Sehnsucht nach den Highlands - Gabriele Raspel - E-Book

Sehnsucht nach den Highlands E-Book

Gabriele Raspel

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Beschreibung

April ist kurz davor, sich mit der Weberei ihres Vaters selbstständig zu machen. Doch dann wird ihr Leben durcheinander gewirbelt. Der attraktive Eric, der während eines Unwetters Schutz in der Pension ihrer Familie sucht, steht plötzlich vor ihr. Trotz anfänglicher Reibereien entwickelt die stürmische April Gefühle für diesen selbstbewussten Mann. Doch schon nach kurzer Zeit ahnt sie, dass Eric ihre Geschäfte boykottiert. Nun muss April all ihre Stärke aufbringen und kämpfen - für ihren Erfolg und das Andenken an ihren Vater. Doch sie träumt noch immer von der großen Liebe …

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2015

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LESEPROBE zu

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2015

© 2015 Ro­sen­hei­mer Ver­lags­haus GmbH & Co. KG, Ro­sen­heim

www.rosenheimer.com

Titelbild: © Klaus G. Förg (oben) und michaeljung – Fotolia.com (unten)

Lek­to­rat: Christine Weber, Dresden

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

eISBN 978-3-475-54450-7 (epub)

Worum geht es im Buch?

Gabriele Raspel

Sehnsucht nach den Highlands

Aprils Leben steht völlig auf dem Kopf. Ein dunkles Familiengeheimnis verändert alles. Zudem steht sie kurz davor, sich mit der Weberei ihres Vaters selbstständig zu machen. Während eines Unwetters sucht der attraktive Eric in der Pension ihrer Familie Unterschlupf. Trotz anfänglicher Reibereien entwickelt die stürmische April Gefühle für diesen selbstbewussten Mann.

Doch schon nach kurzer Zeit ahnt sie, dass Eric ihre Geschäfte boykottiert. Nun muss April all ihre Stärke aufbringen und kämpfen – für ihren Erfolg und das Andenken ihres Vaters. Und stets wird sie begleitet vom Traum von der großen Liebe …

1

April umfasste mit festem Griff das Steuer ihres Wagens. Wie so oft war überraschend ein heftiger Nordweststurm aufgekommen, der nun über die wellige Insellandschaft Mainlands, der Hauptinsel der Orkneys, hinwegraste. Dennoch hatte April keine Mühe, den Wagen auf der Küstenstraße zu halten. Da war sie schon mit ganz anderen Sachen fertiggeworden, dachte sie lächelnd, und das galt nicht nur für die Orkane auf See.

Den ganzen Tag war sie unterwegs gewesen. Nun freute sie sich auf ein heißes Bad und drosselte nicht wie üblich das Tempo, um den Blick auf die in violett-schwarzes Licht getauchte Landschaft zu genießen. Über saftige Wiesen und ockerfarbene Äcker fegten Wolkenschatten, die ihr jedoch keine Angst einjagten, hier auf Orkney war man schließlich vertraut mit ungemütlichem Wetter. Sturmböen erzeugten kräuselnde Wellen auf den Seen – malerisch blaue Farbflecke inmitten der grünbraunen Landschaft, während scharfe Winde das schieferfarbene Meer zu ihrer Linken zu Wellengebilden auftürmten, geadelt durch gezackte Schaumkronen. Perfekt! Wetter, wie sie es liebte.

Sie spürte, wie sich ihre Muskulatur entkrampfte. Den ganzen Vormittag hatte sie unter der Anspannung gelitten, dass sich ihre Wünsche verflüchtigen könnten, wie sich so vieles verflüchtigt hatte in ihrem bisherigen Leben. Doch jetzt begann ein neuer Abschnitt. Und dafür benötigte sie Wolle. Viel Wolle. Wolle, die sie spinnen und färben und dann zu traumhaften Decken weben würde.

Genau da hatte sich bereits die größte Schwierigkeit aufgetan: Die Schafschur war zwar gerade erst vorüber, doch die Wolle war bereits vergeben.

In aller Herrgottsfrühe hatte sie gestern die Genossenschaft in Kirkwall aufgesucht, um an den Stoff zu kommen, der ihr dieses neue Leben erst ermöglichen sollte. Aber hier hatte man ihr nicht wirklich helfen können, da lediglich eine kleine Restmenge zum Verkauf stand. Die meisten der Schaffarmer waren in der Genossenschaft vereinigt, sodass sie die Zwischenhändler ausschalten konnten und sich ihr Gewinn vergrößerte. April hatte den Entschluss zur Selbstständigkeit zu spät gefasst. Die Restmenge, die sie sich natürlich sofort gesichert hatte, reichte einfach nicht. Damit hätte sie gerade einmal zwei, drei Decken herstellen können – viel zu wenig, wenn sie an einen Internet-Einstieg dachte, von dem sie sich großen Erfolg erhoffte. Demnach blieben lediglich jene Wolllieferanten, die nicht ihre gesamte Wolle an die Genossenschaft geliefert hatten und mit denen sie und ihre Familie seit Jahren befreundet waren. Natürlich hätte sie mit ihnen auch telefonieren können, doch hier ging es nicht um ein Plauderstündchen unter Freunden, sondern um Geschäfte.

So war sie zu den beiden Schaffarmern gefahren, mit denen ihre Familie gut befreundet war. Doch hatten auch die zu ihrem Entsetzen bereits ihr Kontingent für andere Kunden reserviert. Entnervt telefonierte sie daraufhin mit June, bei der sie einen Besuch geplant hatte. Die langjährige Schulfreundin wollte sie in die Geheimnisse des Färbens mit Naturfarben einweihen. April kannte selbst einige der Rezepte, sie hatte sich schließlich längst mit diesem Thema beschäftigt und schon Wolle eingefärbt, doch gab es Tipps, die sie nur von June erfahren würde, der Meisterin ausgefallener Farbrezepturen. Auf sie hatte sie ein ganz besonderes Attentat vor.

»Reg dich ab«, befahl June ungewohnt ruhig, nachdem April ihr am Telefon ihr Leid geklagt hatte.

»Ich glaube, ich habe eine Lösung für dein Problem.«

Als April die Zufriedenheit in ihrer Stimme vernahm, atmete sie hörbar auf. »Ach ja? Und welche?« Auf June war doch immer Verlass!

»Gerade gestern kam unser Nachbar rüber und erzählte uns, sein Kunde sei soeben abgesprungen und er wäre nun auf seiner Wolle sitzen geblieben. Mit ein bisschen Glück ist er die heute Morgen auch noch nicht losgeworden. Wenn du willst, rufe ich ihn gleich an.«

April stieß einen Freudenschrei aus, sodass der kleine Junge neben ihr auf der Bank vor dem Fähranleger erschrocken zusammenfuhr. Dennoch musste sie sich bis heute, ihrer Ankunft auf North Ronaldsay, gedulden, der Nachbar war natürlich nicht zu erreichen gewesen – er hatte eine seiner Töchter auf einer der abgelegenen Inseln besucht.

Es war bereits halb zwölf, als sie nach dreistündiger Fahrt mit der Fähre endlich die nördlichste der Inseln erreichte, die sechzig Kilometer von Kirkwall entfernt lag. Es war regnerisch und kühl, doch June erwartete sie geduldig am Hafen, eingepackt in ihre Wachsjacke, den Regenhut tief in die Stirn gezogen. Die Fähre fuhr nur einmal in der Woche, und April war froh gewesen, dass sie gleich am nächsten Tag aufbrechen konnte. Es verkehrte auch eine kleine Fluglinie zur Insel, die vor allem die Kinder in die Schule auf Mainland brachte. Die Kleinen wurden täglich geflogen, während die Größeren in der Woche im Internat auf Mainland untergebracht waren. April hasste Flüge, und so hatte sie sich für die Fähre entschieden, die allerdings drei Stunden länger brauchte.

Noch ehe April die Gangway verlassen hatte, erkannte sie, wie June vergnügt den Siegesdaumen in die Höhe reckte. Seit ihrer Schulzeit waren sie in Kontakt zueinander geblieben, selbst als June einen Farmer auf North Ronaldsay geheiratet hatte und die Freundinnen sich nur noch sporadisch sehen konnten. Mittlerweile hatten June und ihr Mann die Farmarbeit an den Nagel gehängt: Peter hatte sich für die gefährliche, aber lukrativere Arbeit auf einer Ölinsel entschieden, und June widmete sich dem Stricken feinster Pullover aus mit Naturfarben gefärbter Wolle, die sie über die Genossenschaft veräußerte.

