Alles außer Sex Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein - Tatjana Meissner - E-Book

Alles außer Sex Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein E-Book

Tatjana Meissner

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Beschreibung

Tatjana Meissner nimmt in ihrem zweiten Roman punktgenau, herzerfrischend offen und gewohnt humorvoll die zweite - und wie sie findet: bessere - Hälfte ihres Lebens aufs Korn. Die Protagonistin hat endlich den Mann fürs Leben gefunden, die Kinder sind aus dem Haus, sie strotzt vor Kraft und Enthusiasmus und glaubt, das Leben endlich genießen zu können. Wären da nicht diese irritierenden Wahrnehmungsstörungen. Auch wenn sich die Mittvierzigerin fühlt, als läge die ganz große Zukunft noch vor ihr, wird sie vom Leben ausgebremst und muss sich mit neuen, generationstypischen Problemen rumschlagen: mit dem nach Entfaltung schreienden Gesicht, welches ihr jeden Morgen aus dem Spiegel entgegen sieht; mit ihrem Lebensabschnittsbevollmächtigten, der durch seine neue Brille schärfer sieht, aber weniger scharf zu sein scheint. Sie quält sich mit körperlichem Verfall, einschlafender Libido, der Stagnation der Karriere; wundert sich über in Armani-Wolken gehüllte und Mercedes fahrende Freunde in der Midlifecrisis, beschäftigt sich plötzlich mit Erbschaften, Hochzeiten und Todesfällen. Zunehmend trifft sie ihre Freundinnen nicht mehr im Café, sondern beim Arzt oder beim Schönheitschirurgen, ihre Schwester leidet am "Burn-out-Syndrom". Und vor allem: Ihr Traummann macht absolut keine Anstalten, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Nicht mehr zur "Generation i-pod", vielleicht nicht mal mehr zur "Generation Golf" zu gehören, ist ein langer, und schwerer Erkenntnisprozess, den Tatjana Meissner selbstironisch, mit viel Witz und einem frischen Blick auf weibliche Unzufriedenheiten und männliche Unzulänglichkeiten schildert.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

Ohne ausdrückliche Genehmigung von Tatjana Meissner ist es nicht gestattet,

dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen

oder in Datenbanken aufzunehmen.

© Tatjana Meissner, Potsdam,

Büro:

Art-things, Jörg Grimmer

Lennéstraße 43 a, 14469 Potsdam

[email protected]

www.tatjana-meissner.de

Umschlaggestaltung: buchgut, Berlin

unter Verwendung einer Illustration von Lesja Chernish

Die Bücher von Tatjana Meissner erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Für Mama

Ich bedanke mich von Herzen bei allen Freunden und Bekannten, die ihre Geschichten und Erfahrungen mit mir teilten, sich Zeit nahmen, mir zuzuhören, Manuskripte zu lesen und Ideen zu diskutieren. Vor allem danke ich Andreas Bandow, Alexandra Winkler, meiner Tochter und dem Mann, den ich liebe.

Wenn’s im Rücken wehtut

Meine Hände kribbeln, als ob Millionen von Ameisen darin ihrer eifrigen Sammelleidenschaft nachgingen. Die Handschellen sind zu eng und verhindern, dass mein Blut bis in die Fingerspitzen vordringen kann. Hoffentlich sterben mir die Finger nicht schon vor dem anvisierten sexuellen Höhepunkt ab. Carsten greift in unsere Spielzeugkiste und holt einen Seidenschal hervor, den er als Schleife um meine Fußfesseln bindet. Weil ich dadurch fast jeder Bewegungsmöglichkeit beraubt bin, imitiere ich ein wollüstiges Räkeln, um eine bequemere Liegeposition zu finden. Sofort schneiden die Fesseln in meine Handgelenke ein. Um das zu vermeiden, lege ich meine Arme durchgestreckt und so ruhig wie möglich über meinem Kopf ab. Ich hätte doch die Handschellen mit dem rosa Plüsch nehmen sollen, denke ich.

Aber diese kitschig-kuscheligen Exemplare hätten farblich nicht gepasst, weder zu meinem teuren, roten Goldfadenmieder, das Carsten mir zum Geburtstag geschenkt hat, noch zu den halterlosen roten Netzstrümpfen. Ich bin nämlich zu der Ansicht gekommen, dass sich eine Frau über vierzig mit geschmackvollen und der Figur schmeichelnden Klamotten schmücken sollte, wenn schon an Busen und Hintern die Schwerkraft ganze Arbeit leistet.

»Du siehst toll aus«, sagt mein Prinz gerade. Er sitzt neben mir und streichelt meine Oberschenkel, genau an der Stelle, die zwischen Strumpfgummi und Slip unbedeckt ist. Eigentlich habe ich ganz gute Beine. Aber die Spannkraft des Bindegewebes scheint nachgelassen zu haben, denn kein noch so schlaffer Strumpfgummi verhindert diese Hautüberhänge, die Carsten gerade abzutasten scheint.

Es kostet mich jede Menge geistige Anstrengung, mich auf das im Moment Wesentliche zu konzentrieren: das Liebesspiel mit Carsten. Die Wahrheit ist: Ich komme einfach nicht in Stimmung. Ich spiele die geile Naive, lächle Carsten wie ein scheues Rehlein an und mache mir in Wirklichkeit Sorgen, dass die Kerzen im dreiarmigen Leuchter Wachsflecken auf dem Wohnzimmer-Glastisch hinterlassen könnten. »Mhm«, stöhne ich, ziehe den Bauch ein und ärgere mich, dass meine Brust im Liegen das Mieder nicht mehr ausfüllt und die gepolsterten Cups durch Carstens Streicheln Beulen nach innen aufweisen, was ich völlig unerotisch finde.

Was ist nur mit meiner Libido los? Ich habe doch so lange darauf gewartet, dass wir es endlich mal wieder richtig wild treiben. Früher haben mich Fesselspiele immer heiß gemacht, heute scheinen sie zu Durchblutungsstörungen zu führen.

