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Sechs Quadratmeter Leben (Teil 5): Diagnosen statt Rosen Im fünften Teil erzählt Tatjana Meissner von den Monaten November und Dezember 2020, von Lockdownfluchten mit schlechtem Gewissen, von vollen Fliegern und leeren Theatern, von Lockdownvarianten und Trostpflästerchen, von Nachverfolgung und Nachverfolgten, von Mythen und Mutanten, von Home-Office-Infizierten und Immunen, von Impfpässen und Impfdesastern, von Hoffnungen und Sterbenden, von geZoomten und gezähmten Weihnachtsfeiern, von Grundrechten, die zu Sonderrechten werden, von Aussichten ohne Aussicht, von Verdrossenheit und Wut, von guten und schlechten Bundesländern, von AFD-Wanderungen und Hotspots und von Feuerwerken ohne Feuerwerk...
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Willkommen in meinem Leben!
Vorwort
Prolog
November 2020
Dezember 2020
Danksagung
Über die Autorin
Mehr zum Lesen
Impressum
Ich freue mich, dass Sie dieses Buch gekauft haben. Hiermit halten Sie den fünften Teil einer Serie mit dem Titel „Sechs Quadratmeter Leben“ in der Hand. Diesmal beschreibe ich meine Erlebnisse und Gefühle in den Lockdown-Monaten November und Dezember 2020. In dieser Zeit habe ich auch beschlossen, dieses Tagebuch zu veröffentlichen. Ich hoffe sehr, dass Sie beim Lesen, genau wie ich beim Schreiben, erstaunt, vielleicht wütend oder betroffen sein werden, sich wundern und freuen, weinen und lachen. Und danach den sechsten Teil lesen möchten, der uns allen aufgrund des Virus und der politischen Entscheidungen nicht erspart bleiben wird. Vielleicht kommt dann noch ein siebter Teil… Obwohl. Ich würde mir wünschen, dass mich Corona nicht mehr so lange ärgert. Bald verschwindet. Dann ist die erste und hoffentlich letzte Staffel dieser Krisendokumentation zu Ende. Aber noch ist es nicht soweit.
Darum viel Spaß bei Teil V: „Diagnosen statt Rosen"!
Tatjana Meissner- Wer bin ich? Kabarettistin, Autorin und Moderatorin Tatsächlich? Aber was sonst? Früher, als ich noch als Tänzerin arbeitete, wurde ich von Zuschauern als Show-Girl bezeichnet. Dann, beim MDR, als Glücksfee. Nach dem Erscheinen meines ersten Buches als die, die sich öffentlich zur virtuellen Partnersuche bekennt. „Wie kannst du nur?“ Nach meinem zweiten Roman bezeichnete mich ein Fernsehmoderator als die „Femme fatale der Midlifecrisis“, nach dem dritten Buch war ich die mit dem ostdeutschen Migrationshintergrund und nach dem vierten die Erika Berger des Ostens. Zuschauer, die sich meinen Namen nicht merken können, sagen: „Die mit den roten Klamotten.“, oder „Die mit den blonden Strubbelhaaren.“, oder „Die mit dem Sex!“ Ich würde sagen: Ich bin eine glückliche Frau, die zwar bereits das Bergfest des Lebens gefeiert hat, aber das tun darf, was ihr Spaß macht: auf der Bühne stehen, Menschen zum Lachen bringen und lustige Lieder singen, obwohl meine Tochter meinen Gesang in ihrer Kindheit immer schrecklich fand. Ich bin die, die manchmal das Gefühl hat, sagen zu müssen: „Ich habe studiert!“. Vor allem, wegen der Themen, die ich gern in meinen Programmen und Büchern zum Besten gebe. Oder, wenn ich offen zugebe, dass ich ein Dschungelcamp-Gucker bin und statt Lyrik lieber Krimis lese. Ich bin die, die die sozialen Medien liebt, weil sie mir die Möglichkeit geben, mit meinen Zuschauern Kontakt zu halten. Ich bin die, die aus demselben Grund gern nach den Vorstellungen am Büchertisch sitzend oder direkt von der Bühne mit ihrem Publikum redet. Und ich finde, man sollte dem Leben, so oft wie möglich, seine komischen Seiten abringen und sich selber nicht zu ernst nehmen. Darum passt Komikerin ganz gut zu mir, oder? Privat gibt es mich auch. Meistens zu zweit. Carsten und ich lieben uns seit 15 Jahren, für jeden von uns die am längsten anhaltende Beziehung des Lebens. Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir es von Anfang an bevorzugten, in getrennten Wohnungen zu leben. Meine erwachsene Tochter Pauli zog wegen ihres Studiums an der Uni Amsterdam in die Niederlande und blieb. Außerdem bin ich stolze Oma eines Enkelhundes namens Lemmy. Ich selber hatte eine schwere Kindheit und eine freudlose Jugend. Ich bin Lehrerkind. Meine Eltern leben dort, wo ich einen Teil meiner Kindheit und Jugend verbracht habe, in der Landeshauptstadt Thüringens, in Erfurt. Meine jüngere Schwester Alexandra wohnt aus mir unerfindlichen Gründen seit fünf Jahren in Dortmund. Einen Teil meiner unzähligen privaten und beruflichen Erlebnisse der vergangenen knapp 60 Jahre meines Lebens findet ihr in Auszügen in meinem Tagebuch. Und jetzt geht´s los:
Mein letzter Tagebucheintrag stammt aus meiner frühen Jugend. Damals, einen Tag vor meinem allerersten Sex, habe ich mich ausführlich darüber geäußert, dass Geschlechtsverkehr gar nicht nötig sei, weil mich mein Freund auch einfach so lieben würde. Ich sehe mich in meinem vielleicht etwas mehr als 6 qm großen Kinderzimmer unserer Neubauwohnung auf dem Erfurter Johannesplatz sitzen und schreiben. Meine Mutter sagte damals Jugendzimmer, denn mit dem Besuch der Heinrich-Mann-Oberschule bekam ich statt des Spielzeugschrankes eine kleine Hellerauschrankwand mit Schreibtisch an die Stirnseite des Zimmers gestellt. Das ist über 40 Jahre her. Danach habe ich nie wieder Tagebuch geschrieben. Warum? Auf keinen Fall, weil mein Leben danach weniger aufregend war. Immerhin werde ich im kommenden Jahr 60 Jahre alt. Das klingt alt. Ich fühle mich trotzdem zu jung, eine Biografie zu schreiben. Aber ich werde die Zeit des Corona-Lockdowns nutzen, auf mein Leben zurückzublicken, auf gute und schlechte Zeiten, werde mich erinnern und reflektieren, Erfahrungen und einen Teil meiner unzähligen privaten und beruflichen Erlebnisse der vergangenen knapp 60 Jahre in Auszügen mit meinen Tagebuch-Lesern teilen. Wenn ich meine pubertären Einträge von damals durchblättere, ärgere ich mich und werde das Gefühl nicht los, dass ich sogar in diesen privaten Aufzeichnungen meine Gedanken und Gefühle zensiere. Nur aufschreibe, was auch meiner Mama gefallen könnte, sie nicht enttäuschen würde. Heute, nach über 40 Jahren beginne ich wieder Tagebuch zu schreiben. Nicht in einem Kinderzimmer, aber wieder auf einer Fläche von nur 6 Quadratmetern, meinem Balkon. Weil etwas Neues, mein Leben stark Beeinflussendes passiert. Ein Virus stürzt die ganze Welt in eine Pandemie, die zu Verordnungen führt, zu einschränkenden Maßnahmen und mich in eine psychisch sehr angespannte Situation. Ich will darüber diesmal ungefiltert und offen schreiben, meine täglichen Erlebnisse und Gefühle schildern, meine Meinung kundtun. So, wie ich es vielleicht schon vor über 40 Jahren und auf jeden Fall vor 30 Jahren hätte tun sollen, als es den ersten großen Umsturz in meinem Leben gab. Mauerfall und Wende 1989/90. Was damals mit mir passierte, was ich dachte und fühlte kann ich nur aus heutiger Sicht erinnern und wüsste doch gern Genaueres. Damals veränderte sich ein limitiertes Leben in ein freies. Jetzt ist es umgekehrt.
