Ich komme zweimal - Tatjana Meissner - E-Book

Ich komme zweimal E-Book

Tatjana Meissner

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Beschreibung

Tatjana Meissner entführt ihre Leser nicht nur in eine Zeit voller Herausforderungen, sondern auch in ihr Leben als Kabarettistin, Frau, Mutter und Tochter und auf ihren Sechs-Quadratmeter-Balkon mit Blick auf den Hinterhof. Von dort beobachtet sie ihre Nachbarn, erinnert sich an Anekdoten und Erlebnisse ihres beruflichen und privaten Lebens, kommentiert zeitunglesend die absurdesten Nachrichten und neusten Studien zu zwischenmenschlichen Themen und reflektiert die teilweise abenteuerlichen Ereignisse des Corona Jahres. Mal ohnmächtig, manchmal ungläubig, aber immer ehrlich, geistreich und mit viel Humor. „Ich komme zweimal“ ist ein „Best-of“ der überraschendsten und humorvollsten, im Rückblick erstaunlichsten Einträge aus den acht Büchern ihrer Tagebuchserie „Sechs Quadratmeter Leben“.

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

ICH KOMME ZWEIMAL

Danksagung

Wer bin ich?

Über die Autorin

Mehr zum Lesen

Impressum

PROLOG

Mein letzter Tagebucheintrag stammt aus meiner frühen Jugend. Ich sehe mich in meinem vielleicht etwas mehr als sechs Quadratmeter großen Kinderzimmer unserer Neubauwohnung auf dem Erfurter Johannesplatz sitzen und schreiben. Das ist über 40 Jahre her. Danach habe ich nie wieder Tagebuch geschrieben. Bis zum 11. März 2020. Warum? Weil etwas Neues, mein Leben stark Beeinflussendes passierte. Genau wie vor über 30 Jahren, als es den ersten großen Umsturz in meinem Leben gab. Mauerfall und Wende 1989/90. Was damals mit mir passierte, was ich dachte und fühlte kann ich nur aus heutiger Sicht erinnern und wüsste doch gern Genaueres. Damals veränderte sich ein limitiertes Leben in ein freies. 2020/ 21 war es umgekehrt.

Darum habe ich die Zeit des Corona-Lockdowns genutzt, auf mein Leben zurückzublicken, mich zu erinnern und zu reflektieren, Erfahrungen und einen Teil meiner unzähligen privaten und beruflichen Erlebnisse der vergangenen knapp 60 Jahre aufzuschreiben. Genauso wie alles, was mich in der Zeit der Pandemie bewegte, echauffierte und verwunderte. Nicht in einem Kinderzimmer, aber wieder auf einer Fläche von nur sechs Quadratmetern, meinem Balkon. Daraus entstanden acht kleine Tagebücher unter dem Titel „Sechs Quadratmeter Leben“.

Für diese gekürzte Version meiner Tagebücher habe ich die überraschendsten und humorvollsten, im Rückblick erstaunlichsten Einträge meiner Tagebücher zusammengestellt.

Denn genauso, wie ich vor fast 35 Jahren trotz aller Widrigkeiten, aber mit der Hilfe von Freunden und Familie, gepaart mit meinem Fleiß, einer ordentlichen Portion Neugier und dank meiner optimistischen Lebenseinstellung alle Hürden meisterte, haben mir genau diese Zutaten auch in der zweiten Krise meines Lebens geholfen, nicht meinen Humor zu verlieren. Denn, ich komme zweimal. Mindestens.

ICH KOMME ZWEIMAL

11. März 2020

Frauentagsauftritt in Hagenow. Bis dahin hatten Carsten und ich gedacht, dass wir gut durch die Krise kommen. Uns richtig gefreut, nie mehr als 500 Zuschauer zu haben, weil nur die Veranstaltungen für mehr als 1000 Zuschauer abgesagt wurden. Für Künstler eine absurde Freude. Obwohl ich sagen muss, dass ich wirklich nicht damit hadere, mit meinen Shows keine großen Hallen zu füllen. Ich bin zufrieden mit meinem Leben, meinem Erfolg- alles gut, so wie es ist. Natürlich träumt man mal von einem Massenandrang, der mit einem Auftritt so viel Geld in die Kasse spült, wie Corona-Viren die Menschen in ihr Zuhause. Ich würde in so einem Fall den Rest des Jahres frei machen. Was brauche ich denn noch? Meine kleine Wohnung ist abgezahlt, meine Tochter Pauli lange erwachsen und im Großen und Ganzen Selbstversorger. So wie ich. Schon immer hatte ich ein großes Bedürfnis unabhängig zu sein. Für mich selber sorgen zu können, in jeder Lebenssituation. Woher meine Angst vor Abhängigkeit kommt, weiß ich nicht. Aber die Vorstellung große Kredite zurückzahlen zu müssen, jemanden um Geld zu bitten oder schlimmer noch: Mir von Männern vorschreiben zu lassen, was ich mir kaufen darf- das macht mir nicht nur Angst, dass lässt mich so panisch werden wie Klopapierkäufer in der Corona –Krise. Darum spendete ich schon während meines Studiums an der Handelshochschule Leipzig Blut für Geld, obwohl ich mich kurz darauf regelmäßig in den hochschuleigenen Paternoster übergab. Ich aß wochenlang nur Mischbrot mit Marmelade, damit ich mit meinem Stipendium über den Monat kam. Darum konnte ich im Laufe meines langen Lebens auch immer etwas für die Rente beiseitelegen. Als freie Künstlerin und Unabhängigkeitsfanatikerin mehr als notwendig.

Hagenow, ein 11.000 Einwohnerort in Meckpom, empfängt uns mit Sonne. Wir sind -wie immer- überpünktlich losgefahren und nutzen die 30 Minuten überschüssige Zeit für einen Imbiss im Café-Restaurant Leuschner. Carsten muss beim Betreten des Restaurants niesen, was zu erschreckten Gesichtern bei den anwesenden Gästen führt. Noch amüsiert uns die Sorge Einzelner vor Ansteckung. Carsten ist mein Lebensabschlussgefährte. Wir haben uns im Internet gefunden und leben getrennt in zwei übereinanderliegenden Wohnungen in Potsdam-West. Das ist wahrscheinlich der Grund, dass wir bereits länger als 14 Jahre ein Paar sind. Wir essen heute richtig schön ungesund: Pommes mit Curry-Wurst. Lecker. Durch den vollen Magen hebt sich die Stimmung, bis wir im Rathaus, unserem Auftrittsort eintreffen und die Gleichstellungsbeauftragte berichtet, dass der Landrat empfohlen hatte, die Veranstaltung abzusagen. Gegen 13 Uhr! Da waren wir schon unterwegs. Allerdings lag die endgültige Entscheidung beim Bürgermeister, der die horrenden Kosten bei Anreise der Künstler auf sich zukommen sah. Ganz davon abgesehen, dass es nicht möglich gewesen wäre, allen 200 Zuschauern noch rechtzeitig abzusagen. Das freut mich natürlich.