Carsten führt vorsichtig ein Glas Wein an meinen Mund und flößt mir den letzten Schluck unseres leckeren Rieslings ein. »Mhmhmhmehr«, stöhne ich ehrlichen Herzens und bin froh, mich nicht verschluckt zu haben. Sofort steht mein Prinz auf, um Nachschub aus der Küche zu holen. Mit leicht verstrubbelten dunkelblonden Locken, nackt und eindeutig erregt grinst er auf mich herab. Er sieht wirklich toll aus. Als er schon in der geöffneten Wohnzimmertür steht, beleuchtet das aus dem Flur einfallende Licht seinen schlanken Körper von hinten. Sein Schattenriss im Strahlenkranz bewegt sich lässig und selbstbewusst. »Ich liebe dich!«, rufe ich ihm hinterher. Er dreht sich noch einmal um: »Ich dich noch viel mehr!« Er flüstert es fast, wahrscheinlich lächelt er, aber ich kann es nicht erkennen. Dann dreht er sich um und verschwindet in die Küche, um eine neue Flasche Wein zu öffnen.

Dass ich so einen tollen Typen kennenlernen durfte, ist der Wahnsinn. Bis heute, zweieinhalb Jahre nach unserer ersten Begegnung, kann ich es noch nicht fassen, dass ich mit Carsten einen Mann getroffen habe, der meine kühnsten Märchenprinzen-Träume übertrifft. Mit diesem Traummann können weder Familienpapas aus der Werbung noch Rosamunde-Pilcher-Filmhelden mithalten. Carsten ist mein Mr. Right. Er ist der erste Mann in meinem Leben, der in meiner Toilette im Stehen pinkeln darf, und ich bin mir so sicher wie noch nie, dass ich für immer und ewig mit ihm zusammenbleiben werde. Würde er mich fragen, ich sagte: »Ja! Ja! Ich will!« Allerdings hat er mich noch nicht gefragt. Trotzdem habe ich sicherheitshalber schon mal einen Hochzeitstermin im Potsdamer Standesamt reserviert: für den 23. Januar, zu unserem dreijährigen Jubiläum. Bis dahin sind zum Glück noch vier Monate Zeit, denn Carsten weiß noch nichts davon. Um alle nötigen Unterlagen meines nichtsahnenden Bräutigams rechtzeitig abgeben zu können, muss er mir innerhalb der nächsten zwei Monate einen Heiratsantrag machen, denn logischerweise kann mir Carsten seinen Pass, seine Geburts-, Ehe- und Scheidungsurkunde erst geben, wenn er mich gefragt hat und danach von mir erfahren wird, dass der Termin bereits feststeht.

Ich höre einen Korken ploppen. Carsten hat die zweite Flasche Riesling geöffnet und wird sich gleich wieder an mich schmiegen. Die Fesseln fühlen sich immer noch zu eng an. Mein sexuelles Verlangen hält sich offensichtlich in Grenzen. Mist! Wir Frauen haben es ohnehin nicht leicht beim Sex. Immer muss alles genau stimmen, ehe wir dazu bereit sind: die Mondphase, der Menstruationszyklus, die Ordnung im Haus. Den Wäscheständer habe ich vorsichtshalber weggeräumt, die Spinnweben an der Decke direkt über meinem gemütlichen breiten, blauen Sofa zur Vermeidung von Ablenkungsgefahren beseitigt. Wir haben Kerzen angezündet und schöne Musik eingelegt. Musik, die wir beide mögen. Ich habe mir meine Reizwäsche angezogen, damit ich mir keine Sorgen um die Ringe am Bauch machen muss, und der Mann, mein Mann – der stimmt auch. Alles stimmt. Wieso stimmt dann meine Libido nicht? Hallo? Libido?

Vielleicht muss ich in meinem Alter mehr Konzentration aufbieten, um in Stimmung zu bleiben. Ich versuche es und denke an Sex. Sex, Sex, Sex, Sex. Carsten scheint den Kühlschrank sehr laut zugeschlagen zu haben. Ich höre lautes Poltern aus der Küche. Bloß nicht ablenken lassen. Immer weiter denken: Sex, Sex, Sex, Sex. Sonst geht’s wieder weg! Sex, Sex, Sex, Sex. Es scheint zu funktionieren!

Jetzt könnte Carsten aber langsam den Wein bringen. Wenn er weiter so bummelt, lenkt mich vielleicht doch noch der Wachsfleck auf dem Couchtisch ab.

»Carsten!«, rufe ich stöhnend. Carsten stöhnt aus der Küche zurück. Manchmal hat er einen komischen Humor. Jetzt bloß nicht lachen, sonst war die ganze Aufbauarbeit umsonst.

»Komm schon, Süßer! Ich will dich!«, keuche ich so laut wie möglich. Er antwortet nicht. »Schatz?« Nichts. Komisch. Verunsichert schwinge ich meine zusammengebundenen Füße auf den kalten Laminat-Fußboden, beuge mich vor und versuche, trotz der Handschellen den Knoten im Seidenschal zu lösen. »Carsten?« Undefinierbare Geräusche dringen durch die Küchentür zu mir. Ungefähr so, als ächzte jemand unter der Last eines schweren Sackes, den er hinter sich herzieht. Endlich lockern sich die Bänder. Hektisch winde ich meine Füße aus dem Seidenschalsalat und sprinte durch den Flur. Hoffentlich verscheißert er mich nicht! Das macht er gern und manchmal so lange, bis ich sauer werde. In so einem Fall stellt er sich zur Deeskalation der Situation vor mich hin, stützt seine Hände in die Hüften und steppt wie Fred Astaire mit Magen-Darm-Grippe und so dilettantisch, dass ich lachen muss.

Beim Öffnen der Küchentür bleibe ich mit den Handschellen hängen, bin wütend und fluche. Als ich endlich mit dem kleinen Finger der rechten Hand die Tür aufdrücke, hoffe ich nur, keinen nackten und mit der Weinflasche in der Hand steppenden Carsten anzutreffen.

