Kontrollverlust - Tatjana Meissner - E-Book

Kontrollverlust E-Book

Tatjana Meissner

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Beschreibung

Sechs Quadratmeter Leben (Teil 4): Kontrollverlust Im vierten Teil erzählt Tatjana Meissner von den Monaten September und Oktober 2020, von Alarmtagen ohne Signale, von Künstlerdemos mit Versprechen, von Versprechenden, die sich gern versprechen, von familiären Coronaerfahrungen, von Corona-management in Theorie und leidvoller Praxis, von Wein- und Wasserpredigten, Regie und Wahnsinn, von Wider- und Wiedervereinigung, von maskierten Freiluftfeierlichkeiten und Glashäusern, von Panikmachern und Beschwichtigern, von zerstörtem Optimismus und Nebelfischern, von kontrollierten Kontrollverlusten, von Restriktionen und Empfehlungen, von Politikverdrossenheit bis Hörigkeit, von Schlafschafen und Facebookpolizisten und von quarantänebefreiten Urlauben und letzten Drinks...

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Tatjana Meissner

Kontrollverlust

Sechs Quadratmeter Leben (Teil 4)

Diese Tagebuchserie ist ein Pandemie-Rückblick auf das Leben und eine Komödie, wie sie nur in Krisensituationen geschrieben werden kann. Ich erzähle ungefiltert und offen über meine täglichen Erlebnisse und Gefühle und halte auch meine Meinung über den alltäglichen Wahnsinn nicht zurück.

Inhaltsverzeichnis

Willkommen in meinem Leben!

Vorwort

Prolog

September 2020

Oktober 2020

Danksagung

Über die Autorin

Mehr zum Lesen

Impressum

Willkommen in meinem Leben!

Ich freue mich, dass Sie dieses Buch gekauft haben. Hiermit halten Sie den vierten Teil einer Serie mit dem Titel „Sechs Quadratmeter Leben“ in der Hand. Ich hoffe sehr, dass Sie beim Lesen, genau wie ich beim Schreiben, erstaunt, vielleicht wütend oder betroffen sein werden, sich wundern und freuen, weinen und lachen. Und danach unbedingt den fünften Teil lesen möchten und dann den sechsten… Obwohl. Ich würde mir wünschen, dass mich Corona nicht mehr so lange ärgert. Bald verschwindet. Dann ist die erste und hoffentlich letzte Staffel dieser Krisendokumentation zu Ende. Aber noch ist es nicht soweit.

Darum viel Spaß bei Teil IV: „Kontrollverlust"!

Vorwort

Tatjana Meissner- Wer bin ich? Kabarettistin, Autorin und Moderatorin Tatsächlich? Aber was sonst? Früher, als ich noch als Tänzerin arbeitete, wurde ich von Zuschauern als Show-Girl bezeichnet. Dann, beim MDR, als Glücksfee. Nach dem Erscheinen meines ersten Buches als die, die sich öffentlich zur virtuellen Partnersuche bekennt. „Wie kannst du nur?“ Nach meinem zweiten Roman bezeichnete mich ein Fernsehmoderator als die „Femme fatale der Midlifecrisis“, nach dem dritten Buch war ich die mit dem ostdeutschen Migrationshintergrund und nach dem vierten die Erika Berger des Ostens. Zuschauer, die sich meinen Namen nicht merken können, sagen: „Die mit den roten Klamotten.“, oder „Die mit den blonden Strubbelhaaren.“, oder „Die mit dem Sex!“ Ich würde sagen: Ich bin eine glückliche Frau, die zwar bereits das Bergfest des Lebens gefeiert hat, aber das tun darf, was ihr Spaß macht: auf der Bühne stehen, Menschen zum Lachen bringen und lustige Lieder singen, obwohl meine Tochter meinen Gesang in ihrer Kindheit immer schrecklich fand. Ich bin die, die manchmal das Gefühl hat, sagen zu müssen: „Ich habe studiert!“. Vor allem, wegen der Themen, die ich gern in meinen Programmen und Büchern zum Besten gebe. Oder, wenn ich offen zugebe, dass ich ein Dschungelcamp-Gucker bin und statt Lyrik lieber Krimis lese. Ich bin die, die die sozialen Medien liebt, weil sie mir die Möglichkeit geben, mit meinen Zuschauern Kontakt zu halten. Ich bin die, die aus demselben Grund gern nach den Vorstellungen am Büchertisch sitzend oder direkt von der Bühne mit ihrem Publikum redet. Und ich finde, man sollte dem Leben, so oft wie möglich, seine komischen Seiten abringen und sich selber nicht zu ernst nehmen. Darum passt Komikerin ganz gut zu mir, oder? Privat gibt es mich auch. Meistens zu zweit. Carsten und ich lieben uns seit 15 Jahren, für jeden von uns die am längsten anhaltende Beziehung des Lebens. Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir es von Anfang an bevorzugten, in getrennten Wohnungen zu leben. Meine erwachsene Tochter Pauli zog wegen ihres Studiums an der Uni Amsterdam in die Niederlande und blieb. Außerdem bin ich stolze Oma eines Enkelhundes namens Lemmy. Ich selber hatte eine schwere Kindheit und eine freudlose Jugend. Ich bin Lehrerkind. Meine Eltern leben dort, wo ich einen Teil meiner Kindheit und Jugend verbracht habe, in der Landeshauptstadt Thüringens, in Erfurt. Meine jüngere Schwester Alexandra wohnt aus mir unerfindlichen Gründen seit fünf Jahren in Dortmund. Einen Teil meiner unzähligen privaten und beruflichen Erlebnisse der vergangenen knapp 60 Jahre meines Lebens findet ihr in Auszügen in meinem Tagebuch. Und jetzt geht´s los:

