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Tatjana Meissner

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Beschreibung

Sechs Quadratmeter Leben (Teil 7): Ausgebremst Im siebten Teil erzählt Tatjana Meissner von den Monaten März und April 2021, von Beruhigungsgeld ohne Neustart, von Treppenhauskonzerten und Doppelpunkt-Bläsern, von Knoblauchverzehr und Schwitzattacken, von Prinz Albert und Wiedererkennungswerten, von der schnellen Gabi und dem falschen Beckmann, von kreativen Lockdownbezeichnungen ohne Notausgang, von Weltverbesserern und Bildungstotalversagern, von Gendersternchen und anderen Rechtschreibfehlern, von Allesdichtmachern und Gefälligkeitsphilosophen, von Not- und Ausgebremsten, von Piloten mit Wortfindungsschwierigkeiten und von reflexartigen Klatschen-von-der-falschen-Seite-Gedanken...

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Tatjana Meissner

Ausgebremst

Sechs Quadratmeter Leben (Teil 7)

Diese Tagebuchserie ist ein Pandemie-Rückblick auf das Leben und eine Komödie, wie sie nur in Krisensituationen geschrieben werden kann. Ich erzähle ungefiltert und offen über meine täglichen Erlebnisse und Gefühle und halte auch meine Meinung über den alltäglichen Wahnsinn nicht zurück.

Inhaltsverzeichnis

Willkommen in meinem Leben!

Vorwort

Prolog

März 2021

April 2021

Danksagung

Über die Autorin

Mehr zum Lesen

Impressum

Willkommen in meinem Leben!

Ich freue mich, dass Sie dieses Buch gekauft haben. Hiermit halten Sie den siebten Teil meiner Tagebuch-Serie mit dem Titel „Sechs Quadratmeter Leben“ in der Hand, von dem ich gehofft hatte, ihn nicht mehr veröffentlichen zu müssen, weil ich bereits auf einer 20 oder 30 Quadratmeter großen Bühne stehen und die Menschen zum Lachen bringen würde. Weil Politiker dafür gesorgt hätten, dass Hygienekonzepte, Digitalisierung, Impforganisation, Nachverfolgung und Teststrategien wieder zu einem lebenswerten Dasein für alle geführt hätten. So ist es leider nicht. Als Künstlerin befinde ich mich seit Monaten im Berufsverbot, bin im März und April 2021 immer noch isoliert, perspektiv- und hoffnungslos. Aber das Leben hält auch Abwechslungen bereit. Nach unserer Flucht in das gemäßigte Lockdown-Gebiet Fuerteventura werde ich in verschiedene Fernsehsendungen eingeladen, treffe endlich wieder Menschen, Kollegen und Prominente. Außerdem feiere ich meinen zweiten Geburtstag im Lockdown, bleibe also 58 und suche nebenbei weiter nach Auswegen mittels Beschäftigungstherapie durch Tagebuchschreiben, mit geschärftem Blick für die Absurditäten des Pandemie-Alltags. Ich hoffe sehr, dass Sie beim Lesen, genau wie ich beim Schreiben, erstaunt, vielleicht wütend oder betroffen sein werden, sich wundern und freuen, weinen und lachen können. Und danach den achten Teil lesen möchten. Obwohl. Ich träume davon, dass mich Corona nicht mehr so lange ärgert. Bald verschwindet. Vielleicht sogar durch gute politische Lösungen. Dann ist die erste und hoffentlich letzte Staffel dieser Krisendokumentation zu Ende. Aber noch ist es nicht soweit.

