Herr Möslein ist tot - Tatjana Meissner - E-Book

Herr Möslein ist tot E-Book

Tatjana Meissner

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Beschreibung

Dass 30 Jahre nach dem Fall der Mauer Ostdeutsche immer nur noch auf ein tristes Leben zwischen Stasi und Diktatur reduziert werden, nahm sich Tatjana Meissner zum Anlass, ein paar weitere Facetten des Lebens in der DDR hinzuzufügen. In ihrem Roman "Herr Möslein ist tot", beschreibt sie ohne Verbissenheit oder Häme ihre ganz private Sittenskizze der DDR, mit viel Humor und ostdeutschem Blick aus dem Hier und Jetzt. Der Roman erzählt von einer Reise in ein untergegangenes Land. Eines Morgens wacht Tatjana in ihrem 25-jährigen Körper, in ihrer Drei-Raum-Wohnung neben ihrer wieder dreijährigen Tochter auf und erlebt erneut den ganz normalen DDR-Alltag im real existierenden Potsdam 1989, diesmal aber mit den Erfahrungen einer reifen Frau. Die Autorin beschreibt vom realen Leben inspirierte Anekdoten ihrer Jugend und würzt sie mit skurrilen Geschichten , die beim Zusammenprall zukünftigen Wissens, Altersweisheit und Selbstreflexion mit unverschämten DDR-Kellnern, Ex-Männern und Hausbuchverantwortlichen entstehen. Eine rasante Geschichte über die Möglichkeit, im Leben alles noch einmal anders machen zu können, nimmt ihren Lauf.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

Ohne ausdrückliche Genehmigung von Tatjana Meissner ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

© Tatjana Meissner, Potsdam,

www.tatjana-meissner.de

Büro:

Art-things, Jörg Grimmer

Lennéstraße 43 a, 14469 Potsdam

[email protected]

Umschlaggestaltung: buchgut, Berlin

unter Verwendung einer Illustration von Lesja Chernish

Die Bücher von Tatjana Meissner erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Für Maxi

Ein Großteil der handelnden Personen und Geschichten ist von meinem eigenen Leben inspiriert, einige der Geschehnisse sowie ein Teil der Protagonisten und deren Handlungen sind jedoch fiktional.

Alt wie ein Baum

Der Klingelton brüllt in die gemütliche Stille meiner Wohnküche wie die Nachbarsgören, wenn sie früh um sieben den direkt an meine Küche grenzenden Hausflur betreten und kreischend die Treppe hinunterpoltern. Ich kann hohe Stimmen und Töne immer schlechter vertragen. Darum greife ich hektisch nach dem vor mir auf dem Küchentisch liegenden Handy, drücke den Ton weg und lese die eingetroffene SMS:»Wenn jemand auf die Idee kommt, Dich alt zu nennen, dann schlag ihn mit Deinem Stock und wirf ihm Dein Gebiss hinterher. Happy Birthday! Deine Schwester Alu«.

Eine Unverschämtheit. Meine Schwester Alu ist entweder komplett verschusselt oder blind. Sie hätte ihre Brille aufsetzen sollen, bevor sie auf die Uhr guckt. Es ist 23.50 Uhr! Ich bin noch nicht alt. Erst in zehn Minuten habe ich Geburtstag.

Ich werde meinen 50. Geburtstag nicht feiern. Nein, weder Kumpel Ronny noch Gisi und Rudi und erst recht nicht allen anderen langjährigen Freunden werde ich erlauben, sich im Rahmen einer von mir finanzierten Party darüber zu amüsieren, dass sie mir ein goldenes, mit einer Fünfzig versehenes Kränzchen aufs Haupthaar drücken und mich in ihren UHU (Unter-Hundert)-Club aufnehmen, um sich dann mit Hochprozentigem in Stimmung zu trinken, sich über ihre Krankheiten auszutauschen und die Hits der Achtziger mitzugrölen.

Nee, das will ich nicht! Aber ein kuscheliges Reinfeiern mit meinem Carsten und einem Gläschen Prosecco hätte ich mir schon gewünscht. Stattdessen sitze ich vor dem in den Gläsern phlegmatisch blubberndem Geburtstagsgetränk auf dem Sofa, eingezwängt zwischen Carsten und meiner alten Hauskatze, die beide schnorchelnde Töne von sich geben. Rechts von mir hat sich der Stubentiger breitgemacht. Chica sieht aus wie ein plüschiges rostrot-weißes Bärenfell mit einem Katzenkopf, verziert mit Rotznase und raushängender Zunge, was ziemlich debil wirkt. Carsten sieht bedeutend besser aus. Mein Traummann hat braunes lockiges Haar, eine für einen Mann ziemlich kleine Nase – was aber überhaupt nichts zu bedeuten hat – und graugrüne Augen. Außerdem ist er so groß und schlank, dass der preußische Soldatenkönig ihn für seine Langen Kerls auserwählt hätte. Es schnorchelt und grunzt so laut um mich herum, dass ich überlege, ob ich weiterhin unter Aufbietung großer Hör-Konzentration versuche, Markus Lanz und seine Gäste sequenzweise zu verstehen, oder ob ich lauter stellen sollte, um auch wirklich nichts von den hochspannenden Themen zu verpassen, die die Elite deutscher Comedians gerade, getarnt als launigen Talk, auswendig aufsagt. Lass ich den Ton leise, ärgere ich mich über mein nachlassendes Hörvermögen; mache ich laut, ärgere ich mich über Carsten. Im Gegensatz zu mir hasst er Boulevardmagazine, Liebesfilme und Markus Lanz. Im Falle seines Erwachens, würde Carsten sofort nach der Fernbedienung greifen und umschalten. Trotzdem ist Carsten mein Traummann. Wirklich der allerbeste der Männer, mit denen ich je zusammengelebt habe. Bei allen anderen meiner LABV, also Lebensabschnittsbevollmächtigten, hatte ich mich aus jugendlichem Übermut, elterlichen Moralvorstellungen und eigener Unsicherheit immer ein wenig vergriffen. Mit Heinz blieb ich zu lange zusammen, weil er Humor hatte und ich schwanger wurde; mit Ingo wegen der Hormone und seiner infantilen Leichtlebigkeit und mit Flo wegen seines jungenhaften Charmes und meines festen Glaubens, dass ich nur einen Schalter finden müsste, um ihn nach meinen Wünschen zu formen.