Es ist ganz still. Nur leise dringt Jackos »Smile«-Version aus dem Wohnzimmer herüber, aber bei dem, was ich jetzt sehe, ist mir gar nicht zum »smilen«. Mein Prinz, der Mann, den ich wirklich gern heiraten will, sitzt auf dem Küchenfußboden. Wäre er nicht nackt, würde mich seine legere Haltung in Kombination mit seinem verwegenen Dreitagebart an einen betrunkenen Cowboy erinnern. Er lümmelt mit dem Rücken an der eichefarbenen Country-Küchen-Kühlschranktür und hat seinen linken Unterarm auf dem Kopf abgelegt. Allerdings ist sein Gesicht schmerzverzerrt. Er blickt kaum auf und stöhnt ein undeutliches: »Rücken!« Ich beuge mich zu ihm hinunter und strecke ihm meine gefesselten Hände als Aufstehhilfe entgegen.

»Ich kann meine Arme nicht bewegen! Mein ganzer Schultergürtel schmerzt wie Hölle!«, krächzt Carsten. Was soll ich jetzt machen? Mit Handschellen und in Strapsen kann ich schlecht den Nachbarn bitten, meinen nackten Mann von der Erde aufzuheben.

Auf der anderen Seite neigen Männer bei Schmerzen zu starken Übertreibungen, kommt mir in den Sinn. Vielleicht reichen eine Tablette, ein paar Streicheleinheiten und etwas Rheumasalbe auf der Schulter, und mein Schatz fällt wieder lüstern über mich her? Tausend Gedanken toben durch meine Hirnwindungen. Okay, Tati, jetzt ganz ruhig bleiben und nachdenken. Es ist völlig egal, ob er wirklich plötzlich ernsthaft krank ist oder nicht. Fest steht: Er glaubt, krank zu sein.

Denn wie ein Häufchen Elend sitzt er vor mir und windet sich unter scheinbar starken Schmerzen. Also erarbeite ich mir gedanklich eine To-do-Liste:

Was ist jetzt wichtig und in welcher Reihenfolge?

• Handschellen loswerden – wo ist der Schlüssel?

• Carsten zudecken, damit er sich nicht erkältet

• Notarzt alarmieren

• Heiratswunsch überdenken

Ich rutsche auf allen Vieren in Carstens Richtung, küsse ihn auf die Stirn und bitte ihn: »Bleib ganz ruhig, Liebling, ich helfe dir! Sag mir bitte als Erstes, wo der Schlüssel ist!«

Liebling stöhnt. Als kleine Denkhilfe strecke ich ihm meine immer noch gefesselten Arme entgegen und winke gezwungenermaßen beidhändig. Carsten zuckt, angstvoll meinen Händen ausweichend, zur Seite, verliert das Gleichgewicht und schreit, als wolle er den Notarzt gleich ohne Telefon herbeirufen. Dabei sackt sein Oberkörper nach rechts weg. Er dreht sich auf den Rücken, während er die linke Hand unverrückbar auf dem Kopf hält. Jetzt liegt er ausgestreckt und parallel zur Küchenzeile vor mir und hechelt. Mir wird schlecht. Ich konnte leidende Menschen noch nie gut aushalten. Schon bei meiner ersten Blutspende während des Studiums ging alles nur so lange gut, bis eine Kommilitonin, die mir beim anschließenden Gratis-Frühstück in der Mensa des »Merkurhauses« in Leipzig gegenübersaß, furchtbar grün im Gesicht wurde. Ihre sichtbare Übelkeit löste in mir einen Fluchtreflex aus, der mich in den Paternoster des Hauses trieb. Dort übergab ich mich spontan und fuhr mehrere Runden, bevor ich vom Blutspende-Team aus dem Umlaufaufzug gezerrt werden konnte.

Ich atme einmal tief durch und hechte Richtung Wohnzimmercouch. Katze Chica, die es sich zwischenzeitlich in unserem Liebesnest bequem gemacht hat, rutscht nicht einen Millimeter zur Seite, während ich in den Sofaritzen nach dem blöden Schlüssel wühle. Nichts. Ich wische über den Tisch, fühle den Schlüssel, und prompt klappert das Miststück auf dem Laminat. Hektisch rutsche ich, suchend und tastend, auf dem Bauch durchs Zimmer. Da ist er, endlich! Das im Moment nutzlose teure Mieder ist über und über mit Staubflusen und Katzenhaaren bedeckt. »Blödvieh«, kanalisiere ich meinen Ärger Richtung Katze und sprinte mit dem Schlüssel zurück zu meinem Schwerverletzten.

»Ich hab ihn!«, juble ich und ernte ein erneutes Stöhnen. »Du brauchst gar nichts zu machen, Schatz, bleib einfach liegen!«, beruhige ich Carsten und versuche, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Keine Chance. Das Schloss ist viel zu dicht an den Handgelenken. Beweglichkeit und Feinmotorik meiner Hände erinnern mich an behäbige Baggerschaufeln. Nach einem Krampf in der rechten Hand breche ich den Versuch ab, lege mich neben Carsten auf den kellerkalten Fußboden, schiebe ihm den Schlüssel zwischen die Finger der rechten Hand und positioniere das Schloss der Handschellen genau daneben.

»Ich … oahhh … kann … mhm … nicht!«

»Einfach festhalten, mein Sonnenschein! Los, das kannst du!« Sonnenschein hebt zitternd seine Hand zehn Zentimeter an, trifft das von mir ausgerichtete Schlüsselloch, dreht den Schlüssel und brüllt furchterregend auf.