1. November 2020
Heute Vor -Light- Lockdown-Sonntag. Trotzdem scheint bei mir die Luft schon soweit raus, als hätte ein Very-Strong-Lockdown begonnen. Vielleicht liegt es auch nur am trüben Regenwetter. Immerhin strahlen die Blätter golden von den Bäumen oder von meinem Balkon, auf dessen neuen Auslegeplatten sie dröge herumliegen. Oft in Gruppen von mehr als zehn. Nein, heute gehe ich nicht diszipliniert an den PC, um pflichteifrig neue Tagebucheinträge zu schreiben. Ich gratuliere auch niemandem zum Geburtstag. Habe ich schon einige Tage nicht mehr gemacht und wundere mich. Ich sitze vorerst einfach rum. Carsten kommt in die Küche mit einem silbrig glänzenden Gerät, das wie eine Wendekelle für die Pfanne aussieht, aber ein Fleischklopfer sein will. Ein professioneller, wie Carsten behauptet, der das Schnitzel nicht verletzt. Es tritt immer deutlicher zu Tage, was ich seit 15 Jahren weiß: Kochen ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Ich habe andere Stärken. Wahrscheinlich. Weil wir anlässlich seiner Eröffnung gestern den Film über den Bau des Flughafens BER sahen, wollen wir heute auch den BER persönlich kennenlernen. Immerhin hatten wir 2011 schon mal Tickets für einen Abflug von diesem Sorgenkind. Irgendwie bestätigt es sich immer wieder, dass Sorgenkinder nur entstehen können, wenn die Eltern versagen. Das haben die „Eltern“ des Flughafens ganz akut. Fehler von Anfang an. Immer wieder. Man sieht den Film und denkt: Das kann doch nicht möglich sein. Wie können vermeintlich intelligente Politiker zu so viel Selbstüberschätzung neigen und eine Fehlentscheidung nach der anderen treffen. Und dann auch noch den Architekten entlassen und damit sämtliche Unterlagen zum Bau verlieren? Ich habe das Gefühl, dass die Eltern der Pandemie ähnlich versagen. Sie scheitern bei der Organisation der Gesundheitsämter, fokussieren sich zu lange auf das ursprüngliche Hauptproblem mangelnder Intensivbetten, ohne an notwendiges Personal zu denken. Keine ausreichenden Schnelltests, die falschen Masken zu spät und zuviel bestellt. Die Gesundheitsämter sind überfordert. Eine Bekannte, Mitarbeiterin bei einer amerikanischen Filmproduktion in Babelsberg, wurde von ihrem Arbeitgeber bei Arbeitsantritt positiv auf Corona getestet. Sie bekam einen Schein auf dem stand, sie hätte ein bisschen Corona. Das verantwortliche Gesundheitsamt stritt sich daraufhin mit der Filmproduktion, weil sie diese Art des Tests nicht (aner-) kannten. Trotzdem schickte es die Bekannte und deren Mann in Quarantäne. Man notierte die Kontaktpersonen, die wahrscheinlich für das bisschen Corona verantwortlich waren. Als sich diese 14 Tage später beim Amt meldeten und nachfragten, ob man sie nicht endlich testen wolle, schickte man alle Haushaltsmitglieder in Quarantäne. 14 Tage zu spät für weitere 14 Tage. Erstaunlich an diesem Ereignis: Es trug sich bereits vor der zweiten Welle zu. Also noch völlig ohne Nachverfolgungsdruck. Der Flughafen weckt in mir sofort Fernweh. Ich google schon unterwegs, wohin man stressfrei verreisen könnte. Am besten geht es nach Namibia. Dort gibt es keine Quarantäne, keine Tests, keine Einschränkungen des Lebens. Leider muss es ein Traum bleiben, weil meine Eltern krank sind und der Tag kommen wird, an dem wir meine Schwester entlasten wollen. Der BER erscheint uns klein, aber schön. Sogar mit Bahn oder S-Bahn kann man direkt unters Terminal fahren. Von der Besucherterrasse aus, für die wir uns vorher online anmelden mussten, sieht man wenig. Vor allem keine startenden und landenden Flugzeuge. Eine Mitarbeiterin sagt, es gehe am 4. November erst richtig los, wenn die erste internationale Fluggesellschaft lande. Anders als bei den anderen Berliner Flughäfen gibt es rund um den BER jede Menge Parkplätze. Bin gespannt, ob die reichen werden. Im Moment sind sie leer. Kommt man ins Foyer des Flughafens, wird man vom Denkmal des abgestürzten Otto Lilienthal mit Mundschutz empfangen. Bin mir nicht sicher, ob das ein gutes Omen ist. Neben der Rolltreppe hat man den Namensgeber Willy Brandt an die Wand gemalt und zitiert: „Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden das Wichtigste sei, dann lautet meine Antwort: Freiheit.“ Das kann ich genauso unterschreiben, hilft aber im Moment gar nichts.