June hatte sich während der letzten Jahre kaum verändert, fand April und hakte sich glücklich bei der Freundin unter. Sie war genauso groß wie April, und auch sie besaß störrische Locken, die im Gegensatz zu Aprils kastanienbraunem Haar schwarz glänzten. Beide hatten in der Jugend bereits den Versuch aufgegeben, sie zu glätten. Niemals würden sie seidig, glatt und weißblond über die Schultern fallen, wie sie es bei Fiona bewunderten. Alles Färben und Glätten half nicht, es machte die Locken nur krauser und wilder. Die Freundin war ein wenig rundlich und liebte Essen in jeglicher Form. Beide hatten Sport gehasst wie die Pest. Nur hatte June gleich mit ihrem ersten Freund Glück gehabt, ihn mit neunzehn geheiratet und zwei Kinder zur Welt gebracht.

Anfangs war April überzeugt gewesen, dass Junes Wegzug und vor allem ihre neue Aufgabe als Mutter ihrer Freundschaft einen Knick geben würde, doch zu ihrer Erleichterung hatte sie sich darin geirrt. Sie telefonierten mindestens einmal in der Woche miteinander, und June nahm weiterhin Anteil an Aprils Leben wie sie an Junes. So waren sie immer über alle familiären Neuigkeiten der anderen informiert. Als June ihr zweites Kind bekam – ein Mädchen, das sie nach der Patentante April nannten – hatte April kurz vor der Abreise zu ihrer Tante nach Inverness gestanden. Sie hatte ihre Koffer genommen, die Tante vertröstet und June vier Wochen geholfen, indem sie den kleinen Tim beaufsichtigte, sodass June Zeit für das Neugeborene blieb. April hatte gekocht, so gut sie es vermochte, und war für sie da gewesen, um die Depression zu lindern, die sich kurzzeitig bei der Freundin eingestellt hatte.

Aber June war auch für sie da und lieh April ihr Ohr, wenn diese wieder einmal vor dem beruflichen Aus stand oder den Liebeskummer nach Nigels Treuebruch kaum verwand. Auch jetzt hatte sie sofort ihre Hilfe zugesagt, als April sie um die tieferen Geheimnisse des Wollefärbens gebeten hatte. So war es ihr gelungen, April den Sprung in die berufliche Selbstständigkeit tatsächlich zu ermöglichen.

Unter lebhaftem Plaudern eilten sie zum Pick-up der Freundin, die Jackenkragen hochgeklappt, um sich ein wenig vor dem ungemütlichen Wind zu schützen, der über die Insel fegte. Sie verstauten die Lebensmittel, die June in der letzten Woche bestellt und die die Fähre geliefert hatte, im Auto.

»Ich werde immer schusseliger«, June seufzte. »In der letzten Woche habe ich die Hälfte vergessen.«

»Machst du dir denn keine Einkaufsliste?«, fragte April erstaunt.

»Natürlich. Aber die hatte ich verlegt«, jammerte June.

»Dann iss Seetang wie eure Schafe. Das macht intelligent«, schlug April grinsend vor.

»Danke, da esse ich lieber die ausgewachsenen Schafe«, lachte June.

Gemeinsam fuhren sie die fast vier Kilometer hinauf zur Nordspitze der Insel, wo der Nachbar von June und Peter einen Hof bewirtschaftete. Beeindruckt betrachtete April wieder einmal die Ruine des Broch von Burrian und die Wälle Matches Dyke und Muckle Gairsty, die sie zwar längst kannte, die diesmal jedoch geheimnisvoll aus den Nebelfetzen auftauchten und ein faszinierendes Bild boten. Diese Feldbegrenzungen aus dem ersten Jahrtausend vor Christus dreiteilten die Insel, wobei ein Teil des Muckle Gairsty immerhin stattliche zwei Meter in der Höhe und zehn Meter in der Breite maß.

Einen Moment lang wurden Aprils romantische Betrachtungen gestört, als sie Höfe passierten, die zum Teil arg verfallen waren. Früher hatte die Insel viel mehr Bewohner gehabt. Die Nachkommen jedoch scheuten sich oft, die unbewohnten Höfe ihrer verstorbenen Ahnen zu verkaufen – zu groß war die Furcht, an den Falschen zu geraten. Die Inselgemeinschaft war klein, da achtete man natürlich darauf, wer zu einem passte.

Sie fuhren auf den Hof ihres potenziellen Wolllieferanten Ken Darcy. Er war ein kräftiger Mann mit einem blonden Haarschopf, hellen Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, und spatenförmigen Händen. Mit seiner angenehmen Stimme verströmte er die Zuversicht eines Mannes, der wusste, wo sein Platz in der Welt war. Wie sie alle, so übte auch er noch einen weiteren Job aus: Er reparierte die Wälle, die der Sturm zerstört hatte, und das Gehalt erlaubte ihm, von seiner relativ kleinen Schafzucht leben zu können.

Auch die anderen Einwohner North Ronaldsays konnten sich über Arbeitsmangel nicht beklagen: Sie arbeiteten im Fährbetrieb, für den Flughafen oder informierten die Besucher in den kurzen, jedoch hellen Sommermonaten über die Vogelwelt auf der Insel. Außerdem gab es Erzeuger alternativer Energien aus aller Welt, bei denen der eine oder andere Arbeit fand. Diese Firmen nutzten die außerordentliche Lage North Ronaldsays, wo die Brandung stark wie sonst nirgends war. Hier wurden Wellen von neunzehn Metern Höhe gemessen, der Standort war ideal, um Meeres-Kraftwerke, die teils wie überdimensionale Seeschlangen aussahen, zu testen.

Ken begrüßte sie und führte sie ohne großes Aufheben in seine schlichte, kleine Wohnküche, die trotz der niedrigen Decke anheimelnd eingerichtet war. Er sprach in einheimischem Dialekt und benutzte einige der Wörter, die von der altnordischen Sprache »Norn« stammten. Bei ihm wie auch bei den anderen der ungefähr sechzig Einwohner wurde der Inselname noch heute Rinnalsay ausgesprochen, man sagte no statt not, ye statt you oder to be statt to have. Ken lebte genügsam und war mit seinem Leben zufrieden. Nichts und niemand, erzählte er den beiden Frauen, würde ihn dazu bringen, wie sein Nachbar Peter auf einer »seelenlosen Nordsee-Ölinsel« zu schuften.

Sie unterhielten sich über Aprils geplante Selbstständigkeit, über Junes Familie und die Gesundheit im Allgemeinen, und keine halbe Stunde später war April im Besitz der Wolle, die für den Anfang mehr als ausreichen würde.

Eigentlich hatte sie gar nicht so viel erwerben wollen, doch da Ken sie gerettet hatte, fühlte sie sich verpflichtet, auch dem Schaffarmer zu helfen, indem sie ihm alles abkaufte, was sein Kunde übrig gelassen hatte. Schließlich musste auch er knallhart rechnen und war auf Einhaltung der Verträge mit den Kunden angewiesen. In diesem Falle jedoch war der Mann verstorben. Seine Kinder hatten schlicht keinen Bedarf an der Wolle. Daher hatte Ken Darcy zugestimmt, sie von ihren vertraglichen Verpflichtungen zu entbinden, wenn sich ein anderer Käufer fand.

Erleichtert und nun völlig entspannt genoss April die Fahrt mit ihrer Freundin zu deren Hof im Nordosten der Insel, im Gepäck zwei der köstlichen Hammelkeulen, die sie günstig bei Ken hatte erwerben können. Als sie den Leuchtturm im Nebel auftauchen sah, vergrößerte sich ihre Vorfreude auf die kurze Auszeit mit der Freundin noch.

Der alte Leuchtturm, der 1789 errichtet worden war, Dennis Head Beacon, wurde 1854 durch den neuen Leuchtturm, North Ronaldsay Lighthouse, ersetzt, der mit seinen einundvierzig Metern einer der höchsten der Britischen Inseln war und dessen Spitze eine Steinkugel krönte. Er war natürlich längst elektrifiziert, doch der alte Leuchtturmwärter kletterte auch heute noch jeden Tag hinauf, um nach dem Rechten zu sehen.