»Das hast du toll gemacht!«, lobe ich ihn. Ich lege die Handschellen ab und wickle meinen Helden mumienschlafsackähnlich in die weinrote Wohnküchen-Kuscheldecke. Nur sein blasses, qualvoll verzerrtes Gesicht guckt noch raus. Während ich mich straßentauglich herrichte und schnell in Jeans und Pullover schlüpfe, frage ich die knapp zwei Meter lange, vor mir liegende Mumie so fürsorglich wie möglich: »Meinst du, ich sollte jetzt einen Notarzt rufen?«

»Ich … oahh … brauche … keinen … mpfh … Arzt! Das … puhhh … wird schon … wieder!«

»Gut, Liebling, dann halte durch, ich rufe Alexandra an, die weiß bestimmt, was wir machen sollen!«

Meine Schwester Alexandra ist die einzige Person, die sich mit medizinischen Ausnahmefällen auskennt und Tag und Nacht in Telefonbereitschaft ist. Sie ist in der Familie unsere – leider zu starken diagnostischen Übertreibungen neigende – Medizinfrau.

»Hallo, Alu? Carsten liegt in der Küche und kann sich nicht bewegen. Er krümmt sich vor Schmerzen im Schulterbereich, liegt bewegungslos auf dem Fußboden, und mir ist schlecht!«

»Kann er die Zehen noch bewegen?«

»Jetzt übertreib doch nicht gleich! Er scheint mir nicht gelähmt zu sein!«

»Schulterschmerzen können verschiedene Ursachen haben, aber sehr oft sind Verlagerungen von Wirbeln, schlechte Haltung, Wirbelsäulenkrümmungen oder Verletzungen der Wirbelsäule daran schuld. Jedes dieser Probleme kann eine Reizung oder ein Einklemmen der Nerven verursachen. Der Grad der Schmerzen reicht von mild bis quälend. Manchmal aber begleitet ein leichter Schmerz eine schwerwiegende Veränderung, während ein intensiver Schmerz nichts als ein kurzer Muskelkater von einem außergewöhnlich aktiven Wochenende sein mag«, doziert Alexandra nicht ohne Stolz auf ihr umfangreiches Wissen.

»Wir hatten bisher leider keinen außergewöhnlich aktiven Wochenendsex«, kreische ich hysterisch.

»Tati, bleib ruhig. Zünde dir eine Zigarette an, ich lese in meinem schlauen Buch nach!«

Es raschelt im Hörer. Von meinem Küchencouch-Stammplatz, auf den ich mich zum Telefonieren zurückgezogen habe, blicke ich über den Tisch auf mein krankes Mumienmännchen herab. Carsten liegt mit geschlossenen Augen und blassem Gesicht stocksteif vor mir. Ich muss kurz die Augen schließen, damit mein Magen entspannt bleibt.

»Tati?«

»Bin dran!«

»Also pass auf. Die bekanntesten Erkrankungen in diesem Bereich sind Nervenentzündungen, Schleimbeutelentzündungen, Neuralgien, Arthritis, Durchblutungsstörungen, Muskelschwäche, Paralyse, also Lähmung, Inkoordination und Zittern. Schmerzen im Oberbauch können einen Schmerzreflex auslösen, den man auf der Schulter spürt. Dieser Schmerz könnte Bauchhöhlenentzündung oder Gallenblasenerkrankung bedeuten. Jedes dieser Probleme zeigt sich zuerst durch Schmerzen in der Arm-, Schulter- oder Nackenregion und wird meistens zuerst beim Mantelanziehen oder Kämmen bemerkt.«

»Er hat es beim Weinflaschenöffnen bemerkt«, sage ich und nehme einen Schluck aus dem neben mir auf dem Küchentisch stehenden, ursächlich für die Situation verantwortlichen Gefäß.

»Bleib bitte ernst, denn es könnte noch schlimmer sein, als du es dir jetzt vorstellst!«

»Noch schlimmer?«

»Sei jetzt ganz stark!«

»Ja?«

»Es könnte auch ein Schlaganfall sein!«

»Mit vierzig? Jetzt übertreibst du! Am besten, ich rufe gleich ein Bestattungsunternehmen an!«, flüstere ich, damit Carsten nicht auch noch in eine Depression verfällt.

»Ich übertreibe, ja? Ich weiß, wie schlecht die Pflegefälle in diesem Land versorgt werden. Keiner hat Geld. Die Realität kann man nicht beschönigen, sie ist, wie sie ist. Wenn es dich aufregt, dass ich nicht zu allem ›schön‹ sage, dann ruf doch nicht an!«

Danach höre ich ein Klicken, gefolgt von einem wütenden Tut … Tut … Tut. Die Sprechstunde wurde einseitig beendet. Irgendwie schade, dass Alexandra sich immer so aufregt.

»Und?«, fragt Carsten und lächelt verzerrt. Sofort hat mich die Angst voll im Griff. Danke, liebe Schwester, jetzt denke ich bei seinem schiefen Grinsen gleich an einen Schlaganfall, statt mich darüber zu freuen, dass er schon wieder beinahe fröhlich gucken kann.

Aber Jammern hilft nicht. Ich muss jetzt alle, in dreiundzwanzig Jahren Tochter-Erziehung gesammelten Kompetenzen bündeln und meine Mütterlichkeit aktivieren. Diese erarbeiteten Fähigkeiten sind bei Kindern und kranken Männern gleichermaßen anwendbar.

»Alu sagt, das kann nichts Schlimmes sein, Schatz! Wackle doch mal mit dem Zeh und lächle beidseitig!« Sollte Carsten durch meine Bitte irritiert sein, lässt er sich das nicht anmerken. Er lächelt beidseitig, wenn auch unecht, und die untere Spitze des Mumiensackes bewegt sich.

»Wenn ich still liege, tut es kaum weh!«

»Ein Glück!«, denke ich und entscheide mich für die scheinbar harmloseste der von Alexandra aufgezählten Diagnosen, die Schleimbeutelentzündung.

»Meinst du, du könntest dich vorsichtig hinsetzen, damit ich dir was überziehen kann?«

Ohne seine Antwort abzuwarten, ziehe ich die Decke weg, greife seine Jogginghose und fädle nacheinander seine Beine hinein, ohne mich von seinem Stöhnen beim Heben des Hinterns irritieren zu lassen. Als Nächstes wälzt er sich auf die Seite. Das sieht so unbeholfen aus, dass sich mein Paternoster-Syndrom bemerkbar macht und ich mich kurzfristig aus der Küche verziehen muss.

