Wenn der Almrausch blüht - Gabriele Raspel - E-Book

Wenn der Almrausch blüht E-Book

Gabriele Raspel

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Beschreibung

Christine lebt auf den ersten Blick in einem Paradies. Mit ihrem Mann Stefan und den zwei Kindern wohnt sie bei ihren Schwiegereltern auf einem Ponyhof inmitten der herrlichen bayerischen Landschaft. Doch in ihrer Ehe beginnt es zu kriseln. Als Stefan bei einem Autounfall ums Leben kommt, enthüllt sich endgültig die Wahrheit: Der Hof ist verschuldet, Stefan wollte sie verlassen, die Schwiegereltern stellen sich gegen sie. Christines Welt stürzt mit einem Mal zusammen. Die starke und entschlossene junge Frau muss nun allein einen Weg finden, den Hof und ihre Familie zu retten. Doch zum Glück gibt es den gutaussehenden Tierarzt Peter und den gutmütigen Hund Felix, die ihr neuen Lebensmut geben.

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Veröffentlichungsjahr: 2014

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LESEPROBE zu

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2013

© 2013 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelfoto: © Günter Menzl – Fotolia.com (oben) und KR MEDIA Productions – Fotolia.com (unten)

Lektorat: Iris Erber, Aistersheim

Satz und Datenkonvertierung: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

E-Book ISBN 978-3-475-54281-7 (epub)

Gabriele Raspel

Wenn der Almrausch blüht

Christine lebt auf den ersten Blick in einem Paradies. Mit ihrem Mann Stefan und den zwei Kindern wohnt sie bei ihren Schwiegereltern auf einem Ponyhof inmitten der herrlichen bayerischen Landschaft. Doch in ihrer Ehe beginnt es zu kriseln. Als Stefan bei einem Autounfall ums Leben kommt, enthüllt sich endgültig die Wahrheit: Der Hof ist verschuldet, Stefan wollte sie verlassen, die Schwiegereltern stellen sich gegen sie. Christines Welt stürzt mit einem Mal zusammen. Die starke und entschlossene junge Frau muss nun allein einen Weg finden, den Hof und ihre Familie zu retten. Doch zum Glück gibt es den gutaussehenden Tierarzt Peter und den gutmütigen Hund Felix, die ihr neuen Lebensmut geben.

1

Es war der zehnte April, Christine würde das Datum nie vergessen. In einer Mischung aus Frust und Niedergeschlagenheit schaute sie am Fenster ihrem Mann Stefan hinterher, der mit wehenden Haaren – er hätte längst zum Frisör gemusst – wutentbrannt das Haus verlassen hatte. Mit seinen für ihn typischen ungeduldigen Riesenschritten erreichte er den recht alten VW, öffnete die Tür, warf den Rucksack, den er aus einem unerfindlichen Grund bei sich trug, auf den Rücksitz und sprang ins Auto. Die Tür knallte zu, er ließ den Motor an und trat kräftig in das Gaspedal des betagten Golfs, sodass der Motor aufheulte. Und wie immer schoss er durch das hohe Holztor vom Hof, sodass der Kies zu beiden Seiten davonflog.

Wie oft hatte sie ihn gebeten, nicht derart aus der Einfahrt des Bauernhofs zu preschen. Der rechteckige Innenhof war geschützt durch Stallgebäude links und rechts des Haupthauses und die mannshohe Mauer, die von einem Doppeltor aus solider Eiche unterbrochen wurde. Es konnte immer einmal sein, dass gerade eines der Nachbarkinder mit seinem Fahrrad vorbeikam. Von links ging es steil den Berg hinauf zum Huber-Hof, von dem der kleine Michael seinem Radl gern freien Lauf ließ, ohne nach links oder rechts zu schauen. Er sollte viel mehr Rücksicht auf die Liesl von der Bräustub’n nehmen, die jeden Morgen um diese Zeit mit ihrem Dackel Waldi verträumt den Weg hinaufspazierte, vorbei an der Tierarztpraxis des alten Dr. Wenger, oben am Wasserfall auf der Bank verschnaufte und danach genauso selig in die Vergangenheit versunken wieder heimwanderte. Sie war bereits vierundachtzig, hörte schlecht und weigerte sich strikt, obwohl ihre Augen längst nicht mehr so scharf wie früher waren, draußen eine Brille zu tragen. Ja, die Liesl war auch heute noch eitel. Doch wie immer hatte Stefan die Warnungen seiner Frau in den Wind geschlagen.