Ich habe es früher nicht besser gewusst. War jung, unerfahren und gierig. Erst nach vier Jahrzehnten und ebenso vielen Beziehungsversuchen haben die abflauenden Hormone in meinem Kopf klareren Denkstrukturen Platz gemacht. Eine kluge Frau namens Marie von Ebner-Eschenbach hat einmal gesagt: »Alt werden heißt sehend werden.« Bei mir war das so. Ich musste erst alt werden, um meinen Traummann zu finden. Aber warum? Warum muss man erst alt werden, um wirklich glücklich sein zu können? Wissenschaftler erfanden in den letzten Jahren Unglaubliches: Systeme, die uns mit Lichtgeschwindigkeit weltweit kommunizieren und den passenden Partner finden lassen; Operationsmethoden und Medikamente, die dafür sorgen, dass unser Äußeres in Änderungsfleischereien in jugendlicher Erstarrung konserviert und unsere Lebenserwartung fast verdoppelt wird. Aber niemand erfand ein Rezept gegen die ewig gleichen Fehler in zwischenmenschlichen Beziehungen. Warum musste ich mich jahrelang damit abquälen, rumliegende Männersocken wegzuräumen; warum habe ich ein halbes Leben lang extreme Eifersucht mit Liebe verwechselt und warum vorgelebte Lebenskonzepte ungefragt übernommen? Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur eins: Wie glücklich und zufrieden hätte ich sein können, wenn ich meinen Traummann schon vor, sagen wir, 25 Jahren getroffen hätte. Zu einer Zeit, als ich jung und frisch war und nur das Eine im Kopf hatte. Gut, das Eine habe ich mit fünfzig auch noch im Kopf, nur dass es sich hierbei jetzt um eine solide Bankverbindung zur Rentenvorsorge und nicht mehr um Sex handelt.

Markus Lanz sagt gerade: »Herrlich, hahaha, das lassen wir mal so stehen. Haha. Wahnsinn!« Das sagt der Markus genauso oft, wie mein Kumpel Ronny den Satz: »Jenau jetzt isset schön, Tati, jetzt kannste deinen Carsten und seine genialen Kochkünste jenießen. Denn wann bejinnt dit Leben erst richtig? Wenn die Kinder aus’m Haus sind und der Dackel tot!«

Ronny hat gut reden. Meine Tochter Pauli ist zwar aus dem Haus, aber meine Katze Chica lebt noch. Und wie soll das Leben beginnen, wenn mein Körper anfängt, auseinanderzufallen. Was heißt hier: anfängt? Er hört einfach nicht mehr damit auf, mein Körper. Und von wegen: sehend werden. Ich kann immer schlechter gucken! Ein paar Vorteile des Altwerdens gibt es natürlich auch. Ich bin – außer bei schrill kreischenden Kleinkindern – viel gelassener als früher. Hätten meine Ex-Lover, so wie Carsten jetzt gerade, meinen Geburtstag verpennt, wäre ich zum Frettchen geworden! Richtig sauer mit allen Konsequenzen: Sexentzug und ununterbrochene Nörgelei. Heute, mit fünfzig, bin ich froh, wenn ich meine Ruhe habe und gucken kann, was ich will. Soll Carsten doch schlafen! Ich habe dafür Verständnis. Carsten ist in den letzten sieben Jahren, seit wir uns im Internet kennen- und lieben lernten, auch älter geworden: Er hat ab und zu Rücken und braucht eine Gleitsichtbrille, deren intellektuelle Wirkung im Moment nicht zur Geltung kommt. Carstens Kopf ist schräg nach vorn gefallen, die Brille sitzt schief, und seine Gesichtszüge sind unvorteilhaft erschlafft. Ich lache bei seinem Anblick unwillkürlich in mich hinein und denke: Sexentzug wäre auch keine richtige Strafe mehr. In unserem Alter und nach sieben Jahren Beziehung! Lanz gucken kann manchmal auch befriedigen. Mich jedenfalls. Aber jetzt gibt es Wichtigeres: meinen Geburtstag und mein Geschenk.

Ich schleiche zum Kühlschrank, hole die angefangene Flasche Prosecco und schenke uns nach. Gerade als Lanz sagt: »Das lassen wir mal so stehen!«, schalte ich den Fernseher aus und klopfe ganz vorsichtig mit dem weißgoldenen Ring an meiner rechten Hand gegen mein Glas – »Klong«. Den Ring hat mir Carsten geschenkt, als er mir vor vier Jahren eine sensationelle »Hochzeit der Herzen« organisierte. Eine Hochzeit ohne Standesamt, aber sonst mit allem Drum und Dran.

»Klongggggg«, Chica gähnt und streckt sich.

»Klonggggg« – »Ch…chrrrrr«, Carsten schnorchelt zweimal laut auf, öffnet die Augen, guckt verwirrt und reibt sich den Nacken.