Darum wünsche ich jetzt viel Spaß bei Teil VII: Ausgebremst

Vorwort

Tatjana Meissner- Wer bin ich? Kabarettistin, Autorin und Moderatorin Tatsächlich? Aber was sonst? Früher, als ich noch als Tänzerin arbeitete, wurde ich von Zuschauern als Show-Girl bezeichnet. Dann, beim MDR, als Glücksfee. Nach dem Erscheinen meines ersten Buches als die, die sich öffentlich zur virtuellen Partnersuche bekennt. „Wie kannst du nur?“ Nach meinem zweiten Roman bezeichnete mich ein Fernsehmoderator als die „Femme fatale der Midlifecrisis“, nach dem dritten Buch war ich die mit dem ostdeutschen Migrationshintergrund und nach dem vierten die Erika Berger des Ostens. Zuschauer, die sich meinen Namen nicht merken können, sagen: „Die mit den roten Klamotten.“, oder „Die mit den blonden Strubbelhaaren.“, oder „Die mit dem Sex!“ Ich würde sagen: Ich bin eine glückliche Frau, die zwar bereits das Bergfest des Lebens gefeiert hat, aber das tun darf, was ihr Spaß macht: auf der Bühne stehen, Menschen zum Lachen bringen und lustige Lieder singen, obwohl meine Tochter meinen Gesang in ihrer Kindheit immer schrecklich fand. Ich bin die, die manchmal das Gefühl hat, sagen zu müssen: „Ich habe studiert!“. Vor allem, wegen der Themen, die ich gern in meinen Programmen und Büchern zum Besten gebe. Oder, wenn ich offen zugebe, dass ich ein Dschungelcamp-Gucker bin und statt Lyrik lieber Krimis lese. Ich bin die, die die sozialen Medien liebt, weil sie mir die Möglichkeit geben, mit meinen Zuschauern Kontakt zu halten. Ich bin die, die aus demselben Grund gern nach den Vorstellungen am Büchertisch sitzend oder direkt von der Bühne mit ihrem Publikum redet. Und ich finde, man sollte dem Leben, so oft wie möglich, seine komischen Seiten abringen und sich selber nicht zu ernst nehmen. Darum passt Komikerin ganz gut zu mir, oder? Privat gibt es mich auch. Meistens zu zweit. Carsten und ich lieben uns seit 15 Jahren, für jeden von uns die am längsten anhaltende Beziehung des Lebens. Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir es von Anfang an bevorzugten, in getrennten Wohnungen zu leben. Meine erwachsene Tochter Pauli zog wegen ihres Studiums an der Uni Amsterdam in die Niederlande und blieb. Außerdem bin ich stolze Oma eines Enkelhundes namens Lemmy. Ich selber hatte eine schwere Kindheit und eine freudlose Jugend. Ich bin Lehrerkind. Meine Eltern leben dort, wo ich einen Teil meiner Kindheit und Jugend verbracht habe, in der Landeshauptstadt Thüringens, in Erfurt. Meine jüngere Schwester Alexandra wohnt aus mir unerfindlichen Gründen seit fünf Jahren in Dortmund. Einen Teil meiner unzähligen privaten und beruflichen Erlebnisse der vergangenen knapp 60 Jahre meines Lebens findet ihr in Auszügen in meinem Tagebuch. Und jetzt geht´s los:

Prolog

Mein letzter Tagebucheintrag stammt aus meiner frühen Jugend. Damals, einen Tag vor meinem allerersten Sex, habe ich mich ausführlich darüber geäußert, dass Geschlechtsverkehr gar nicht nötig sei, weil mich mein Freund auch einfach so lieben würde. Ich sehe mich in meinem vielleicht etwas mehr als 6 qm großen Kinderzimmer unserer Neubauwohnung auf dem Erfurter Johannesplatz sitzen und schreiben. Meine Mutter sagte damals Jugendzimmer, denn mit dem Besuch der Heinrich-Mann-Oberschule bekam ich statt des Spielzeugschrankes eine kleine Hellerauschrankwand mit Schreibtisch an die Stirnseite des Zimmers gestellt. Das ist über 40 Jahre her. Danach habe ich nie wieder Tagebuch geschrieben. Warum? Auf keinen Fall, weil mein Leben danach weniger aufregend war. Immerhin werde ich im kommenden Jahr 60 Jahre alt. Das klingt alt. Ich fühle mich trotzdem zu jung, eine Biografie zu schreiben. Aber ich werde die Zeit des Corona-Lockdowns nutzen, auf mein Leben zurückzublicken, auf gute und schlechte Zeiten, werde mich erinnern und reflektieren, Erfahrungen und einen Teil meiner unzähligen privaten und beruflichen Erlebnisse der vergangenen knapp 60 Jahre in Auszügen mit meinen Tagebuch-Lesern teilen. Wenn ich meine pubertären Einträge von damals durchblättere, ärgere ich mich und werde das Gefühl nicht los, dass ich sogar in diesen privaten Aufzeichnungen meine Gedanken und Gefühle zensiere. Nur aufschreibe, was auch meiner Mama gefallen könnte, sie nicht enttäuschen würde. Heute, nach über 40 Jahren beginne ich wieder Tagebuch zu schreiben. Nicht in einem Kinderzimmer, aber wieder auf einer Fläche von nur 6 Quadratmetern, meinem Balkon. Weil etwas Neues, mein Leben stark Beeinflussendes passiert. Ein Virus stürzt die ganze Welt in eine Pandemie, die zu Verordnungen führt, zu einschränkenden Maßnahmen und mich in eine psychisch sehr angespannte Situation. Ich will darüber diesmal ungefiltert und offen schreiben, meine täglichen Erlebnisse und Gefühle schildern, meine Meinung kundtun. So, wie ich es vielleicht schon vor über 40 Jahren und auf jeden Fall vor 30 Jahren hätte tun sollen, als es den ersten großen Umsturz in meinem Leben gab. Mauerfall und Wende 1989/90. Was damals mit mir passierte, was ich dachte und fühlte kann ich nur aus heutiger Sicht erinnern und wüsste doch gern Genaueres. Damals veränderte sich ein limitiertes Leben in ein freies. Jetzt ist es umgekehrt.