»Schatz«, rufe ich auf der Flucht, »ich hole dir schnell ein paar Schmerztabletten und was zum Einreiben!«

Bei meiner Rückkehr sitzt er wie ein Schluck Wasser auf dem Küchensofa, den linken Arm immer noch auf dem Kopf abgelegt. Pflichteifrig greife ich nach der Tube mit dem Einreibemittel und trage ganz vorsichtig die Salbe auf. Ich weiß nicht genau, wo die Schleimbeutel sein sollen, aber am lautesten stöhnt er auf, als ich in die Nähe seiner Halswirbelsäule und des linken Schulterblattes komme. Trotz größter Mühe und vorsichtigstem Vorgehen ist das Anziehen der Jacke für meinen Schleimbeutelerkrankten eine Tortur. Demütig wirft er die von mir bereitgelegten Tabletten ein.

»Vielleicht hast du eine Schleimbeutelentzündung«, schlage ich vor, während ich mich, von der Aufregung erschöpft, neben ihn aufs Küchensofa fallen lasse. Ich ernte einen gequälten Blick.

»Eine Schleimbeutelentzündung ist es auf keinen Fall. Da kenne ich mich aus, weil ich das früher beim Ringen ab und zu hatte. So was schmerzt auch eher im Ellenbogen oder Kniegelenk«, sagt Carsten in meckrigem Ton.

»Was soll das denn sonst sein?«

»Glaube, es ist eine Zerrung. Als ehemaliger Sportler tun mir meine Schultern immer mal weh! Das kündigte sich die letzten Tage schon an!«

»Das kann doch nicht wahr sein! Wegen einer Zerrung machst du so ein Theater?«

Carsten guckt jetzt aufmüpfig und augenschattig wie ein Erdmännchen, ist allerdings nicht so beweglich wie diese possierlichen Tierchen. Als ob er mir etwas beweisen müsste, steht er auf und stolziert erhobenen Armes, steif und aufrecht ins Wohnzimmer. Von dort höre ich ein unterdrücktes Stöhnen, das vom Quietschen des Sofas übertönt wird. Mein Patient hat sich beleidigt zurückgezogen.

»Carsten?« Ich folge ihm. »Versuch jetzt zu schlafen. Morgen rufe ich gleich meine Physiotherapeutin an. Die macht einmal ›knack‹, und alles ist wieder gut!«

»Mhm«, grummelt er versöhnlich. Fürsorglich ziehe ich seine Zudecke bis zum Kinn, küsse ihn auf die Stirn, greife meine Haarmonster-Katze Chica und schließe leise die Tür hinter mir.

Zurück am Unfallort setze ich mich auf meinen Lieblingsplatz und schenke mir ein Glas Riesling ein. Ich will mit Chica kuscheln und meine Angst hinunterspülen.

»Komm, meine Süße, komm zu Mama, hopp!«, säusele ich so zart wie möglich und klopfe dabei aufs Sofa. Chica schnüffelt gerade an der Stelle auf dem Fußboden herum, wo eben noch der nackte Cowboy lag.

»Wieso sind denn heute alle eingeschnappt? Habe ich was falsch gemacht?«

Chica schnieft laut. Sie leidet unter chronischem Schnupfen. Ich wohne im Erdgeschoss, und obwohl der Oktober gerade erst begonnen hat, ist der Küchenfußboden empfindlich kalt.

»Chicaaaa, komm!« Mein Stubentiger legt sich wie ein gegrilltes Hähnchen vor die Küchenzeile und maunzt anklagend.

»Papa ist krank, Chica! Und Mutti ist traurig, weil ihre ero-tische Nacht gerade in die Hose gegangen ist!« Chicas Antwort ist ein lautes Röcheln. Na ja, Chica hatte noch nie Sex und ist trotzdem glücklich; was will ich mich beklagen. Ich zünde mir zur Entspannung eine Zigarette an. Während ich gerade noch glückselig in Hochzeitsträumen geschwelgt hatte, drängen sich mir nach den Schlaganfall-Prophezeiungen meiner Schwester und wegen meiner eigenen Angst um Carsten schwarze Zukunftsvisionen auf. Den unerwarteten Schicksalsschlag versuche ich im Alkohol zu ertränken. Trotzdem wandern meine scheinbar alkoholresistenten Gedanken immer wieder zu meinem niedergestreckten Cowboy. Ob Carsten trotz seiner Schmerzen heute Nacht schlafen kann? Ich kann es nicht. Ich schenke mir jetzt das dritte Glas Wein nach. Mit dem Wein gelangt ein Kribbeln in meinen Magen, das verheißt Unheil. Panik beschleicht mich. Was, wenn es Carsten richtig erwischt hat. Ob ich das Glück mit ihm noch lange genießen kann?

Bisher war ich begeistert von Carstens optimistischer Lebenseinstellung, von seiner Energie, mit der er all seine Vorhaben meistert. Manchmal beneidete ich ihn darum, dass er nie krank wurde und Zukunftsangst für ihn ein Fremdwort war. Aber jetzt? Mit Rücken?

Bis zum heutigen Tag um 19.38 Uhr glaubte ich alles zu haben, was ein Mensch zum Glücklichsein braucht: einen Mann, der mich liebt; eine erwachsene Tochter, auf die ich stolz bin, einen großen Freundes- und Bekanntenkreis und Erfolg in meinem Beruf als Kabarettistin und Moderatorin. Das Einzige, was mir zu meinem Glück fehlte, war Carstens Antrag.