»Hallo, Liebling«, ich reiche ihm das Glas, »jetzt ist es gleich soweit!«

»Oh, Sekunde!«, Carsten ist sofort hellwach. Er springt auf und holt etwas aus dem Wohnzimmer, das er hinter seinem Rücken versteckt hält. Mit seiner freien Hand greift er nach dem Weinglas auf dem Küchentisch.

»Und immer schön in die Augen gucken, sonst sieben Jahre schlechter Sex!«, schmachte ich ihn vorfreudig an.

»Wozu in die Augen gucken, wegen der paar Mal noch«, sagt Carsten und lacht.

Ich bin so gierig, Carstens Geschenk aufreißen zu können wie ein Westpaket, dass ich hastig am Prosecco nippe und Carstens Kuss, der zur Feier des Tages natürlich ein langer, sensationell erotischer Zungenkuss werden soll, kaum erwidere und stattdessen versuche – als liebevolles Rückenstreicheln getarnt – das Geschenk zu ertasten. Carsten greift meine Hand und zwingt sie an seine Brust.

»Nicht so neugierig, Tati! Ich möchte dir erst noch gratulieren.« Ich schaue ihn erwartungsfroh und ein wenig unkonzentriert an. »Ich liebe dich. Ich freue mich auf jeden neuen Tag mit dir, und ich wünschte, wir hätten uns schon mindestens 20 bis 25 Jahre früher kennengelernt! Alles Gute zum Fünfzigsten.«

»Ich liebe dich auch!«, erwidere ich nicht besonders originell, denn ich bin verblüfft. Genau dasselbe hatte ich doch gerade eben auch gedacht. Komisch … vielleicht eines der vielen Zeichen, wie gut wir zusammenpassen.

Während ich mich noch wundere, steppt Carsten wie Fred Astaire mit Darmgrippe durch die Küche. Das macht Carsten immer so, wenn er mich zum Lachen bringen will. Das klappt auch diesmal. Und ich reagiere, wie er es von mir erwartet: Springe vom Tisch auf, stürze mich auf ihn und kitzle ihn so lange, bis er mir mein Geschenk freiwillig aushändigt. Das Päckchen ist so groß wie eine CD, fasst sich unter dem Geschenkpapier, welches ich wenig weihevoll aufreiße, genauso an und … ist auch eine CD. Darauf steht: »50 Jahre Tati!«

Och … nö! Hat Carsten etwa Lieder aus meiner Jugend zusammengeschnitten? Oder mir einen Song eingesungen, so wie ich für ihn im vergangenen Jahr? Mhpfff. Bevor ich wieder aufblicke, ziehe ich meinen Mund in eine lächelnde Position. »Danke!«, hauche ich und weiß nicht, ob ich gerührt oder enttäuscht sein soll. Carsten ist so aufgeregt, dass er meine Zerrissenheit nicht bemerkt. Mit einem fröhlichen »Die legen wir jetzt ein!«, rennt er in mein Arbeitszimmer. Ich folge ihm und habe wenig später jeden Grund dieser Welt, total gerührt zu sein. Denn die CD entpuppt sich als DVD, für die Carsten in monatelanger Arbeit einen kleinen Film produziert hat. Er bat, wie er mir stolz berichtet, alle Freunde und Bekannten um Bild- und Filmmaterial, sah heimlich meine Fotoalben und DVDs durch und fügte so ein Tagebuch meines jetzt fünfzigjährigen Lebens zusammen. Wie lieb ist das denn! Meine Augen füllen sich sofort mit Tränen, aber das machen sie so oft, dass ich darauf keine Rücksicht nehmen kann. Ich schaue gespannt auf den Fernsehbildschirm, und alle Markus Lanze dieser Welt können mir gestohlen bleiben.

Ich will nur diesen Film sehen, denn ich liebe es eigentlich, mich an früher zu erinnern, die alte Musik zu hören. Ich könnte stundenlang Anekdoten aus meiner Jugend zum Besten geben. In letzter Zeit tue ich das so oft, dass ich manchmal nur den Mund öffnen muss, damit Carsten mit den Augen rollt und sagt: »Das hast Du mir bereits zweimal erzählt!«, oder nur: »Ich weiß!«

Und obwohl ihn meine alten Geschichten so sehr nerven, hat er sich ausführlich mit meinem Leben beschäftigt. Wir kuscheln auf der roten Gäste-Couch im Arbeitszimmer, und los geht’s: mit Vorspann und dem Puhdys-Song »Alt wie ein Baum möchte ich werden«. Genau, denke ich glücklich, nur nicht so aussehen. Die ersten Bilder sind Schwarz-Weiß-Fotos. Ich als glatzköpfiges Baby im hochrädrigen Bollerwagen in meiner Geburtsstadt Tangermünde, als dickes Kindergartenkind bei Oma und Opa in Rothenschirmbach, als Schulkind in Bötzow und später in Erfurt. Dazu erklingen Lieder wie »Hurra, ich bin ein Schulkind und nicht mehr klein« oder »Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer«, und zu den Jugendweihebildern singt der Oktoberklub »Sag mir, wo Du stehst«. Obwohl ich die Lieder seit meiner Kindheit nicht mehr gehört habe, bin ich total textsicher. Unglaublich!