März 2021

1. März 2021

Mein Ellenbogen ist dick und rot. Er tut weh, wenn ich draufdrücke. Gestern Abend kurz vor dem Einschlafen dachte ich noch, mich hätte eine Mücke gestochen, der Ellenbogen juckte. Jetzt denke ich, es müsste ein riesiges Monsterinsekt gewesen sein. Oder eine Mücke mit ganz giftigen Impfstoffen in der Kanüle. Während heute früh um sechs wahrscheinlich alle Friseure Deutschlands ihre Scheren schärfen, sitzen Carsten und ich auf der Terrasse, trinken entspannt Kaffee und lesen Neuigkeiten aus aller Welt, die uns hier im sonnigen Süden Fuerteventuras nichts anhaben können. Vermeintlich. Etliche Verbände, Vereinigungen und einzelne Dienstleister bringen sich zwei Tage vor der nächsten Merkel-Ministerkonferenz in Stellung: Alarmstufe Rot für die Künstler, Vereinigungen von Gastronomen, einzelne Kosmetiker, Künstler jeder Couleur. Alle verlangen nach Alternativen der Virusbekämpfung, nach Perspektiven. Es gibt Videoaufrufe, Autocorsos, Demos. Bayern versucht, seine Soloselbständigen durch monatliche Zahlungen weiter zu beruhigen. Der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke kam bisher noch nicht einmal in die Nähe so einer Idee. Besser Schweigegeld als gar nichts. Zur Beruhigung. Lieber wäre mir allerdings etwas anderes. Vielleicht sollte man die Sache mit dem Lockdown im zweiten Coronajahr genau anders herum angehen: Weg von Kultur, Gastro und Tourismus, hin zu BMW, VW, großen Logistikunternehmen, anderen produzierenden Konzernen, Großraumbüros aller Branchen und natürlich Behörden. So dürften jetzt diejenigen in den Genuss des tatsächlichen Zuhausebleibens kommen, die bisher trotz fehlender Systemrelevanz arbeiten durften. Die Werktätigen hätten ein Jahr frei und könnten unter Hygienebedingungen Konzerte und Theater besuchen, ein Ferienhaus mieten, sich erholen. Der Effekt wäre größer, weil Kontakte vor allem in ihrer Dauer viel stärker reduziert würden. Mein Beruhigungsgeld, die Neustarthilfe, ist heute auf dem Konto. Allerdings weiß man nicht, wieviel man davon verwenden darf. Bis Ende des Jahres müssen eventuelle Einnahmen gegengerechnet werden. Trotzdem oder genau deswegen gehen wir in den Supermarkt von Morro Jable. An der Frischetheke unterhält sich die Verkäuferin ewig mit den jeweiligen Kunden, während sie deren Wünsche in Schälchen füllt. Das zieht meine Wartezeit bis zum Abfüllen des selbstgemachten Aioli enorm in die Länge, aber ich finde diese Art der Unterhaltung hochgradig amüsant. Auch die Saftmaschine klemmt wieder. Drei Mitarbeiter kümmern sich nacheinander darum. Der Mann vom Fischstand erklärt mit Händen und Füßen, dass immer mittwochs frischer Fisch geliefert wird, heute nur Thunfisch aus dem eigenen Meer. Die anderen Filetstücke empfiehlt er nicht, die sind eingeflogen. Wenngleich hier alle spanisch sprechen, wir dagegen nicht, läuft die Verständigung ausgesprochen- na, sagen wir mal- interessant. Bei unserer Rückkehr in unser Appartement repariert der hauseigene Techniker unseren Pool, den wir sofort und bis zum Sonnenuntergang nutzen. Zwischendurch lesen, liegen, sonnen. Perfekt. Kollege Robert-Louis Griesbach postet auf Facebook, dass er laut Söder nach dem Friseurbesuch endlich seine Würde wiederbekommen hat und jetzt nur noch die Arbeitserlaubnis benötige. Carsten antwortet, man könne bis dahin Haare verkaufen. Ja, schreibt Robert, alles was Geld bringt. Daraufhin bemerkt Carsten, dass sein Haupthaar wohl eher gerade zum Verhungern reiche. Ich muss sehr lachen, als ich diesen Chat lese. Eine Freundin, ich nenne vorsichtshalber nicht ihren Namen, war heute bei ihrer ersten Impfung und schickt mir einen herrlich emotionalen Wutausbruch: „Man muss trotz Termin ewig anstehen. Die Nonnemacher ist einfach zu blöd. Habe schon wieder in ihrem Büro angerufen und viele Bänke für die alten Leutchen verlangt. Es ist ne Zumutung. Diese besonders grünen und brandenburgischen Dilettanten.“ Auch wenn der Grund ihrer Wut berechtigt ist, muss ich lachen. Sehr sogar. Wir bleiben heute Abend zu Hause. Unser erstes gemeinsames Thunfischfilet, von Carsten zubereitet, schmeckt unglaublich gut. Perfekt. Zart wie Butter. Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Mein bisher einziges Thunfischfilet wurde mir vor vielen Jahren von einem Herrn zubereitet, den ich einige Wochen zuvor im Internet kennengelernt hatte. Er war unterhaltsam, das Thunfischfilet dagegen zäh wie eine Schuhsohle und staubtrocken. Es ist wie mit den Maßnahmen in der Pandemie: Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht.