Sie machten eine kurze Rast, denn aufgrund der wenigen Einwohner gab es keine Tankstellen mehr. Das Benzin musste bei dem Wärter bestellt und abgeholt werden.

»Schade, dass deine Kinder im Internat sind. Seitdem sehe ich sie so selten«, sagte April mit Bedauern in der Stimme.

»Beim nächsten Mal«, vertröstete June sie, »ich freu mich jedenfalls, mit dir in Ruhe alles besprechen zu können.« Dann deutete sie zu ihrer Linken, wo die vierbeinigen Lieferanten ihrer Wolle in einer großen Gruppe am Strand lagerten.

Die Schafe auf North Ronaldsay, die es in allen Farbschattierungen von beige, braun bis schwarz gab, waren berühmt. Der charakteristische schwarze Kopf mit der weißen Blesse zierte die meisten Tiere, die wirklich hübsch anzuschauen waren. Doch das allein war es nicht, was sie bekannt gemacht hatte: Diese zähen kleinen Tiere fraßen nicht wie alle Schafe auf dieser Welt Gras, sondern taten sich am Seetang gütlich – und das seit zweihundert Jahren, wenn auch anfangs nicht ganz freiwillig. Früher hatten sie sich das Inselgrün mit den Rindern teilen müssen. Da die Rinder allerdings viel mehr Geld in die Kasse brachten, verbannte man die Schafe ans Ufer, indem man einen Deich rings um die Insel baute. Und so wurde der sogenannte Ness ihre neue Weide, indem man sie zwang, von nun an vom Seetang zu leben, mit Ausnahme der Zeit des Lammens, wenn die Mutterschafe für drei oder vier Monate auf den Grasflächen genährt wurden. Allein zur Schur trieb man sie alle zusammen. Wenn die Strände überflutet waren oder es allzu heftig stürmte, gewährten kegelförmige Steinhügel mit einem kleinen, umwallten Plateau den Tieren Schutz.

Das neue Leben vollzog sich ohne große Probleme, denn der Seetang war den Tierchen ohnehin nicht fremd. Immer einmal wieder hatten sie von den Kelpwäldern gekostet, die, vom Meeresboden abgerissen, auf den Strand gespült wurden; der Tang hatte ihnen augenscheinlich gemundet. Frisch musste er natürlich sein. Und sie hatten sich pünktlich einzufinden – bei Ebbe, während sie bei Flut schlicht wiederkäuten.

Ja, das Glück war April hold. Gerade die Wolle von hier oben war besonders fein und weich, weswegen June mit ihren Strickarbeiten von traumhafter Qualität großen Erfolg hatte, und sie konnte es kaum erwarten, aus der gefärbten Wolle mit der Kleinspinnerei in der Scheune neben ihrem Haus feinste Wollfäden herzustellen und diese dann zu Meisterwerken zu verweben.

Jetzt würde sie versuchen, June ein weiteres Mal für sich zu gewinnen. Sie hatte vor, die Freundin für einige Zeit nach Mainland zu locken.

Aprils Wunsch hatte Aussicht auf Erfolg: Die Gäste waren abgereist, und neue wurden nicht erwartet. Der Mann schuftete auf seiner Bohrinsel, die Kinder hatten im Herbst eine Woche Ferien, die sie bei ihren Großeltern verbringen würden, sodass June vielleicht ein wenig Zeit abzwacken konnte. Tatsächlich stimmte sie sofort zu, als April ihr den Vorschlag machte. Sie würde bei April zu Hause die Wolle färben und die Freundin dabei in die tiefsten Geheimnisse ihrer Rezepturen einweihen. Die Wolle des Nachbarn, kamen sie überein, würde April allerdings schon vorab selbst färben, damit sie dann sogleich mit dem Spinnen und Weben fortfahren konnte.

Die gemeinsame Zeit verflog wie gewöhnlich im Nu. Um drei stieg April in die letzte Fähre, die sie zurück nach Kirkwall bringen würde.

Sie war nicht nur vollauf zufrieden, sie war schlicht glücklich. Die Stunden auf hoher See und die Übelkeit an Bord hatten sich gelohnt. Obwohl sie hier groß geworden war und ihr Vater sie oft mit seinem Segelboot hinaus aufs Meer genommen hatte, war sie nicht gegen die Seekrankheit gefeit. Doch sie hatte gewusst, dass sie einen klaren Kopf behalten musste, und auf die müde machenden Tabletten, die sie normalerweise bei einer längeren Reise auf rauer See einnahm, verzichtet. Und ein klarer Kopf war notwendig gewesen, denn auch June und die Schaffarmer mussten sehen, wie sie zurechtkamen auf ihren abgelegenen Bauernhöfen, aber alles war in ihrem Sinne abgelaufen.

April freute sich auf den Besuch der Freundin. Von ihr konnte sie viel lernen. Sie war in der Lage, jeweils haargenau den Farbton anzumischen, den April sich wünschte. Sie würde ihr zeigen, welche Pflanzenfarben man für welchen Farbton benötigte. Dies war eine große Ehre, denn das war eigentlich Junes Geheimnis, das sie mit niemandem teilte. Da sie sich jedoch bei ihrer Arbeit nicht in die Quere kommen würden, und weil sie so gut befreundet waren, hatte sie eingewilligt, April zu helfen.

April hatte vor, die Wolle selbst zu spinnen, dann Decken von feinster Qualität zu weben und diese übers Internet zu verkaufen. Das Geld für das Spinnen der Wolle konnte sie sich sparen. Natürlich verfügte die Genossenschaft ebenfalls über eine derartige Maschine. Früher hatte ihre Familie von der eigenen Kleinspinnerei und der Weberei leben müssen, und so hatte Aprils Vater einen Jacquard-Webstuhl und eine solche Maschine in Kanada gekauft, die für ihre Zwecke und die eher bescheidene Wollmenge ideal war.

April lächelte. Alles würde gut werden. Der Gedanke, dass die Erfüllung ihres Traums immer näher rückte, ließ sie das Tempo erhöhen. Sie jagte über die regennasse Landstraße, die von Kirkwall westwärts zu ihr nach Hause führte, und drehte das Radio auf volle Lautstärke.

Plötzlich schrie sie erschrocken auf.

Räder quietschten, es folgte ein metallenes Geräusch. Die Wucht, mit der der Wagen hinter ihr auffuhr, katapultierte sie schmerzhaft in die Gurte ihres schwarzen Fords.

Einen Moment blieb April wie betäubt sitzen. Mit zitternden Händen schob sie sich den Herrenhut ihres Vaters aus der Stirn, der ihr auf die Nase gerutscht war. Ein Unfall! Jetzt! – Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Vorsichtig bewegte sie den Kopf hin und her, es gelang ohne Mühe. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, schaltete das Radio aus und öffnete die Wagentür.

»Ja, sagen Sie mal! Sind Sie noch ganz gescheit? Mit siebzig Sachen mitten auf der menschenleeren Landstraße ohne jeden Grund in die Eisen zu steigen?«, wurde sie unfreundlich von einem Mann angefaucht, kaum dass sie den Fuß auf die Fahrbahn gesetzt hatte.

Mit zitternden Knien stieg April aus. Ohne den Mann weiter zu beachten, ging sie um ihren Wagen herum. Nicht auszudenken, wenn der Unfall ihren Ford außer Gefecht gesetzt hatte! Der Wagen war wichtig für sie, und sie hatte kein Geld für einen neuen.

»Tut mir leid – ich bremse auch für Tiere«, entgegnete sie bebend. Sie hielt sich den Kopf und musterte noch immer ein wenig benommen den Fahrer, der sie gerammt hatte.

Seiner Sprache nach zu urteilen, war er ein Orcadian. Doch sie kannte ihn nicht, schließlich konnte man nicht alle siebentausend Einwohner Kirkwalls persönlich kennen.