12. März 2020

Mein Schreibtisch ist am Abend immer aufgeräumt. Ich kann mich nur wohlfühlen, konzentriert und kreativ sein wenn ich eine gewisse Ordnung in meiner Wohnung habe. Es heißt zwar: Nur das Genie beherrscht das Chaos, aber ich glaube nicht daran. Zu oft musste ich mit Genies klar kommen, die unzuverlässig und vergesslich waren, die Probleme nicht erkennen und dann auch nicht lösen können, weil bei ihnen auch im Kopf ein gewisses Chaos regiert. Was ich damit sagen will: Wenn ich als Zuschauer ein Theater-Kino betrete, in dessen Vorraum alte Möbel, Computer und andere Utensilien durcheinander stehen, bin ich schon skeptisch. Wenn ich dann auch noch mit den Worten begrüßt werde: „Die Heizung funktioniert nicht!“, bin ich fassungslos. Aber die Vorstellung, meine Zuschauer deswegen wieder nach Hause zu schicken, weil ich unpässlich bin, widerstrebt mir zutiefst. In meinen 48 Jahren, die ich auf der Bühne stehe, habe ich erst einen einzigen Auftritt verpasst. Da bekam ich hohes Fieber. Weder ein Bandscheibenvorfall, noch eine Magenverstimmung mit Kreislaufproblemen konnten mich bisher davon abhalten, auf die Bühne zu gehen. Das liegt an meiner Ballettlehrerin. Vor meinem ersten Auftritt als zehnjährige Ballettschülerin der Musikschule Erfurt sagte sie: „Bei einem Auftritt entschuldigt nur der eigene Tod!“ Das habe ich verinnerlicht. Also gehe ich mit dicker Winterjacke auf die Bühne, spiele für mein dick eingemummeltes Publikum, das trotz der Corona-Gefahr erschienen ist und mit mir Spaß haben will. Ja, es ist kalt im Saal. Ich weiß nicht wie kalt, weil ich im Prinzip immer friere und damit jedes Klischee über Frauen und kalte Füße bestätige. Vielleicht ist es hier sogar so kalt, wie in unserem Klassenzimmer im Winter 78/79. Ich besuchte die 12. Klasse der Heinrich-Mann-Oberschule in Erfurt. Die Heizungen des alten Gebäudes funktionierten nicht. Da es kaum Informationen darüber gab, wie schlimm es um die Kohleversorgung in der DDR stand, saß ich wütend im dicken Mantel im Klassenzimmer und fror. Am nächsten Tag in der Straßenbahn unterhielt ich mich mit ein paar Klassenkameraden. Ich schimpfte, berichtete dass ich gehört hätte, dass der Unterricht erst ab 11 Grad stattfinden dürfe. Aber der Unterricht ging weiter wie gehabt, auch ohne Heizung und schon am darauf folgenden Tag wurde ich aus dem Klassenzimmer gerufen und in einen Konferenzsaal zitiert. Dort saß ich dem Direktor, der parteivorsitzenden Geschichtslehrerin, dem Staatsbürgerkundelehrer und noch anderen wichtigen Mitarbeitern der Schule gegenüber. Einer von ihnen hatte mich angeschwärzt und mir wurde vorgehalten, ich hätte die Schüler in der Straßenbahn zum Streik aufgerufen. Damit hätte ich der Schule, damit der FDJ, damit der DDR geschadet und Strauß in die Arme gespielt. Über die Konsequenzen meines Handelns wollte man mich zu gegebener Zeit informieren. Natürlich heulte ich. Aber ich war auch fassungslos. Die Argumentationskette schien mir absurd. Zwei Tage später wurde mir vom Stabü-Lehrer und FDJ-Leiter der Schule mitgeteilt, ich dürfe mein Abitur machen, müsse aber mit einem mündlichen Vortrag vor der Klasse und einem Entschuldigungsschreiben an die Schulleitung Abbitte für mein Verhalten leisten. Ich glaubte, dass der Lehrer mir die Erlaubnis zum Abitur nur unter die Nase gerieben hatte, um mir Angst zu machen. Aber so war es nicht. Man hätte mich wirklich wenige Monate vor dem Abi von der Schule geworfen, hätte mein Vater nicht Kraft seines Amtes als LDPD- Kreissekretär (Liberal Demokratische Partei Deutschlands) diesem Vorhaben des Schuldirektors über die SED-Stadtleitung (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) Einhalt geboten. Ich gehöre nicht zu denen, die solche Lebensereignisse veröffentlichen, um Mitgefühl zu ergattern, sich wichtig zu machen oder Aufmerksamkeit zu erregen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es in jeder Gesellschaft Ungerechtigkeiten, Gemeinheiten und Machtmissbrauch gibt.

Ich schreibe das hier nur, weil für mich seit diesem Ereignis kalte Räume immer ein schlechtes Omen sind. Egal ob in der Schule oder bei Veranstaltungen.

13. März 2020

Vorgestern in Werder musste ich in einem eiskalten Kino vor in dicke Daunenjacken gehüllten Zuschauern spielen. Die Heizung war kaputt. Und prompt werden alle weiteren Gastspiele vorerst abgesagt. Lockdown. Ab heute finden keine Veranstaltungen mehr statt. Nirgendwo. Carsten und ich sind zum Nichtstun und zum Nichtverdienen verdammt. Mein letzter Spätverlobter Flo ist an diesem Abend der erste, der sich per Whatsapp nach meinem Befinden erkundigt, er ahnt, was Auftrittsabsagen für mich und Carsten bedeuten würden. Ich bin aber noch nicht bereit, mit Selbstmitleid auf Mitgefühl zu reagieren. Glaube noch, dass alles schnell vorbei sein wird. Natürlich ohne, dass jemand aus meiner Familie angesteckt würde. Meine Eltern leben nach wie vor dort, wo ich von der zweiten bis zwölften Klasse zur Schule ging, nach dem Abitur eine Erwachsenenqualifizierung zum „Facharbeiter für Warenbewegung“ im Maschinenbauhandel als Vorbereitung zum Studium absolvierte, nämlich in der wunderschönen Hauptstadt Thüringens, in Erfurt. Mein Vater bringt mittlerweile alle Vorerkrankungen und das Alter mit, eine Corona-Infektion nicht zu überleben. Während meine Mama mir am Telefon mitteilt, um sich mache sie sich gar keine Sorgen, nur um Papa.

14. März 2020

Was passiert hier gerade? Ich verstehe das nicht. Was ist bei diesem Virus anders als bei allen anderen Viren? Carsten und ich sind immer in der Grippezeit unterwegs. Das sind die Monate unserer Haupteinnahmen. Uns muss niemand erklären, wie man sich die Hände wäscht. Nämlich oft und mindestens dreißig Sekunden. Wir haben immer Händedesinfektion dabei und halten Abstand zu Schnupfnasen. Unsere Freunde und Bekannten wissen, dass sie uns mit Krankheitssymptomen nicht besuchen dürfen. Kürzlich behauptete meine Tochter Pauli, dass ich das schon immer so gehalten hätte, auch in ihrer Kindheit, als ich mit zwei Kolleginnen unter dem Gruppennamen „Cora-Showdancers“ als freiberufliche Tänzerin auf den Kulturhausbühnen und in den Nachtbars der DDR auftrat. Schon damals hätte ich meiner Tochter, wenn sie krank war, ihr Essen ins Kinderzimmer nur durch die Tür gereicht. Daran kann ich mich allerdings nicht erinnern. Möchte mir auch gar nicht vorstellen, dass mich meine berufliche Selbstdisziplin und mein Pflichtbewusstsein in diese menschlichen Abgründe getrieben haben sollen. Aber zurück zu unserer Tour-Hygiene. Warum also sollte das jetzt bei Corona nicht für alle gelten? Wer krank ist oder zur Risikogruppe gehört, bleibt zu Hause. Alle anderen arbeiten und leben, während sie sich und besonders gefährdete Mitmenschen nach den gebotenen Regeln schützen. Fertig. Carsten sagt, ich soll nicht immer mit allen darüber reden. Über meine Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen, meiner Angst. Das sagt er immer, wenn er befürchtet, ich würde mich aufregen. Sehr oft in solchen Situationen mache ich das aber gar nicht. Ich will einfach drüber reden, weil es mich manche Dinge klarer sehen, sie besser verstehen lässt. Ich sammle Informationen und bilde mir beim Drüberreden meine Meinung. Mein Lieblingsbühnenspruch lautet darum folgerichtig: „Wir Frauen wissen immer erst was wir gedacht haben, wenn wir gehört haben, was wir gesagt haben!“

15. März 2020

Ich telefoniere mit meinem Kind in Amsterdam. Meine Tochter Pauli, kurz vor der Abgabe meiner Diplomarbeit in Potsdam-Babelsberg geboren, ist mittlerweile 35 Jahre alt und lebt fast die Hälfte ihres Lebens in den Niederlanden. Zuerst wegen der Liebe, dann wegen eines Studiums „Medien und Kultur“, das für sie in Deutschland nicht möglich gewesen wäre und mittlerweile auch deshalb, weil Amsterdam ihre Heimat geworden ist - mit Freunden, guten Jobs als Selbstständige, guten Beziehungen und Kontakten. Das hält uns aber nicht davon ab, eine liebevolle und enge Mutter-Tochter-Beziehung zu leben. Ich bin stolz und glücklich. In den Niederlanden wurde das Tanz-Film-Festival abgesagt, für dessen Organisation Pauli mitverantwortlich war. Sie war bisher immer in der Kultur unterwegs, hat verschiedene Filmfestivals organisiert, interessiert sich für „richtige“ Kunst. Zum Glück hat sie gerade einen neuen Job angenommen. „Einen kommerziellen“, wie sie mir vor wenigen Tagen mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck mitteilte. Jetzt ist sie froh darüber. Allerdings treibt sie gerade ein anderes Problem um. In der WG, in der sie derzeit mit ihrer Freundin lebt, gibt es nur noch eine halbe Rolle Toilettenpapier. Auch die Amsterdamer versuchen mit Klopapier die Krise zu meistern.