Die ersten bewegten Bilder gibt es von Paula. Mit Paulas Geburt begann mein Leben als junge Fachgebietsleiterin im Maschinenbauhandel Potsdam. Da, wo der Staat mich brauchte. Den kleinen Urlaubsfilm muss Carsten von meinen längsten Potsdamer Freunden Rudi und Gisi haben, denn Paula lümmelt auf einer Hängematte im Garten von Gisis Eltern. Dort hatten wir Mitte der Achtziger unseren Sommerurlaub verbracht. Mein dickes Kind will gerade Gisis Sohn ein Kleeblatt schenken, aber er schlägt es ihr aus der Hand, so dass Paula ins Straucheln gerät. Eine nackte magersüchtige Frau mit Angela-Davis-Frisur springt ins Bild und rettet Paula vor dem Sturz. Ich drücke auf Pause, gucke genauer und erkenne mich. Mein Gott! Wie sah ich denn aus? Aufgeregt rufe ich: »Guck mal Carsten … das bin ja ich! Mit Dauerwelle und platt wie ein Brett. Kein Wunder, dass mir mein Vater damals immer trockene Brötchen mit dem Hinweis schenkte, dass die das Brustwachstum fördern würden.«

»Ch…Chrrrrr« – Carsten schreckt hoch. »Ich glaube, ich muss ins Bett«, sagt er, »und übrigens hieß das damals Kaltwelle!« Er gibt mir einen Papakuss auf die Stirn und verschwindet vor Müdigkeit torkelnd ins Schlafzimmer. Ich nutze den frei gewordenen Platz auf der Wohnzimmercouch, und während ich mich noch zurechtlege, kommt Chica und kuschelt sich an meinen Bauch. Jetzt weiß ich nicht mehr genau, ob mein Bauch vor aufgeregter Erinnerungsfreude kribbelt oder von Chicas Schnurren vibriert. Was für ein tolles Geschenk! Aus den Fernseherboxen klingt »Smooth Criminal« von Michael Jackson. Dazu tanzen meine Kollegin Betty und ich in schwarzen Bundlederjacken. Die hatten wir uns von einer Schneiderin des Friedrichstadtpalastes nähen lassen und eigenhändig mit Angelsehne und dicker Nadel mit Strasssteinen bestickt, bis die Finger bluteten. Ich schaue auf unsere schlanken, im Rhythmus zuckenden Körper, und meine Gedanken verfangen sich in Erinnerungen an meine Tänzerkarriere als Mitglied der »Showdancers Cora«, die für mich damals aufregendste Zeit meines Lebens: mit viel Glamour, Prominenten, einigen Fernsehauftritten und ersten Reisen ins kapitalistische Ausland. Ich grinse bei dem Gedanken an unser erstes Fotoshooting zu Werbezwecken. Betty sagte, ich solle erotisch gucken. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinen könnte. Auf den Fotos habe ich einen Gesichtsausdruck, als hätte man mich auf der Toilette überrascht.

Auf dem Fernsehbildschirm sehe ich jetzt meine Eltern in ihrer Erfurter Neubauwohnung auf dem Johannesplatz. Ich erinnere mich, wie Mama damals mit mir schimpfte: »Was sollen denn unsere Bekannten denken, wenn du dich von Heinz scheiden lässt?« Heute würde ich darüber lachen, wüsste ich doch, dass alles gut ausgeht und mich so aufregende Zeiten erwarten, wie sie sich damals niemand in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte. Damals, als ich jung und unerfahren war und die falschen Männer liebte.

Nur geträumt

Dieses Gläserklirren nervt mich gerade mehr als jedes Kindergeschrei. Ich bin schrecklich müde, denn gestern ist es spät geworden – mit Markus Lanz und meinem Geburtstag und der DVD von Carsten. Dieser Lärm! Es klingt, als ob ein Düsenjet direkt über meine alte Küchenglasvitrine fliegt. Und wieso wackelt mein Bett, als ob hundert Vibratoren in die Matratze eingenäht wurden? Ich wickle mir mein Kopfkissen um den Kopf, drücke es mit beiden Händen auf die Ohren und kneife die Augen so fest zu, dass mich kein Tageslicht von meinem wohlverdienten Schlaf abhalten kann. Wenn alles gut läuft, schlafe ich unter Anwendung meiner Yoga-Atemübung wieder ein. Sechs Zählzeiten durch die Nase ein, sechs Zählzeiten durch den Mund aus. Und ein, und aus, und ein und aus. Es scheppert und zischt. Welcher Idiot arbeitet so früh am Morgen mit einem Presslufthammer?, überlege ich. Die Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück sind doch seit einem halben Jahr beendet? Und überhaupt: Die Glasvitrine steht in der Küche und nicht in meinem Schlafzimmer. Bin ich gestern etwa mit den Prosecco-Gläsern ins Bett gegangen? Und ein, und aus. Meine Blase drückt. Ein sicheres Zeichen, dass mein Gehirn zum Schlafen viel zu aktiv ist. Egal. Durch jahrelanges Training weiß ich, dass mich ein Toilettengang nur wecken kann, wenn ich die Augen öffne. Ich probiere es. Ich krieche wie eine Blindschleiche aus dem Bett, stolpere über einen Sessel, taste mich geradeaus durchs Zimmer. Hier links ist die Toilette, Tür auf und direkt gegenüber hinsetzen.