2. November 2020
Tag eins des Lockdowns und unseres Lebens ohne Tageszeitung. Den strömenden Regen kann mein neuer breiter Sonnenschirm nicht davon abhalten, meinen Balkon zu überschwemmen. Mein erster Kaffee des Tages beschert mir einen nassen Po. Im Netz gibt es unzählige Meldungen zum Thema Corona, Kultur und Gastronomie. Es wird gejammert, sich kämpferisch gegeben, auf die schlechte Vorbereitung der zweiten Welle geschimpft, um Solidarität geworben, Trauer kommuniziert, Hilfe angeboten, an staatlich angekündigter Hilfe gezweifelt. Das strengt mich an, zumal mich irgendein Magen-Darm-Ding erwischt hat. Nicht schlimm, aber schwächend und schmerzvoll. Trotzdem haben wir heute Großes vor, denn unsere Musikerfreunde produzieren ein Musikvideo im Waschhaus und wir dürfen mitspielen. Carsten und ich als handy- und nikotinsüchtige Singles auf einem Speed-Dating. Das macht Spaß. Der Song heißt: „Alle guten Dinge…“. Beruhend auf dem Sprichwort „Aller guten Dinge sind drei“. Hoffentlich ist das Lied kein Omen für den Kulturlockdown, denn dann ist es bis Ende November noch nicht vorbei. Am Abend posten unzählige Kulturtreibende -vom Künstler, über Theater bis hin zu Technikfirmen- Fotos und Filme zum Thema #sangundklanglos, initiiert vom Münchner Symphonieorchester. Emotionale Sache, die Frau Merkel leider nicht beeindrucken kann. Sie nennt ihren Lockdown light „alternativlos“. Einen kurzen, schnellen Wellenbrecher.
3. November 2020
Mir geht es gar nicht gut. Habe die Nacht schwitzend und ziemlich matt verbracht, jetzt schmerzt der rechte Unterbauch und Dr. Google hat dafür so viele Vorschläge, dass ich mich nicht entscheiden kann, welche Krankheit ich davon haben möchte. Ich beschließe, wenig zu machen. Ganz wenig. Tee trinken und ausruhen. Trotzdem telefoniere ich mit der Steuerberaterin. Sie will mir Bescheid sagen, wenn es die angekündigte Hilfe für Soloselbständige gibt. Ein Zitat auf FB erheitert mich. Es ist von Ulrike Gastmann:„Die Kunstszene des Landes komplett lahmzulegen, und dies als gesellschaftliche Solidarität zu deklarieren, wirkt in etwa so schlüssig, als setze man während eines Notzustands einer Gruppe von Leuten ausschließlich die Untergewichtigen auf Diät, damit alle überleben.“ Ich pendle mit einer Wärmflasche auf dem Bauch zwischen Küchensofa und Balkon. Nachbarkater Gurke kommt auf ein Schälchen Futter vorbei, wahrscheinlich um nach mir zu sehen. Hunger hat er jedenfalls keinen bemerkenswerten. Der blättrige Sichtschutz zum Nachbargrundstück wurde vom Herbstwind weggeblasen. Ich kann den Gärtner wieder sehen. Er macht seine handtuchgroße Gartenoase winterfest. Akribisch, am Zaun hockend und jedes Blatt und Unkraut einsammelnd, wie ich das von ihm gewöhnt bin. Zwischendurch telefoniere ich mit meinem Musiker André und bemerke auch bei ihm eine gewisse Melancholie ob des Lockdowns und eine große Sehnsucht nach der Bühne. Im Moment befindet er sich im Erzgebirge als hauptverantwortlicher Tonmeister für die MDR- Sendung "Weihnachten bei uns" mit Stefanie Hertel. Im Laufe des Vormittags sage ich mein heutiges Date mit meiner Exnachbarin und mein morgiges mit meiner Spotfreundin ab. Wegen Schwäche und eventueller Ansteckungsgefahr. Meine Schwester schreibt, mein Vater hätte auch Leibschmerzen und dass sie sich sorge, weil er einfach zu viele Tabletten einnimmt. Mama hat sich zum ersten Mal richtige Sachen angezogen, nicht nur einen Morgenmantel. Ein Lichtblick. Nach einer Mittagsruhe fühle ich mich zumindest so gut, dass ich sogar Wäsche waschen und wenig später der SUPERillu ein paar Fragen zu meinem künstlerischen und finanziellen Befinden beantworten kann. Ich schreibe:„Der