17. März 2020

Mein Vater wird in diesem Jahr 80 Jahre alt. Natürlich will er diesen Anlass für ein rauschendes Fest nutzen. So, wie er es am liebsten hat. Mit allen Freunden und Bekannten. Die Vorbereitungen laufen schon seit Herbst vergangenen Jahres. Eigentlich hat er sich seitdem ununterbrochen mit Anschreiben, Anrufen, Reservierungen von Hotels und Restaurants beschäftigt. Mama versuchte mir ständig einzureden, doch ein Programm für unseren Vater zu machen, obwohl sie genau weiß, dass ich das nicht will und auch nicht kann. Dafür gibt es mehrere Gründe. Nach Jahren der Programmgestaltung und Aufführung zu allen möglichen Jubiläen meines Vaters, bei denen ich mir immer ein wenig vorgeführt vorkam, hatte ich mich nach seinem 70. getraut, ihm meine zukünftige Verweigerung bekannt zu geben. Das klappte nicht, weil zu seinem 75. die Goldene Hochzeit meiner Eltern mitgefeiert wurde und das für mich natürlich ein Grund sein sollte -wie Mama mir bei unseren samstäglichen Telefonverabredungen wochenlang ans Herz legte- ein Kulturprogramm vorzubereiten. Nun sagt Papa seinen 80. Geburtstag im April ab. Das tut mir für ihn sehr leid. Er hatte sich so auf diesen Geburtstag gefreut, uns alle mit seinen Vorbereitungen verrückt gemacht und nun das. Keine Feier mit Freunden und Familie, zumal er gefühlt schon seit 20 Jahren befürchtet, den nächsten Geburtstag nicht mehr erleben zu dürfen.

18. März 2020

„Wenn ich heute sterben müsste, täte ich es mit dem guten Gefühl, dass die letzten 14 Jahre die schönsten meines Lebens waren.“ Diesen Satz hat Carsten heute auch zu seinen Kumpels gesagt. Abends zu mir. Und ich werde ganz rührselig, meine Augen füllen sich mit Tränen. Vor 14 Jahren haben wir uns kennen gelernt. Wenn ich von uns erzähle oder Bücher schreibe, klingt das immer wie im Pilcher-Film. Mir ist das auch ein bisschen peinlich, manchmal. Aber es ist genau so. Seit ich Carsten kenne, bin ich glücklich, habe kaum noch geweint. Jedenfalls nicht aus Angst, Schmerz oder Verzweiflung, wie all die Jahre davor in meinem Leben. Als 11-Jährige bekam ich einen mir bis dahin unbekannten Heulkrampf, als ich unzählige junge, fröhliche, tanzende und turnende Menschen im Stadion sah. Die Weltfestspiele 1973 wurden eröffnet. Ich hätte dabei sein können, hatte beim Rezitationswettbewerb der Schule gewonnen, wurde delegiert, sollte in Berlin auftreten. In die Zeit des Vorbereitungslagers fiel unser erster gemeinsamer Familienurlaub im Harz. „Willst Du wirklich lieber zu den Weltfestspielen, statt mit uns und deiner Schwester in den Urlaub zu fahren? Zum ersten Mal wären wir alle zusammen?“, fragte meine Mutter und ich traute mich nicht, mit ja zu antworten. Für mich wurde dieses einmalige Erlebnis der X. Weltfestspiele in Berlin abgesagt. Wegen meines Gefühls der eigenen Ohnmacht. Wegen eines irrationalen, selbstauferlegten moralischen Zwangs, des Wunsches, es allen recht zu machen, steckte ich meine eigenen, kindlichen Wünsche zurück. Ich wäre so gern dabei gewesen. Darum weinte ich vor dem Fernseher. Später manifestierte sich diese Weinerlichkeit bei mir. In vermeintlichen Ohnmachtssituationen bekam ich immer einen Kloß im Hals, konnte mich weder verbal wehren, noch verteidigen, weil ich sonst geheult hätte. Egal, ob vor dem Schuldirektor, später im Potsdamer Kabarett, beim MDR-Fernsehen, sogar noch, als ich die ersten Kabarettprogramme entwickelte und mit einer Kollegin auf die Bühne brachte. Wenn mich Menschen, von denen ich mich abhängig fühlte unter Druck setzten, mich schlecht behandelten oder mir Böses wollten, widersprach ich nicht und litt unter meiner gefühlten Abhängigkeit, meinem Angepasstsein, das mir psychisch und körperlich zusetzte. Es dauerte lange, bis ich verstand, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, mit dem ich auf Biegen und Brechen gut auskommen muss. Mit Carsten habe ich gelernt, vor allem meine eigenen Erwartungen zu erfüllen und mich selbst zu lieben. „Nur wenn ich glücklich bin, kann ich andere glücklich machen!“, sagt er immer. Wenn ich heute sterben müsste, täte ich es mit dem guten Gefühl, dass die letzten 14 Jahre die schönsten meines Lebens waren.

21. März 2020

Carsten und ich bitten alle Freunde und Bekannten meines Vaters, uns ein kurzes Video mit Lied für ihn zu schicken, woraus Carsten einen Geburtstagsfilm zum 80. schneiden wird. Einige von Paps Freunden haben mich in den ersten beiden Schuljahren unterrichtet. Sie waren damals genau wie mein Vater nach dem Studium an die Erich-Weinert-Schule vermittelt worden. Nach Bötzow. Das ist ein kleines, mittlerweile der Gemeinde Oberkrämer zugeschlagenes Dorf nordwestlich von Berlin. Als ich mit viereinhalb Jahren dorthin zog, sprach ich sehr starken sachsen-anhaltinischen Dialekt, sang die Worte eher als sie zu sprechen. Darum klang Bötzow für mich lustig. Ich teilte meiner Mutter mit: „Das glingt ja, wie ä bedd und ä zou. Beddzou.“ Meiner Mutter, junge Deutschlehrerin im nahegelegenen Hennigsdorf, war meine Aussprache ziemlich peinlich, was sie bewog, vor mir nur noch überdeutlich und dialektfrei zu akzentuieren. Der Grund meines, meine Eltern verlegen machenden Dialektes war meine liebevolle Ziehkind-Aufnahme bei meinen Großeltern in Rothenschirmbach. In diesem von Wäldern und roten Äckern umgebenen Dorf, verbrachte ich die ersten viereinhalb Jahre meines Lebens, wurde heiß geliebt, verwöhnt und mit viel Butter und Sahnetorte gefüttert. Als meine Eltern ihr Studium beendet hatten, zog ich zu ihnen und meiner zweieinhalb Jahre jüngeren Schwester, was großen Trennungsschmerz bei mir hervorrief und den plötzlichen Ehrgeiz, es meinen Eltern immer recht zu machen. Darum übte ich und sprach bereits ein Jahr später, zum Schulanfang einwandfreies Hochdeutsch.

22. März 2020

Leider hat sich Carsten beim Live-Yoga für meine Facebookfans eine Rippe geprellt. Ich gebe ihm eine Ibuprofen. Das wird also unser einziges Online-Yoga-Training bleiben. Dafür vereinbaren wir mit der Internetgemeinde ein gemeinsames Kochen am nächsten Wochenende. Carsten kocht und Tati guckt hilfreich zu. Das ist schon seit 14 Jahren so. Carsten überlegt sich wöchentlich einen Speiseplan, geht entsprechend einkaufen und kocht jeden Abend für uns. Immer und besonders in der Krise, sehr ausgewogen und gesund. Kurz nach unserem Kennenlernen war mir das sehr unangenehm. Mein Gehirn sperrte sich bei dem Gedanken, dass die Zubereitung von Nahrungsmitteln in irgendeiner Weise Befriedigung und gute Gefühle hervorbringen kann. Für mich war Kochen ein Leben lang anstrengend und notwendige Pflicht. Als Single war mein Kühlschrank immer leer. Ich liebte es, Auftritte zu haben, bei denen mir warmes Essen angeboten werden konnte. Aber für Carsten ist Kochen wie für mich Yoga: Entspannung pur. Als ich noch nichts von der wohltuenden Wirkung des Selberkochens wusste, fragte ich Carsten wegen meines schlechten Gewissens, ob ich nicht mindestens zweimal in der Woche diese Aufgabe für ihn übernehmen solle. Einmal durfte ich, danach sagte Carsten, er mache es doch lieber selbst. Um nicht nur unnütz auf dem Sofa rumzusitzen, wollte ich ihm wenigstens helfen. Schnippeln, Kartoffeln schälen, mit ihm einkaufen gehen oder wenigstens mit ihm reden während er kocht. Alle Angebote wurden von ihm abgelehnt. Irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt. Und mittlerweile genieße ich es. Zum Dank dafür esse ich immer auf und sage laut, dass es mir sehr gut schmeckt. Dafür muss ich nicht mal lügen.

24. März 2020

Am Abend ist uns langweilig. Wir versuchen erst meine Tochter anzurufen, sie nimmt nicht ab, dann meinen Cousin. Er wohnt in einem kleinen Dorf in der Altmark in einem Vierseitenhof. Gerade leben alle drei erwachsenen Kinder, teilweise mit Partner wieder zu Hause. Als wir F. erreichen, sitzt ein Großteil der Familie schon am Abendbrottisch in der gemütlichen Küche, seine Frau kocht. Was für eine Idylle. Da macht es sich bezahlt, viele Kinder zu haben, noch dazu in der Nähe. Meine einzige Tochter Pauli lebt seit vielen Jahren in Amsterdam und durch die blöde Pandemie können wir uns nicht einmal besuchen. Später ruft Pauli zurück. Sie ist bei einem Freund britisch-italienischer Abstammung zu Besuch. Bei Italien bekommt man in diesen Zeiten ja gleich Schnappatmung. Da trifft die Pandemie auf ganz schlechte Krankenhausausstattungen.