»Prost, Chica!« Ich versuche, meine Trauer im Alkohol zu ertränken und hebe das vierte Glas Wein in Richtung des schniefenden Wollknäuels. »Unverhofft kommt oft, Katze, wir müssen optimistisch bleiben.«

Bis vor wenigen Minuten war ich mir sicher, dass ich huldvoll Carstens Antrag annehmen, ihn heiraten, ein Leben lang mit ihm glücklich sein und mit ihm alt werden würde. Ich hasse Krankheiten. Sie sind für mich das Synonym für verhinderte Libido und galoppierende Alterungsprozesse! Bei einem jüngeren Mann ist es das Letzte, was man erwartet, einen Pflegefall an der Backe zu haben – jetzt, in der energiereichsten Zeit meines Lebens! Doch innerhalb von Sekunden ist mein Bräutigam spontan gealtert, und die Erfüllung meiner Sehnsüchte und Wünsche steht von jetzt an in den Sternen.

Willkommen im Club

Ungefähr ein halbes Jahr zuvor, an Carstens vierzigstem Geburtstag, war die Welt noch in Ordnung, mein Prinz fit wie ein Turnschuh und flink wie ein Erdmännchen in der Paarungszeit. Um meinen Extrem-Frühaufsteher an seinem Ehrentag überraschen zu können, war ich an diesem Morgen sehr zeitig aufgestanden. Mit gequältem Blick schaute mich aus dem Spiegel eine verschlafene, völlig verstrubbelte und missmutige Frau an. Musste wohl ich sein. Morgens sehe ich immer aus, als wäre ich beim Flatrate-Saufen gewesen. Hin- und hergerissen zwischen Morgenmuffeligkeit und der Vorfreude auf Carstens erstauntes »Tati-als-Frühaufsteher-Geburtstagsgesicht«, hatte ich zur Feier des Tages alle lieb gewonnenen Gewohnheiten über den Haufen geworfen und mich an diesem kalten Februartag zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geschleppt. Normalerweise bewege ich mich niemals vor neun und spreche bis elf Uhr vormittags nur ungern. Carsten dagegen läuft schon gegen sechs zu Höchstform auf und startet emsig und aufgeregt – wie ein Erdmännchen, wenn es Futter gibt – in jeden neuen Tag.

Mir blieben an diesem Morgen genau zwei Stunden zur Entfaltung. Mit grüner Crememaske im Gesicht deckte ich den Geburtstagstisch, legte dann zwei Teebeutel auf die geschwollenen Augen und fand mein Spiegelbild nach dieser Prozedur wieder ansehnlich. So zugerichtet schlich ich die Treppen hoch und öffnete ganz vorsichtig die Wohnungstür meines Geburtstagskindes. Ein leises Schnorcheln wies mir den Weg ins Schlafzimmer. Im Lichtstrahl, der aus dem Flur ins Zimmer drang, sah ich Carsten, der wegen seiner Länge diagonal und eingewickelt wie ein Hotdog in seinem Bett lag. Ich schlich zu ihm und kuschelte mich an ihn, schnupperte in seiner Halsbeuge und genoss diesen seltenen Moment.

»Willkommen im Club, mein Schöner!«, flüsterte ich meinem schlummernden Schnorchler ins Ohr. Carsten war sofort hellwach.

»Habe ich verschlafen?«, fragte er ungläubig. »Oder bist du krank? Warum bist du so früh wach?« Er stützte sich in eine halbsitzende Position und schaute mich aus kleinen Augen verwirrt an. Die dunkelblonden Locken standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Gut, dass ich vorher im Bad war und mich bereits gekämmt hatte. Ich kniete mich vor ihn, guckte so liebevoll, wie es mir früh um halb sieben möglich war, und begann krächzend zu singen.

»Happy Birthday to you!«

Dabei tastete ich neben dem Bett nach meinem dort abgelegten Geschenk, setzte mich dann rittlings auf ihn und präsentierte stolz das rotbeschleifte Kästchen, in dem sich ein großes, neues, sehr teures Küchenmesser für meinen persönlichen Sternekoch befand. Carsten lächelte vorfreudig, riss die Geschenkverpackung auf wie früher nur Westpakete und hielt das – was-weiß-ich-wie-viele-hundert-Mal geschliffene – »Chef knife« aus Japan in der Hand. Mein Geburtstagskind drehte und wendete das Messer vorsichtig und immer noch auf dem Rücken liegend vor seinen Augen. Wellenlinien schimmerten im Schein der Nachttischlampe auf der bestimmt fünfundzwanzig Zentimeter langen Damast-Stahlklinge. Weil ich mir nicht ganz sicher war, ob Carsten das Geschenk zu schätzen wusste, erwähnte ich ganz nebenbei, dass allein der Schleifstein dazu ein Vermögen gekostet hatte, und hoffte auf eine Lobeshymne zu Ehren der geliebten Schenkerin. Vorsichtig legte er das Geschenk zurück in die Verpackung, zog mich auf sich und kugelte mit mir lachend durch das zerwühlte Bett.

»Ich weiß, dass so was sehr teuer ist! Vielen Dank, Tati! Ich liebe dich!«

»Als Beweis meiner übergroßen Liebe zu dir bin ich soooo früh aufgestanden und habe Frühstück gemacht.«

»Das ist wirklich unglaublich, erstaunlich und großartig!«, wusste Carsten meine außergewöhnliche Tat zu schätzen und folgte mir durchs Treppenhaus hinunter in meine Küche. Dort zündete er die bereitgestellte Geburtstagskerze an, und ich brühte frischen Kaffee, schnitt ein Brötchen auf und überreichte ihm selbstlos die obere Hälfte.

»Was ist los, Süßer? Du guckst gar nicht fröhlich! Heute ist ein schöner Tag!«, versuchte ich den mir gegenüber sitzenden, ungewöhnlich ernsthaft dreinschauenden Jubilar aufzumuntern.