Es war ein trostloser, diesiger Morgen, der eher zu einem November als zum Frühlingsbeginn gepasst hätte. Christine wandte sich zur Schmalseite der Küche und schaute aus dem Fenster, das hinunter zum Dorf wies. Sie liebte diesen Fernblick, vor allem, wenn im Sommer leichter Morgennebel den ersten Sonnenstrahlen wich, wenn Rittersporn und Storchschnabel mit ihrem tiefen Blau das Rosa der Rosenbüsche hervorhoben, der Lavendel und ganz besonders am Abend das Geißblatt mit ihren Düften die Sinne betörten. Heute jedoch wirkte alles grau in grau, und die hohen Berge, deren weiße Gipfel jetzt der Nebel verschluckte, verstärkten noch die diffuse Farblosigkeit. Selbst der Anblick der Pferde auf einer der Koppeln vermochte es heute nicht, sie zu erheitern.

Es nieselte stetig, als wollte es nie wieder aufhören. So ging es nun schon seit Tagen, und der Wetterbericht hatte keine Hoffnung auf Besserung versprochen. Auch der Blick in den romantischen Innenhof ihres alten Bauernhauses aus dem Jahre sechzehnhundertdreizehn, der sie bei ihrem ersten Besuch bei Stefans Eltern so verzaubert hatte, machte Christine heute keine Freude. Er war bewachsen mit Ebereschen und Holunderbüschen, zwischen denen Blumenbeete und das Spalierobst an den Wänden vom Frühling bis zum Herbst für bunte Farbflecken sorgten. Rings um das Hoftor rankte sich uralter wilder Wein, in dem es im Spätsommer nur so summte von Insekten, die sich am Saft der unscheinbaren Früchte labten, und der im Herbst mit seiner wunderbar roten Färbung immer wieder beglückte. Exakt die Mitte des Hofs zierte ein kleiner Springbrunnen, der so sanft plätscherte, dass man dabei einschlafen mochte, sofern man die seltenen Gelegenheiten für ein kurzes Sonnenbad in einem der zerschlissenen Liegestühle nutzen konnte.

Heute entsprach das Wetter haarscharf Christines Seelenzustand. Ihre Euphorie von gestern hatte sich am Abend beinahe verflüchtigt, als Stefan sich bereits am frühen Nachmittag zum Junggesellen-Abschied seines Spezls Hermann aufgemacht und trotz ihrer starken Erkältung nicht mehr beim Füttern der Pferde geholfen hatte.

Sie ging hinüber zur Küchenzeile, wo die Kaffeemaschine stand, und schenkte sich eine Tasse vom mittlerweile lauwarmen Kaffee ein.

Sie lehnte sich an das große Buffet und schaute sich versonnen in der Küche um. Seit ihrer Hochzeit vor acht Jahren hatte sich nichts darin geändert. Es waren die Möbel ihrer Schwiegermutter, der Geschmack ihrer Schwiegermutter, das Eigentum der Schwiegereltern. Zum Glück hatte Luise einen Stil, der Christines entsprach. Sie bevorzugte schlichte, von Hand gefertigte Möbel aus Pinienholz und lehnte kitschige Accessoires ab. Die Wandpaneele waren ohne Bilder und aus altem Arvenholz, dessen honigfarbener Ton eine anheimelnde Gemütlichkeit verströmte. Um den viereckigen Holztisch standen die ausladende Eckbank und vier Stühle mit geflochtenen Sitzen.