25. März 2020

Dass ich mir ein Leben ohne Balkon an der Wohnung nicht vorstellen kann, ist sicher der Tatsache geschuldet, dass unsere Familie 1969 nach Erfurt auf den Johannesplatz in einen in vier Hauseingänge geteilten Zehngeschosser zog. Die Wohnungen von drei Hauseingängen hatten durchgängig Balkone, nur unser Eingang nicht. Wir hatten eine Balkontür mit Gitter davor. Ich vermute, der Grund dafür war der Mangel an Baumaterial. Meine Mutter betrauerte diesen Umstand jahrelang. Darum wünschte ich mir bereits ab meinem neunten Lebensjahr eine Wohnung mit Balkon, was in der DDR sehr vermessen war. Trotzdem klappte es in der dritten von mir gemieteten Wohnung in der Ernst-Thälmann-Straße in Babelsberg. Und natürlich wohne ich auch jetzt in einer Wohnung mit einem wunderbaren Balkon im Erdgeschoss. Der Blick meines sechs Quadratmeter großen Paradieses geht auf einen grünen Hinterhof, leider mit Spielplatz. Links von mir wachsen grüne Büsche, rechts habe ich eine Holzpalisade aufgestellt, an der Brüstung wachsen von Frühjahr bis Herbst bunte Blumen in den Kästen. Hier verbringe ich meine sonst karge Freizeit und vor allem jeden Morgen, egal ob im Sommer oder Winter. Dann natürlich im Skianzug. Hier trinke ich meinen ersten Kaffee, lese Zeitung und rauche eine Zigarette. Oder zwei. Und heute Morgen habe ich es auch gesehen. Ich sitze also ziemlich früh auf meinem Balkon und ein Kapuzenmann im farblich zum Kinderwagen abgestimmten grauen Hoodie, schiebt den Buggy von einem Ende unseres Innenhofes zum anderen. Er wendet immer genau an den das Grundstück begrenzenden Zäunen. Fährt gemäßigten Schrittes, aber sehr geradeaus und immer hin und her. Carsten beobachtet dieses eigenartige Verhalten schon seit mehreren Tagen. Wir vermuten eine Form des Hospitalismus. Eigentlich gibt es aber gar keine Ausgangssperre. Er könnte auch im nahe gelegenen Park geradeaus fahren.

27. März 2020

Heute überrascht mich Carsten mit einem Artikel. Tipps aus den USA zum Thema Sex in Zeiten von Corona: „Dein sicherster Sexpartner bist du selbst“, heißt es in den Richtlinien der New Yorker Gesundheitsbehörde. Durch Masturbation könne Covid-19 nicht verbreitet werden. Doch auch hier rät die Behörde zur Hygiene: Hände und Sexspielzeuge sollten vor und nach dem Sex für mindestens 20 Sekunden mit Wasser und Seife gewaschen werden. Kann man sich auch selber anstecken?

28. März 2020

Plötzlich flattert ein rot-weißes Flatterband vor dem Kinderspielplatz unseres Hinterhofes. In einer Höhe, welche die mich sonst immer nervenden Kinder mühelos unterschreiten könnten. Jetzt bolzen meine zwei „Lieblinge“ der Hinterhofbande auf dem Platz davor, also noch dichter an meinem Balkon als üblich. Ich befürchte einen sehr lauten Corona-Frühling vor meinem Lieblingsplatz, will mich gerade aufregen, dass dieses „Davorspielen“ ja wohl nicht Sinn der Sache sei, als ein für mich unsichtbarer Vater schreit: „So, jetzt gehen Theo und Malte Maria Finn wieder rein und nun dürfen Marihuana und Sophie-Elli spielen.“

1. April 2020

Es gibt nicht einen April-Scherz in der Zeitung. Den Journalisten ist der Humor vergangen. Alle anderen Bürger nähen Atemschutzmasken. Wir nehmen acht Stück für uns aus der Stadt mit, obwohl ich gar nicht vorhatte, welche zu tragen. Aber für´s Flugzeug seien sie gut, sagt Carsten. Da hat er recht. Bisher habe ich mir immer einen Schal vor´s Gesicht gewickelt. Demnächst also eine rote Maske mit weißen Sternen. Wann wir wieder fliegen dürfen, steht allerdings auch in den Sternen. Die ersten Anwälte haben sich zum Maskenthema natürlich sofort zu Wort gemeldet. Man dürfe die privat genähten Masken nicht als Schutzmasken bezeichnen. Abmahnungen drohen. Nicht sehr sympathisch, gerade in einer Zeit, wo alle glauben, damit irgendjemanden retten zu können. Automatisch denke ich an die Ratte, die meinem Vater heute in seinem Haus auf der Treppe entgegenkam. Das war auch so ein unangenehmes Erlebnis.

2. April 2020

Die Einmalhandschuhe und Gesichtsmasken sind bei meinen Eltern bereits angekommen. Der Dankesanruf erreicht uns, als wir gerade an der Havel entlangspazieren. Die elterliche Freude ist so groß, dass sie uns ein Osterpaket ankündigen. Meine Eltern gehören der Generation an, die nicht gut annehmen kann. Immer glauben sie bei Geschenke seien eine Verpflichtung zum Gegengeschenk. Oder Gegenbesuch oder Gegeneinladung. Das ist irgendwie schade, weil sie sich bei dieser Lebenseinstellung so schlecht freuen können, wenn andere ihnen Gutes tun. Immer überlegen sie sofort, wie sie sich revanchieren könnten. Ich frage nach der Ratte und erfahre: Als meine Mutter und mein mit Rattenstock bewaffneter Vater heute die Wohnung für den Einkauf im Supermarkt verlassen, setzt Mama den ersten Schritt vor die Tür und… tritt auf die Ratte, die quietschend davon läuft. Meine Mutter schreit wie am Spieß. Horror. Daraufhin hat mein Vater zum zweiten Mal die Hausverwaltung angerufen. Später kamen Hausmeister und Kammerjäger. Hoffen wir, dass die Ratte nicht zu clever ist. Immerhin hat sie die einzige Wohnungstür gefunden, hinter der jeden Tag gekocht wird. Der Postbote bringt mir eine CD von Vroni Fischer. Goldene Brücken. Ich habe sie für meine Freundin zum Geburtstag bestellt. Nun liegt die letzte von Vroni in der DDR produzierte CD vor mir. Ich hatte mir davon 1980 eine LP gekauft und verbinde mit diesen Liedern, die ich seitdem nicht mehr gehört hatte, eine ganz besondere Phase meines Lebens. Mein Radio, das überwiegend stumm in meiner Küche steht, erwacht plötzlich zum Leben. Ich sitze in Gedanken im Leipziger Café Corso, trinke zusammen mit meiner Freundin seit einer Stunde an einer Tasse Kaffee. Gerade hat unser Studium an der Handelshochschule begonnen und für mich die erste, durchaus auch beängstigende Zeit der Unabhängigkeit. Es ist Sonntag, der 28. September 1980. Das erste Mal wird in der DDR die Uhr nach Einführung der Sommerzeit im April, wieder auf Winterzeit umgestellt. An diesem Sonntag saßen an unserem Nachbartisch drei auffällige junge Männer. Wir wollten ihnen zwei Zigaretten abkaufen und lernten sie kennen. Sie waren Mitglieder einer Band. Ihre Sängerin ist, genau wie Vroni Fischer, eine Berühmtheit in der DDR. Der junge Mann, in den ich mich kurzzeitig verliebte, sagte: „Franz Bartzsch ist drüben geblieben. Kaufe Dir unbedingt schnell die letzte Platte mit Vroni, bevor sie aus den Regalen verschwindet!“ Das tat ich. Diese Musiker brachten mir die Musik näher. Die Lieder, die damals produziert wurden, waren nicht einfach Schlager oder Popsongs, das waren und sind Musikwerke, dazu lyrisch. Aufgrund meiner damaligen Situation liebte ich besonders das Lied: „Ich wünsch mir ein Kind“. Ich höre die CD, schwelge in Erinnerungen und lese das Cover. Texte Kurt Demmler. Alle. Das hatte ich nicht gewusst. Sie sind schön, ja. Heutzutage besonders, aber mit dem Wissen um die Biografie des Texters bekommt das Wunschkindlied einen faden Beigeschmack.