Sie beugte sich hinunter und betrachtete die Vorderfront seines Porsches. »Geringfügige Dellen, kein Problem für Henry«, sagte sie erleichtert. Sie selbst allerdings war nicht so glimpflich davongekommen. Die Rückfront ihres Wagens war derart ruiniert, dass Henry, ihr alter Freund von der Kfz-Werkstatt, diesmal alle Hände voll zu tun haben würde, ihn wieder auf Vordermann zu bringen. Doch außer einem Blechschaden schien nichts Schlimmeres passiert zu sein.

»Außerdem trifft Sie ebenso Schuld, schließlich müssen Sie doch auch den Hund gesehen haben, der die Straße überquert hat. Oder das Schaf – so schnell konnte ich das nicht erkennen.« Ihre Stimme klang immer noch heiser.

»Hier ist weit und breit weder ein Hund noch eine Katze noch sonst ein Tier«, herrschte er sie an. »Und außerdem scheinen Sie eine Brille zu benötigen. Das hier«, er wies auf den in Aprils Augen geringfügigen Schaden seines Wagens, »ist ja wohl mehr als nur eine kleine Delle! Wir befinden uns hier kurz vor einem Totalschaden.«

Sie streckte den Rücken durch, dennoch musste sie den Kopf heben, um dem Mann, der ihre eins achtundsechzig um einige Zentimeter überragte, in die hellen Augen schauen zu können. Zornig schaute er sie an, seine braunen Haare kringelten sich bis auf den Kragen seiner offen stehenden Jacke und waren für ihren Geschmack ein wenig zu lang.

»Es war ein Hund –natürlich ist der jetzt über alle Berge. Und ich bin selbstverständlich bereit, für den wirklich geringfügigen Schaden aufzukommen«, bemerkte sie dann gutmütig mit ruhiger Stimme, wobei sie inständig hoffte, dass Henry die Sache ebenso sah.

Der Fahrer des Porsches schenkte ihr einen genervten Blick. Dann fuhr er mit der Hand finster schweigend über die Stoßstange seines Fahrzeugs.

Ob er seine Frau oder Freundin ebenso liebevoll streichelte? Ihr Blick fiel auf die gepflegten Hände und seine sorgfältig manikürten Fingernägel. Verstohlen steckte sie ihre Hände in die Tiefen ihrer Manteltasche. Auch seine gelackten Werkzeuge würden durch die Komplettrenovierung eines alten Hauses ramponiert werden, dachte sie dann. Wenngleich er möglicherweise gar nicht gezwungen war, sich diese durch harte körperliche Arbeit zu ruinieren.

April betrachtete ihn verstohlen. Sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte dreißig. Das Leder seiner Jacke war von guter Qualität, ebenso wie die makellos geputzten Schuhe. Vom Porsche ganz zu schweigen, der fabrikneu glänzte und das gleiche Blau aufwies wie die Augen des Mannes, deren Strahlen durch die Bräune seines Gesichts noch unterstrichen wurde. Wenn er nicht so schlechte Laune wie jetzt gehabt hätte, würde er richtig gut aussehen. Unwillkürlich zog sie den Bauch ein, angesichts seiner schlanken Gestalt.

Doch jetzt war keine Zeit für derlei Betrachtungen. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir die Sache ohne Polizei und Versicherung regeln?«

»Nein, wäre mir recht«, stimmte er brummend zu und sah ihr direkt ins Gesicht, zum ersten Mal seit dem Crash.

Sie blinzelte und zog den Hut tiefer in die Stirn, um sich, wie sie sich einredete, vor dem einsetzenden Regen zu schützen. »Die kleinen Kratzer und Dellen an Ihrem Wagen sind schnell behoben. Wenn Sie wollen, können wir gleich in die Werkstatt fahren … Ich bin mit dem Inhaber befreundet«, schickte sie hinterher. Es war besser, sie fuhr mit ihm zu Henry, das machte die Angelegenheit hoffentlich nicht so teuer.

»Danke. Geben Sie mir einfach seine Adresse. Er kann Ihnen dann die Rechnung schicken.« Er zückte sein Smartphone.

Der Blick aus seinen kühlen Augen gefiel ihr nicht, und in Anbetracht der Vorfreude auf ihre geschäftliche Unabhängigkeit unternahm ihr Selbstbewusstsein auf einmal einen ungeahnten Höhenflug.

»Nein, kommt nicht in Frage. Sie haben Mitschuld an der Karambolage«, sagte sie energisch und straffte sich erneut. »Wie Sie an der Blinkanlage erkennen konnten, sind hier zwanzig Meilen die Stunde vorgeschrieben.«

Die Warnblinkanlage, die Strom von dem Windrad bezog, das auf dem Verkehrsschild angebracht war, wies tatsächlich eindeutig auf das Einhalten dieser Geschwindigkeit hin. »Sie haben diese eindeutig überschritten.« Wie ich selbst, dachte sie und verkniff sich ein Grinsen. »Hätten Sie zudem den Mindestabstand eingehalten, wäre nichts passiert. Also haben Sie selbst für die Reparatur ihres Wagens aufzukommen.«

Einen Moment befürchtete sie, dass er nun doch die Polizei rufen würde, doch dann stieß er nur einen tiefen Seufzer aus.

»Meinetwegen. Wobei ich doch betonen möchte, dass Sie mindestens siebzig Sachen draufhatten –«

»Denen Sie ungezügelt gefolgt sind«, wies sie ihn streng zurecht.

»Von mir aus. Also, geben Sie mir jetzt die Adresse der Werkstatt? Ich möchte heute noch mal nach Hause kommen.«

Nein, dieser Mann verdiente in der Tat nicht ihr Geld. Sie teilte ihm den Namen und die Adresse mit. »Dann also auf Wiedersehen«, verabschiedete sie sich frostig. Als Antwort kam lediglich ein kurzes Nicken, dann drehte er sich um und ging zu seinem Auto.

Erleichtert stieg April ebenfalls in ihren Wagen. Trotz dieses unliebsamen Zwischenfalls konnte heute nichts ihre gute Stimmung ruinieren – selbst nicht die Gewissheit, dass ihr Charme diesmal wohl nicht ausreichen würde, um Henry wieder einmal zu einer kostenlosen Reparatur zu überreden.

Mit schlechtem Gewissen startete sie und setzte dann ihre Fahrt mit gedrosseltem Tempo fort. Der Mann jedoch folgte ihr nicht, sondern wendete seinen Wagen und fuhr erneut Richtung Kirkwall. Er fürchtet sicherlich, mir noch mal aufzufahren, dachte sie belustigt. Doch dann wurde ihr bewusst, dass er wohl zuerst seinen Schaden begutachten lassen wollte.

»Nun, mein Herr, Pech gehabt. Henry wird um diese Uhrzeit keinen Finger mehr krümmen. Schon gar nicht für einen Gelackten wie dich.«, murmelte sie.

Sie gab Gas und wollte gerade den Abzweig nach Hause einschlagen, als ihr knurrender Magen sich meldete. Ach du liebe Güte! Fiona hatte ihr ja aufgetragen, etwas zu essen zu besorgen. Sie schaute auf die Uhr. Mittlerweile war es schon ziemlich spät geworden, und sie verspürte nach der überstandenen Aufregung jetzt keine Lust mehr, zu kochen. Also beschloss sie, dass das Essen von Tim Montague, der eine der drei Fisch-’n-Chips-Imbissstuben Kirkwalls betrieb, ausreichen musste.

Sie parkte den zerbeulten Wagen in der Seitengasse und zog noch schnell ein bisschen Bargeld aus dem Automaten an der Ecke, bevor sie den Imbiss betrat. Die altmodische Türklingel erklang, und sogleich ließ der appetitliche Duft nach Fisch und Chips April das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie schaute nach vorn und verzog die Lippen. Nein, nicht er schon wieder!

Der Porschefahrer von vorhin stand an der Theke und wartete darauf, bedient zu werden. April begegnete Tims Blick. Dieser schob seine Schirmmütze zurück, mit der er auf die Welt gekommen zu sein schien, und grinste sie mit seinen vorstehenden Zähnen breit an.

»Das Übliche?«, lispelte er.

Einen Moment war April hin- und hergerissen, ob sie höflich sein sollte oder nicht. »Ähm … ja, wie immer«, erwiderte sie dann aber.

Der Unbekannte wandte den Kopf um. »Typisch!«, blaffte er, als er sie erkannte. »Immer zu schnell unterwegs.«

»Oh, tut mir leid, Sie waren vor mir dran«, sagte sie mit einem um Entschuldigung suchenden Lächeln.