erste Lockdown kam, da saßen wir bereits auf gepackten Taschen für einen Auftritt in Seehausen. Am Abend vorher war noch alles genehmigt worden, kurz vor der Abfahrt kam die Absage. Das war am 14. März. Seit Juli wurde ich wieder zu ersten und kleineren Gastspielen unter Hygieneregeln eingeladen. Einige davon musste ich ohne meinen Musiker machen, weil es sich sonst für niemanden gelohnt bzw. ich sogar noch draufgezahlt hätte. Jetzt im November sollten aus dem Frühjahr verschobene, aber auch bereits lange vertraglich vereinbarte 13 Auftritte stattfinden, manche doppelt, weil so viele Karten verkauft waren und die Vorschriften ein volles Haus natürlich nicht zulassen. Aber: Allein der Gedanke daran fühlte sich wunderbar normal an. Hoffnungsvoll. Nun hat man uns wieder ein Berufsverbot erteilt. Geld ist für mich nicht das Wichtigste. Jedenfalls nicht, wenn man wie ich keine Familie mehr zu versorgen hat. Das Wichtigste wäre für mich eine gewisse Zuversicht, ein Ausweg aus dieser perspektivlosen Situation. Ich gehöre zu den Menschen, die unter den Maßnahmen psychisch leiden. Ich bin seit dem ersten Lockdown demotiviert, frage mich wozu ich kreativ sein soll, wenn mir keine Perspektive geboten wird. Dazu kommt die Sorge um die vielen Kollegen vom Geschäftsführer über die Garderobenfrau bis zum Techniker in den Theatern, Programmkinos, Kulturhäusern, die mir bisher immer gute Partner waren und nun nicht wissen, ob sie diese Krise überleben. Ihnen fehlt nicht nur die Zuversicht, sondern tatsächlich auch das Geld, das bisher an den Bedürfnissen der Einrichtungen und Künstler vorbei konzipiert wurde. Darum bin ich auch bei der angekündigten Novemberzahlung skeptisch. Für 2021 erhoffe ich mir spätestens ab März wieder regelmäßig Veranstaltungen machen zu können. Meine neue Show, die im November 2019 Premiere hatte, durfte ich bisher viel zu selten spielen.“ Bin gespannt, was die Redakteurin davon nimmt, bzw. daraus macht. Carsten bringt mir Weißbrot, Zwieback und Bananen mit. Nebenbei trinke ich Literweise Magen- und Darmtee. Ich hasse es, krank zu sein.
4. November 2020
Ist es schlimm, frage ich mich immer wieder, dass mich die USA-Wahl, die heute Nacht stattfand, eher marginal interessiert? Obwohl allein Trumps Physiognomie in mir Aggressionen hervorruft, würde ich niemals einem Amerikaner Vorschriften machen wollen, was er zu wählen hat. Bei Reagan war ich bereits erstaunt, was in den USA möglich ist, und auch Bush-Juniors Gesicht hatte diese agressionsauslösende Wirkung auf mich. Es gibt zwei Gründe für mein Desinteresse: der erste ist die allgemeine Hysterie in Deutschland, die sich auf allen Kanälen ergießt, die zweite die Überheblichkeit und Borniertheit der westlichen Welt, anderen Staaten ihre Meinung und ihre Demokratie als die einzig richtige überhelfen zu wollen. Das steht niemandem zu. Und erst recht gibt es nicht einen Grund, irgendwo Kriege im Namen der Demokratie zu führen. Ganz nebenbei war Trump der erste Präsident, der keinen neuen Krieg vom Zaun gebrochen hat. Kann man nur deshalb für Biden sein, weil man Trump doof findet? Bei der Eröffnung des BER, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit am 31. Oktober stattfand, hat sich der brandenburgische, also „unser“ Ministerpräsident mit Corona infiziert. In der Folge mussten alle Teilnehmer in Quarantäne. Heute nun vermelden die Medien, dass bei unserem Besuch am ersten November mehr Gäste als Reisende den Flughafen besichtigten und dem BER bis zu 700 Millionen Euro in den kommenden Monaten fehlten. Wenn dieses Geld nicht irgendwoher zugeführt wird, müsse er schon in diesem Jahr wieder schließen. Heute geht es mir