4. April 2020

Anruftag bei Mama in Erfurt. Die Ratte, so glaubt sie mittlerweile, sei eine zahme. Vielleicht ausgesetzt. Jetzt tut sie ihr leid. Eigentlich war sie ja hübsch, hatte längere braune Haare, das arme Tier wird bald tot im Keller rumliegen, klagt Mama nun, wo das Problem fast erledigt scheint. Außerdem sagt meine Mama einen Satz, den ich -so glaube ich- noch nie von ihr gehört habe. Sie will gern raus. Unter Leute. „Das mache ich sonst zwar auch nicht, aber jetzt….“ Mein Vater nimmt diesen Wunsch freudig zum Anlass, über seine Corona-Angst hinwegzusehen und plant, mit seiner Frau morgen nach Weimar fahren. Risikogruppe hin oder her. Verbieten kann man da gar nichts. Das Paket haben sie uns auch gepackt. Echte Thüringer Wurst. Das schafft Brandenburg nicht.

6. April 2020

Baumarkt. Der Parkplatz voll, wie zu besten Friedenszeiten. Autos dicht an dicht. Wahrscheinlich wollen alle Einwohner Deutschlands gleichzeitig ihre Wohnungen und Balkone krisensicher und urlaubshübsch aufarbeiten. Der Knaller aber sind die Schlangen vor den Eingängen. Kilometerlang. Eine, um reinzukommen, die andere zur Warenabholung für Online-Bestellungen. Das Ende der Schlangen ist nicht zu erkennen. Das liegt tatsächlich nicht nur an den Abständen von gutwillig geschätzt einem Meter zwischen den Baumarktfreunden. Das ist DDR. Da lebten alle unter dem Motto: Wir wissen nicht genau, was es gibt, aber wir stellen uns an.

Auch der akute Mangel an Schnittblumen erinnert mich an alte Zeiten. Wir kaufen zwei kleine, in Folie verpackte Sträuße gelber und roter Rosen. Es sind die, die selbst bei bester Pflege nach wenigen Stunden die Köpfe hängen lassen. Einer dieser Sträuße ist für unseren Freund R., der heute Geburtstag hat.

9. April 2020, Gründonnerstag

Abends sind wir bei unseren Musikerfreunden zum Spargelessen eingeladen. Beim Essen gibt es aber nur das eine Thema. Wir reden über die beantragten Hilfen bei der ILB (Investitionsbank des Landes Brandenburg), ob wir antragsberechtigt sind, ob wir sie bekommen, ob es später überprüft wird. Diese Unsicherheit beim Beantragen von Geldern in besonderen Situationen erinnert mich an die Zeit nach dem Mauerfall. Also die Wende. Damals war ich auch freiberuflich. Tänzerin oder eben Showgirl in einem Trio. Wir wurden über die Konzert-und Gastspieldirektionen vermittelt, hatten immer viele Auftritte und ein für DDR-Verhältnisse gutes Einkommen. Mit dem Mauerfall blieben die Zuschauer aus. Wir verdienten nichts mehr. Lebten vom Ersparten. Mit der Währungsunion Mitte 1990 hatte ich noch genau 3000 DM. Die reichten mit ein paar wenigen Auftritten bis zur Wiedervereinigung. Dann hieß es, Freiberufler bekommen nach der neuen Ordnung kein Arbeitslosengeld. Was mich empörte. Immerhin bekamen es auch Flüchtlinge wie meine Schwester, die noch vor der Maueröffnung in den Westen gegangen waren. Ich informierte mich. Nicht so einfach wie heute mittels Internet. Ich habe gefragt. Unter anderem auch Versicherungsvertreter, die plötzlich 1000-fach den Osten besuchten, jedes Amt, jeden Anwalt. Dann plötzlich ließ die Bundesregierung verlauten, dass ostdeutsche Freiberufler ArbeitslosenHILFE bekämen, eine Frühform von Hartz IV. Ich stellte die Anträge, auch für die Kolleginnen. Es gab Irritationen, weil ich mehr bekam, bis wir erfuhren, dass meine von mir zu versorgenden Tochter den Unterschied machte. Noch etwas später wurde die Hilfe auf Arbeitslosengeld erhöht. Rückwirkend sogar. Obwohl ich allein für Pauli verantwortlich war, nahm ich mein Leben in der Erinnerung leichter als heute. War zuversichtlicher. Oder? Doch. Meine Zukunftsängste entwickelten sich erst später. Sie hielten an, bis ich mir endlich meine kleine Wohnung kaufen konnte. Mit Balkon.

10. April 2020, Karfreitag

Telefontermin mit Mama. Sie ist großer Netflixfan. Während sie mit der gesamten neuen Technik, dem Internet und Smartphones nichts anfangen kann, sogar Ängste vorschiebt, um sich damit nicht befassen zu müssen, legt sie großes Geschick an den Tag, bei ihrem Fernseher Netflix anzuschalten, Serien und Filme zu suchen und natürlich auch anzuschauen. Meinen Vater begeistert das überhaupt nicht. Mama nutzt die Zeit des Bügelns, um sich von Vampiren und Werwölfen oder – ganz weit vorn- dem Outlander unterhalten zu lassen. Seit nunmehr drei Jahren bügelt sie sehr viel. Mein alljährliches Mama-Geburtstagsgeschenk ist ein Netflix –Abo. Gerade suchtet sie eine Werwolf –Serie. „Bald bin ich durch.“, sagt Mama, „Nur noch eine Staffel mit 10 Folgen.“ Das sind nach meiner Berechnung mindestens zehn extrem volle Wäschekörbe. Allerdings spult sie immer vor, wenn zu viel Blut fließt. Also neun Wäschekörbe. Papa hustet. Bronchitis, sagt er, und ningelt, wenn ich ihm empfehle, seinen Arzt anzurufen. Das habe er immer, behauptet er. Durchs Telefon glaube ich zu spüren, dass er wie ein kleines Kind mit dem Fuß aufstampft. Mama meint, es wäre sein psychisch begründetes Hüsteln, welches er immer hat, wenn er sich langweilt. Nur jetzt wegen Corona sei es eine Bronchitis. Papa singt im Hintergrund den Leandros-Song „Nein, sorg die nicht um mich!“. Mama lacht. „Immer singt er, den ganzen Tag!“

11. April 2020

Der Morgen gehört dem Balkon und der Zeitung. Dass Masturbation in Corona Zeiten die sicherste Methode für Sex ist, weiß ich schon. Heute erfahre ich, dass diese Krise auch auf die Libido schlagen kann. Obwohl Paare jetzt viel mehr Zeit füreinander haben und laut Fernsehberichten und Statistiken Kondome derzeit reißenden Absatz finden. Ein für mich nicht zu klärender Widerspruch. Beweis für die nachlassende Libido sei der Vergleich zwischen dem legendären Stromausfall in New York 1965 und Wuhan im Lockdown 2019/20. Die Wissenschaftler meinen, dass in Wuhan keine Stimmung im Bett aufkomme, läge an dem Virus, durch dessen bloße Existenz die Umwelt libidofeindlich wahrgenommen würde. Ich kann nicht bestätigen, weniger Sex zu haben. Wir haben genauso selten Sex wie immer. Allerdings stiegen in Wuhan statt der Sexhäufigkeit die Fälle von Selbstmord und häuslicher Gewalt sprunghaft an. Das kann ich für Carsten und mich zum Glück auch nicht bestätigen. Wir schlagen uns nicht öfter als sonst. Bleibt alles konstant auf Null. Nur bei der Selbstmordrate kann ich mich noch nicht abschließend äußern.

12. April 2020, Ostersonntag

Ich wische mir eine Träne aus dem rechten Augenwinkel. Eine Freudenträne. Wir sitzen bei junihaften Temperaturen und Sonnenschein mit Freunden auf dem Balkon, trinken Kaffee und ein Glas Weißwein vom Geburtstagskind aus dem Nachbarhaus. Wir singen. Ein italienischer Musiker hat auf unserem Hinterhof zwischen Trafohäuschen und Geburtstagterrasse aufgebaut und gibt uns mit Liedern von Adriano, Elvis und Eros das Gefühl, dass das Leben einfach wunderbar ist. Die Balkons sind alle besetzt. Als ich über den Hof gehe, um die Weingläser zurückzubringen, winken mir die Nachbarn zu, als hätten wir uns jahrzehntelang nicht gesehen, obwohl wir uns zum großen Teil gar nicht persönlich kennen. Der Italiener bekommt eine Kusshand von mir und erwiedert sie. Ich träume von Openair-Veranstaltungen und Reisen in die weite Welt.