Prolog

Mein letzter Tagebucheintrag stammt aus meiner frühen Jugend. Damals, einen Tag vor meinem allerersten Sex, habe ich mich ausführlich darüber geäußert, dass Geschlechtsverkehr gar nicht nötig sei, weil mich mein Freund auch einfach so lieben würde. Ich sehe mich in meinem vielleicht etwas mehr als 6 qm großen Kinderzimmer unserer Neubauwohnung auf dem Erfurter Johannesplatz sitzen und schreiben. Meine Mutter sagte damals Jugendzimmer, denn mit dem Besuch der Heinrich-Mann-Oberschule bekam ich statt des Spielzeugschrankes eine kleine Hellerauschrankwand mit Schreibtisch an die Stirnseite des Zimmers gestellt. Das ist über 40 Jahre her. Danach habe ich nie wieder Tagebuch geschrieben. Warum? Auf keinen Fall, weil mein Leben danach weniger aufregend war. Immerhin werde ich im kommenden Jahr 60 Jahre alt. Das klingt alt. Ich fühle mich trotzdem zu jung, eine Biografie zu schreiben. Aber ich werde die Zeit des Corona-Lockdowns nutzen, auf mein Leben zurückzublicken, auf gute und schlechte Zeiten, werde mich erinnern und reflektieren, Erfahrungen und einen Teil meiner unzähligen privaten und beruflichen Erlebnisse der vergangenen knapp 60 Jahre in Auszügen mit meinen Tagebuch-Lesern teilen. Wenn ich meine pubertären Einträge von damals durchblättere, ärgere ich mich und werde das Gefühl nicht los, dass ich sogar in diesen privaten Aufzeichnungen meine Gedanken und Gefühle zensiere. Nur aufschreibe, was auch meiner Mama gefallen könnte, sie nicht enttäuschen würde. Heute, nach über 40 Jahren beginne ich wieder Tagebuch zu schreiben. Nicht in einem Kinderzimmer, aber wieder auf einer Fläche von nur 6 Quadratmetern, meinem Balkon. Weil etwas Neues, mein Leben stark Beeinflussendes passiert. Ein Virus stürzt die ganze Welt in eine Pandemie, die zu Verordnungen führt, zu einschränkenden Maßnahmen und mich in eine psychisch sehr angespannte Situation. Ich will darüber diesmal ungefiltert und offen schreiben, meine täglichen Erlebnisse und Gefühle schildern, meine Meinung kundtun. So, wie ich es vielleicht schon vor über 40 Jahren und auf jeden Fall vor 30 Jahren hätte tun sollen, als es den ersten großen Umsturz in meinem Leben gab. Mauerfall und Wende 1989/90. Was damals mit mir passierte, was ich dachte und fühlte kann ich nur aus heutiger Sicht erinnern und wüsste doch gern Genaueres. Damals veränderte sich ein limitiertes Leben in ein freies. Jetzt ist es umgekehrt.