2. März 2021

Beim ersten Blick in den Spiegel muss ich erkennen, dass ich mit einem Friseurtermin auf keinen Fall noch lange warten kann. Meine Haare sehen aus wie ein zerrupftes Wollpaket. Auf der Terrasse ist es im Gegensatz zu gestern Abend, als die Palmen im Wind rauschten, als zöge ein Unwetter auf, extrem still. Kein Lüftchen weht. Der Himmel ist milchig weiß. Erst als die Sonne hinter den Bergen hervorkommt und unsere Terrasse bestrahlt, wird der Himmel blau. Carsten schreibt einen Text für Facebook. Er ist mein Social-Media-Manager und kümmert sich um meine professionellen Seiten. „Ich bin müde“ könnte man diesen Text überschreiben, denn er zählt auf, wovon ich in dieser Pandemie müde bin. Carsten spricht mir so sehr aus dem Herzen, dass ich auf seine Frage, ob ich mit diesem Statement einverstanden sei, nicht sofort antworten kann. Der Kloß im Hals hindert mich. Dann antworte ich nur sachlich, äußere mich zu Stilfragen, sonst würde ich Rotz und Wasser heulen. Weil der Text so wahr und schön ist. Ich nicke abschließend, sage „Ist gut!“ und wische mir heimlich eine Träne hinter dem linken Brillenglas weg. Heute scheint die Sonne mit 25 Grad. Carsten äußert mit Blick auf die braungebrannten Nackedeis, die schon am Vormittag im Meer baden und am Strand herumliegen: „Heute phallustieren sich hier aber viele Menschen.“ Wir bekommen auch gleich Lust. Natürlich auf einen Strandtag. Vorher haben wir aber noch Dinge in Morro-Jable-City zu erledigen. Die Friseurin freut sich, uns wiederzusehen, wir vereinbaren für morgen einen Termin, genauso wie bei der Kosmetikerin Michaela in unserem Dezember-Hotel. Zu ihr gehe ich am Freitag. Wir trinken einen Kaffee an der Promenade, die Kellnerin vom Leo‘s winkt uns zu. Bei den wenigen Urlaubern der letzten Monate merkt man sich die Gesichter. Sogar unsere. Dann Einkauf im Supermarkt, zu Hause ein Avocado-Schnittchen zum Spätstück. Leider verzieht sich wenig später die Sonne. Versteckt sich vollständig hinter der immer dichter werdenden Wolkendecke. Es wird frisch und aus unserem Strandtag ein Arbeitstag. Auch gut. Besser am PC etwas schreiben, als die „durchsickernden“ Nachrichten zur morgigen Kanzler-Minister-Konferenz über Lockdown-Verlängerung und absurde Stufenöffnungspläne auf Facebook lesen. Diese Entscheidungen sind hier auf der Insel überhaupt nicht mehr nachzuvollziehen, wo mit Lockerungen im Alltag die Inzidenz genauso steigt und fällt wie in Deutschland. Unsere Dresdner Veranstalterin meldet sich und fragt, ob wir im Juli eine Außenveranstaltung machen würden, wenn wir Mitte April immer noch im Kultur-Lockdown sein sollten. Würden wir. Natürlich. Auch im strömenden Regen. Immer. Dann gucke ich doch aufs Smartphone. In dem amerikanischen Fernsehsender ABC warnten Mediziner vor den Folgen des Lockdowns. Ärzte und Krankenschwestern des John Muir Medical Center in Kalifornien sagten, sie hätten innerhalb von nur vier Wochen so viele Suizidversuche wie sonst in einem ganzen Jahr erlebt. Ich denke, es wird in Deutschland ähnlich sein. Von häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder, überfüllten psychiatrischen Kliniken, fehlenden Terminen bei Psychologen und zunehmenden Depressionen wird ja bereits berichtet. Da bin ich nun, zwar gezwungenermaßen, aber immerhin, seit Monaten aktiv an der Vermeidung von Todesfällen durch Corona beteiligt, gebe mein Bestes durch Nichtstun und mache mich mit diesem Verhalten an anderen Todesarten und seelischen Erkrankungen mitschuldig. Mein ganzes gutes Lockdown-Gefühl ist im Eimer. Hoffentlich hat das keine gesundheitlichen Folgen. Fritz‘ Mutter telefoniert laut auf der Nachbar-Terrasse über die Gestaltung von Wohnungen. Bilder hoch oder tief hängen. Fritz krakeelt dazu. Zu Recht. Leider auch zu ausdauernd. Mit dem Sonnenuntergang wird es still in der Anlage. Stefan und Mario vom CLACK-Theater waren heute in einem Beitrag im MDR zu sehen. Wir sehen den Beitrag auf Facebook. Sie erzählen von ihrer prekären Lage im monatelangen Lockdown, von ihren Mitarbeitern in Kurzarbeit. Mir bricht beim Anschauen des kurzen Films fast das Herz. Die beiden haben ihr hübsches Theater über so viele Jahre mit Liebe aufgebaut, immer wieder investiert, produzieren ständig neue Shows und ihre Gäste danken es ihnen. Die beiden Unternehmer und Entertainer haben es so viel schwerer als Carsten und ich, tragen so unendlich mehr Verantwortung für ihre Bühne und ihre Mitarbeiter in diesem unsäglichen Lockdown der Kultur. Sie müssen es schaffen. Für sich, ihre Zuschauer und uns Künstler.