Ich greife nach hinten, beuge zeitgleich die Knie und stürze auf meinen nackten Hintern. Autsch. Vorsichtig öffne ich ein Auge und bin schlagartig wach. Ich sitze im, mit grünem kratzigen Nadelfilz ausgelegten, Flur meiner Dreiraum-Wohnung in Potsdam-Babelsberg, aus der ich eigentlich 1998 ausgezogen war, und bin splitterfasernackt. Hä, nackt? Ich schlafe doch schon seit Jahren aus prophylaktischen Blasentzündungsgründen mit T-Shirt und Bettsocken. Während mein Gehirn Purzelbäume schlägt, sprinte ich zur Toilette und gebe dem Druck meiner Blase nach. An der nur wenige Zentimeter von meinen Knien entfernten Wand hängen fünf typische DDR-Toilettenspiegel über- und nebeneinander. Daraus blickt mich eine junge Frau mit dunkelbrauner Achtziger-Jahre-Strubbelfrisur, faltenfreiem Gesicht und verwirrt blickenden braunen Augen an. Ich komme mir beobachtet vor. Die Frau vor mir scheint sich ebenfalls gerade zu erleichtern, denn ihr Gesicht sieht so entspannt aus wie Carstens, wenn er auf dem Küchensofa einschläft. Ohne den Blick von der jungen Frau zu wenden, greife ich zu dem ebenfalls im Spiegel sichtbaren Toilettenpapier, das rechts von mir aus einem braunen Plastebehälter hängt und sich in meiner Hand zwar vertraut, aber genauso steif, grau und furchtbar kratzend anfühlt wie an meinem Intimbereich. Mein Kumpel Ronny hat mal gesagt: »Klopapier im Osten war so hart und kratzig, damit auch noch der letzte Arsch rot wird.« Die Mundwinkel der jungen Frau ziehen sich angewidert nach unten.

Körperlich erleichtert, aber psychisch komplett verwirrt schaue ich mich im Raum um, sehe braune Fliesentapete über der Wanne, einen riesigen braun-beigen Gasheizköper unterm Fenster, einen Waschvollautomaten – den VA 861 aus dem Waschgerätewerk Schwarzenberg – direkt neben der abgebeizten Holztür am Eingang des langen, aber schmalen Badezimmers. Links von mir ist ein Waschbecken. Ich drehe an der altertümlichen Mischbatterie, die mir jetzt viel zu heißes Wasser entgegenspuckt. Das kommt aus dem über dem Vollautomaten an der Decke hängenden 80-l-Elektroboiler, denke ich, als die junge Frau im Waschbeckenspiegel aufschreit. Ich fühle mich wie in dem Film »Psycho«: verblasste Farben, spitze Schreie und Angst. Wo bin ich hier? Diese Situation, der kratzige grüne Nadelfilzboden unter meinen Füßen und die ganze nach Kohleofen riechende Dreiraumwohnung kommen mir eigenartig vertraut und trotzdem fremd vor. Vertraut, weil ich diese Einrichtungsgegenstände kenne. So einen Heizkörper hatte ich mir durch meinen Job als Fachgebietsleiter im Maschinenbauhandel Potsdam, Abteilung »Halbleiter/Widerstände« (Ich sage immer: »Ich war schon vor der Wende im Widerstand tätig!«) und die guten Beziehungen zum Baustoffhandel erbettelt. Für den Waschvollautomaten hatte ich die Anmeldung meiner Russischlehrerin beim Studium in Leipzig nutzen dürfen und die 1000,- Mark mit meinem Ehekredit bezahlt. Diese Erinnerungen tauchen in ungeordneter Reihenfolge aus einer Nebelbank meines Gehirns auf. Sie waren ganz tief versteckt – wie im Winterschlaf – und wollen plötzlich alle an die Oberfläche. Ich drehe an dem Wasserhahn mit dem blauen Punkt. Auf dem Rand des Waschbeckens stehen eine Dose Florena-Creme, ein Action-Haarspray und ein »Grüner Apfel- Shampoo«; die Seife hängt an einem Magneten befestigt an der Wand darüber. Wo ist meine ph-neutrale Handwaschseife? Ich öffne die Tür des braunen Plaste-Spiegelschrankes und finde eine Packung Damenbinden. »Albazell«. Das sind die mit dem komischen Mullzeug drumrum, die an nicht so »starken Tagen« den Rücken hochklettern. Wer hat die denn gekauft? Wusste gar nicht, dass es die noch gibt. Neben den Monsterbinden liegen Monster-Tampons namens »NEO«. Ich hole eins aus der rosa Pappschachtel und versuche es so in die Hand zu nehmen, wie die Frau in der o.b.-Werbung. Geht nicht. Die Ausmaße dieses Tampons mögen sich manche Frauen bei ihrem Gatten wünschen. Ich dagegen schlage vor Schreck die Spiegeltür wieder zu und schmeiße das Prachtexemplar in den Mülleimer neben mir. Im Spiegel schräg hinter mir sehe ich einen fast bis zur Decke reichenden Gummibaum. Mir fällt ein, dass ich genauso einen nach meinem Studenteneinsatz auf der Leipziger Messe mitnehmen durfte und meine vierjährige Pauli, in einem kreativen Dekorationsanfall, denselben mit NEO-Tampons behängte. Mein Lachen hallt durch das Badezimmer.