Sie bewohnten gemeinsam das große Haupthaus mit seinen zahlreichen Zimmern. Und obwohl ein jeder Raum groß genug war, fehlte ihr manchmal ein wenig mehr Platz für sich und Stefan. Wenn es nach ihr ginge, würde sie doch lieber ein eigenes Haus bewohnen. Sie müssten ja nicht wegziehen, aber ein Häuschen auf dem Grundstück für Stefan, sie und die Kinder wäre schon ganz angenehm gewesen. Sie könnten sich zum Mittagessen treffen oder abends, ganz egal. Doch es wäre ein wenig Luft zwischen ihnen gewesen, was ihrem Zusammenleben nur gutgetan hätte. Aber bei ihnen gab es keinen Austrag wie auf anderen Höfen, kein separates Häuschen für die Altbauern – allerdings waren die Schwiegereltern auch noch nicht alt. Hubert, ihr Schwiegervater, war vierundfünfzig und Luise erst zweiundfünfzig. Sie besaßen drei Pferdekoppeln für die zehn Shetlandponys. Ihr Schwiegervater half nur sporadisch bei den Pferden, lediglich beim Heuen legte er mit Hand an. Ihre Schwiegermutter kümmerte sich gemeinsam mit Christine um die Tiere, Stefan half nur, wenn es seine Tätigkeit als Forstgehilfe zuließ – was selten der Fall war, denn er begab sich nur allzu gern nach seiner schweren Arbeit ins nächste Gasthaus. Und in den Ferien sorgten die beiden Frauen für die Kinder, die ihre Ferien auf dem Hof verbrachten. Eigentlich wäre die Arbeit gut zu schaffen – wenn die Männer ein bisschen mehr mithelfen würden. Und dafür hätten die beiden Frauen zu sorgen. Mit etwas gutem Willen wäre das wohl alles zu schaffen.

Sie schaute auf die Uhr. Bereits neun. Wenn es wirklich klappen sollte mit einer Stelle als Tier-Heilpraktikerin im Nachbardorf, wäre sie jetzt schon eine halbe Stunde zu spät dran. Aber noch hatte sie den Job nicht. Und wenn im Sommer wieder die Kinder ins Haus einfielen, um ihre Ferien mit den geliebten Shetlandponys zu verbringen, dann musste Luise diese Arbeit allein übernehmen oder ihren Hubert an die Kandare nehmen, sie mehr bei ihrer Arbeit auf dem Pferdehof zu unterstützen. Im Mai könnte sie ihre Tätigkeit außer Haus beginnen – falls es klappte –, und bis dahin hätte die Familie nicht viel Zeit, sich neu zu organisieren. Doch sie freute sich auf die neue Herausforderung. Dann könnte Sie alles schaffen – wenn sie nur ihre Ehe wieder in den Griff bekäme.

Sie gab Milch und Zucker in den Becher und wankte zur Eckbank aus Kiefernholz, die mit bunten, von ihrer Schwiegermutter mit Blumen bestickten Kissen geschmückt war. Wie betäubt ließ sie sich darauf nieder. Blicklos starrte sie auf den Topf mit den Eriken, den sie gestern in ihrer Freude über die neuen Perspektiven zusammen mit den passenden Kerzen im Blumengeschäft ihrer Freundin Bärbel erstanden hatte – eine »Geldverschwendung«, über die sich ihr Mann ebenfalls erregt hatte. Sie könnte bei Dr. Burger arbeiten, wenn dessen Frau sich zur Ruhe setzen würde. Frau Burger wollte sich bald entscheiden, hatte sie Christine versprochen, und es hörte sich vielversprechend an. Sie hatte bereits vor dem Frühstück die Pferde gefüttert – allein, da ihr Mann noch seinen Rausch ausschlief. Auch Luise, die sich sonst morgens immer um die Pferde kümmerte, war heute ausgefallen. Die Grippe hatte sie erwischt, mit Fieber und allem, was dazugehörte, und sie hatte Christines Rat angenommen, sich wenigstens für ein paar Tage ins Bett zu legen. Dann hatte sie das Frühstück bereitet, ihrer Schwiegermutter einen Kaffee und eine Scheibe Toast sowie ein Ei hinauf in das Schlafzimmer getragen und danach ihre beiden Kinder, den achtjährigen Philip und die sechsjährige Franzi, ausnahmsweise mit dem Auto zur Schule gefahren, weil sie spät dran waren. Sie selbst hatte nichts hinuntergebracht. Hubert, ihr Schwiegervater, war heute Morgen überhaupt noch nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich lag auch er noch im Bett. Sein Alkoholkonsum war in den letzten Tagen wieder einmal sehr angestiegen. Das Wetter machte ihm schwer zu schaffen. Er litt unter der Winterdepression, die bereits im Herbst begann und bis in den Frühling hinein dauerte. Ja, wenn sie nicht die Aussicht auf die neue Stelle hätte, könnte sie manchmal durchaus verzweifeln.