September 2020

1. September 2020

Heute ist regnerisch, aber warm. Heute guckt keiner auf sein Handy. Meine aus dem Urlaub zurückgekehrte Sportfreundin nicht und Bella hat ihr Smartphone noch gar nicht an. Ich weiß deswegen nicht, wie mein Tag verlaufen wird. Probe? Sport? Erst duschen oder später? Es ist fast neun und ich will loslegen, bevor ich wieder müde werde. Nicht mal die Bank hat den Kontoauszug erstellt, damit ich die Steuerunterlagen für diesen Monat fertigmachen kann. Ich könnte natürlich auch die Kolumne für Oktober schreiben. Mir fällt aber gerade nichts Lustiges ein. Thema 30 Jahre Wiedervereinigung oder doch lieber nur über Laubbläser. Nach kurzer Überlegung nehme ich beide Themen.Kehren statt blasen Wir feiern 30 Jahre Wiedervereinigung. Fast alles hat sich in den 30 Jahren vor allem für uns in den neuen Ländern verändert. Unser ganzes Leben. Und vieles auch zum Guten. Na klar, ein paar Probleme werden nach wie vor immer nur hin und her geschoben, nicht wirklich gelöst. Und da meine ich nicht nur die Einkommensunterschiede zwischen Ost und West und das immer noch vorhandene nörgelige Unverständnis zwischen westdeutsch und ostdeutsch Sozialisierten, sondern vor allem auch die fast 30-jährige Benutzung von Laubbläsern. Auch die verschieben nur das Problem von einer Ecke in unserem Hinterhof in die andere und sind dabei so laut, dass ich nicht mal die schreienden Kinder auf dem Spielplatz hören kann. Ich würde Problemverschiebungen verbieten. Natürlich bußgeldfrei. Zum Feiertag gibt es eine Laubbläseramnestie: Potsdamer Laubbläserbesitzer dürfen ihre Geräte beim Schrotthandel abgeben und erhalten dafür im Austausch einen Laubbesen und einen Laubsack aus recyclebarem Material. Vielleicht auch eine Anstecknadel mit einer goldenen Harke. Und dann kehren wir zum Jubiläum jeder vor unserer eigenen Tür.Weder Probe noch Sport, dafür Steuer. So ist mein Tag. Außerdem geprägt von innerer Unruhe wegen Bella. In mir wächst die Sorge, dass sie sich nicht mehr auf ihr Können verlassen will, sondern auf Witze aus dem Netz. Ich schreibe ihr das und bekomme keine Antwort. Bella ist paralysiert und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Diese Situation erinnert mich an noch schlimmere Vorstellungen meiner Anfangsjahre. Vor ungefähr 20 Jahren trat ich mal mit einer Kollegin in einem Hotel auf. Es waren ohnehin wenige Zuschauer anwesend, aber die Hälfte von ihnen verließ auch noch in der Pause die Veranstaltung. Ich wollte danach, vor Peinlichkeit und Scham am Boden zerstört, nicht mehr auf die Bühne. Wollte die fünf Verbliebenen einfach sitzen lassen. Sah unseren Techniker, der verzweifelt den Kopf schüttelte und die Hände vors Gesicht hielt. Meine erfahrenere Kollegin nahm nach der Pause ihren ganzen Mut zusammen, ging auf die Bühne, thematisierte die Situation, bat die verbliebenen Gäste näher an die Bühne. Sie kamen, wir spielten, aber ich war mir ab sofort sicher, dass ich diesen Beruf, ginge es so weiter, nicht mehr lange machen wollte.