gesundheitlich ein wenig besser. Zum Glück. Gut, der Bauch schmerzt immer noch. Ein bisschen. Carsten sagt, ich hätte keine Bakterien und kein Virus, es wäre die Gesamtsituation, die mir auf den Magen schlägt. Das kann sein. Immerhin bescherte mir der erste Lockdown einen Tinnitus. Über den Sommer bildeten sich schwarze Schlieren vor meinen Augen und jetzt ist es der Magen. Die Psyche ist ein nicht zu unterschätzender Krankheitsfaktor und sorgt immer für Abwechslung im monotonen Alltag. Natürlich war ich im Vorfeld des Novembers auch viel zu optimistisch. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass man unsere aus hygienischen Gründen stark limitierten Veranstaltungen verbieten würde. Nie. Warum auch? Also bestellte ich mir neues Make up und gleich mal 300 Bücher beim Eulenspiegelverlag, die ich nach meinen Vorstellungen im November und Dezember verkaufen wollte. Heute kamen sie an. Fünf riesengroße Kisten voll mit dem toten Herrn Möslein. Nein, gestern schon. DHL hat es mal wieder nicht für nötig befunden, bei uns zu klingeln, geschweige denn einen Zettel in den Briefkasten zu werfen. Sie haben mit den Kisten das Büro des Steuerberaters im Vorderhaus vollgestellt. Der informierte mich per Mail. Jetzt stehen sie in meinem Arbeitszimmer und ich werde sie für längere Zeit in meinem Schrank lagern. Müssen. Vielleicht sogar auf ihnen sitzen bleiben. So eine Bestellung von 300 Büchern kostet ja nur knapp über 2000 €. Ich mache heute zwar keinen Sport, aber meine Lehrerfreundin besucht mich. Sie bringt magenfeindliche leckere Dinge von Butter-Lindner mit und ich kann nicht widerstehen. Es tut mir gut zu reden. Ereignisse der letzten Monate auszutauschen. Spannend ist für mich, wie die Corona-Regeln auf Schüler, Eltern, Lehrer und die Schule wirken. Durchweg negativ. Stichworte sind Psyche, Aggressionen, mangelnde Empathie, absurde Anweisungen vom Ministerium, Kälte in Klassenräumen, viel Arbeit, die wahrscheinlich umsonst erledigt wurde, und eine heranwachsende Generation, die für unser aller Zukunft nicht viel Gutes verheißt. Das liegt nicht alles an Corona, vieles wurde vorher schon gesät durch mangelnde Bildung und zu großen Einfluss der Eltern, die jede Zensur ihrer Kinder anzweifeln. Aber nicht diese Informationen sind es, die mich traurig machen. Es sind die Worte meiner Freundin: „Tati, ich sehe schon die ganze Zeit, dass es Dir nicht gut geht. Kann ich Dir irgendwie helfen?“ Und zack, fange ich an zu heulen. Doll. Weiß nicht, wie ich meinen nunmehr fast acht Monate anhaltenden Zustand begründen soll. Versuche es: Ich muss seit Wochen so tun, als tue ich etwas Wichtiges, Befriedigendes und ahne doch in jedem Moment, dass es umsonst sein wird. Ich weiß nicht, wann sich das ändert. Kein Ziel, keine Zuversicht. Nicht im beruflichen und auch nicht bei meinem Lieblingshobby, dem Reisen. Meine „Weltreise“, lange geplant und ersehnt für 2021 zu meinem 60., habe ich gedanklich bereits storniert. Ich versuche, die Sinnlosigkeit meines derzeitigen Lebens mit Aktionismus zu übertünchen und scheitere daran, sobald mir das klar wird. Ja, ich habe viele Freunde, meine Eltern, meine Schwester und meine Tochter. Jeder von ihnen würde mir sofort helfen, wenn nur einer von uns wüsste wie. Meine Dankbarkeit für das, was ich habe, die immer wieder als Mutmacher auf allen Kanälen gepredigt wird, ist aufgebraucht. Mich an kleinen Dingen zu erfreuen, gerade nicht möglich. Dieser zweite Lockdown, das zweite Berufsverbot trifft mich härter als alles, was ich bisher erlebt habe. Zum Glück verarbeitet mein Magen die Butter-Lindner-Leckereien als hätte er nie gestreikt. Ein Lichtblick in der frühen Dämmerung.
5. November 2020
Was bin ich für eine Heulsuse. Gestern Abend, bereits in meinem dunklen Schlafzimmer im Bett liegend, wirbelte mein Gehirn die Ereignisse des Tages nochmal in mein Bewusstsein. Ich dachte an die unzähligen Filme und Bilder meiner kulturellen Leidensgenossen, wie sie stumm musizierten, den Text des Ebstein-Songs „Theater, Theater, der Vorhang geht auf, dann wird die Bühne zur Welt“ mit traurigem schwarz-weißen Blick tonlos in die Kamera sprechen oder einfach nur ihre Kostüme ausziehen und sich abschminken. Sofort flossen meine Tränen. Einfach so. Ich konnte sie nicht aufhalten. Warum, verdammt, macht mich diese Situation nicht wütend oder kämpferisch? Aus welchem Grund kann ich nicht gelassen bleiben? Ich bin nur empört, verabscheue die Gesamtsituation. Kann offiziellen Meldungen keinen Glauben mehr schenken. So steht seit Tagen in der Zeitung, dass die Inzidenz in Potsdam über 100 sei und die Maßnahmen verschärft werden müssten. Mehrere Male habe ich nachgefragt, was sie damit meinen, denn ich hatte auf den Seiten des RKI nach diesem Wert gesucht, fand dort aber seit Tagen einen Wert unter 50. Gestern lag er bei 46,1. Ich bekam bisher keine Antwort. Die ersten Klagen gegen die November-Maßnahmen wurden von den zuständigen Gerichten bereits abgeschmettert. Mittlerweile hat Frau Merkel ein Gesetz vorbereitet, dass alles Bisherige und Kommende mithilfe des Bundestages absichern wird, solange die von der Politik beschlossene Lage epidemischen Ausmaßes anhält. In Anbetracht der Zahlen, egal ob Inzidenz, Bettenbelegung, Todesfälle, für Interessierte im Netz täglich abrufbar, gibt es gar keine epidemische Lage nationalen Ausmaßes mehr. Aber wenn Frau Merkel das anders sieht, haben diese Zahlen keine Chance. Es ist die Hilflosigkeit, die mich so sehr zermürbt. In einer Pressekonferenz wurde mitgeteilt, dass sich ab sofort die Teststrategie ändern wird. Es wird zukünftig nicht mehr bei Symptomlosen das Stäbchen durch den Mund gewischt, sondern vor allem bei Risikopatienten und Menschen mit Krankheitsanzeichen. Das halte ich nach den Erfahrungen bei meinen Eltern für die absolut richtige Strategie. Die Änderung dieser Verfahrensweise während eines Lockdowns hat allerdings ein „Geschmäckle“. Statistikern stehen bei dieser Änderung ohnehin die Haare zu Berge und selbst Laien verstehen, dass so keine Vergleiche der Infektionshäufigkeit mit der Zeit vor dem Lockdown valide möglich sind. Man muss vermuten, dass die Ergebnisse der neuen Testung die Richtigkeit der politischen Strategie bestätigen sollen. Aber wenn es auch nur einigen, gerade alten Kranken hilft, schneller und damit besser behandelt zu werden, würde mich diese Test-Entscheidung ein wenig glücklich machen. Diese Maßnahmen hätte sich doch kein Teilnehmer der Potsdamer Demonstration am 4. November 1989 vorstellen können. Damals, als man mehr Demokratie einforderte. Gestern nun wurde das Denkmal auf dem Luisenplatz eröffnet, das an diese Demo erinnern soll. Sicherlich hatte sich der Schöpfer Mikos Meininger zur Eröffnung des Demokratiedenkmals mindestens genauso viele Menschen auf den Luisenplatz gewünscht, wie vor einunddreißig Jahren. Nun war im Jahr 2020 nur eine klägliche Handvoll Projekt-Beteiligter anwesend. Ich habe damals nicht demonstriert, sondern durfte als Tänzerin der Cora Showdancers zu einem Auftritt anlässlich der Firmenfeier eines Molkereibetriebes im Gebäude der Trabrennbahn Mariendorf reisen. Mein drittes Mal im Vorwende-Westen. Ob mich nun