Heute hatte Stefan sie besonders hart angegangen. Er neigte wie sein Vater dazu, aggressiv zu reagieren, wenn er getrunken hatte.

»Wenn dir das alles mit mir nicht mehr passt, dann kannst du ja gehen«, hatte er geschrien. »Da ist die Tür!«

Sie hatte ihn lediglich daran erinnert, dass er diesen Termin mit dem Lieferanten hatte, dem er nicht nur die letzte, sondern auch noch die vorletzte Rechnung schuldete, und sich um neue Konditionen bemühen sollte. Es sah nicht gut aus, dass man sich zum wiederholten Male nicht blicken ließ, wenn der Mann mit einem reden wollte. Denn er war nun einmal von der alten Sorte, die jemandem lieber in die Augen sah, statt mit der Person über ein seelenloses Telefon, wie er es nannte, zu verhandeln. Dann hatte Stefan sie gefragt, warum sie schon wieder so schlecht gelaunt sei, und sie machte ihm klar, dass sie wegen ihres starken Hustens eine fast schlaflose Nacht hinter sich hatte. Worauf er meinte, sie hätte nur wach gelegen, um ihn zu kontrollieren, wann er nach Hause gekommen wäre.

Und so war ein Wort dem anderen gefolgt. Wie zermürbend solche Auseinandersetzungen waren! Doch es konnte nur besser werden. Diese Stelle würde ihnen ein zusätzliches Einkommen bescheren, falls es dazu kam. Aber Hanne Burger hatte ihr große Hoffnung gemacht. Franzi, die gerade erst eingeschult worden war, würde zwar immer früh zu Hause sein, doch Luise hatte ihr versprochen, sich um sie zu kümmern. Und das glaubte sie ihr sogar, denn wenn es um Philip ging, so konnte sie sich auf das Wort ihrer Schwiegermutter nicht immer verlassen. Philip war nicht gerade ihr Lieblingsenkel. Aber Franzi – die behandelte sie milder.

Christine wurde auf einmal wehmütig. Warum nur hatte Stefan seiner Mutter verraten, dass Philip womöglich nicht sein leiblicher Sohn sein könnte? Christine konnte es nicht mit Sicherheit ausschließen, dass Peter Leitner der Vater des Kindes war. Sie war ein paar Monate mit dem Tierarzt befreundet gewesen, der in einer Rosenheimer Praxis arbeitete, bevor sie sich in Stefan verliebte. Philip war oft traurig, wenn Luise ihn wieder einmal wegen irgendeiner Nichtigkeit angefahren hatte. Sie entschuldigte die Oma bei ihm stets mit einer schwachen Gesundheit – doch Luise war kerngesund, wenn man von ihrer Migräne einmal absah.

»Sind alle Menschen so böse, wenn sie krank sind, Mama?«, wollte Philip einmal wissen.

»Nein, nicht alle.«

»Und warum dann die Oma?«

Christine war nicht sofort eine Antwort eingefallen. Dann erwiderte sie: »Weißt du noch, wie böse du da gewesen bist, als du voriges Jahr diese Ohrenschmerzen gehabt hast und so gern rausgegangen wärst, um dein neues Fahrrad auszuprobieren?«

»Klar doch«, nickte Philip.