»Mhm!«, grummelte er. »Ich weiß nicht, ob es schön ist, vierzig Jahre alt zu werden!«

»Hör auf, es gibt auch ein Leben nach der Vierzig! Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede!«

»Ich fühle mich so alt … und überhaupt!«

»Du bist nur müde.« Ich war empört, denn ich bezog seine Äußerung sofort auf mich, die Ältere in unserer Beziehung. »Wir sind doch noch nicht alt!«

»Weißt du, wie alt ich meine Mutter fand, als die vierzig war und ich schwer pubertär? Ich fand sie so alt, dass ich mir nicht einmal vorstellen konnte, dass Eltern noch Sex haben könnten.«

»Soll das eine Entschuldigung sein?«, fragte ich scherzhaft. Um Missverständnissen vorzubeugen, lachte ich extra laut und erklärte meinem leicht verzweifelten Geburtstagskind: »Wenn man jung ist, hat man keine Ahnung vom Altsein. Das ist auch heute noch schwierig. Mit vierzig sind wir nicht alt!«

»Sondern? Wie kann man unsere Altersgruppe sonst bezeichnen, wenn wir NICHT die Alten sind? Sind wir nicht in der Mitte des Lebens? Oder in der Midlifecrisis? Best Agers? Silver-Hair-Fraktion?«

»Was hältst du von der Mittlebenserfahrungsgelassenheitsgeneration?«

Doch Carsten hörte gar nicht zu und fuhr unbeirrt mit seiner Jammeransprache fort: »Wenn die Kinder aus dem Haus sind, wir zunehmend zu fünfzigsten Geburtstagen eingeladen werden, uns erste Zipperlein einschränken, Krankheiten und sportliche Fitness zu Hauptgesprächsthemen werden und wenn wir nach jeder noch so harmlosen Party mindestens zwei Tage Ruhezeit brauchen – wie würdest du das nennen?«

»Bei dir? Altersdepressionen!«

Plötzlich mussten wir beide lachen.

Ab vierzig ist man eben nicht alt! Und erst recht nicht ernsthaft krank. Und Carsten war es schon mal überhaupt gar nicht. Wir sind so dazwischen. Zwischen Babybrei und Seniorenteller, zwischen Caipirinha und Franzbranntwein, zwischen Ferrari und Rollator. So dachte ich jedenfalls an diesem Tag.

»Du freust dich ja so?«

Carsten stopfte sich ein Marmeladenbrötchen in den Mund und hob fragend die Augenbrauen. Ich griff über den Frühstückstisch nach seiner Hand.

»Weil du jetzt endlich auch alt bist!«

Carsten spielte den Empörten und entzog sich meinem Klammergriff, um mich unter dem Tisch ins Knie zu kneifen. Ich sprang unter lautem Kreischen auf, fluchtbereit.

»So, so!« Carsten war auch aufgestanden und kam mir bedrohlich nah.

»Doch!« Ich versuchte, ihn mit meinen ausgestreckten Armen abzuwehren. »Das Leben fängt dann erst an, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Dackel tot ist!«

»Wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Dackel tot ist?«

»Genau!«

Im Rhythmus zu den von ihm gerappten Worten »Kinder raus, Dackel tot« war Carsten damals durch die Küche gesteppt. Die Arme hatte er dabei so eingestützt wie sonst immer der Restaurant-Tester Rach, direkt unter den Achseln. Auch an diesem Tag brachte er mich mit seiner albernen Hoppelei zum Lachen.

Als das Telefon klingelte, nahm ich ab. Flo war am Apparat. Er ist Carstens Vorgänger und – das Leben ist manchmal komisch – Carstens bester Freund.

»Hi, Sonne!« Er nennt mich immer noch Sonne, obwohl wir schon seit fünf Jahren getrennt sind.

»Du bist so früh aufgestanden, um Carsten zu gratulieren?«, fragte ich ihn.

»Nee, ich muss gleich ins Bett. Ich gratuliere heute Abend bei der Party. Hab nur mal ’ne Frage: Ist es okay, wenn ich Katie mitbringe?«

»Wer ist denn Katie?«

»Katie habe ich letzte Nacht im Internet kennengelernt. Heute könnte unser erstes Date sein!«

»Doch so flink! Verstehe. Und bei deinem ersten Date willst du gleich mit ihr zum Geburtstag des Freundes deiner Exverlobten gehen? Wie komisch ist das denn?«

»Wir sind noch gar nicht entlobt!«, konterte Flo.

»Wie lustig und originell du am frühen Morgen bist!«

Ich konnte diesen Satz nicht mehr hören. Natürlich waren wir nicht offiziell entlobt. Wie auch? Als wir uns trennten, hatte es zwar weder Streit noch Rosenkrieg, aber auch keine offizielle Entlobung gegeben. Flo war damals einfach ausgezogen, und ich hatte den Verlobungsring ohne Hintergedanken weiter getragen, weil das der einzige teure Ring war, den ich besaß und bis heute besitze. Diesen Tatbestand nutzt nicht nur Flo, sondern auch Carsten, um mich zu ärgern.

***

Um das leidige Thema »Entlobung« ein für alle Mal zu beenden, war ich vor ungefähr einem Jahr, also drei Monate vor Carstens Geburtstag, auf die Idee gekommen, Flo mit juristischen Mitteln zu einer Entlobungsparty zu zwingen. Davon erhoffte ich mir nicht nur, dass es den nervtötenden »Wir sind ja noch verlobt«-Scherz überflüssig machen, sondern auch, dass Carsten diese Geste als kleinen Wink für seinen Heiratsantrag verstehen würde. Ich bat meinen Freund und Anwalt Rudi, einen offiziellen Brief an Quengel-Flo zu verfassen, was dieser in diebischer Vorfreude auf eine Freibier-Fete auch tat.

Sehr geehrter Herr S.,

am 18.12.1998 verlobten Sie sich mit meiner Mandantin, Frau Tatjana Meissner. Knapp vier Jahre später verließen Sie die gemeinsame Wohnung und kommen seither Ihren Pflichten als Verlobter in keiner Weise mehr nach.

Eine Verlobung jedoch ist ein Heiratsversprechen, also eine verbindliche Übereinkunft, dass die Verlobten heiraten werden. Zwar kann das Heiratsversprechen nicht eingeklagt werden, wohl aber eine finanzielle Entschädigung.