14. April 2020

Mein Ohr pfeift. Habe Angst, dass es ein Tinnitus ist. Das Summen und Brummen im Ohr wird im Laufe des Vormittags immer schlimmer. Ich finde meine „alte“ HNO-Ärztin im Netz und darf sofort kommen. Als ich das letzte Mal bei ihr war, hatte ich auch einen Tinnitus. Stressbedingt. Damals -2009- stand ich plötzlich beruflich allein da. Meine Kabarett-Kollegin hatte mich sitzen lassen. Einfach so. Lange wusste ich nicht, wie es mit mir weitergehen sollte. Traute mir eine Solokarriere nicht zu, nahm sie trotzdem in Angriff. Ohne die Unterstützung von Carsten und einigen Potsdamer Kabarettisten, wäre das nicht möglich gewesen. Dass es genau der richtige Weg für mich werden würde, hätte damals wohl keiner erwartet. Egal. 2009 jedenfalls begriff ich zum ersten Mal im Leben, dass man psychischen Stress als Betroffene nicht unbedingt wahrnimmt, er sich aber auf die Gesundheit auswirkt. Ich hatte damals nicht nur einen Tinnitus, sondern auch Ödeme auf den Stimmbändern. Und dann: Mit jedem Tag, der mir das Gefühl gab, auf dem richtigen Weg zu sein, nahmen die Beschwerden ab, bis sie ganz verschwanden. Alle. Nun hoffe ich auf die mir verschriebenen Medikamente. Diesmal soll ich sie selber zahlen. Das war 2009 noch anders. Die Apothekerin fragt mich mit weit aufgerissenen Augen vor jedem Scannen: „Woll´n se nich vorher den Preis hören? Dit is teuer. Naja, am Kopp. Dit wird nich mehr bezahlt.“ Dabei guckt sie hilflos durch die uns trennende Scheibe. Am Ende schiebt sie mir zwei Packungen Tempotaschentücher zu. Wahrscheinlich vermutet sie, dass ich gleich weinen werde. Ich stehe nach drei Stunden Wartezeit, Hörtest, andauerndem Rauschen im Ohr, dem Elend im Wartezimmer und der hohen Rechnung tatsächlich kurz vor einem Anfall von tränenreichem Selbstmitleid. Dieses Gesundheitssystem sollte sich auf jeden Fall im Nachgang wieder ändern. Zu einem menschenwürdigen. Einfach ohne Profitstreben. Das wäre richtig gut.

15. April 2020

Ich sitze auf dem Balkon. Der Fernseher ist hörbar. Gerade läuft Werbung: „Entspannter leben mit Reizdarm“. Das klingt wie: „Locker bleiben trotz Freiheitsberaubung!“ Hinter meinem riesengroßen Kinder-Abwehr-Blumenkasten an der Grundstücksgrenze zu unseren Spielplatznachbarn, haben sich Malte-Maria-Finn und Jason Bernd mit Maschinenpistolen verschanzt. „Wir sind die Corona-Polizei!“, schreit einer. „Und Marihuana ist die Vire!“ Ratatatatatam. Sie ballern Corona einfach weg. Ich dagegen versuche etwas später und mit der Hilfe meiner Trainerin gegen die anschwellende mehrlagige Katze an meinem Bauch anzukämpfen. Der Spiegel in meinen Probenraum zeigt das ganze Quarantäne-Wiressenzuhause- Desaster. In aller Deutlichkeit. Ich muss beim nächsten Mal wieder die etwas weiter geschnittene Sportbekleidung anziehen.

16. April 2020

Mein Gesicht glüht. Die Haut ist knallrot. Extreme Durchblutung. Man könnte denken, ich hätte Bluthochdruck oder ein Alkoholproblem. Dabei nehme ich nur Durchblutungstabletten gegen den Tinnitus, der schon seit gestern nicht mehr nervt. Ich rufe die Ärztin an, ob ich die blöden Tabletten absetzen kann. So ein roter Vollmond im Gesicht, kann auch noch andere Folgen haben. Die Ärztin lässt mir ausrichten, das sei normal, ich soll die Drogen weiter einwerfen. Auch die Zäpfchen, zweimal am Tag rektal. Kortison und so, gegen Entzündung. Leider hatte ich schon zweimal rektal mit vaginal verwechselt und dann Stress, das wieder zu korrigieren. Weiß nicht, was Freud dazu sagen würde.

17. April 2020

Meine Hände zittern, als wäre ich auf Alkoholentzug. Das Herz klopft stark. Mein Gesicht im Spiegel zu sehen, steigert meinen Bedarf, frische Tomaten essen zu wollen. In der vergangenen Nacht habe ich nur vier Stunden schlafen können. Darum beschließe ich, diese blöden Durchblutungstabletten abzusetzen. Das Rauschen im Ohr ist weg. Punkt. Natürlich würde mir jeder Arzt händewedelnd anraten, die Sache verschreibungsgerecht weiterzuführen. Aber ich will das nicht. Und mein Körper erst recht nicht.

18. April 2020

Nach jedem Telefonat mit Mama habe ich bessere Laune. Das ist erstaunlich, denn meine Mutter ist diejenige in unserer Familie, die wie kein anderer ihren persönlichen Pessimismus auslebt, ihn zum Lebensinhalt gemacht hat. Um, wenn es anders kommt, positiv überrascht zu werden. Trotzdem versprüht sie bei jedem Telefongespräch gute Laune. Trotz aller Zipperlein, Einschränkungen, Ängste, die natürlich auch sie hat. Wir reden über unsere Krankheiten, über Supermärkte, die nicht auf Abstandsregeln achten und meine ausgefallenen Auftritte, aber auch über Bücher und Netflixserien. Beschwingt und fröhlich. Es gibt an diesem Sonntag eine positive Meldung aus Erfurt. Die Ratte im Haus meiner Eltern ist tot. Gut, am Ende fand meine Mutter das eher traurig, weil die Ratte ja eigentlich sehr hübsch aussah mit ihrem braunen, glänzenden Fell…aber mich beruhigt es ein bisschen. Irgendwie.

19. April 2020

Balkon, Sudoku, Stille auf dem Hof. Ich überlege, bei welchen Freunden wir in diesem Sommer den Pool benutzen könnten, wenn der Urlaub ausfällt. Gleichzeitig lese ich, dass die Polizei in Tschechien darauf hinweist: Nacktbaden ja, aber nur mit Mundschutz. In Brandenburg dürfen wir noch oben ohne. Meine Wanderfreundin lebt in Sachsen und teilt mir schon heute Abend per WhatsApp mit, was sie von der ganzen Sache hält. „Einfach zum Kotzen!“ Trotzdem finde ich es ziemlich liebevoll, dass sie mich in der Krise fast täglich mit Nachrichten aufzuheitern versucht und nachfragt, wie es geht, wenn ich lange kein Foto im Status hatte. Auf dem Balkon ist es trotz Sonne ziemlich kalt. Wahrscheinlich Ostwind, im Zweifel haben immer die Russen die Schuld. Und dann erscheint das Tageshighlight. Besuch von Udo und Max. Ich mache ein Selfie mit Udo. Kopf an Kopf, obwohl er mit 78 Jahren zur absoluten Corona-Risikogruppe gehört. Aber Udo lässt sich nicht bevormunden. Er kann denken, will sich nicht entmündigen lassen. Das ist es, was mich an ihm schon immer beeindruckt hat: Seine scharfzüngige, intelligente Analyse von Situationen und Menschen. Es macht Spaß, sich mit ihm auszutauschen. Darum haben wir uns in den vielen Jahren, die wir uns bereits kennen, immer wieder getroffen. Nicht oft, aber regelmäßig. Zum ersten Mal seit wir uns kennen, bringt er zu unserem Date etwas mit. Ein Paket Kuchen, bei dem ich vorher gewettet hätte, es reicht für ein ganzes Bataillon Corona-Polizisten. Aber wir schaffen es zu viert. Obwohl wir ununterbrochen reden. Soviel, als hätten wir bereits ein Jahr Sprechverbot hinter uns. Alle. Nicht nur der Kuchen, auch das Selfie ist eine Premiere. Udo und ich kennen uns seit fast 30 Jahren und es existiert nicht ein einziges Foto von uns beiden. Ich nehme mir vor, dieses, wie alle anderen Beweis-Fotos meines nicht staatskonformen Verhaltens aufzuheben, um -wenn es mal wieder anders kommt- beweisen zu können, dass ich im Widerstand war. Also dagegen.

20. April 2020

Nach dem 20.15 Uhr-Krimi will mein Liebster und Chefkoch des Hauses die für morgen vorgekochte Möhrensuppe in den Kühlschrank stellen. Und die Hackbällchen. Er guckt kurz zu mir, nimmt beides in die Hand. „Nehme ich lieber mit nach oben!“, sagt er. „Ich vertraue Dir nicht!“ Beim Essen rechnet Carsten immer mit dem Schlimmsten. In dem Fall: Dass ich die Suppe bereits tagsüber aufessen könnte. Diese Angst, dass die Nahrung nicht reichen könnte, hat Carsten seit frühester Kindheit. Wenn wir uns an gemeinsame Erlebnisse erinnern, denke ich an Straßen, Bauwerke und natürlich Menschen. Carsten weiß dagegen immer genau, was wir bei der jeweiligen Gelegenheit gegessen haben. Jetzt versteckt er also die Suppe. Ich lache befreit auf. Beinah hysterisch.