»Siehst du. Und die Oma, die kann sich nicht immer so um ihre Pferde kümmern, weil sie so oft Schmerzen hat.«

»Sind Menschen immer böse, wenn sie Schmerzen haben?«

Christine seufzte innerlich. »Nein, nicht alle. Manche sind dann ganz still, so wie Franzi. Wenn sie Halsschmerzen hat, sagt sie kaum etwas. Aber nicht jeder Mensch ist gleich. Luise hat sehr viel Temperament. Sie muss immer laut schimpfen, während andere es nur innerlich tun«, endete sie unsicher. Himmel, wie sollte sie Luises Bosheit ihrem Sohn gegenüber nur erklären, ohne sie zu verunglimpfen, was das Verhältnis nicht verbessern würde? Luise war stark, wenn es um ihre geliebten Pferde ging, doch ansonsten wurde sie häufig von Migräne heimgesucht, gegen die kein Mittel half.

»Ich verstehe schon. In echt ist sie vielleicht ganz nett, und nur weil sie manchmal krank ist, ist sie so böse. Ich wünschte, sie wäre gesund, dann wäre sie vielleicht lieb«, beendete ihr Sohn das Gespräch.

Ja, mein Schatz, das wünschte ich mir auch, erwiderte sie im Stillen.

Christine wandte sich den anstehenden Arbeiten zu und überlegte, womit sie zuerst beginnen sollte, als sie ihren Schwiegervater die Treppe hinunterpoltern hörte.

»Guten Morgen, Vater, wie geht’s dir heute?«

»Wie soll’s einem schon gehen, wenn die Frau die ganze Nacht hindurch bellt, als hätte ihr letztes Stündlein geschlagen«, kam die ungnädige Antwort.

»Steck dich nur nicht an, du Ärmster. Ich werde gleich zur Apotheke fahren und ihr einen Hustenstiller kaufen, damit sie Ruhe hat.«

Christine schaute hinauf zu dem hochgewachsenen Mittfünfziger. Ihr Schwiegervater sah immer noch attraktiv aus mit dem grauen Haar, das ihm in vollen Locken in die hohe Stirn fiel. Allerdings hatte der Alkohol mittlerweile seine Spuren hinterlassen. Sein Elan und seine Kraft, die er laut Luise früher besessen hatte, waren verloren gegangen. Stefan war sein Ebenbild, nur besaß er glattes Haar, das er kürzer geschnitten trug.

Hubert Maier war ein fideler Mann, wenn er nüchterne Zeiten hatte, die immer seltener wurden, doch ein nörgelnder Griesgram, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte. Er konnte sehr charmant sein, wenn ihm danach war, aber wehe, er war schlecht gelaunt, so wie heute. Kein Wunder, dass Luise so oft unter Migräne litt: Ihr Mann war ein Faulpelz, der zu oft mit Freunden zusammensaß und Bier trank, und mit dem dann nicht gut Kirschen essen war.

»Ich könnt auch was zum Schlafen gebrauchen, schließlich raubt sie mir genauso den Schlaf«, maulte er.

Christine seufzte innerlich. Eigentlich hätte sie bei der Heimfahrt schon daran denken können, bei der Apotheke vorbeizufahren, doch da war sie damit beschäftigt gewesen, was sie heute noch alles zu erledigen hatte. So musste sie gleich das Fahrrad nehmen, denn sie wusste nicht, wann Stefan von seiner Tour zurück sein würde. So weit waren sie bei ihrem Streit gar nicht gekommen. Außerdem nervte es ihn, wenn sie ihn jedes Mal fragte, wann er nach Hause käme.

»Ich mach dir rasch frischen Kaffee. Magst du ein Spiegelei?«, fragte sie Hubert.

»Nein, danke, Kaffee reicht.« Er griff zur Zeitung – das Gespräch war beendet.

Christine gab frisches Wasser in die Kaffeemaschine und Kaffeepulver in den Filter. Während der Kaffee durchlief, ging sie rasch die Treppe hinauf zu ihrer Schwiegermutter, um das Frühstückstablett abzuholen. Zum Glück lag zwischen dem Schlafzimmer der Schwiegereltern und ihrem eigenen der lange Flur. Früher hatten ihre Schwiegereltern Pensionsgäste aufgenommen, doch das war lange vor ihrer Zeit gewesen. Als sich herausstellte, dass der Einbau der Bäder für jedes einzelne Zimmer zu teuer werden würde, hatte man auf diese Zusatzausgaben verzichtet. Allerdings bekamen sie selbst ein eigenes Bad, sodass es Christine erspart geblieben war, dieses auch noch mit den Schwiegereltern teilen zu müssen.