3. März 2021

Es ist einfach herrlich! Ich genieße meinen ersten Kaffee weitab vom deutschen Wahnsinn. Hinter mir quält sich die Sonne aus dem Meer hervor, mit mäßigem Erfolg, weil die Wolken sie am Strahlen zu hindern versuchen, und vor mir bieten die Meldungen sämtlicher deutscher Qualitätsmedien einen humorvollen Einstieg in den neuen Tag. Die Tagesschau berichtet über Treppenhauskonzerte mit der lyrischen Formulierung: „Die Bläser:innen halten den maximalen Abstand ein, wenn die Kammerphilharmonie kommt.“ Und ich frage mich, wovon der Autor dieser Zeilen heute Nacht geträumt hat. Noch werden die Doppelpunkt-Bläser von meinem Rechtschreibprogramm als falsch markiert. Aber nicht mehr lange. Denn auch Audi setzt ab sofort auf Gendergerechtigkeit. Die Mitarbeiter*innen, gut, hier ist ein Sternchen und prompt kein markierter Fehler mehr, sollen in Zukunft in der internen und externen Kommunikation gendern. Wie weit will Audi denn noch gehen? Die Bevorzugung weiblicher Formen scheint hier bereits seit Firmengründung besonders stark ausgeprägt. Da wäre langsam eine Gegenströmung notwendig. Darum schlage ich vor: Ab sofort heißt es nicht mehr nur Au*di, sondern auch Au*der. Für uns ist heute ist Friseurtag. Wir besuchen unsere freundliche spanische Friseurin, die "Strähnchen" auf Deutsch sagen kann. Während sie mich in einen Aluhutträger verwandelt, schlendert Carsten durch die, im Gegensatz zur Strandpromenade, bereits belebte Innenstadt. Die Einheimischen trinken ihren ersten Kaffee im Freien. Alle paar Minuten steckt auch jemand seinen Kopf in die weit geöffnete Tür des Friseurladens, um Wichtigkeiten mit der Friseurin auszutauschen, vielleicht auch Tratsch. Ich verstehe leider nichts. Nach Fertigstellung meines Strähnchen-Aluhutes ist Carsten zurück. "Rate mal, wer gerade angerufen hat.", fragt er. Ich zucke mit den Schultern. Daraufhin berichtet Carsten freudestrahlend, dass er schon wieder meinen Besuch beim Riverboat absagen musste. Bei der letzten Anfrage waren wir noch in Quarantäne, jetzt sind wir auf der Insel. Ein bisschen schade, aber nicht schlimm schade. Irgendwann wird es in diesem Jahr mit mir und der Talkshow schon klappen. Jedenfalls freue ich mich über die Anfrage. Dann lese ich in der Einwirkzeit der Haarfarbe ein paar Nachrichten. Pauli hat ein spektakuläres neues Angebot bekommen. Sie ist aus hundert Bewerbern für eine Festanstellung als Pressesprecher des größten Design-Events Nordeuropas ausgewählt worden. Man, bin ich stolz. Mein Kind! Nein, ich werde nicht über Unwägbarkeiten nachdenken, die mit so einer neuen Aufgabe und neuen Menschen auf sie zukommt. Ich werde mich einfach nur freuen. Nicht ganz so spektakulär, aber beruhigend ist eine Nachricht meiner Impf-Freundin. Bei ihr sind nach der ersten Impfung mit dem in Verruf geratenen Impfstoff AstraZeneca nur am ersten Tag leichter Schwindel und Kopfschmerzen aufgetreten, danach war alles gut. Das beruhigt mich. Vielleicht ist dieser Impfstoff doch nicht so schlecht, wie es in den Medien kolportiert wird? Wie schrieb Herr Sonneborn, der Chef von „Die Partei“, kürzlich auf Facebook: „Angesichts der Unbestechlichkeit der CDU darf man wohl davon ausgehen, dass die gezielte Diskreditierung des AstraZeneca-Vakzins (1,78 €) & die Priorisierung von Pfizer (1. Angebot: 54 €) nichts mit dem jahrelangen Sponsoring von CDU-Parteitagen durch Pfizer zu tun hat. Smiley!“ Zum perfekten Dinner im Fernsehen mit perfekt sitzenden Frisuren gibt es bei uns zum Abendessen Rindergoulasch, Knoblauchkartöffelchen, dazu gemischten Salat mit der für mich bisher unbekannten Mischung aus Walnüssen, Feta und Rosinen. Alles fertig gekauft im Supermarkt an der Frischetheke. Als wir extrem satt, aber wegen des Sonnenuntergangs leicht fröstelnd auf dem Sofa lümmeln, sagt Carsten: "Ich drehe mal die Heizung auf!" und entzündet mit unserem neu gekauften Anzünder die zwei passend zum Mobiliar neu gekauften, lindgrünen Kerzen, die auf einem neuen Keramikschälchen stehen. Dann greife ich doch zur Kuscheldecke.