»Aber nein, bitte nach Ihnen. Wer wüsste nicht besser als ich, wie eilig Sie es haben.« Die Luft kühlte sich um mindestens zehn Grad ab, und das Grinsen der Umstehenden, die an der umlaufenden Theke ihre Mahlzeiten einnahmen und dem Gespräch interessiert gefolgt waren, wurde breiter.

Verlegen zahlte April, nahm die Tüte entgegen, die Tim ihr mit einem Augenzwinkern überreichte, und machte sich eilig von dannen.

Die nun etwas verhaltenere Weiterfahrt führte nach Westen, wo sich ihr Anwesen befand. Bei gutem Wetter bot sich dort ein Ausblick bis hinüber zur Insel Cullom und dem vorgelagerten Leuchtturm – ein Anblick, der ihr Herz immer wieder erfreute, der ihr heute jedoch wegen des schlechten Wetters verwehrt blieb.

Sie fuhr in den gepflasterten Hof und parkte das Auto vor der Scheune. Hastig nahm sie die zwei eingepackten Hammelkeulen, die Tüte mit dem Abendessen und ihre Handtasche, in der beides spielend Platz gefunden hätte, vom Beifahrersitz und stieg aus. Sie ging zum Haus und öffnete die Tür.

»Fiona!« Ihre dunkle Stimme hallte durch das stille Haus.

Die Wucht, mit welcher der Sturm die schwere Haustür wieder hinter ihr zuschlug, ließ das Haus in seinen Grundfesten erzittern. Es war ein typisches Orkney-Haus, gebaut aus den Feldsteinen der Gegend, sodass es mit seiner grau-braunen Farbe völlig mit der Landschaft ringsum verschmolz.

April stellte die Tüten ab, hängte die Handtasche an die Hakenleiste, die ihnen als Garderobe diente, und warf die regenfeuchte Jacke aus gewachstem Segeltuch auf den knorrigen Orkney-Stuhl in der Diele. Mit raschen Bewegungen entledigte sie sich der Gummistiefel, die schwungvoll in der Ecke bei den anderen in Reih und Glied geordneten Schuhen landeten. Dann stürmte sie auf Socken in die Küche, aus der ihr der angenehm würzige Duft frisch aufgebrühten Kaffees entgegenströmte.

»Hallo! Ich bin völlig geschafft!« Mit Schwung warf sie ihre Lockenmähne zurück und ließ sich seufzend auf den Stuhl fallen. »Denk dir, ich hab Glück gehabt. Malcolm und Peter hatten zwar keine Wolle mehr übrig, aber ich konnte eine kleine Menge von der Genossenschaft erhalten, und der Nachbar von June versprach mir den Rest. In der nächsten Woche wird alles geliefert. Und mit June hab ich mich auch geeinigt, sie ist sogar noch mit dem Preis für das Färben heruntergegangen.«

»Wie schön für dich«, erklang vom Herd die klare, ein wenig kühle Stimme ihrer Schwester.

»Ist das alles, was dir dazu einfällt?«, rief April entrüstet, die in den Flur zurückgegangen war, um die Tüten hereinzuholen, die sie dort hatte stehen lassen. Das nicht vorhandene Temperament ihrer Schwester nervte sie manchmal ganz gehörig. Außerdem schien sie wieder einmal schlechter Laune zu sein. Nein, sie würde Fiona nichts von ihrem kleinen Unfall erzählen. Sie konnte manchmal schrecklich pingelig sein.

»Du weißt, was ich von der ganzen Sache halte«, antwortete Fiona spröde.

»Ach, hör auf. Wir haben doch alles durchgerechnet.«

»Ist ja gut«, entgegnete Fiona mit müder Stimme. Sie war als Tierärztin mitten in der Nacht einmal wieder zu einem Schaf auf einer der Inseln gerufen worden und entsprechend erschöpft. »Hauptsache, unser Gespartes reicht bis zur nächsten Saison und wir sind immer in der Lage, den Kredit abzubezahlen. Lässt du eigentlich auch beim Schlafen Vaters Hut auf?«, fügte sie ironisch hinzu.

April nahm rasch den Hut vom Kopf, den sie seit dem Tod ihres Vaters ständig trug, wenn sie sich außer Haus befand. Kleine Tropfen regneten aus ihren überschulterlangen, kastanienbraunen Haaren auf den Tisch.

Fiona rollte mit den Augen.

»Ich werde es schaffen. Dieses eine Mal wird es gelingen – ich spüre es ganz genau. Außerdem haben wir ja immer noch den Verkauf vom Nachbarhaus.«

»Das hoffentlich schnell einen Käufer finden wird«, Fiona seufzte.

Das Nebenhaus, das unweit in einer Senke stand, war ihre Sicherheit. Nur wegen dieses Hauses hatten sie den Kredit für die Dacherneuerung ihres Elternhauses von der Bank erhalten. Nachdem April auch die Wände und Türen gestrichen hatte, war es innen hell und freundlich, und auch außen wirkte es noch recht passabel.

Aprils Augen verdunkelten sich, als plötzlich ein Anflug von Sorge ihre Heiterkeit für einen Moment vertreiben wollte. »Es wird schon klappen.«

»Ja, das denke ich auch«, stimmte Fiona zu. »Hast du daran gedacht, einzukaufen? Ich hab dich doch darum gebeten, wir haben nur Eier und Schinken und einen Rest Käse im Haus.«

April hatte Mühe, ihre Enttäuschung im Zaum zu halten. Sie wollte jetzt nicht übers Essen reden, sondern über ihre Pläne, über das Neueste von June und deren Familie. Über das Gespräch mit dem Schaffarmer, der ihr so einiges vom Inselleben erzählt hatte, von den Sorgen der anderen und der sinkenden Einwohnerzahl. Aber ihre Schwester war manchmal eben eine Spaßbremse. Sie schluckte und sagte: »Ich hab uns Fisch und Chips mitgebracht.«

Schließlich stand sie auf, ging ins Bad und wusch sich die Hände. Dann kehrte sie in die Küche zurück, stellte die Tüte auf die Anrichte und begann, sie auszupacken. Während sie den Tisch deckte, beobachtete sie, wie ihre fünf Jahre ältere Halbschwester in der für sie typischen ruhigen Art noch rasch die Spülmaschine ausräumte. Obwohl Fiona schlank und hoch gewachsen war, ließen ihre kräftigen Glieder und die breiten Hände vermuten, dass in ihr eine enorme Kraft steckte. Sie hatte blondes Haar, hellblaue Augen und eine Haut, die selbst im Sommer nicht an Blässe verlor, im Gegensatz zu Aprils, die sich schon beim kleinsten Sonnenstrahl in samtene Bräune verwandelte.

Nein, heute sollte es der Halbschwester, zweifellos der ernsthafteren und strebsameren von ihnen beiden, nicht gelingen, sie zu verunsichern. Fiona, die Besonnene, Gewissenhafte, mit ihrem sorgsam geplanten und organisierten Leben ohne nennenswerte Höhen und Tiefen – früher hatte April ihr nachzueifern versucht und war kläglich gescheitert. Irgendwann hatte sie es aufgegeben und akzeptiert, dass sie niemals sein könnte wie ihre ältere Schwester.

»Komm zu Tisch, sonst wird alles kalt«, rief sie ungeduldig.

Der Schein der Lampe, die den Kieferntisch in der Mitte des Raumes in warmes Licht tauchte, ließ ihr Haar in dunklem Rot-Braun glänzen. Ihre braunen Augen leuchteten, als sie quer über den Tisch langte. »Tims Chips sind einfach die besten«, murmelte sie und schob sich einen Bissen frische Kartoffelstäbchen in den Mund. »Essen ist doch das Allerschönste.«

»Nicht für jeden«, sagte Fiona und legte sich die Serviette auf den Schoß. »Meine kannst du auch noch haben. Im Gegensatz zu dir ist es mir wichtig, nicht wie ein Hefekloß auseinanderzugehen. Die Dinger haben Fette für den Tagesbedarf einer ganzen Stadt.«

April zuckte die Schultern und zog die zweite Schale zu sich heran. »Ich bin nicht dick – ich besitze weibliche Rundungen.«

»Stimmt«, lachte Fiona, »und sie stehen dir.« Obwohl sie von Natur aus ernster veranlagt war als April, ließ ihr strahlendes Lächeln dennoch von einer Sekunde auf die andere ihr sonst oft so sprödes und moralisierendes Wesen vergessen. Ihre Augen leuchteten.