2. September 2020

Bin heute zu früh wach, weil mir bewusst wird, dass wir nur noch zwei Wochen haben. 14 Tage bis zu Bellas Premiere! Nicht viel Zeit. Gar nicht viel. Und sie will sich immer noch neue Witze in ihr Programm schreiben lassen. Dabei finde ich es besser, den vorhandenen Text so perfekt zu lernen, dass kein renitenter Zuschauer sie aus der Fassung bringen kann. Leider ist Bella immer noch zahnkrank, muss erneut zum Arzt, die Probe fällt aus. Ich muss mich bemühen, gelassener darauf zu schauen, ist ja nicht meine Show. Den Rest des Tages nutze ich, mich über die GVL aufzuregen. Das ist ein Urheberschutzverein für Künstler, dem ich angehöre, seit ich Fernsehen gemacht habe. Am Ende des Jahres schickte ich immer meine Verträge ein und bekam dafür ein wenig Geld. Bis 2009, ab da stellte die GVL auf digitale Meldungen um, was dazu führte, dass kein Fernseh- oder Radiosender irgendeine Sendung digital meldete und Künstler deshalb ihre Auftritte nicht mehr honoriert bekamen. Ihre Urheberrechte blieben zu großen Teilen auf der Strecke. Vielleicht ist diese Erfahrung ein Grund dafür, dass ich bei den Meldeproblemen der Gesundheitsämter und den Schwierigkeiten mit der Corona-Warn-App nur milde lächeln kann. Deutschland fängt zwar wie das Wort digital mit „D“ an, trotzdem haben beide Wörter nichts miteinander zu tun. Zurück zur GVL. Zehn Jahre lang blieb die Interessenvertretung für Künstler verschwunden. Zehn Jahre keine Änderung an den Möglichkeiten der Meldung von Auftritten, keine Änderung der Internetseite. Ich gab schon auf und erwartete gar nichts mehr. Bis gestern. Man teilte mir mit, ich könne jetzt alle Sendungen von 2010 bis 2016 melden, solle aber Belege dazu hochladen. Sind die bekloppt? Jetzt wieder manuell? Nix digital? Jetzt muss ich alle Fernsehsendungen dieser Jahre weitestgehend auflisten und dann im Keller in den alten Ordnern nach den Verträgen suchen, diese scannen oder fotografieren und hochladen, um wenigstens ein kleines Stück vom Kuchen abzubekommen. Ausgezahlt wird sowieso erst 2021. Mittags fiel mir auf, dass ich bei meinem nächsten Gastspiel am 24. September ein anderes Programm spiele als in den vergangenen Wochen. „Die pure Hormonie“, deren letzte Aufführung im Februar 2020 stattfand. Also habe ich mir die Textbücher vorgenommen, bin drüber gegangen, habe neue Spickzettel ausgedruckt. Ich schreibe das in der Mehrzahl, weil es immer zwei Shows sind: eine mit und eine ohne Musik. Erstaunlich, wieviel ich vergessen hatte. Auch die letzten Änderungen. Aber richtig Text lernen, singen und Choreografie üben werde ich erst nach Bellas Premiere. Heute ist es ziemlich kalt draußen. Und nass. Komme auf meinem Rückweg vom dm-Einkauf in den Regen. Wie schon gestern wird mir überhaupt nicht richtig warm ohne heißes Bad. Das liegt sicher daran, dass sich mein Körper erstmal wieder an solche Temperaturen gewöhnen muss und dass wir immer noch auf Diät sind, also wenig essen, kein Zucker, kein Weißbrot. Abends oft Salat mit viel Eiweiß in Form von Linsen und Kichererbsen. Carsten ist wieder richtig schlank geworden. Ich nicht wirklich. Vielleicht habe ich ein Kilo abgenommen, die tote Katze am Bauch hängt ein bisschen mehr. Aber sonst? Gesundheitsminister Spahns Zitat wabert heute durch die Medien: Mit dem Wissen von heute hätte man die Lockdown-Maßnahmen nicht so drastisch ausfallen lassen. Die Querdenker frohlocken, sie hätten das schon immer gesagt. Wir schauen bereits den zweiten Abend die Netflix-Serie „The Crown“ über das britische Königshaus. Gestern wurde die Königin gekrönt und trainierte vorher tagelang das Tragen der Krone, weil diese so unendlich schwer sein soll. Ich musste sofort an Jürgen Drews denken, der als Gast meiner MDR-Tele-Bingo-Sendung seinen „König von Mallorca“ sang. Seine Krone, die ich ihm in der Sendung zum Auftritt reichen musste. Ich hatte sie mir probehalber kurz auf meinen Kopf gesetzt. Die war nicht nur schwer, sie wackelte auch, hielt bei mir nicht. Entweder hat Drews einen kleineren Kopf als ich, oder einen Eierkopf. Ich habe das nicht überprüft.