Der Kranzgeldparagraf (§1300 BGB) besagt: »Hat eine unbescholtene Verlobte ihrem Verlobten die Beiwohnung gestattet, so kann sie eine billigende Entschädigung in Geld verlangen!«

Zwar wurde dieser Paragraf 1998 gestrichen, trotzdem muss, wer heute eine Verlobung löst, dem anderen unnütze Ausgaben erstatten.

Von diesem Recht macht meine Mandantin Gebrauch und fordert Sie auf, entweder die Kosten für die Miete des damals gemeinsam bezogenen Hauses ab dem Zeitpunkt ihres Auszuges bis heute zu übernehmen oder aber einen verbindlichen Termin für die von Ihnen organisierte Entlobungsfeier umgehend bekanntzugeben.

Als Termin für Ihre Antwort habe ich mir den 18.12. dieses Jahres (Ihren Verlobungsjahrestag) notiert.

Mit freundlichen Grüßen.

Rudi H.

Rudi und ich hatten uns köstlich über den Brief amüsiert. Wir erhofften eine angemessene Reaktion, erfreuten uns an der Vorstellung des hyperventilierenden Flos, der bei jeglicher Aufregung sofort zum Blutdruckmessgerät greift. Aber nichts passierte! Kein Anruf, keine Erwiderung, gar nichts! Nicht einmal eine Einladung. Bis heute gab es keine anständige Party auf Flos Kosten. Stattdessen investiert er sein Geld lieber in junge Busenwunder.

***

Drei Monate später wagte Flo es sogar, mit dem Entlobungs-Hinweis meine gute Laune an Carstens Geburtstagsmorgen zu verderben.

»Mein lieber Flo, Witze sind beim zweiten Mal einfach nicht mehr lustig!«, stauchte ich ihn zusammen und wechselte harsch das Thema: »Wie alt ist denn deine Katie?«

»Fünfundzwanzig, warum?«

Irgendetwas schien mit ihm nicht mehr zu stimmen, seit er die vierzig überschritten hatte.

Er gehörte seit geraumer Zeit zu der Sorte Männer, die mit dicken Autos rechts überholen, in einer Armani-Wolke lustwandeln und Frauen ab vierzig konsequent ignorieren, dagegen bei langbeinigen Blondinen, die ihre Töchter sein könnten, sofort zu sabbern beginnen.

»Nee, warum denn das schon wieder? Warum suchst du nicht altersgerecht? Ältere Frauen sind besser, dazu ehrlich und aufrichtig. Die sagen dir direkt ins Gesicht, wenn du dich wie ein Idiot verhältst«, schimpfte ich aufgebracht in den Hörer.

»Du bist bloß beleidigt, weil du schon weit über vierzig bist!«»Nein, bin ich gar nicht. Mir liegt nur dein Glück am Herzen, lieber Flo. Und außerdem haben Carsten und ich ein berechtigtes Interesse daran, dass du dir eine Frau suchst, die auch zu uns passt! Aber bring sie mit, es wird ja sowieso das einzige Mal sein, dass ich sie treffe.« Ich legte auf.

Carsten hatte mich die ganze Zeit über den Küchentisch hinweg aufmerksam beobachtet.

»Warum regst du dich über deinen Spätverlobten so auf?«

»Weil er uns schon wieder ein Mädel präsentieren will, das ungefähr so alt ist wie meine Tochter! Wir feiern doch heute keinen Kindergeburtstag!«

»Ich find das lustig, lass’ ihn doch!«

Auch wenn es mir schwerfiel – denn immerhin war ich über drei Jahre mit ihm liiert gewesen –, musste ich konstatieren, dass Flo ein typischer Mann war und an einer ausgeprägten Mittlebenskrise litt. Immer diese jungschen Weiber! So war mein Carsten nicht, sonst hätte er mich ja nicht genommen.

»Warum hast du dir eigentlich kein junges Betthäschen im Netz gesucht?«

»Du bist mein junges Betthäschen!« So etwas hörte ich zu gerne und forderte kokett Nachschlag.

»Du hast nicht einmal nachgefragt, wie alt ich genau bin, als wir uns kennenlernten!«

»Weil es mir egal ist. Hauptsache nicht blutjung. Ich wusste nämlich, dass erfahrene Frauen wie du mich nie mitten in der Nacht wecken würden, um zu fragen, was ich gerade denke. Es interessiert sie einfach nicht.«

»Bist du dir sicher? Ich wüsste schon manchmal gern, was in deinem Kopf so vorgeht!« Ob er darüber nachdachte, mich zu heiraten, hätte ich zum Beispiel super gern gewusst.

»Frag doch!«

»Nein!«

So etwas fragt man als Frau einfach nicht.

»Siehst du, das finde ich so toll an Frauen ab vierzig! Sie erlangen mit zunehmendem Alter hellseherische Fähigkeiten. Ich brauche dir meine Sünden nicht zu beichten – du kennst sie, ohne zu fragen!«

Klasse, er ahnte nicht mal, was ich gern hören wollte! Männer! Carsten ahnungslos und Flo feige.

»Verstehe, weil ihn ältere Frauen durchschauen könnten, sucht sich unser Midlifecrisis geplagter Flo immer zwanzigjährige hochhackige, blonde Busenwunder, deren Zukunftsvisionen sich auf das Geld von Granufink-Konsumenten beschränken!«, lenkte ich das Thema lieber wieder auf meinen Spätverlobten.

Bis zur Geburtstagsparty hatten Carsten und ich an diesem Tag noch jede Menge Zeit, aber schon jetzt klingelte das Telefon unablässig. Ich räumte den Tisch ab, und Carsten plauderte und nahm Glückwünsche entgegen.

Nachdem ich den Geschirrspüler eingeräumt und den Tisch abgewischt hatte, beobachtete ich Carsten in seiner zunehmenden Geburtstagsfröhlichkeit und wurde mit einem Mal hundemüde.

---ENDE DER LESEPROBE---