Dafür hatten Franzi und Philip jeder für sich ein Zimmer. Ihre Tochter allerdings blieb selten allein darin, wohingegen sich Philip immer häufiger dorthin zurückzog.

»Na, Mutter, hast du etwas hinunterbekommen?«, fragte sie betont fröhlich, doch ihr Blick auf das Tablett belehrte sie eines Besseren. Der Toast lag halb angenagt da, das Ei war unberührt und die Kaffeetasse ebenso halb voll wie das Glas Orangensaft.

»Ging so. Der Toast war lasch, aber ich hab ja sowieso nicht viel Appetit. Und den Orangensaft kannst du selber trinken. Der ätzt mir ja alles weg, wo mir der Hals so schon genug weh tut.«

»Ich hab schon zum Vater gesagt, dass ich gleich noch schnell in die Apotheke fahre, um dir einen Hustenstiller zu kaufen.«

»Geh, Hustenstiller, ich brauch was zum Lösen«, krächzte Luise. »Oder mach mir ein paar Zwiebeln mit Honig, die löffle ich dann, ist noch immer besser als diese Chemie.«

Christine betrachtete sie mitleidig. Ja, Luise sah wirklich schlecht aus. Früher war sie eine Schönheit gewesen, wie die wenigen Fotos, die aus ihrer Jugend existierten, bewiesen. Und auch heute war sie eine blendende Erscheinung. Ihr dichtes Haar, das früher pechschwarz gewesen war, war nun mit starken grauen Strähnen durchzogen. Luise war in den letzten Jahren ein wenig rundlich geworden, doch sie war gelenkig und besaß einen raschen Schritt, bei dem selbst Christine Mühe hatte, mitzuhalten. Außerdem konnte sie zupacken wie zwei Männer – wenn ihr nicht der Kopf dröhnte oder eine Erkältung sie erwischte, was in den letzten Jahren immer häufiger der Fall gewesen war. Heuer war der Husten schlimmer denn je, und sie litt sehr unter ihren Hitzewellen.

»Du hast recht. Ich setze dir die Zwiebeln an, das ist sicherlich das Beste. Und sollten sie doch nicht ausreichen, besorge ich zur Sicherheit noch einen Hustensaft zum Beruhigen, damit du wenigstens ein bisschen Schlaf bekommst«, antwortete Christine mit sanfter Stimme. »Soll ich dir eine Wärmflasche bringen?«, fügte sie dann noch fürsorglich hinzu.

»Nein, danke, heiß genug ist mir auch ohne Wärmflasche«, erwiderte Luise mit müder Stimme. »Hilft ja doch alles nichts.«

»Außer Bettruhe, stimmt.«

Sie ging an den Bettrand. »Soll ich dir beim Waschen helfen? Kannst du aufstehen? Ich könnte dich mit Franzbranntwein abreiben. Magst du das?«, fragte sie und hoffte, dass man ihrer Stimme nicht die Bangigkeit heraushörte. Ein wenig fürchtete sie sich davor, die Frau zu waschen. Aber das wollte sie sich nicht anmerken lassen. Luise litt schließlich wirklich.

»I wo, das schaff ich schon noch allein«, sagte Luise unwirsch.

Christine unterdrückte ein Seufzen. Wie schade, dass sie es nicht geschafft hatten, ein besseres Verhältnis zueinander zu finden. Sie war schon froh, wenn Luise sie überhaupt zur Kenntnis nahm und nicht über irgendetwas nörgelte, falls sie wieder einmal ihre Migräne oder die Hitzewellen plagten.

Sie hatte zu ihrer Schwiegermutter ein zwar höfliches, jedoch auch sehr distanziertes Verhältnis. Von Herzlichkeit keine Spur, so sehr Christine sich auch bemühte. Wann kamen sie und Luise sich schon nahe? Gerade einmal zu Weihnachten gab es eine Umarmung. Zum Geburtstag sparten sie sich beide diese Geste.