3. September 2020

Seit den Salzburger Festspielen mehren sich die Artikel über die Platzauslastung in deutschen Theatern. In Österreich können 50 % der Plätze besetzt werden, das klappte bei den Festspielen mit 40.000 verkauften Tickets coronafrei. Warum nicht in Deutschland? Warum dürfen in die Deutsche Oper, wo 2100 Zuschauer reinpassen, zur Premiere nur 200? Auch ihre Sitzplatzaufteilung nach dem Vorbild der Salzburger Festspiele wurde nicht genehmigt. Der RB Leipzig darf zu den nächsten Spielen aber 8000 Zuschauer einlassen. Wir erfahren heute, ob ein besseres Hygienekonzept für die Katharinenkirche in Stendal von der Stadt erlaubt wird. Bisher sind nur so wenige Zuschauer gestattet, dass wir kaum die Miete von ihren Eintrittsgeldern bezahlen können. Bliebe es so, würden wir es ausfallen lassen. Schweren Herzens. Bella kommt. Sie hat Antibiotika verschrieben bekommen, sehr starke. Wir proben. Sie zeigt mir das Ersatzlied, noch sitzt es nicht, wie auch, nach so kurzer Zeit. Der Rest des ersten Teils läuft gut. Nach einer kurzen Pause gehen wir an den zweiten Teil. Bella kann sich nicht mehr konzentrieren, ich muss soufflieren, nach zehn Minuten geht nichts mehr. Sie ist todunglücklich, befürchtet mich zu enttäuschen. Ich versuche zu trösten, mache einen Plan mit ihr, wie es weitergehen könnte. Leider folgen für sie jetzt zwei Tage Proben zu einem anderen Programm fürs Kabarett. Das ist das Los eines Künstlers: Man kann sich nicht krankmelden, nicht die Zuschauer und Kollegen im Stich lassen, muss trotz starker Medikamente das volle Pensum schaffen und seine Nerven in den Griff kriegen. Am Nachmittag bedrucke und verpacke ich das Werbematerial für die Bibliothek Zielitz. Das Gastspiel am 20.11. findet statt, wenn auch mit viel weniger Zuschauern. Dann kommt meine Sportfreundin. Ich merke die vier Wochen Sportpause, schwitze und ningele rum. Ein paar Stellen meines Körpers verweigern sich total, sie krampfen und wollen nicht mitarbeiten. Nach dem Stress folgt der ultimative Kaffee auf dem Balkon. Ich frage nach der Demo und erfahre, was ich erhoffte und in den Medien nicht stattfindet: Distanzierung gegen rechts, kein Mitlaufen der Reichsbürger zum Großen Stern, Abstände wurden eingehalten, es ging still und friedlich zu. Ich glaube, ich bin die Einzige, mit der sie darüber redet. Etliche ihrer Freunde ordnen sie und ihren Mann jetzt als Reichsbürger ein. Natürlich hinter ihrem Rücken. Diese unsachliche Medienpolitik zieht sich mittlerweile bis in die intimsten Bereiche der Freunde und Familien. Schwarz-weiß-Malerei, Selbstgefälligkeit und vermeintlich moralische Überlegenheit auf allen Seiten. Nein, das stimmt nicht. Meine Sportfreundin verurteilt niemanden. Vor der Dusche gehe ich auf die Waage und beschließe beim Anblick meines Gewichtes, mir morgen ein Stück Kuchen zu genehmigen. Eine FB-Freundin schreibt mir, sie freue sich auf meinen Auftritt in Chemnitz. Und sofort produziert mein Kopf Bilder dieser, damals noch Karl-Marx-Stadt genannten, sächsischen Liebesinsel meiner 80-er Jahre. Zuerst war KMS nur die Stadt, in der meine Schwester als Absolventin der Palucca-Schule Dresden ein Engagement an der Oper erhielt. Ich besuchte sie oft, wir saßen mehr im Theaterclub als im Theater. Tranken und redeten übers Leben. Wir diskutierten dort lange und wütend, ob Tänzer und Schauspieler nun Künstler seien oder eher Handwerker. Später gewährte mir Alexandra Unterschlupf bei meiner ersten Scheidung, so wie ich sie in meiner Studentenbude in Leipzig samt Baby-Tochter aufnahm. Wir hatten nur uns, denn unseren Eltern fehlte das Verständnis für unser, in ihren Augen unmoralisches Verhalten, unsere Scheidungen und wechselnden Partner. Die 80-er waren unsere wilden Jahre, der Ort unserer Verfehlungen meist Karl-Marx-Stadt. Randale und Liebe. Bilder ploppen in meinem Kopf auf: Mein damaliger Mann und ich weinend. Er hatte einen letzten Versuch der Eherettung unternommen. Alexandras Exmann, der noch lange nach der Scheidung in ihrer Wohnung lebte, die Wände mit schwarzen Kreuzen bemalte. Mein neuer Freund, der gerade mal so groß war wie ich, weswegen ich auf der Straße, neben dem Bürgersteig mit ihm spazierte, um kleiner zu wirken. Alexandra, die sich um Schrei-Baby Pauli kümmerte und völlig fertig war, als wir nach einer Woche Urlaub mit Freunden aus der Tschechoslowakei zurückkehrten. Ende der 80-er gab es einen Aufenthalt in einem Hotel der Stadt mit meinen Tanzmädels. Wegen eines Auftritts, von dem mir ein Kollege des Fernsehballetts später erzählte, wir hätten auf dem Gang geknutscht. Ich hatte es vergessen, er war empört. In demselben Hotel hatte ich mich Jahre später als junge enttäuschte Mutter noch einmal mit meinem Exmann verabredet. Wollte einen Neuanfang, weil der mit dem kleinen Mann so schrecklich schief ging. Mein Exmann sagte ab. Seine Mutter sei dagegen, teilte er mir in einem Brief mit. Dann kam der Februar 1989. Mein Tanztrio war für mehrere Tage für eine Gala in der Karl-Marx-Städter Stadthalle engagiert. Weil ich mich kurz zuvor bei einer Tournee in Budapest in meine letzte große DDR-Liebe Ingo verliebt und den kleinen Mann verlassen hatte, schlief ich nicht im Hotel mit meinen Kolleginnen, wo verheiratete Personen nicht mit anderen Männern aufgenommen wurden, sondern bei Romeo, einem Kollegen von Alexandra, der Ingo und mich aufnahm. Er, Bulgare, bekochte uns mit leckerem Kaninchenbraten. So etwas hatten wir vorher noch nicht gegessen. Köstlich. Gerade fällt mir ein, dass da schon mein Fernsehfreund dabei war. Ebenfalls frisch verliebt- in meine Tanzkollegin. Mitte/ Ende der 90-er dann mein letztes Mal „große Bühne“ in dieser Stadt. Ein neuer Freund an meiner Seite, Pauli bereits pubertär. Es gab ein großes Fest auf dem Platz vor der Oper. Ich kannte den Laser-Künstler, der das Bühnenprogramm gestaltete und meine Schwester, meine Tochter und mich um zwei Tänze gebeten hatte. Dramatische, im Palucca-Stil des „Neuen Künstlerischen Tanzes“. Und wir tanzten in weißen Trikots „Flamma, Flamma“ auf der großen Bühne, im zuckenden Laserlicht. Es dürfte auch fast der letzte meiner Auftritte als Tänzerin gewesen sein. Nun also zum ersten Mal wieder Karl-Marx-Stadt, nein Chemnitz. Nach über 20 Jahren. Bald. Zum Abschluss des Tages bereite ich den USB-Stick mit der Auftrittsmusik vor. Aber richtig Text lernen, singen und Choreografie üben werde ich erst nach Bellas Premiere.