4. März 2021

Nachdem noch gestern Abend aus allen Rohren geschossen, der Regierung massives Versagen bei der Corona-Politik in allen Qualitätsmedien vorgeworfen wurde, sich durch Lockdown sterbende Branchen zu Wort meldeten, das „auslandsjournal“ zeigte, wie es zum Beispiel in Israel und Madrid beim Impfen und mit geöffneten Theatern funktioniert, steht heute Morgen auf der noch dunklen Terrasse unumstößlich genau das fest, was Lobo in einem Spiegelartikel gestern schrieb: unsere Regierung leidet an akut anhaltender Realitätsresistenz. Ein schönes Wort. Ich möchte hinzufügen: Sie leidet auch an extremer Unfähigkeit, Trägheit und besonders in der Person der Kanzlerin an pathologischem Starrsinn. Denn der eigentliche Grund für die gestern beschlossene Lockdown-Verlängerung in Deutschland und das Berufsverbot für weite Teile der Hotellerie und Gastronomie, der Veranstaltungsbranche, der Kultur und des Handels ist nicht die Sorge um die Gesundheit der Bürger, sondern sind die fehlenden Impfstoffe und Schnelltests. Herr Spahn hat von allem zu wenig bestellt. Aber sogar, wenn von allem genug vorhanden wäre, gibt es keine Strategie für eine bessere Organisation der Impfungen oder gar den Einsatz der Tests. Ganz nebenbei entwickelt ein deutscher Immunologe, Professor Stöckers, ein extrem gut wirkendes, schnell zu produzierendes Mittel zur Immunisierung gegen Covid-19 in seinem Labor und bekommt auf dem Weg zur Zulassung von den deutschen Behörden ein Strafverfahren übergeholfen. Und natürlich keine Zulassung. Weil die Inzidenz weiterhin zur heiligen Zahl der deutschen Pandemie erkoren bleibt, habe ich mir heute früh Folgendes vor Augen geführt: Wenn in einem Dorf mit 100 Einwohnern nur einer positiv getestet wird, hat dieses Dorf eine Inzidenz von 1000! Um eine Inzidenz von 50 erreichen zu können, müsste sich das Dorf bei einem Positiven auf 2000 Einwohner vermehren. Schnell. Am besten bis Ende März. Ich blinzle in die aufgehende Sonne und bin sehr froh, dass wir wenigstens bis zum 20. März auf Fuerteventura diesem Irrsinn entgehen. Wirklich los kommt man von bestimmten Forschungsthemen natürlich nicht. Heute Nacht musste ich feststellen, dass meine validen Daten von Januar, zum kausalen Zusammenhang von Knoblauchverzehr und Schwitzattacken in der Nacht, im März nicht mehr nachweisbar sind. Aber vielleicht gilt dieser Zusammenhang ja nur im Januar, im Februar nur bei jedem zweiten Schälchen Aioli und im März nur in Nächten ohne vorherigen Knoblauchverzehr. Das funktioniert wahrscheinlich genauso wie die angekündigten Öffnungsstrategien nach Inzidenzwert in deutschen Bundesländern. Mal so und mal so. Perfekt. Es gibt Gutes von der Brandenburger Impffront zu vermelden. Der Anruf meiner Freundin im Büro Nonnemacher war erfolgreich. Heute kann man in den PNN lesen: „Fehlende Sitzgelegenheiten für die wartenden Menschen vor dem Potsdamer Impfzentrum hatten für Verärgerung gesorgt. Nun wurden vor der Metropolishalle Bänke aufgestellt.