Vielleicht bin ich tatsächlich in meiner alten Wohnung in Babelsberg? In der Ernst-Thälmann-Straße 35? Und dieses grinsende Spiegelporträt ist mein eigenes? Beim Händewaschen gehe ich mit meinem Gesicht ganz dicht an den Spiegel heran, um herauszubekommen, ob mir eventuell meine Altersweitsichtigkeit ein jugendliches Aussehen vorgaukelt. Anscheinend nicht. Das Gesicht bleibt aus jeder Entfernung gleich scharf und faltenfrei. Die Haare sind dunkelbraun – mein Naturton. Ich hatte mir meine Haare nach der Trennung von Ingo blondieren lassen und trage sie bis heute mit blonden Strähnen, die den grauen Haaransatz verdecken und – wie meine Mama meint – mich jünger wirken lassen. So jung wie das Spiegelbild wirke ich damit freilich nicht. Das Spiegelgesicht ist glatt. Carsten würde sich freuen, wenn ich seine Hemden beim Bügeln so hinbekäme. Das Spiegel-Dekolletee ist knochig. Brust? Fehlanzeige. Ich versuche meine Yoga-Atmung, um mein wild hüpfendes Herz zu beruhigen, atme langsam ein und aus und versuche, das, was ich sehe, in Worte zu fassen. Nach fünf Atemzügen sage ich laut das Unfassbare: »Okay, Tati, die junge Frau im Spiegel, das bist eindeutig du. Nur etwa 25 Jahre jünger!« Meine Stimme klingt etwas höher, aber genauso bestimmt wie immer. Der Satz klettert in meinen Gehörgang, meine Synapsen führen einen wilden Tanz auf, mein Gehirn kapituliert fast vor der unbegreiflichen Situation. Ich befinde mich anscheinend in der Vergangenheit, sehe aus wie eine Zwanzigjährige, denke aber wie eine Frau, die zwei Gesellschaftssysteme durchlebt, in sechs Berufen gearbeitet, eine Tochter großgezogen und vier Männer verschlissen hat. Die etwa Zwanzigjährige im Spiegel lacht, und ich denke: »Diese Eigenschaften sind die perfekten Voraussetzungen für eine Nachwende-Bewerbung: blutjung, aber mit dreißigjähriger Berufserfahrung und solider Ausbildung.« Vielleicht träume ich genau wie die Human Resource Manager der Konzerne und Firmen des 21. Jahrhunderts.

Oder träume ich überhaupt? Vielleicht … natürlich. Ich träume, weil ich mich in letzter Zeit aus unerfindlichen Gründen ständig mit meiner Vergangenheit beschäftige und jede Gelegenheit nutze – ob ich mit Carsten unterwegs bin, eine Dokumentation im Fernsehen läuft oder ich die nächste Falte in meinem Gesicht entdecke –, eine Anekdote aus meiner Jugend zum Besten zu geben. Ganz so real wie die nackte, dürre Frau im Spiegel in diesem Traum sind meine Anekdoten natürlich nicht. Sie sind über die Jahre ein wenig abgeschliffen, aufgehübscht und bei vielen Gelegenheiten schöngeredet. Vielleicht ist Carstens DVD-Geburtstagsgeschenk gar kein Liebesbeweis, sondern ein Racheakt. Vielleicht war es Absicht, dass sein Geschenk mein Unterbewusstsein zu einem verhaltensbiologischen Selbstversuch animiert und ich jetzt diesen Albtraum durchleben muss. Ich werde mich wachkneifen und ihn fragen. Mit zwei Fingern greife ich die Haut meines linken Oberarms und registriere, dass sie so straff ist, dass sich nicht eine kleine Runzelfalte beim Zukneifen bildet. Der jetzt folgende Schmerz scheint mir in seiner Intensität sehr real. »Ahhhhhhh! Ffffffffff!« Ich lasse los und bin erstaunt, dass mein Oberarm zwar gerötet, aber sofort in die alte Form zurückgesprungen ist. Dann blicke ich optimistisch auf und muss feststellen, dass ich immer noch in dem blöden Ost-Badezimmer stehe. Was soll das? Resigniert setze ich mich auf den Wannenrand und blicke, ausgehend von meinen dünnen Beinen, über die erstaunlich volle Schambehaarung und den völlig ringfreien Bauch auf meine sehr flache Brust. Immerhin, die Brustwarzen funktionieren und signalisieren mir, dass ich friere. Warum träume ich nicht von einer warmen Wohnung? Ich sollte mir etwas anziehen. Meine Kleiderschränke stehen im Schlafzimmer. Ja, in dem Schlafzimmer, in dem ich meinen Ex-Mann Heinz mit der verfilzten Dauerwelle aus der Eckkneipe beim Fremdgehen erwischt hatte. Das ist abgeschlossen. Die Fremdgehgeschichte und die Schlafzimmertür. Ulkig. Ich muss dann wohl im Wohnzimmer geschlafen haben. Na klar, deswegen war es vorhin so laut. Das zerwühlte Bett mit der alten Palmenbettwäsche steht im Erker. Diese Bettwäsche hatte mich sage und schreibe 275 Mark gekostet, die ich ausgegeben hatte, um mir das Gefühl von karibischen Nächten, die ich aus erster Hand nicht kannte, zu ermöglichen.

Der Erker ragt direkt über die heute geteerte Großbeeren-, aber damals kopfsteingepflasterte Ernst-Thälmann-Straße. Ich schaue mich auf der Suche nach meinen Klamotten um. Das Zimmer wird von einem großen, uralten Kachelofen mit Krone dominiert, der Stuck an der Decke ist fast vollständig erhalten. Das antike Sofa und die Sessel hatte Papa für mich zur Hochzeit mit passendem, im Biedermeier-Stil gewebtem Stoff beziehen lassen. Hellgrüne Streifen und rosa Blumenkörbchen. Genauso habe ich das alles in Erinnerung. Heute steht das durchgesessene Ensemble in der Kneipe des Potsdamer Kabaretts. Während ich meinen Blick über die mir von meinen Eltern und Großeltern geschenkten und im wilden Stilmix zusammengewürfelten Möbel streifen lasse, kommt es mir so vor, als wäre in meinem Kopf eine alte Kommode versteckt, deren Schubfächer sich jetzt nach und nach öffnen und verstaubte Erinnerungsschätze freigeben. Da, der Fünfziger-Jahre-Wohnzimmerschrank mit Aufsatz! Um den hatte Heinz nach der Scheidung gekämpft, genauso wie um den von meinem Schwager selbstgebrannten Blumentopf auf dem Fensterbrett. In besagtem Schrank finde ich endlich meine Klamotten. Baumwollschlüpfer und Socken. BH brauche ich nicht. Ich kann mich zwischen zwei Jeans entscheiden, beide stonewashed. Na super … die Ossi-Erkennungshose. Ah, da ist der Pullover aus dem Exquisit, den ich mir von meinem zweiten Tänzerhonorar trotz wilder Beschimpfungen von Heinz geleistet hatte. Er ist langärmlig, aus schwarzer Wolle mit eingestrickten, roten Zwiebeltürmen, die an Russland erinnern. Oder die UdSSR? Ich streife alles über und vermute, dass ich mich ungefähr im Jahr ’88/89 befinden müsste. Vorher hatte ich den Pullover noch nicht.