4. September 2020

Es hat die ganze Nacht geregnet, der Morgen ist dunkel, die Zeitung kommt zu spät. Ich schreibe meine Gedanken zu Chemnitz auf und erinnere mich, wie ich an den Laser-Tanz-Job letztendlich gekommen war. Das war verrückt. Es muss 1995 gewesen sein. Ich wurde damals vom Chef des Potsdamer Stadtfernsehens, wo ich meine ersten Moderationserfahrungen machen durfte, und seinem Freund zu einem Essen beim Spanier im westlichen Teil Berlins eingeladen. Schon das war besonders. Und neu, wie damals alles neu für mich war. Uns gegenüber saß ein fremdes Paar. Er sprach mich plötzlich an, ob ich nicht jemanden kennen würde, der eine kurze Sequenz spanisch tanzen könnte. Vielleicht auch ein bisschen spanisch aussieht. Ich hatte dunkle lange Haare und antwortete selbstbewusst: „Na, ich!“ Er erzählte, dass er ein großes internationales Motivationsseminar vorbereite. Für die Vertriebler von…? Ich will nicht lügen, könnte aber Bosch gewesen sein. Der Redner für Spanien solle von einer spanischen Tänzerin nach seiner Rede umtanzt werden. Nur eine Minute, die Musik würde er mir liefern. Was ich in dem Moment für einen Witz hielt, wurde reales Leben. Nur eine Woche später tanzte ich mit straff nach hinten gegeltem Haar, spanisch anmutendem Rock und Body um den spanischen Redner. Die ausschließlich von Männern gefüllte Halle applaudierte. Das war meine erste Begegnung mit solchen westdeutschen Ritualen wie Motivationsveranstaltungen in guten Hotels, wo Geld keine Rolle zu spielen schien. Hinter der Bühne traf ich Joe. Einen DDR-Kollegen aus dem Fach der Zauberei, der an diesem Abend für ein kleines Feuerwerk verantwortlich war, zwischenzeitlich kurz als Manager gearbeitet und den Versuch gestartet hatte, unser Tanztrio an die Reeperbahn zu vermitteln.

---ENDE DER LESEPROBE---