22. April 2020

Mein Schulfreund ruft mich an. Wir gingen zusammen auf die EOS und waren kurzzeitig sehr verliebt ineinander. Er sagt, ich hätte nur Schluss gemacht, weil mein Vater ihn nicht leiden konnte. Aber das stimmt nicht. Mein Vater konnte keinen meiner Freunde leiden.

25. April 2020

Frühstück mit Carsten. Seit wir uns kennen, frühstücken wir nur am Wochenende oder vor einer langen Fahrt zu einem Gastspiel. Wir frühstücken immer das Gleiche: eine Stulle, ein halbes Brötchen, aufgeschnittene Tomaten/Paprika/ Gurken, Kräuterquark, Wurst oder Käse, ein weichgekochtes Ei, Marmelade, dazu Saft und Kaffee. Das Erstaunliche ist: Es schmeckt uns immer noch. Seit so vielen Jahren. Immer das Gleiche. Wie die Tage in der Corona-Krise. Die Nachbarn feiern wieder. Eine junge Frau gibt ein Hofkonzert mit Keyboard und schöner Stimme. Sentimentale Musik. Ist nichts für mich in dieser Zeit, ständig dieses Tränengewische.

27. April 2020

Nur noch ein Jahr, dann bin ich 60. Mit 60 ist meine Oma in Rente gegangen, hatte auf viele schöne Reisen mit ihrem Mann gehofft. Auch in den Westen. Aber Opa wurde krank. War nach nicht allzu langer Zeit auf den Rollstuhl angewiesen. Ein Drama. Sie fuhren nie wieder irgendwo hin. Bis zu ihrem Tod. Ich bin viel zu früh wach. Möchte mir meine infantile Geburtstagaufregung aber nicht eingestehen. Kaum sitze ich auf dem Balkon, ist es mit Morgenroutine, Sudoku und Stille vorbei. Unsere Nachbarn, deren Sohn Carsten und ich so ein bisschen als Enkel adoptiert haben, stehen vor meinem Balkon. Beladen mit Geschenken. Vater, Mutter und mittlerweile zwei Kinder. Ich freue mich. Das ist so süß. Dann kommen die Anrufe, Glückwünsche über alle Medien. Nur meine Eltern muss ich anrufen. Sie waren unsicher, wann sie sich melden sollen. Wenig später kommt ihr Geburtstagspaket bei mir an. Vollgestopft mit Thüringer Wurst, Süßigkeiten, Büchern und einem Parfum. Ich bin erstaunt, dass sie wussten, welches ich mag. Dann gibt es bei hochsommerlichem Wetter Kaffee und Kuchen mit Carsten auf dem Balkon. Kaum aufgegessen, folgt ein – wie abgestimmt wirkender, sich aber zufällig ergebender- Besuchsmarathon. Zuerst meine Lehrerfreundin. Sie hat heute für eine Klasse dreimal den gleichen Deutsch-Unterricht gemacht, weil die Schüler wegen der Abstandsregeln gedrittelt werden müssen. Zwischendurch klingelt meine ehemalige Nachbarin aus Rehbrücke. Sie ist in der Mittagspause nur zum Blumenüberreichen zu mir gekommen. Das rührt mich. Ihre Tochter ist mein atheistisches Patenkind. Seit 16 Jahren unternehmen wir zweimal im Jahr -zu Weihnachten und zum Geburtstag- etwas gemeinsam. Kultur: also Theater, Fernsehaufzeichnungen, Studiobesuche, Musicals. Immer etwas anderes. In diesem Jahr wollten wir in den Kletterpark und mussten zum ersten Mal auf ein Treffen verzichten. Kaum ist der Kaffeetisch abgeräumt, bringt mir Bella eine kleine Herztorte mit Kerze drauf und Blumen. Zu guter Letzt bereitet mir Carsten zum Abendessen Bandnudeln mit Lachs, die wir gemeinsam mit unseren Musikerfreunden verspeisen. Auch unsere Schauspiel-Nachbarn verweilen auf ein Glas Wein vor unserem Balkon. Wir erfahren, dass ihre Serie gerade unter Einhaltung des Mindestabstandes von 1,50 m und ohne Maskenbildner gedreht wird. „Und das sieht man auch bei manchen Kollegen!“, meinen sie. Wir lachen. Ich genieße das alles sehr.

28. April 2020

Zwischendurch kommt Bella ganz kurz vorbei. Gestern hatte sie das Geburtstagsgeschenk für mich noch nicht bekommen. Jetzt überreicht sie es. Grinsend. Es sieht aus wie eine zu große elektrische Zahnbürste ohne Bürste und ohne Elektrik. Dicker Bauch mit weißem Aufsatz. Was ist das? Ich suche auf der Verpackung. Dann verstehe ich. Vor Corona hatte ich Bella -sie ist Insiderin, weil sie mit einem Tunesier verheiratet ist- von meinem Toilettenerlebnis bei unserem Kurzurlaub im Januar in Ägypten berichtet. Dort hängt neben jeder Toilette ein Schlauch an einem Wasserhahn. Ich wollte das Gerät testen. Halte also auf dem Klo sitzend den Schlauch in hygienischem Abstand auf mein beschmutztes Körperteil und drehe vorsichtig an dem Wasserhahn. Ein Schwall kaltes Wasser in Kärchergeschwindigkeit prallt auf meinen Hintern und spritzt aus der Toilette, wässert mich linksseitig. Wie machen das die Araber? Bella sagt, ihr Mann kann das. Dass das eine saubere Methode ist, darüber herrscht bei uns kein Zweifel. Und nun halte ich eine Alternative in der Hand. Eine Po-Dusche, manuell pumpend zu betätigen und lache.

1. Mai 2020

Theo ist vom Alter her Risikogruppe und so früh schon unterwegs, um seinen Körper zu bewegen. Sagt er. Als er noch nicht Rentner war, arbeitete er beim Arbeitsamt und war zu Wendezeiten Ansprechpartner für alle Künstler in Potsdam. Er hat mir damals durch den Dschungel neuer Gesetze, Möglichkeiten und Umbrüche sehr geholfen, vermittelte mir meine erste ABM-Stelle bei Schlösser und Gärten Sanssouci. Dort war ich 1991/ 92 in der Besucherbetreuung verantwortlich für die Einteilung der Park- und Schlossführer, schrieb Rechnungen, erledigte Büroarbeit. Dort habe ich mich wohl gefühlt, inmitten älterer Damen, die mir auch manchmal mütterliche Zuhörerinnen waren. Eines Tages sah ich im Park einen jungen Mann, umringt von Journalisten mit Mikrofonen und Kameraleuten. „Wer ist das?“, fragte ich meine Kolleginnen. Das ist der Pressesprecher der Stiftung. Dieser Beruf, von dem ich bis dahin noch nie gehört hatte, gefiel mir. Im Park stehen und den Presseleuten Wichtigkeiten berichten. Als das Potsdamer Kabarett 20 ABM-Stellen bekommen sollte, bewarb ich mich als Pressesprecher. Der neue Kabarett-Chef aus dem Westen mochte mich, hatte sich gegen den amtierenden Geschäftsführer durchgesetzt und ich begann meine Arbeit als erste Pressesprecherin des Potsdamer Kabaretts am Obelisk ohne Kenntnis der Materie.

2. Mai 2020

Es klingelt. Durch die Sprechanlage meldet sich eine Frauenstimme. „Hier ist die Polizei Potsdam.“ Sofort überlege ich leicht panisch, ob ich mich nicht regelkonform verhalten haben und was mich das kosten könnte. Alter Reflex. Aber die Polizistin teilt mir mit: „Ihr parkendes Auto wurde gerade zu Schrott gefahren!“. Ich atme erleichtert auf!