Es klingelt. Wo ist mein Handy? Im Flur? Ich suche auf dem Schuhregal, ziehe den Vorhang zur Seite. Nichts. Es klopft an der Tür. Ach so. Ich habe die Wohnungstür kaum geöffnet, da rattert eine Schimpfkanonade auf mich ein. »Tati, wo bleibst du? Wir sind seit zehn Uhr zur Probe verabredet!« Betty steht vor mir. Sie schüttelt ein paar Regentropfen aus ihrem blonden Pagenkopf. Mein Gott, sieht die jung aus! Ich bin so verblüfft, dass ich stocksteif und stumm in der Tür stehend verharre. Betty, stupst mich zur Seite und stürmt meinen Flur. »Los, pack dein Zeug zusammen, wir haben keine Zeit!« Ich schaue ihr fassungslos hinterher und konzentriere mich auf das im Moment für mich Fassbare. Ihre Klamotten. Betty trägt eine Stonewashed-Jeans, dazu ein schwarzes Shirt und eine sehr weite, schultergepolsterte, schwarz-weiß gestreifte Strickjacke. Typisch Achtziger-Jahre-Style. Jetzt dreht sie sich zu mir um und stützt die Hände in die Hüften. »Hallo, Tati?«

»Ähm, ja?«

»Was ist los?«

»Du bist so schlank!«, sage ich nur und wundere mich, dass Betty trotzdem so viel Brust hat. Im Gegensatz zu mir. In meiner Verwirrung strecke ich ihr meinen Kopf für den obligatorischen Begrüßungskuss entgegen und spitze die Lippen. Betty zuckt erschreckt zurück, und mir ist das peinlich. »Tati?«, fragt sie mich, »Alles in Ordnung mit dir?«

»Entschuldige Betty. Ich muss irgendwas verpennt haben. Was haben wir heute für einen Tag?«

»Heute ist Montag, der 11. September!«

»Welcher?«

»1989!«

»Isch wörde blöide!«, sächsle ich. »Neununachzisch? Un die Mauer steit noch, un die Kumbels lassen alles stein un lieschen und machen rüber?« Ich sächsle immer, wenn ich lustig sein will oder komplett verwirrt bin. Und ich bin verwirrt. So einen perfekten, realistisch wirkenden Traum hatte ich noch nie.

»Tati, ich weiß nicht, was du da redest, aber mir ist nicht zum Scherzen. Wir haben den Raum nur bis um zwölf!«

»Gestern hatte Ingo Geburtstag!«, fällt mir ein. Ich vergesse die Geburtstage meiner Ex-Lover nie.

»Ach deswegen! Du warst zum Geburtstag.« Betty scheint erleichtert. Sie hat eine Erklärung für mein Verhalten gefunden. »Ja, Tati, der Ingo, der ist wüst süß. Hast du was mit dem? Wundern würde es mich nicht, jetzt wo du Heinz los bist!«

»Ich bin Heinz los?«

»Ja?! Natürlich! Was stellst Du denn für Fragen?« Betty guckt mich sorgenvoll und irgendwie mütterlich an. Aber in meinem Kopf ist kein Platz, über Bettys Sorgen nachzudenken, in meinem Kopf rattert es. Wenn ich annehme, dass sich dieser Traum an der Realität orientiert, dann öffnet Ungarn gerade seine Grenzen und Tausende DDR-Bürger werden in den nächsten Wochen das Land verlassen.

Betty scheint mir sehr real. Sie schaut mich so erschüttert an, wie ich mich gerade fühle. Hat sie mein Versuch eines Begrüßungskusses aus der Bahn geworfen? Am 11. September ’89 habe ich noch niemanden zur Begrüßung geküsst. Nur die Hand gegeben. Überhaupt hat kein Mensch wahllos um sich rum geküsst, einfach so. Erst Kumpel Ronny hatte mich 1990 zu diesem Begrüßungsritual gezwungen. »Pappalapapp, Tati, heutzutage wird geküsst, wenn man sich mag. Stell dich nicht so an!« Und dann haben wir uns bei jedem Treffen mit jedem einmal geküsst. Das änderte sich in zweimal küssen, nachdem man sich mit dem Einmalkuss als Ossi outete, denn Menschen aus den alten Bundesländern küssten immer zweimal. Links und rechts. Gar nicht küssen ist eine große Erleichterung, denke ich. Betty verhindert, dass ich mich weiter gedanklich sortieren kann. Sie verwedelt jeden klaren Gedanken durch wilde Handbewegungen vor meinem Gesicht. »Halloooo! Tati! Hoffentlich bist du nicht krank, denn in sieben Wochen müssen wir unsere Tanzshow fertig und alle Kostüme besorgt haben! Am 31. Oktober ist Einstufung!«

Nee, alles gut. Burn out gibt’s ja noch nicht! Ich will sofort wach werden!

»Tati? Hör auf zu träumen. Komm schon. Pack deine Trainingssachen und vergiss die Fackeln nicht.«

Betty verzieht genervt das Gesicht und zieht mich in meinen Wohn-Schlafraum. Sie scheint sich gut auszukennen. Ich gehe wie ferngesteuert hinterher und sehe eine Reisetasche neben dem Bett. Ich wühle kurz darin und finde alles, was ich zum Training brauche, auch die Fackeln für den Feuertanz und sogar eine hellblaue Brotbüchse, die ich mit Wurststullen und einem in Viertel geschnittenen »Goldenen Köstlichen« gefüllt habe. Diese Äpfel gibt es im Gegensatz zu den Damenbinden »Albazell« auch noch zwanzig Jahre nach der Wende. Sehr gut. Ich greife meine Klamotten und freue mich, dass ich schon 1989 so ordentlich war, dass ich mir am Vorabend alles Nötige zurechtgestellt habe. Im Flur vor dem Spiegel liegt ein Schlüsselbund, und an der Garderobe hängt meine schwarze Flickenlederjacke. Ich ziehe sie über und ärgere mich, im Januar ’89 mein wertvolles Westgeld dafür ausgegeben zu haben. Sie wiegt gefühlte 15 Kilo und wurde, wie ich bei einem Blick in den Flurspiegel feststellen muss, sicher nicht nur deswegen gleich nach der Währungsunion von mir entsorgt. Während ich die Wohnungstür abschließe, nehme ich den Geruch von Spee, Milwa und Neptunseife wahr. Sofort denke ich an den wandgroßen, sensationell schönen und alten Apothekenschrank, der die Drogerie im Erdgeschoss dieses Hauses schmückt. Ich hüpfe die Treppe erstaunlich schnell herunter, ohne auch nur einen klitzekleinen Schmerz im Knie, und ich überlege, wo der wertvolle Drogerie-Schrank wohl nach der Rekonstruktion des Hauses 1998 hingekommen und was mit den großen antiken Kachelöfen in den acht Wohnungen passiert sein mag. Das Treppenhaus, dessen lindgrüne Sockelfarbe total verschrammelt, abgenutzt und fleckig vor sich hin gammelt, wurde jedenfalls wunderbar rekonstruiert. Sogar das alte Treppengeländer aus Holz blieb in neuem Glanz erhalten.

Betty steigt in ihren direkt vor dem Haus auf dem Bürgersteig geparkten hellblauen Trabi, öffnet mir die Tür von innen und braust in Richtung Lutherplatz/Bahnhof Babelsberg los. Hier drin riecht es komisch, draußen nieselt es ein wenig. Die Menschen hasten mit Regenschirmen dicht an den grauen, mit Rissen durchzogenen und putzbröckelnden Fassaden der Ernst-Thälmann-Straße entlang. Nur wenige Autos, oder besser Trabis und Wartburgs, brummen über das Kopfsteinpflaster.

»Oje! Wie die Autos stinken. Das ist ja furchtbar!«, mäkle ich. Betty guckt irritiert. »Ich rieche nichts!«, sagt sie. Nach dem Mauerfall habe ich das auch nicht gerochen und den Westberliner Potsdambesuchern Böswilligkeit unterstellt, wenn sie über unsere Trabiabgase schimpften. Jetzt stinkt’s auch für mich. Betty biegt von der Karl-Liebknecht- in die Voltastraße und hält direkt an der Post, die noch keine Rollstuhlrampe hat und irgendwie alt aussieht. Immerhin wird sie im Jahr 2012 eines der wenigen erhaltenen Gebäude aus DDR-Zeiten sein, das unter Denkmalschutz gestellt wird. Vor einer der beiden Telefonzellen schlängelt sich eine Schildkrötenschlange, mindestens zehn Menschen mit Regenschirmen.

»Proben wir im Rathaus Babelsberg?«, rufe ich Betty zu, die eben noch im Sturmschritt über die Straße eilt und sich jetzt erstaunt umdreht.

»Welches Rathaus?«

»Das da!« Ich weise mit der Hand über die Kreuzung.

»Im Herbert Ritter? Nee!« Betty eilt weiter.

Hatte ich total vergessen. Das Rathaus hieß früher »Kulturhaus Herbert Ritter«. Ich schleppe meine Trainingstasche gedankenversunken hinter Betty her und staune wieder, als sie einen Schlüssel aus ihrer Handtasche kramt und eine Tür links in der Bahnhofseingangshalle öffnet.

»Ach, wir dürfen im ›Gleis 6‹ proben?!«, freue ich mich.

»Tati!«, Betty geht in einen großen dunklen Raum mit Bühne und alten vergammelten Holzdielen. »Hier gibt es kein sechstes Gleis!«

Fest steht, an diesen Raum kann ich mich erst nach 1990 erinnern. Aber da war er schon zu einer schicken Kneipe umgebaut, in der ich mich oft mit Freunden traf. Dass ich hier vorher schon mal drin war, ist auf meiner Festplatte völlig gelöscht. Ich beschließe, erst wieder etwas zu sagen, wenn ich meine Situation irgendwie analysiert und begriffen habe. Vorerst will und muss ich mich auf tänzerische Themen konzentrieren. Betty, meine fleißige Tanzkollegin, mit der ich von 1987 bis 1992 als freiberufliche und professionelle Show-Tänzerin zusammenarbeitete und auftrat, war und ist die Probenchefin und Choreografin unseres Duos. Hoffentlich erinnert sich mein Körper noch an die komplizierten Bewegungen. Ich glaube zwar, dass mein Albtraum bald vorbei ist, aber ich will uns Mädels auf keinen Fall die Einstufung versauen. Alle zwei Jahre müssen professionelle Künstler in der DDR ihr Können erneut unter Beweis stellen, sonst wird der Berufsausweis entzogen.

---ENDE DER LESEPROBE---