Schweigend machten sie sich über das Essen her. Wie es schon bei ihren Eltern üblich gewesen war, wurde während der Mahlzeit nicht viel gesprochen, doch die Stille störte die beiden nicht. Sie war ihnen wohl vertraut, schließlich waren sie an die Einsamkeit ihres Hauses, die nur in der kurzen Saison von Feriengästen unterbrochen wurde, gewöhnt. Es lag westlich von Kirkwall und war so geräumig, dass sie im Sommer zwei Einzel- und zwei Doppelzimmer an Urlauber vermieten konnten.

In den letzten Wochen allerdings hatten sie nur selten Gäste beherbergt, denn Aprils und zum Teil auch Fionas ganze Kraft und Zeit war von der Renovierung des Nachbarhauses in Anspruch genommen worden. Auch die Arbeiten an ihrem Elternhaus sollten bald folgen – falls die Einnahmen in der Zukunft dafür reichen würden. Ihr Vater hatte es kurz vor seinem Unfall zu einem günstigen Preis von Anthony Harris, dem Freund und Nachbarn, der nach dem Tode seiner Frau zu seinen Kindern aufs Festland gezogen war, erworben. Zum Glück war das Dach des Hauses in Ordnung gewesen, im Gegensatz zu ihrem, für dessen Erneuerung sie den Kredit hatten aufnehmen müssen. Nun hatten sie sich entschlossen, das Nachbarhaus zu verkaufen, um den Kredit rasch wieder zu tilgen und um April den Kauf des Materials für ihre Decken zu ermöglichen, ohne dabei jeden Penny dreimal umdrehen zu müssen.

April war richtig stolz auf das Haus, das auf der gegenüberliegenden Straße lag und nun zumindest innen in frischem Glanz erstrahlte, da sie die Malerarbeiten alle selbst ausgeführt hatte. Lediglich das Verlegen neuer elektrischer Leitungen hatten sie einem Fachmann überlassen.

»Ich will dich nicht kränken«, nahm Fiona das Gespräch beim abschließenden Kaffee und Sherry im Wohnzimmer am Kamin wieder auf, in dem ein anheimelndes Feuer brannte. Der Blick aus ihren hellen Augen ruhte dabei sanft auf April und nahm ihren Worten die Schärfe: »Aber ich sorge mich, dass diese ganze Aktion nur eine Spielerei von dir ist, dass alles eine Sache von einem halben Jahr ist und du dann die Lust verlierst. Schließlich musst du dann nicht nur mit einer neuen Enttäuschung fertigwerden, sondern dann wäre auch dein Anteil futsch. In dem Fall könnte ich dir schwerlich helfen, du kennst meine Pläne.«

April nickte. Natürlich kannte sie Fionas Vorhaben, sich mit ihrem Anteil aus dem Verkauf des Hauses mit einer eigenen Tierarzt-Praxis selbstständig zu machen. »Ich verstehe deine Sorgen. Aber vertrau mir: Selbst jemand wie ich kann schließlich irgendwann einmal klüger werden.«

Fiona, die aufgestanden war, um das Fenster zu öffnen, ging zu ihr und legte den Arm um die jüngere Schwester. »Ich vertraue dir doch, du Küken.« Lächelnd sah sie auf April hinab. »Und ich wünsche dir wirklich alles Gute, dass es dir diesmal gelingt, etwas Eigenständiges auf die Beine zu stellen.«

April nahm rasch einen Schluck Kaffee. Es kam tatsächlich seit dem Tod ihrer Eltern immer häufiger vor, dass Fiona ihr Mut zusprach. »Ich weiß, dass du mich für dumm hältst und nicht allzu viel Vertrauen in meine Fähigkeiten hast, aber –«

»Wie kannst du so etwas sagen?«, rief Fiona, die sich wieder in den anderen Sessel vor dem Kamin gesetzt hatte, betroffen. »Ich halte dich doch nicht für dumm! Vielleicht warst du in der Vergangenheit ein wenig … träge und zu wenig ausdauernd. Du musst zugeben, dass du früher nicht immer Durchhaltevermögen gezeigt hast. Aber ich glaube, dieses Mal hast du begriffen, wie viel auf dem Spiel steht, und ich bin fest davon überzeugt, dass es dir diesmal tatsächlich ernst ist.«

»Ja, das ist es tatsächlich. Hier geht es schließlich um viel Geld. Die Wolle musste im Voraus bezahlt werden, und das Geld für das Material will erst mal erwirtschaftet werden. Vielleicht hätte ich doch warten sollen, bis das Haus verkauft ist.« April spürte wie schon so oft, dass sie das Selbstvertrauen verließ.

»Unsinn, wir wollen die Sache mit Optimismus angehen – deine Worte«, lächelte Fiona erneut. »Ich merke doch, wie du dich nach dem Tod unserer Eltern verändert hast – zum Guten«, fügte sie leiser hinzu. »Und ich freue mich, dass auch wir beide uns in den letzten Monaten so viel besser verstehen.«

Fionas Stimme, die früher oft einen schulmeisterlichen Klang angenommen hatte, wenn sie mit April sprach, war fast sanft, April wurde ganz warm ums Herz. »Und vergiss nicht das Internet. Damit kommt schnell Geld herein, hier erwachsen uns ganz neue Märkte«, fügte sie eifrig hinzu.

»Nun ja, die Sache mit dem Internet ist auf jeden Fall einen Versuch wert.« Fiona nickte. »Und wie wir beide ausgerechnet haben, ist das Risiko ja wirklich überschaubar.« Sie ergriff ihr Glas: »Slàinte, Schwesterchen. Mögen unsere Träume in Erfüllung gehen.«

»Oh ja, und möge es nicht von Nachteil sein, dass ich bereits meinen Job aufgegeben habe, anstatt den ersten Erfolg abzuwarten«, seufzte April und nahm einen winzigen Schluck vom Sherry.

»Nun«, erwiderte Fiona energisch, »du kannst nur an einer Stelle mit voller Kraft arbeiten. Wenn du in der Spinnerei und der Weberei schuftest, wird kaum Zeit für anderes sein, wie du aus den Jahren mit Vater weißt. Man muss die Spinnerei-Maschine und den Jacquard-Webstuhl im Auge behalten. Da bleibt keine Zeit für eine andere Tätigkeit. Ganz davon abgesehen, dass wir uns auch um unsere Gäste kümmern müssen – was ebenfalls auf deinen Schultern lastet, sollte ich zu irgendeinem Viech gerufen werden, weil es mal wieder zur unpassenden Zeit in Kalamitäten geraten ist. Und die Zimmer putzen sich auch nicht von allein. Aber da sollten wir uns tatsächlich eine Putzhilfe zulegen«, fügte sie hinzu.

April nickte eifrig. Wunderbar! Fiona war auf einem guten Weg!

»Von den täglichen Arbeiten abgesehen«, sprach Fiona weiter, »musst du dich schließlich auch noch um die gesamte Buchhaltung kümmern. Und ehrlich, April, ich glaube, für diese Arbeit musst du auf jeden Fall noch jemanden einstellen. Es reichen ja sicherlich anfangs ein paar Stunden in der Woche.«

»Genau«, rief April erleichtert. Der Papierkram, wie sie die Buchhaltung nannte, bereitete ihr noch ein wenig Sorgen, doch vor der Arbeit in der Spinnerei und der Weberei fürchtete sie sich nicht. Die würde sie beherrschen, schließlich war sie Vaters bester Lehrling gewesen, wie er ihr immer wieder bezeugt hatte. Sie hatte ohnehin lange mit sich gehadert, dass sie nicht gleich nach seinem Unfalltod die kleine Firma weitergeführt hatte. Dazu hatte ihr damals einfach das Selbstvertrauen gefehlt.