“ Geht doch! Denke ich, schicke meiner Freundin den Artikel. Die Antwort kommt sofort.„Dann kann ich mich ja gleich wieder aufregen und der dunkelgrünen Dilettantin Heizkissen und Dixie abfordern. Anstatt es drinnen zu beschleunigen. Im Moment läuft es so: 1. Impfung und Vereinbarung 2. Termin. Das bedeutet: 20 min Telefonat, vier Mails und entsprechende Bestätigungen, ca. zehn Seiten Ausdruck vom eigenen Drucker und dann noch zwei Briefe per Post, auch wenn der erste Termin längst stattfand. Maximum an Bürokratie. Dümmer geht nimmer. Und dann noch das ganze Gequatsche. Drei Buchstaben führen zum Erfolg: TUN! Davon haben diese Ämter noch nix gehört.“ Genau wegen dieser unverstellten Kritik mag ich meine Freundin so sehr. Ohne Rücksicht auf Verluste benennt sie die Dinge beim Namen. Herrlich. Carsten und ich unternehmen eine Wanderung. Am Strand. Heute ist Ebbe. Noch nie haben wir den Strand in dieser Breite gesehen. Das Wasser hat sich so weit zurückgezogen, dass wir sogar am Aldiana-Felsen vorbei zum nächsten Strand laufen können. Dort liegen, sonst vom Wasser überspült, riesige abgesplitterte Felsteile im Sand. Streifenhörnchen und Tauben laufen auf uns zu und betteln. Am Ufer hinter dem Felsen ist genauso wenig los wie davor. Sogar das große IBERIA-Hotel hat kürzlich dicht gemacht. Ebenso die Strandbar davor. Kein Kaffee während unserer Zwischenrast mit Blick aufs Meer wie sonst immer. Während unseres Spaziergangs begegnen uns in die eine Richtung wenige, zurück mehr Urlauber. Manche nackt, manche tragen sogar Jacken, manche schlendern, einige joggen. "Links hinter uns wieder so ein extrem Braungebrannter.", nuschelt Carsten mir konspirativ zu. Ich muss lachen. Carsten hat seine Brille nicht auf. "Der ist von Natur aus so.", sage ich. Später läuft hinter uns ein schlanker Glatzkopf. Diagonal über seinem Körper trägt er ein schickes, smartphonegroßes Täschchen. Mehr nicht. Er ist nackt. An seinem Penis spiegelt sich die Sonne. Wir setzen uns in den Sand, um ihn an uns vorbeilaufen zu lassen und der Sache auf den Grund zu gehen. Tatsächlich hat er sich in seinen Penis einen Schlüsselring stechen lassen. Nicht schön, aber groß und scheinbar schwer. Man nennt diesen Schmuck Prinz Albert. "Den hat er sich durch die Vorhaut stechen lassen?", fragt Carsten mit schreckgeweiteten Augen. Ich muss ihn enttäuschen. "Nein, durch die Eichel!" Als wir weiter gehen, kommt uns ein Mann entgegen. "Das ist Prinz Albert.", behauptet Carsten. "Das ist er nicht.“, widerspreche ich. Warum sollte er auch schon wieder zurückkommen? "Doch, ich habe ihn am Gang erkannt, du wirst ihn gleich am Penis erkennen.", lacht Carsten und ich muss zugeben, er hat recht. Heute ist ein sehr warmer Tag. Die Wolken, die ihn abkühlen könnten, werden von den Bergen aufgehalten. Von Sonne, Wind und elf Kilometern Fußmarsch sind wir geschafft.