4. Mai 2020

Heute Abend kocht mein Liebster ein sensationelles Menü. Die Vorbereitungen laufen schon seit zwei Tagen. Unsere Gäste haben sich heute vor sieben Jahre zum ersten Mal per E-Mail ausgetauscht. Sie trafen sich auf einer Internet-Single-Plattform. In hohem Alter, fast schon Rentner. Dabei war SIE gar nicht auf der Suche. Ihre Kinder hatten ihr ungefragt und heimlich ein Profil angelegt. ER suchte schon geraume Zeit. Bestimmt seit 1997. Da lernten wir uns nämlich kennen. Ich war Moderatorin einer Telefon-Kuppelshow bei TV-Berlin. Er schickte lustige Fax-Nachrichten in die Sendung. Manchmal las ich sie vor, grüßte ihn. Später schickte er mir redaktionelle Ideen. Manchmal schriftlich, manchmal in Form von Selbstgebasteltem. Bis heute erzählt er gern von seinem schwäbischen Adventskranz, den ich in der Weihnachtszeit auch immer auf meinem Moderationstisch zu stehen hatte. Dieser Sparsamkeitskranz bestand aus einer Kerze und Spiegeln, die daraus 2-4 Kerzen zaubern konnten. Und irgendwann hat er mir gezeigt, dass es Restaurants mit gutem Essen gibt. Uns verbindet eine langjährige Restaurant-Freundschaft. Seit ein paar Jahren treffen wir uns in größerer Gruppe alljährlich zum Spargelessen in Beelitz und zum Gänsebraten in der Weihnachtszeit. Seine Lebensgefährtin lernte ich bei so einer Gelegenheit kennen. Es dauerte einige Zeit, bis wir ausführlicher miteinander sprachen. Heute erfahre ich viel über ihr ganz besonderes Leben, über die verschlungenen Wege der Liebe, ihre Arbeit als Ärztin, Schicksalsschläge. Wir essen, trinken Sprudelwasser und lachen sehr viel. An uns verdienen die Alkoholhersteller auch in der Corona-Krise nichts. Trotz unterschiedlicher, nämlich Ost- und Westsozialisation einen uns ähnliche Lebenserfahrungen, gemeinsame Erlebnisse und die Sichtweise auf Viren. Erst nach sechs Stunden geht der unterhaltsame und sehr interessante Abend zu Ende. Carsten und ich lernten uns 2006 ebenfalls im Internet kennen. Die absurden, lustigen, langweiligen und aufregenden Erlebnisse bei meiner Männersuche führten dazu, dass ich darüber unbedingt ein Buch schreiben wollte. Es erschien 2008 im Eulenspiegelverlag. Ich habe es selber geschrieben, natürlich. Dass es Ghostwriter gibt, also professionelle Autoren, die für andere deren Geschichten und Erlebnisse zu Papier bringen, erfuhr ich 2015, weil ich bei der Party eines Literaturbüros eine Frau kennenlernte, die im Auftrag verschiedener Verlage schon für etliche Prominente deren Biografie geschrieben hatte. Dass es aber auch Ghostwriter für nach Liebe suchende Singles im Internet gibt, erfuhr ich erst bei einer Talksendung im Fernsehen. Ich wurde dazu eingeladen, weil man mir nach meinem ersten Roman zutraute, dass ich mit meinen im Internet erworbenen Kompetenzen die zum Thema passende Fernseh-Talkshow bereichern könnte. In dieser Talkshow waren außer mir auch ein Paartherapeut, die Betreiberin eines Singlebörsenvergleichsportals und der Chef eine Ghostwriter-Single-Agentur eingeladen. Da mir jegliche Vorstellung fehlte, wie so etwas funktionieren könnte, fragte ich ihn hinter den Kulissen aus und erfuhr Erstaunliches. Während es vor der Zeit der Internetpartnersuche immer Mitmenschen gab, die ein Leben lang unverheiratet, etliche sogar jungfräulich blieben, weil sie entweder zu verklemmt, zu hässlich oder extrem unsympathisch waren, gibt es für diese Spezies, vorausgesetzt, sie sind Willens und in der Lage, dafür Geld auszugeben, das Rundum-Sorglos Paket in Sachen Partnersuche. Angeboten von einschlägigen Agenturen. Nicht, dass ich das despektierlich oder gar unangemessen fände. Nie und nimmer. Ich glaube fest daran, dass es für jeden Topf einen Deckel gibt, für jeden Menschen sogar mehrere passende Partner. Lediglich das Finden scheint mir ein Problem. Nimmt man so eine Agentur in Anspruch, kann man sich nach einem Vorstellungsgespräch und der Angabe seiner Wünsche sofort wieder in seinen normalen Alltag stürzen. Die Agentur erstellt derweil ein Profil auf der passenden Single-Plattform, erdenkt Texte und Antworten auf die dort gestellten Fragen, die ein möglichst positives Bild des zu Vermittelnden abgeben sollen. Es wird darauf geachtet, dass keine Unwahrheiten verbreitet, sondern Unzulänglichkeiten verschwiegen oder umschrieben werden. Mit anderen Worten: Der Klient wird nicht so ehrlich wie möglich, sondern so ehrlich wie nötig beschrieben. Oftmals wird ein Fotograf engagiert, um rein äußerlich das Beste aus den Bewerbern herauszuholen. Da werden zu große Nasen und Augenringe weggeleuchtet und Anzug- oder wahlweise Bauchträger in spritzig wirkende und schlankmachende Outdoor-Klamotten gesteckt. Nun erfuhr ich aus erster Hand, dass es sich bei den Klienten der Ghostwriter-Agentur um überwiegend sehr gebildete, nicht selten mit einer Professur ausgestattete und hochintelligente Menschen handelte, für die zudem das Wort Geldmangel aus ihrem privaten Wortschatz gestrichen werden konnte. So suchte ein ziemlich alter, verwitweter Professor eine extrem gutaussehende, sehr junge Frau mit einer Vorliebe für teuren Schmuck und Fernreisen. Auf die Frage des Agenten, ob die gewünschte Partnerin nicht vielleicht doch eine bestimmte Reife und Lebenserfahrung für eine anspruchsvolle Kommunikation mitbringen sollte, lehnte der greise Professor dieses Ansinnen rundheraus ab. Er wolle nicht reden, sondern sexuell verwöhnt werden. Ich weiß nicht, ob er fündig wurde, nehme es aber an. Die Erfolgsquote solcher Agenturen sei sehr hoch, beteuerte der Agenturinhaber. Allerdings klappt eine Vermittlung nicht in jedem Fall. Eines Tages meldete sich in der Agentur ein besonders auffallender Klient. Der Dreißigjährige arbeitete als Wissenschaftler in einem Forschungsinstitut und besaß einen außerordentlich hohen IQ. Ihm fehlten zwar sämtliche Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, mit sich selbst, dem Leben und der Zweisamkeit, aber er war jung und sehr gebildet. Ansonsten wirkte er wie Sheldon Cooper aus der Serie Big Bang Theorie: menschenscheu, geschmacklos gekleidet und ein wenig arrogant. Das Einzige, was ihn vom Serien- Sheldon unterschied, waren Körperbau und Gesicht. Er war weder schlank noch hübsch. Dieser Sheldon suchte nun nach einer intelligenten Frau, zwischen 20 und 30, möglichst Tierärztin und schön wie ein Model. Sie sollte lange braune Haare, extrem lange Beine, einen IQ von mindestens 140 haben und ihr Leben der Wissenschaft und ihm widmen wollen. Diese Aufgabe ging der Agenturchef mit viel Enthusiasmus an. Er organisierte einen Fototermin mit Sheldon, schrieb ein spritziges und intelligentes Profil, formulierte beeindruckende Nachrichten an etliche Damen einer Elite-Plattform und investierte viel Zeit in den E-Mail-Austausch mit jenen, die auf seine Avancen reagiert hatten. Nach vielen Stunden Arbeit, etlichen Monaten des Wartens, Interagierens und des Ausdiskutierens von Kompromissen, erklärte sich endlich eine Dame bereit, sich mit Sheldon zu treffen. Der Agenturchef setzte seinen Klienten daraufhin über alles in Kenntnis, was er über die Interessentin wissen sollte und erklärte nicht ohne Stolz, dass die potentielle Partnerin alle Anforderungen erfülle, die Sheldon gewünscht hatte. Außer einer: Sie wolle gern eine Familie gründen, also Kinder bekommen, was Sheldon eigentlich als Ausschlusskriterium angegeben hatte. „Bitte Sheldon“, versuchte der vom vielen Suchen genervte Agenturchef seinen Klienten zu motivieren, „Treffen sie sich trotzdem mit der Frau. Bitte! Nach meinen Erfahrungen, ist das Kinderproblem am Anfang einer Beziehung nicht akut. Wenn Sie sich erst besser kennen und lieben lernen, könnte es doch sein, dass einer von Ihnen beiden seine Meinung ändert!“ Sheldon war einverstanden. In Vorbereitung auf sein erstes Date suchte ein Agenturmitarbeiter für ihn ein passendes und schmeichelndes Outfit zusammen, die Eckdaten der jungen Frau wurden noch einmal durchgesprochen und Sheldon erschien pünktlich und gut vorbereitet in dem vereinbarten Café. Leider war der ganze Aufwand umsonst. Nach einem Telefonat mit dem Klienten und einer wütenden E-Mail der potentiellen Partnerin konnte der Ablauf des Treffens folgendermaßen rekonstruiert werden: Einer aufgeregten Begrüßung mit Handschlag zwischen Sheldon und seinem Opfer folgte die Bestellung von zwei Tassen Kaffee und peinlichem Schweigen. Sheldon schaute, statt in ihr erwartungsvoll lächelndes Gesicht, an ein Bild an der gegenüberliegenden Wand und äußerte den ersten vollständigen Satz an die einzige Frau im weltweiten Netz, die sich für ihn interessiert hatte, erst nach mehrmaligem Räuspern, einigen „Ähs“ und sich auf dem Kaffeehausstuhl windend in Form einer Frage: „Willst du Kinder?

---ENDE DER LESEPROBE---