»Allerdings«, verpasste ihre Schwester ihr einen kleinen Dämpfer, »finde ich, du hättest dir vielleicht ein wenig Zeit lassen und die Maschinen erst einmal zur Probe laufen lassen sollen, ehe du die ganze Wolle kaufst.«

»Die Maschinen sind voll funktionstüchtig. Die liefen bei ihrem letzten Einsatz wie am Schnürchen«, wandte April rasch ein. Das war natürlich ein wunder Punkt, bei dem sie Fiona insgeheim recht geben musste. Die Maschinen waren alt, und in den Monaten vor seinem Tod hatte ihr Vater mehr als einmal sorgenvoll irgendein Teil reparieren müssen. Aber in der Tat hatten die Maschinen ihre letzten Arbeiten fehlerfrei erledigt, bevor sie für immer abgeschaltet worden waren. Für immer – bis sie, April, sie wieder zu neuem Leben erwecken würde.

»Die Maschinen waren Papas Sorgenkinder«, widersprach Fiona.

April spürte, wie eine Welle der Resignation ihre euphorische Stimmung hinwegspülte. Fiona verstand es manchmal, genau wie ihre Mutter, jemandem einen Kübel Eiswasser übers Hirn zu gießen, justament dann, wenn man bester Laune war.

Sie strich sich über die Stirn, um die unliebsamen Gedanken zu verscheuchen. »Ich denke trotzdem, ich bin auf dem besten Weg. Mein Ziel, mich mit der Spinnerei und der Weberei selbstständig zu machen, ist eine gute Möglichkeit, ein weiteres Standbein neben der Pension zu entwickeln. Ich brauchte eben etwas Zeit. Ich bin nicht so wie du. Du hast es immer einfacher gehabt als ich.«

Fiona stellte ihr Sherryglas hart zurück auf den Tisch. »Tz – einfacher?«, echote sie konsterniert. »Wieso das denn? Wir hatten die gleichen Chancen, und –«

»Ich will damit sagen«, unterbrach April sie schnell, »du hattest es einfacher, weil du auf Anhieb wusstest, was du machen willst. Du hast nie einen anderen Wunsch gehabt als Tierärztin zu werden.«

»Vor allem habe ich schwer dafür gebüffelt, um etwas zu erreichen, was man von dir nicht sagen kann, gib’s zu! Du warst teilweise ganz schön faul. Die Noten deines Betriebswirtschaftskurses in Inverness waren nicht besser als die deines miserablen Schulabschlusses. Nach Inverness bist du nur gegangen, um vor deinem Liebeskummer wegen Nigel zu flüchten. Und wenn Tante Isobell nicht darauf bestanden hätte, hättest du selbst den notwendigen Computerkurs für Anfänger nicht besucht.«

»Meine Arbeit bei Alistair hat bewiesen, dass ich nicht so schnell aufgebe. Schließlich hab ich es dort anderthalb Jahren ausgehalten.«

»Weil du dir nach deinen vier – oder waren es fünf? – anderen Jobs eine erneute Kündigung kaum leisten konntest. Der Hauptanteil unserer Haushaltskasse wurde nach dem Tod von Vater ohnehin von mir bestritten, wenn ich dich daran erinnern darf.«

April seufzte. Wieder einmal war es Fiona gelungen, die harmonische Stimmung mit einem Schlag zu zerstören. »Es stimmt nicht, dass ich mich für nichts Besonderes interessiere«, überging sie leise den Vorwurf. »Das, was ich wirklich beherrsche, woran ich Freude habe, ist das Arbeiten mit der Wolle. Außerdem bin ich gut darin, Muster für die Decken zu entwerfen. Ich habe Talent zum Zeichnen und Malen, auch Mutter hat das gesehen. Die Muster für die Decken und die Jacquard-Stoffe zu entwerfen, hat mir immer schon viel Spaß gemacht, und wie du weißt, haben sich die Decken zu Papas Zeiten gut verkauft. Ich bin mir sicher, dass sich das mithilfe der Naturfarben von June sogar noch steigern ließe. Außerdem bin ich handwerklich bewandert, wie selbst du in den letzten Monaten bemerkt haben dürftest.«

»Stimmt«, Fiona lachte. »Es ist nicht alles schlecht, was du anpackst.«

April hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken, die ihr auf einmal in die Augen schossen.

»Nichts für ungut«, sagte Fiona leise und legte eine Hand auf die von April. »Ich war wieder einmal zu hart, entschuldige. Ich habe hierbei tatsächlich Vertrauen in dich. Du hast Papa immer auf die Finger gesehen und alles übers Spinnen und Weben gelernt.«

»Ich kann dir die Maschinen im Schlaf auseinandernehmen und wieder zusammenbauen. Ich kann neue Lochkarten stanzen und die Maschine allein einrichten.«

»Was möglicherweise auch nötig sein wird. Aber ich glaube tatsächlich, dass du mit der Idee, bei dem weiterzumachen, was Vater begonnen hat, auf dem richtigen Weg bist.«

»Danke, Schwesterherz.«

»Dann denk dir schöne Muster für die Decken aus und finde viele Abnehmer. Hast du denn heute bei der Genossenschaft mal angefragt, ob du sie darüber verkaufen kannst?«

»Nein, hab ich nicht«, entgegnete April. »Ich will es erst einmal allein ausprobieren. In die Genossenschaft könnte ich später immer noch eintreten.«

Fiona nickte. »Du hast recht. Du musst wissen, was du machst. Hauptsache, deine neueste Idee macht mich, ich meine, uns, nicht bettelarm. Apropos – wie wäre es, wenn du deinen neuen Tatendrang an der Wäsche im Korb ausleben würdest?«

»Zu Befehl, mon général«, antwortete April. Was immer Fiona vorbrachte – jetzt, das wusste April, war ihre Zeit gekommen. Jetzt würde sie ihre Sache durchziehen, komme, was wolle! Sie würde es allen zeigen!

Einen Moment hingen die Schwestern ihren Gedanken nach. Ihr Schweigen machte die wohltuende Stille, die an diesem Ort jenseits der Betriebsamkeit Kirkwalls herrschte, überdeutlich.

April schaute beunruhigt aus dem Fenster und beobachtete, wie schwere, violett-schwarze Wolken aufzogen. Sicher würde es gleich ein Gewitter geben. »Ich sollte hinübergehen und nachsehen, ob auch wirklich alle Fenster geschlossen sind«, sagte sie.

»Tu das, ich werde in der Zwischenzeit meine Tasche packen, John wollte in zehn Minuten hier sein – und du weißt, wie pünktlich er immer ist.«

Johns Frau Julie hatte vor vierzehn Tagen ihr drittes Kind entbunden und würde morgen nach Hause kommen. Wie April es mit June gehalten hatte, so half auch Fiona ihrer Freundin in der ersten Zeit nach der Geburt des Kindes, wofür sie sogar ihren Urlaub opferte. »Julie ist sicher sehr aufgeregt oder nicht?«

»Sie weniger, es ist schließlich ihr drittes Kind, aber John ist noch nicht ganz er selbst«, erwiderte Fiona lächelnd. »Sie ist froh, dass ich Urlaub bekomme, um ihnen am Anfang zu helfen und vor allem auf die beiden kleinen Jungs aufzupassen.«

April würde das Haus zwei Wochen lang für sich alleine haben – etwas, das selten vorkam und sie mehr als erleichterte, schon, um mit den ersten Schwierigkeiten fertigzuwerden. Falls welche auftauchten. So könnte sie alles ohne Bevormundung und Einmischung ihrer Schwester regeln. Sie stand auf und eilte nach draußen, um die Fenster im Haus auf der gegenüberliegenden Straße zu schließen.

Als sie zurückkam, war John bereits dabei, Fionas Gepäck einzuladen. Die Schwestern umarmten sich, dann stieg Fiona in den Wagen. John nickte April kurz zum Abschied zu, dann raste er in halsbrecherischem Tempo die stille Straße hinunter.

2

April war allein.