5. März 2021

Regentropfen am Morgen. Wir trinken unseren Kaffee dicht an der Terrassentür sitzend, vom Sonnenschirm geschützt. Die Zeit des Sonnenaufgangs ist fast die schönste des Tages. Als wären wir allein auf der Welt. Die Stille wird nur ab und zu vom Kreischen der Möwen unterbrochen. Auch wir sprechen nicht viel, werden langsam wach. Genießen. Meine erste Arbeitsaktion ist die Überweisung der Steuervorauszahlung für das erste Quartal. Meine Exfreundin hatte gestern unsere Post in Potsdam aus dem Kasten geholt und für uns abfotografiert. Zum Glück, denn bis 10. März muss die Steuer auf dem Konto sein. Eigentlich absurd. Die Branche, die seit Monaten mit einem Berufsverbot belegt ist, muss eine Einkommenssteuervorauszahlung auf die erhaltene Förderung leisten. Aber ich rege mich nicht auf. Wozu? Die Bürokratie-, Lockdown-, Impf- und Testprobleme Deutschlands scheinen hier nicht existent. Um 10 Uhr bin ich mit Michaela in unserem Dezember-Hotel zur Kosmetik verabredet. Sie arbeitet schnell und intensiv an meinem Gesicht, zupft die Augenbrauen, bearbeitet mich mit Aloe Vera. Dabei reden wir genau wie beim letzten Mal über alles und nichts. Seit ich vor sieben Wochen bei ihr war, gibt es nicht viel Neues. Das Corona-Ampelsystem in Spanien funktioniert, man ärgert sich nach wie vor über die Maßnahmen der Deutschen, die das Reisen so schwer machen, dass die Touristen ausbleiben. Trotzdem füllen sich die Häuser langsam. Nicht nur in unserer Anlage, die seit langer Zeit mal wieder zu 70 % ausgelastet ist, auch im Dezember-Hotel sind statt 90 diesmal 150 Urlauber eingecheckt. Das Personal freut sich riesig. Mit der deutschen Ärztin Karola, die sich hier auf der Insel um die ärmsten und abgehängten Familien kümmert, scheint Michaela im engen Kontakt. Sie erzählt, dass ein bereits im vergangenen Sommer aufgenommener Fernsehbeitrag jetzt endlich auf RTL ausgestrahlt wurde. Daraufhin hätten so viele Fernsehzuschauer gespendet und Kindersachen geschickt, dass sich der Verein jetzt statt um 30 um 40 Familien kümmern und sie beim Einkaufen unterstützen kann. Der Tag ist wunderbar. Mal scheint die Sonne, mal schiebt sich eine Wolke davor. Wir lesen, schreiben, gehen für einen kleinen Mittags-Imbiss an die Promenade, liegen in der Sonne, genießen die Ruhe und das Rauschen der Palmen, bis die Fritz-Familie rechts von uns auf der Bildfläche erscheint. Die Mutter telefoniert laut, wiederholt ständig die Temperatur des Whirlpools, Fritz quengelt ununterbrochen. Auch als klar ist, dass man jetzt zu dritt den Pool besteigt. Fritz quengelt beim Ausziehen, beim Reinklettern mit Schwimmflügeln, beim Sprudler-Anstellen, beim gemeinsamen Sitzen im Pool mit Keksen und Limo. Das Kind quengelt. Dazu hat Papa ein schlechtes Kofferradio angestellt. Jedenfalls klingt es so. