten«, erwiderte Anne. »Abgesehen davon, dass du immer davon geträumt hast, mit sechzig nicht mehr für andere nähen zu müssen.«
»Was im nächsten Jahr der Fall wäre. Aber ehrlich, das kann ich mir gleich gar nicht vorstellen, dann würde ich auf der Stelle eingehen wie eine Primel.«
»Keine Sorge, ich meine, dass in Schönau nicht eine einzige Änderungsschneiderei existiert«, fabulierte Anne ins Blaue hinein, um ihrer Mutter Mut zu machen. »Von einem Näh-Salon wie dem deinen ganz zu schweigen«, fügte sie schmeichelnd hinzu.
In der Tat war das Zimmerchen, das ihre Mutter großzügig als »Salon« beschrieb, eine Schuhschachtel, wenn auch eine urgemütliche. In den Regalen stapelten sich die schönsten Stoffe, und die Nähseiden waren so kunstvoll an der Wand sortiert, dass man sich an den Farben nicht sattsehen konnte. Entsprechend gern und lang hielten sich die Kunden in dem Raum auf. Vor allem dann, wenn Mia, eine echte Menschenfreundin, gesegnet mit einer Diplomatie, um die sie jeder Politiker nur beneiden konnte, im hinteren Kabuff – anders konnte man die fensterlose Ecke nicht nennen – einen Kaffee oder Tee zubereitete oder in der Hitze des Sommers freigiebig kühles Mineralwasser ausschenkte.
»Ich hab das Gefühl, dass es jetzt nur noch bergauf gehen kann«, machte Anne ihrer Mutter Mut.
»Dein Wort in Gottes Ohr. Und sollte es mit deinem Geld nicht reichen für das Geigenhäusl, dann werde ich dir helfen!«, bestimmte sie.
»Das kommt überhaupt nicht infrage«, widersprach Anne vehement. So weit kam es noch, dass sie die Altersvorsorge ihrer Mutter aufs Spiel setzte!
Es war kurz nach zwölf Uhr mittags, ein Sommertag Anfang August, so heiß wie jene, die sie in den vergangenen Wochen erlebt hatten, als Anne aus der Regionalbahn stieg, welche sie von München nach Schönau gebracht hatte. Evi hatte ihr zwar angeboten, sie von ihrer Münchener Wohnung abzuholen, aber Anne hatte ihr Angebot großherzig ausgeschlagen, denn sie reiste mit leichtem Gepäck. Sie wusste, dass die Freundin mit den zwei Kindern, dem Haushalt und den Gästen in der Pension genug Arbeit hatte. Allerdings hatte sie diese Entscheidung in den letzten Stunden mehr als einmal bedauert, zum einen wegen der halbstündigen Verspätung, die der Zug gehabt hatte, und zum anderen dank der ausgefallenen Klimaanlage, eine Kalamität, die dem Reisenden während der folgenden zwei Stunden die Fahrt so gemütlich gestaltete wie einem Hühnchen das Brodeln im Topf, bei dem es sich nicht einmal um einen Schnellkochtopf handelte.
Mit einem erleichterten Seufzer ergriff sie ihre Reisetasche mit dem hübschen Pariser Gobelinmuster sowie den kleinen Koffer und stieg aus dem Zug. Die federleichte Bluse klebte ihr am Körper, ebenso wie der Sommerrock. Dankbar hielt sie das Gesicht der Brise entgegen, die von Süden ihre Wangen streichelte, was zwar keine Abkühlung, jedoch eine entfernte Ahnung davon vermittelte. Sie war froh, dass sie sich endlich von ihren langen Haaren getrennt hatte. Die Frisörin hatte sie davon überzeugen können, dass ein modischer Kurzhaarschnitt viel besser zu ihrem feinen, glatten Haar und vor allem zu ihrem zarten Gesicht passen würde. Nun genoss sie jeden Windhauch, sie benötigte ja nur ihre zehn Finger, um aus dem Gewusel auf ihrem Kopf wieder eine Frisur zu zaubern. Vor allem der neue Pony gefiel ihr, der ihre hellen Augen vorteilhaft betonte.
Voller Vorfreude auf die Freundin und die Abenteuer, die sich ihr möglicherweise bieten würden, machte sie sich mit dem Gepäck in der Hand auf den Weg. Nichts konnte ihre gute Laune verderben, als sie schließlich die wenigen Schritte zur Hauptstraße antrat, um im Haus ihrer Freundin die nächsten Tage zu verbringen.
Lächelnd nahm sie die Bilder auf, die der geschäftige Ort ihrem Auge bot. Wie schön das Dorf immer noch war. Genauer die Kleinstadt, zu der es sich mittlerweile gemausert hatte, verbesserte sie sich lächelnd. Denn natürlich waren während der vergangenen Jahre am Rande Schönaus neue Häuser entstanden, doch auch deren moderne Schlichtheit vermochte nicht die heimelige Schönheit zu mindern, die dieser alte Ortskern ausstrahlte. Die behäbigen Häuser mit ihren Grundmauern aus grauem Stein und dem braunschwarz gebrannten, Jahrhunderte alten Holz, deren rings umlaufende Balkonbrüstungen durch die Pracht der Geranien beinahe verdeckt wurden, die üppigen Bauerngärten der Höfe, die sich entlang bunter Wiesen verteilten – all das verzauberte immer noch ihr Herz.
Wie geborgen sie sich im Schutz der Höhen ringsum fühlte. Wie ihre Seele auflebte, wenn sich die Sonnenstrahlen im See spiegelten, dass man unwillkürlich die Augen schloss. Alles schien noch genauso wie am ersten Tag, als sie mit sechs Jahren als Halbwaise mit ihrer Mutter nach Schönau gekommen war, um hier den ersten Urlaub nach dem Tod des Vaters zu verbringen. Dass ihre Mutter zwei Jahre nach diesem Schicksalsschlag hier ihren Stiefvater kennen und lieben gelernt hatte, das war einer der Glücksfälle ihres Lebens. Häufig hatte Anne sich in den vergangenen Jahren in München nach diesem Ort gesehnt, vor allem vor fast einem Jahr, als sich ihr Freund von ihr getrennt hatte und sie eine Einsamkeit und Melancholie erfüllt hatten, denen sie nur langsam Herr wurde.
Sie hatte schon in jungen Jahren den Verlust des Vaters ertragen müssen, womit sie nur schwer fertiggeworden war. Erst durch das feinfühlige Annähern ihres Stiefvaters, der sie später adoptierte, hatte sie nach und nach wieder Lebensfreude empfunden.
Sie schüttelte leicht den Kopf und verscheuchte die Rückblende in ihre Jugend, denn heute war ein Sonnentag. Sie schritt voller Elan voran, erfüllt von neuen Plänen. Alles würde gut! Es war Hochsaison, und zahlreiche Gäste belebten den Ort. Gut für Schönau und seine Bewohner, befand sie zufrieden. Sie wusste nicht, was sie mehr liebte, dieses bunte Treiben der sonnenhungrigen Gäste im Sommer und ihre ausgelassene Heiterkeit während frostiger Wintertage, wenn sie in ihren wuchtigen Skistiefeln durch den Ort stapften, oder die stilleren Tage im Spätherbst und im Vorfrühling, wenn nur wenige Wanderer die Farben der Natur genossen. Oder war es jene geheimnisvolle, die stade Zeit vor Weihnachten? Dann, wenn die Einheimischen fast unter sich waren? Wie oft war sie früher spätabends zu einem kleinen Spaziergang aufgebrochen, um sich von dem Schneetreiben verzaubern zu lassen, welches die Romantik des Ortes noch unterstrich! Am liebsten hatte sie das allein getan, sehr zum Missfallen ihrer Mutter, die nicht verstand, was ein junges Mädchen, das sich ohnehin viel zu oft hinter dicken Büchern verschanzte, dazu veranlasste, abends mutterseelenallein durch menschenleere Gassen zu streifen. Es waren die Träume gewesen, denen sie während dieser wenigen kostbaren Stunden nachgehangen hatte. Träume wie diese von ihrem eigenen Geschäft.
Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, sie liebte jede Jahreszeit. Und nirgendwo waren die Unterschiede so ausgeprägt wie gerade hier auf dem Land, in den Bergen, die sie so liebte.
Sie bog von der Bahnhofstraße nach links auf die Hauptstraße ein, und sofort erreichten vielstimmige Geräusche ihr Ohr, Gesprächsfetzen, Lachen, Kindergeschrei. Am liebsten hätte sie ihr Gepäck fallen lassen und sich auch an einen der Tische gesetzt, die die Straße vor dem Eis-Café oder der Bräustube, einem der ältesten Dorf-Gasthäuser, säumten, unter einen der bunten Sonnenschirme, doch sie wusste, dass Evi bereits auf sie wartete. Gleich hinter der Touristeninformation bog sie von der belebten Hauptstraße ein in die ruhige Seitenstraße, in der die gemütliche Pension von Evi und Ferdinand lag.
Evi, die es nicht schaffte, den Tag einmal still im Sessel zu verbringen – teils, weil die vielfältigen Anforderungen ihres Alltags es verlangten, teils, weil sie keine innere Ruhe dazu hatte –, ließ die Harke fallen, mit der sie den Kiesweg rings ums Haus ausbesserte, und eilte durch das Tor mit weit geöffneten Armen auf sie zu. Ihre rosigen Wangen und die hellen Augen leuchteten noch mehr als sonst. Ihre Locken hatte sie unter einem bunten Baumwolltuch zurückgebunden. Nicht die Spur von künstlichem Rot lag auf ihren Lippen, und Anne wusste, dass Evi noch nie in ihrem Leben Wimperntusche benutzt hatte. In der Tat benötigte ihre natürliche Schönheit nichts von den Hilfsmitteln, zu denen Anne manchmal griff, um etwas Farbe in ihr blasses Gesicht zu zaubern.
Anne stellte Tasche und Koffer auf den penibel gekehrten Gehweg und fiel ihrer Freundin in die Arme. Wie schön, dass Evi sich jeglicher Diät verweigerte und ihre weibliche Figur sich weich an jeden schmiegte, dem sie es erlaubte. Im Gegensatz zu Evi konnte Anne essen, was sie wollte, ihre Figur würde nie die Kurven der Freundin aufweisen.
»Dass du endlich da bist!«, rief Evi lebhaft. »Ich hätte dich ja längst abgeholt und hab im Internet nachgeschaut, ob dein Zug pünktlich ist. Aber da stand, dass er ausgefallen sei, und wann der nächste kommen sollte, das blieb uns verschlossen.«
»Vergiss es. Das Wunderbare daran, dass die Züge sich stur jedem Fahrplan entziehen, ist, dass du dich nie wieder abhetzt, um deinen zu erreichen«, erwiderte Anne lachend. »Sie kommen, wann sie wollen, und nicht, wenn du sie erwartest, was das Leben erstaunlich vereinfachen kann, sag ich dir. Man wird so ruhig. Nur wenn im Herbst Blätter auf den Gleisen liegen, gehst du lieber zu Fuß, denn solche Hindernisse sind scheinbar unüberwindbar für die heutigen Wunderwerke der Technik, und so treten sie die Fahrt erst gar nicht mehr an.«
Sie gab ihrer Freundin, die mit ihren neunundzwanzig Jahren noch das gleiche lebhafte Temperament der Siebzehnjährigen besaß, die mit ihr kichernd über die Jungen in ihrem Dorf hergezogen war, einen herzhaften Kuss auf die Wange, die sich weich und rund wie Marzipan anfühlte. »Ach, ist das schön, wieder daheim zu sein.«
»Und das Wetter ist so, dass man gar nie mehr aus dem Sessel im Schatten aufstehen will.«
»Das musst grad du sagen, die es nicht auch nur fünf Minuten im Sitzen aushält«, neckte Anne sie.
»Doch, heute hab ich mir frei genommen. Zur Feier des Tages, weil du hier bist. Wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Aber jetzt komm erst einmal herein. Ich hab unser schönstes Zimmer mit Klauen und Zähnen verteidigt und für dich frei gehalten. Unser Stammgast aus Düsseldorf hat zwar anfangs geweint, aber da kenn ich kein Pardon. Du als meine Freundin kommst zuerst.« Mit diesen Worten betrat sie das Haus, das Anne bei den dreißig Grad, die draußen herrschten, wie eine Oase vorkam.
»Hat er das denn so einfach hingenommen?«
»Und ob. Ich hab ihm unser Jagdzimmer gegeben, weißt du, das mit der Toilette und dem Bad im Flur. Er genießt ja immer die Einfachheit und Originalität von uns Bayern, wie er sich auszudrücken beliebt«, entgegnete Evi grinsend. »Er konnte sein Glück kaum fassen, als er in dem altersschwachen Bett versunken ist. Aber abgesehen von seinem leichten Snobismus, den er manchmal zu Beginn seines Urlaubs an den Tag legt, ist er ein lieber Gast, wir kennen uns seit über zwanzig Jahren und mögen ihn sehr. Jetzt, nachdem seine Frau gestorben ist, kommt er öfter mit seinen Kindern, die wiederum eigene Familien gegründet haben und die sich bei uns genauso wohlfühlen wie ihre Eltern.«
Leichtfüßig schritt Evi voran in den ersten Stock und öffnete die Tür zum Zimmer, das ganz am Ende des lang gestreckten Flures lag. Es war das größte, das das Haus zu bieten hatte, und wies zur Freude Annes zum schattigen Garten.
»So, hereinspaziert, hereinspaziert«, trällerte Evi. »Man beachte unser neues Designer-Bad, das so viel gekostet hat wie drei Kreuzfahrten über den Atlantik auf einmal.« Damit öffnete sie schwungvoll die Tür zum Nebenraum und hob die Hand. »Nicht, dass ich je eine antreten würde, nachdem ich erfahren musste, dass es Kapitäne geben soll, die in der Not als Erste das Schiff verlassen«, fügte sie stirnrunzelnd hinzu.
»Oh«, rief Anne begeistert. »Das ist ja wunderschön!«
»Ganz meine Meinung«, erwiderte Evi fröhlich. »In den nächsten Jahren kommen so nach und nach die anderen Zimmer dran.«
»Dass du mich hier einquartierst, das kann ich kaum annehmen«, sagte Anne.
»Wer zum ersten Mal seit zig Monaten endlich einmal wieder mein Gast ist, bekommt nur das Beste. Und du sowieso.«
»Ach, Evi, ich freu mich wahnsinnig. Ich hoffe, dass wir uns jetzt so oft sehen können, wie wir wollen«, seufzte Anne, legte Evi den Arm um die Schultern und trat lächelnd mit ihr auf den Balkon, auf dem man spielend eine Fußballmannschaft hätte trainieren lassen können.
»Und die Möbel sind auch neu. Wie geschmackvoll du alles hergerichtet hast. Ich bin wirklich begeistert.«
»Ja, in den letzten Jahren lief es bei uns ganz gut. Ferdinand muss in der Brotfabrik keine Nachtschicht mehr einlegen, seit er zum Ausbilder aufgestiegen ist. Die Brotfabrik hat expandiert, sein Job ist also sicher.«
Sie klopfte dreimal auf Holz. »Und die Gäste lassen uns auch nicht im Stich. Ich kann sagen, dass wir im Hochsommer und im Winter immer volles Haus haben.«
»Das hör ich gern«, sagte Anne warm. »Und wie geht’s den Buben? Wo stecken sie eigentlich? Wahrscheinlich sind sie baden im See, hab ich recht?«
»Wahrscheinlich«, nickte Evi. »Es sind ja Ferien, und da sind die beiden wie jedes Jahr im Sommer zwei Wochen bei Franzi und Hans. Dort dürfen sie wieder ein riesiges Bild an einer echten Staffelei bemalen und werden mit Schoko und Pizza bis zum Abwinken verwöhnt«, lächelte sie. »Am Sonntagabend kommen sie nach Hause gerollt, denn wie ich meine Schwägerin kenne, hat sie sie wieder nach Strich und Faden gemästet. Aber da hier bei uns eh andere Saiten aufgezogen werden, gönn ich es ihnen von Herzen. Und Franzi genießt es ohnehin.«
Franzi war ihre kinderlose Schwägerin. Sie und ihr Lebensgefährte Hans, die oberhalb des Ortes in einem achteckigen Holzhaus lebten und über ein Grundstück verfügten, das jedem Spekulanten Tränen der Gier in die Augen trieb, konnten dank ihrer Bescheidenheit recht gut von ihrer Malerei leben, der sie beide sich leidenschaftlich hingaben. Es war Kitsch, wie Franzi beteuerte, doch nicht nur Evi und Anne liebten die naturalistischen Bilder, die zumeist ihre Heimat darstellten, wie Hans sie bevorzugte, oder die berauschende Blumenpracht ihres Gartens zeigte, die vor allem Franzi verewigte. Das Beste jedoch war, dass sie die Jungen vergötterten, den achtjährigen Tobias und den neunjährigen Andreas. Zwei Wochen im Sommer und eine im Winter verbrachten die beiden Buben, die die Locken, die sanften Augen ihrer Mutter und deren heiteres Naturell geerbt hatten, bei den beiden Lebenskünstlern, die so anders als ihre Eltern lebten. Im Sommer nächtigten sie draußen im Wohnwagen, in dem die Tante und der Onkel zu Beginn ihrer Liebe drei Jahre lang kreuz und quer durch Europa gezogen waren – anfangs zumeist gemeinsam mit Hans, später, am Ende der Ferien, auch allein. Und obwohl oder gerade weil die Kinder sie vergötterten, hatten Franzi und Evi, für die Eifersucht ein Fremdwort war, ein wunderbares Verhältnis zueinander. Eine weitere Woche im Sommer und eine kurz vor Weihnachten verbrachten sie bei Evis Eltern, die im Nachbarort lebten, während Evi und Ferdinand gemeinsam mit dem Vater in Ferdinands Elternhaus wohnten.