Sie ging zurück ins Haus. Die lautlose Stille erschien ihr mit einem Mal fremd. Angesichts der folgenden Tage, die sie auf sich gestellt in dem Haus verbringen würde, ergriff sie plötzlich ein flüchtiges und bislang ungewohntes Gefühl der Einsamkeit. Dabei hatte sie sich eben doch noch auf das Ungestörtsein gefreut. Obgleich achtundzwanzig Jahre alt, hatte sie lediglich während ihrer Zeit in London allein gelebt. Ein Jahr hatte sie es bei ihrer Tante Isobell ausgehalten, wohin die Flucht vor Nigel sie geführt hatte. Alle in der Familie waren sich einig gewesen, dass diese Auszeit nötig war, so sehr, wie April unter Nigels Untreue gelitten hatte. Ein Jahr hatte sie in Londoner Hotels als Zimmermädchen gearbeitet, bis sie diesen Job aufgegeben hatte. Sie war keine Freundin der Großstadt. Kirkwall reichte ihr völlig.

Nun also zwei Wochen ohne Fiona. Diese Tage würden ihr guttun. Sie würde Muße haben, sich in ihr neues Betätigungsfeld einzuarbeiten, denn die Wolle der Genossenschaft würde schon in den nächsten Tagen geliefert werden. Und nicht nur das, sie würde vielleicht sogar Muße zur inneren Einkehr finden. Ein ungewohnter Zustand, den es auszuprobieren galt.

Im letzten halben Jahr war ihr erst langsam, dann immer deutlicher klar geworden, dass sie einige Dinge in ihrem Leben entscheidend ändern musste. Dieser Gedanke war fremd und beunruhigend, doch empfand sie gleichzeitig eine nie gekannte Lust auf das Leben. Es war gerade so, als ob sich die kraftvollen Energien, die in ihr steckten, erst nach dem Tod der Eltern ihre Bahn nach außen gesucht hätten.

Seit sie in London gearbeitet hatte, war ihr klar geworden, dass sie das geruhsame Leben auf den Orkneys bevorzugte. Sie liebte die Orkneys, ebenso wie Fiona, aber hier Arbeit zu finden, die einen ernährte und sogar noch Spaß machte, war nie einfach gewesen. Ihre Schnoddrigkeit war größtenteils gespielt. Tatsächlich hatte ihr berufliches Desaster sie in den vergangenen Jahren bei Weitem nicht so kalt gelassen, wie es für Außenstehende den Anschein hatte, und sie manch schlaflose Nacht gekostet.

Hatte ihre Familie eigentlich je erkannt, wie verschlossen sie wirklich war? Ihr Vater vielleicht. Auf den Grund ihrer Seele hatte sie bisher kaum jemanden blicken lassen, nicht einmal Sandy, ihre zweite enge Freundin neben June.

Dies alles sollte nun ein Ende haben. Auch wenn es ihr niemand zuzutrauen schien: In ihr schlummerte mehr, als sie bisher ausgelebt hatte, davon war sie fest überzeugt. Die Dinge hatten an Klarheit gewonnen, und diesmal verfügte sie über ausreichenden Mut und Entschlossenheit, ihre Ideen auch in die Tat umzusetzen. Sie strömte geradezu über vor Kreativität. Und dieses Potenzial würde sie jetzt nutzen.

Beinahe euphorisch setzte sie sich an den Schreibtisch in ihrem Zimmer, um den erneuten Versuch zu unternehmen, eine Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen und sich mit den umfangreichen Steuergesetzen zu befassen.

Anderthalb Stunden später schaltete sie genervt den Computer aus. Es war ein hartes Stück Arbeit. Sie hatte das Gefühl, in dem Wust von Zahlen und Paragrafen zu ertrinken, die über ihr zusammenzuschlagen schienen wie ein Tsunami. Sie ahnte bereits, dass sie möglicherweise einen Partner suchen musste, der ihr bei der geschäftlichen Seite ihres Projekts helfen konnte.

Sie seufzte und stand auf. Jetzt war sie erst einmal reif für ein entspannendes Bad und eine Maniküre.

Später ging sie, eingehüllt in ihren vergilbten Bademantel, ins Wohnzimmer. Sie hatte sich eingecremt und eines von Fionas Parfums benutzt. Schade, dass niemand da war, der an ihr schnupperte und sie dann liebevoll in den Arm zog, durchzuckte es sie.

Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster und wich sogleich erschrocken zurück, als ein gewaltiger Blitz den Himmel in gespenstisch blaues Licht tauchte, gefolgt von einem krachenden Donnerschlag. Normalerweise schreckten sie weder Tod noch Teufel – bei Stürmen ging ihr das Herz auf, sofern sie sich im Haus oder Auto befand, und nicht gerade auf hoher See, oder das Wellblechdach der Scheune Gefahr lief, abzuheben. Donner überstand sie ohne Herzklopfen, doch Blitze waren die Hölle.

Unruhig betrat sie die Küche, um zu prüfen, ob auch hier sämtliche Fenster geschlossen waren und ob sie vor allem die Stecker aus der Dose gezogen hatte. Der Raum erweckte ein Bild von Einfachheit und ursprünglichem Charme, mit dem Steinfußboden und der holzverkleideten Decke, den Kiefernholzschränken vor der weiß getünchten Wand, gemauert aus Felssteinen der Insel. An den Fenstern waren von innen Klappläden angebracht, die im Winter zusätzlichen Schutz vor den wilden Stürmen boten. April warf einen letzten Blick auf die dämmerige Moorlandschaft, um dann die Läden zu schließen.

Da sah sie im Aufzucken eines weiteren Blitzes eine männliche Gestalt, die ohne jeden Regenschutz durch dieses Unwetter lief – von einem Hut, den er oder sie tief ins Gesicht gezogen hatte, einmal abgesehen. War diesem Unglückseligen denn nicht bewusst, dass er in der baumlosen Gegend die Blitze geradezu anzog?

Ohne lange zu überlegen, rannte April in den Flur und riss die Haustür auf. Sie stemmte die Füße fest auf den Boden, damit der Sturm ihr die Tür nicht aus der Hand riss. Gnadenlos peitschte ihr der Wind den Regen ins Gesicht. Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und schrie: »Hallo, Sie da! Kommen Sie rein!«

Der Mann blieb stehen, zögerte einen kurzen Moment, dann steuerte er auf das Haus zu.

»Wie können Sie bei diesem Unwetter draußen herumlaufen?« Der dichte Regenschleier nahm April jede Sicht, sodass sie nur schemenhaft wahrnahm, wie der Fremde sich mit nervtötender Langsamkeit dem Eingangsbereich des Hauses näherte. Erneut brachte ein Donnerschlag, dem unverzüglich ein heftiger Blitz folgte, die Luft zum Erzittern. April zuckte vor Schreck zusammen und zog sich schnell in den Flur zurück.

Wenn er sich nicht beeilt, überlegte sie die Augen verdrehend, würde sie den Teufel tun, ihm noch länger die Tür aufzuhalten. Schließlich wollte sie sich nicht auch der Gefahr aussetzen, vom Blitz erschlagen zu werden. Außerdem gab es die Kugelblitze, für die eine offene Tür einer Einladung gleichkam, das wusste doch jeder.

Endlich hatte er das Haus erreicht.

»Nun kommen Sie schon!« Beinahe hätte sie ihn am Kragen ergriffen und ins Haus gezogen. Sie machte einen Schritt zur Seite. »Sonst werde ich auch noch pitschnass!« Selbst ihr fiel auf, dass ihr barscher Ton nicht gerade einladend klang, aber für Höflichkeiten, befand sie, war später immer noch Zeit. Erst das Geräusch der zufallenden Tür, die das gespenstische Wetterleuchten aussperrte, machte ihr bewusst, dass sie einen Wildfremden in ihr Haus gebeten hatte, ohne ihn vorher genauer zu betrachten.

Die Regentropfen perlten von der Krempe seines Huts und fingen sich in seinen langen dunklen Haaren, die unter dem Hut hervorlugten. Die an den Oberschenkeln durchweichte Jeans klebte an seinen langen, schlanken Beinen. Trotz des Regens trug er die Lederjacke offen. Der eng anliegende Rollkragenpullover unter der Jacke unterstrich seinen beinahe hageren Körperbau. Der tief heruntergezogene Hut ließ noch keinen Blick in sein Gesicht zu.

»Vielen Dank für die freundliche Einladung.«

Seine Stimme ging April unter die Haut wie ein schmerzhafter Nadelstich. Ihre Hand fuhr zum Mund.

Er nahm den Hut vom Kopf, und ihre Ahnung bestätigte sich. »Nein!«

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