Wie schade. So sehr hatte sie gehofft, dass sich dies besserte, wenn erst einmal das erste Kind auf die Welt kam. Doch Philip wurde geboren, und das Verhältnis, das ohnehin nicht sonderlich freundschaftlich gewesen war, kühlte eher noch mehr ab. Dabei hätte sie sich so nach einer Mutter gesehnt!

Christines Vater war bei dem Versuch, seinen Freund zu retten, im Meer ertrunken. Ihre Mutter fühlte sich einem Dasein als Alleinerziehende mit einem fünf Monate alten Baby nicht gewachsen und hatte sich daraufhin das Leben genommen. Sie war im Kinderheim groß geworden und mit elf in eine kinderlose Pflegefamilie gewechselt. Ihr Pflegevater, Hermann Kaiser, war freischaffend und ein recht erfolgreicher Künstler, der bereits viel von der Welt gesehen hatte und von dessen Kunst die Familie mittlerweile problemlos leben konnte. Als sie achtzehn war, beschlossen ihre Pflegeeltern, die sie liebten und denen sie noch heute dankbar für diese Liebe war, nach Neuseeland auszuwandern.

Sie fragten Christine, ob sie mitwollte. Doch Christine hing zu sehr an ihrer Heimat und blieb. Ihre Pflegefamilie war wunderbar und machte ihr keine Vorhaltungen, überließ ihr jedoch einen ansehnlichen Batzen Geld für ihre Ausbildung. Da Christine Tiere über alles liebte, entschied sie sich für den Beruf der Tierheilpraktikerin und schaffte die Ausbildung in der Rekordzeit von zwei Jahren. So gelang es ihr, eine schöne Stange des Geldes zu sparen – Geld, das nur ihr allein gehörte. Es war nicht leicht gewesen, doch sie war fleißig und wissbegierig und schaffte das anstrengende Pensum, das Themen wie Akupunktur, Homöopathie und viele andere Therapieverfahren für Hunde und Pferde beinhaltete. Während eines Praktikums lernte sie dann Peter Leitner kennen, der sich jedoch für die normale Ausbildung zum Tierarzt entschieden hatte und sie mehr oder weniger belächelte.

Christine riss sich zusammen und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Schwiegermutter.

»Aber bitte nimm meinen Arm und lass dich ins Bad führen. Ich werde dann derweil das Fenster öffnen, damit du frische Luft hast, wenn du zurückkommst«, bat sie.

»Von mir aus«, antwortete Luise. Daran konnte Christine erkennen, dass es ihr tatsächlich nicht gut ging.

»Hast du Fieber gemessen?«

»Nein, aber ich hab kein Fieber, hab ich nie gehabt.«

Schweigend stellte sie Luise die Pantoffeln hin. Dann gingen sie gemeinsam in das Bad, das sich gleich ans Schlafzimmer anschloss, sodass sie nicht über den kalten Flur mussten. Christine zog den Hocker an das Waschbecken.

»Bitte setz dich. Sonst hab ich Sorge, es könnte zu viel für dich sein.«

»Geh, hab dich nicht so«, murrte Luise, setzte sich dann jedoch brav hin. Ihr Atem ging schnell, wie Christine besorgt bemerkte.

»Ich bin gleich zurück«, erwiderte sie. »Ich bring nur eben das Tablett nach unten.«

Mit diesen Worten verließ sie das Bad. Sie ging ins Schlafzimmer, öffnete die Fenster und schüttelte das Bett auf. Dann eilte sie die Stufen hinunter, über den langen Flur in die Küche, wo ihr Schwiegervater immer noch die morgendliche Zeitung las.

»Du hast dir ja noch gar keinen Kaffee genommen«, schalt Christine, nahm einen Kaffeebecher und füllte ihn mit dem starken Gebräu, wie es Hubert liebte. Sie gab einige Tropfen Kaffeesahne hinzu und stellte den Becher auf den Tisch.

Während sie die Zwiebeln schnitt und dann mit Honig vermischte, fragte sie: »Ich fahre gleich zur Apotheke, Vater, soll ich dir was aus dem Dorf mitbringen?«

»Ja, wenn du mir einen Obstler mitbringen könntest«, sagte er.

»Wird gemacht. Hast du Appetit auf ein besonderes Obst, ich meine, neben dem flüssigen?«

»Nein, danke, bring ein paar Weißwürste mit, das langt«, sagte er.

»Fein, die gibt es dann zu Sauerkraut und Brezeln. Ich hab ein schönes neues Sauerkraut-Rezept im Fernsehen entdeckt, mit Apfelmus und Sahne«, sagte Christine heiter.

»Tu, was du nicht lassen kannst«, kam die desinteressierte Antwort.

Ja, Schwiegerpapa, ich lieb dich auch, fügte Christine insgeheim an. Heute war wirklich nicht der schönste Tag. Aber vielleicht klappte es mit der interessanten Stelle bei Dr. Wenger, dann hätte sie Abwechslung, käme mit den Tieren zusammen und mit dankbaren Tierhaltern. Alles würde gut werden.

Sie eilte erneut die Stufen hinauf zu ihrer Schwiegermutter. Die jedoch lag bereits wieder im Bett.

»Mutter, ich fahr jetzt zur Apotheke. Hast du einen Wunsch? Soll ich dir was mitbringen, was zum Lesen, ein Rätselheft? Oder deinen Teekuchen, den du so magst?«

»Nix. Lesen kann ich ja doch nicht. Und Appetit hab ich auch keinen.«

Christine überwand ihre Ungeduld und trat ans Bett. »Die Zwiebeln hab ich schon geschnitten. Heute Abend werde ich sie dir bringen. Dann geht es dir sicher besser.« Sanft strich sie ihrer Schwiegermutter übers Haar – sie konnte sich nicht entsinnen, dass sie sich je zu einer solchen Geste hatte überwinden können, aber diesmal schien es Luise wirklich recht schlecht zu gehen.

»Ruh dich aus, Schwiegermama, wirst sehen, in ein paar Tagen bist du wieder auf der Höhe. Bis gleich dann.«

Mit diesen Worten wandte sie sich ab. Wenn sie sich beeilte, war sie in fünfzehn Minuten in der Apotheke. Wenn sie nicht lange warten musste, konnte sie also in einer halben Stunde wieder hier sein, Essen bereiten, sich ums Vieh kümmern. Dann war vielleicht sogar noch ein wenig Zeit für einen kleinen Spaziergang.

Alle in ihrer Familie liebten es, spazieren zu gehen. Nur dass sie dies nie zusammen taten. Teils, weil es für jeden so viel zu tun gab, teils, weil sie möglicherweise keinen Wert darauf legten, dachte sie bekümmert. Dabei war die Landschaft ringsum so schön. Es gab die Berge, es gab den Wildbach und es gab den Wasserfall, der sich in den Wildbach ergoss, gleich um die Ecke des Hofs, der am Ende des Dorfes allein auf einer leichten Anhöhe lag. Der Wasserfall war nicht sehr hoch, nicht grandios, nichtsdestotrotz erfreute er das Auge, und jeder lenkte gern seine Schritte zu ihm hin. Hier trafen sich die Jugendlichen des Dorfes im Sommer zum Baden oder Flirten. Und hier ruhten auf den Bänken die Älteren. Sie lauschten dem Wasser und genossen dabei die Aussicht auf die sanften Höhen mit ihren gemächlichen Pfaden und die majestätische Nordkette mit ihren schroffen Kalkwänden, in denen die Steinböcke nach langer Zeit wieder Einzug gehalten hatten. Sie dachte an die Pferdekoppeln mit ihren leuchtenden Blumenwiesen, es war alles da, was sich ein Naturliebhaber nur wünschen konnte: Steile Höhenwege mit dichtem Berg-Mischwald und sanfte Wiesenwege, die niemanden anstrengten, weswegen die Gegend auch bei den Städtern beliebt war. Es war eine friedvolle Landschaft, viel Natur, kaum Lärm, eine Landschaft, die das Herz erwärmte. Ach, würde sich dieser Friede doch auch in den Familien niederschlagen, dachte sie bekümmert. Wenn wir uns nur alle Mühe geben, dann wird es klappen. Irgendwie, irgendwann.

Schon viel zuversichtlicher als noch eine Stunde zuvor machte sie sich auf den Weg zum Dorf in die Apotheke.

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