Evi strahlte Anne an: »Du siehst, ich hab echt Ferien. Das Frühstück mach ich morgens mit links, dann schnell durch die Zimmer gewienert, und dann hab ich frei, bis Ferdl am Abend heimkommt.«
»Nix da. Gewienert wird gemeinsam, und das Frühstück bereite ich morgens vor, damit du endlich einmal ausschlafen kannst«, bestimmte Anne energisch.
»Und wenn du jetzt glaubst, dass ich dir da widerspreche, dann hast du dich geschnitten«, grinste Evi.
Sie betraten das geräumige Gästezimmer, das in sanftes Licht getaucht war dank der zugezogenen Gardinen aus leichtem Voile, die Evi alle selbst genäht hatte.
»Magst dich ein wenig frisch machen?«, fragte sie. »Essen gibt’s um eins. Ich hab eine kalte Kartoffel-Lauch-Suppe vorgesehen. Ich denk, was Heißes braucht’s nicht in der Gluthitze.«
»Gute Idee. Ich nehme derweil eine kalte Dusche in deinem wunderschönen neuen Bad«, seufzte Anne.
»Tu das. Ich werd nur rasch meinen Kiesweg zu Ende harken. Die Suppe muss ich ja nur aus dem Kühlschrank holen. Willst du drinnen essen, oder soll ich draußen decken?«
»Gern im Garten.«
»Also dann, bis gleich«, verabschiedete Evi sich.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sank Anne auf das Bett mit der himmlischen Matratze, die dank der zusätzlichen Auflage so dick war, dass man darauf thronte wie auf einer altertümlichen Bettstatt, von der sie nie mehr aufstehen würde. Jedenfalls nicht, nachdem sie sich eine Eisdusche gegönnt hatte und bevor Evi zum Essen rufen würde. Bei dem Gedanken an die Eisdusche musste sie an die Eisdiele auf der Hauptstraße denken. Sie beschloss, noch vor dem Essen rasch hinüberzulaufen und für sich und Evi den Nachtisch zu besorgen.
Sie stand auf, zog sich aus und ging in das Bad, dessen Schlichtheit an eine Klosterzelle erinnerte und das sie sich, so schwor sich Anne, bis aufs Kleinste würde nachbauen lassen, als Allererstes, noch bevor womöglich das Dach ihres zukünftigen neuen Reiches würde repariert werden müssen. Oder ein Fenster in dem Geigenkastl, ein paar Schritte die Hauptstraße entlang, das sie, Anne Klausen, neunundzwanzig Jahre alt, kinderlos, morgen zu kaufen gedachte, ihrer Freundin und ihrem Onkel sei Dank.
Noch heute bedauerte sie es zutiefst, dass ihre Arbeit und die Umstände es ihr nicht erlaubt hatten, an dessen Beerdigung teilzunehmen, und es tat ihr schrecklich leid, dass sie Eduard Sander so lange nicht gesehen hatte. Nun war es zu spät.
Anne hatte noch am gleichen Tag, als sie von Evi vom geplanten Verkauf des Geigenkastls gehört hatte, Alois angerufen. Er hatte einen Preisvorschlag gemacht, der ihr Herz hatte höher schlagen lassen, da er so ziemlich der von ihr geerbten Summe entsprach. Sogleich hatten sie einen Termin ausgemacht, wann der Verkauf vonstatten gehen sollte, und so war die Sache beinahe über Nacht in Gang gekommen. Am Abend wollte sie auf jeden Fall den Friedhof und das Grab von Eduard Sander aufsuchen.
Mit diesem beruhigenden Gedanken genoss sie den kühlen Wasserstrahl, der aus der überdimensionalen Kopfdusche über ihren erhitzten Körper strömte.
Ebenso beflügelt wie Anne hielt ein weiterer Gast, der in dem Dorf geboren und aufgewachsen war, nach vielen Jahren der Abwesenheit wieder Einzug in Schönau.