die geringe Kenntnis der Demokratie in der BRD, persönliches Desinteresse oder dieser Auftritt vom Kampf gegen die Politik im Sozialismus abhielten, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall hatte diese Kurzreise im Trabi eine sehr lange Vorlaufzeit. Der Firmenfeier-Verantwortliche war ungefähr 18 Monate vor diesem Termin bei einem unserer Auftritte im Varieté Berlin auf uns aufmerksam geworden. Wir warnten ihn, als wir uns kennenlernten: Mit der Entscheidung, uns engagieren zu wollen, hatte er sich viel Arbeit aufgehalst. Er musste Kontakt zum Künstlerdienst der DDR aufnehmen, drängeln, diskutieren, dranbleiben, sich keine andere Darbietung aufschwatzen lassen. Wir mussten beim Rat des Bezirkes Potsdam betteln, nachfragen, Reisepässe beantragen. Das alles dauerte sehr lange, schien zwischendurch immer mal schiefgehen zu wollen und mündete in einem Visum für den 4.11.89 bis 0 Uhr für eben diesen Auftritt. Wir fuhren mit unserem eigenen Trabi dorthin, begleitet von einem Hupkonzert aller anderen Autofahrer auf den Westberliner Straßen. Bis heute ist mir schleierhaft, wie wir ohne Navi zur Trabrennbahn gefunden haben. Die Aufführung unserer drei Tanzdarbietungen zog sich durch Wartezeiten, Tanzrunden für die Betriebsangehörigen und Schlangen am Buffet allerdings zeitlich in die Länge. Schnell war klar, dass wir nicht pünktlich am Grenzübergang „auschecken“ würden. Mich regte das dermaßen auf, dass ich meine übliche Migräne entwickelte und mich vor der Aufführung unseres erotischen Tanzes im Netztrikot in die West-Toilette übergeben musste. Von dem vereinbarten Honorar, welches für uns an den Künstlerdienst im Anschluss an die Veranstaltung überwiesen wurde, mussten wir 25% dem Künstlerdienst abführen, 25% in DDR-Mark tauschen und zwar 1:1 und 50% des Honorars durften wir in D-Mark behalten. Ich weiß nicht mehr genau, wieviel wir verdient haben, auf jeden Fall im unteren dreistelligen Bereich für uns alle drei. Warum ich mich überhaupt daran erinnere, ist der erfreuliche Umstand, dass der Verantwortliche Molkereimitarbeiter von den Gepflogenheiten des Künstlerdienstes wusste und jeder von uns zusätzlich und schwarz 100 DM bar zusteckte. Als wir gegen ein Uhr zu spät die Grenze und mit passenden Erklärungen im Kopf erreichten, passierte …nichts. Wir zeigten unsere Pässe und wurden durchgewinkt. Das erstaunte mich natürlich. Aber wer konnte ahnen, dass nur wenige Tage später die Mauer fallen würde? Einen Mosaikstein für dieses Ereignis setzten garantiert auch die Demonstranten des 4. November 1989 auf dem Potsdamer Luisenplatz.
6. November 2020
Für die 13 Gastspiele im November hat Jörg mit den geplagten Veranstaltern folgende Regelungen vereinbart: Die Zuschauer vom DASDIE in Erfurt, dem Clack Theater Wittenberg und für zwei Gastspiele in der Feuerwache Magdeburg können ihre Karten für schon lange geplante Auftritte im Jahr 2021 tauschen, für mich fallen diese Vorstellungen quasi aus. Mit dem Capitol Königs Wusterhausen, dem Kabarett Funzel in Leipzig und Ebersbach haben wir eine optimistische Terminverschiebung in den Dezember 2020 vorgenommen, Stadthalle Oschatz wurde in den Mai 2021 verschoben, genauso wie die Vorstellung im Kulturhaus Eilenburg, Annaberg-Buchholz in den Oktober 2021. Nur für die zwei Termine in Naumburg und in Zielitz haben wir noch keine Lösung. Diese Verschiebungen und Absagen bedeuten für uns viel Bürokram, der aber nicht mit dem riesigen Arbeitsumfang der Veranstalter zu vergleichen ist.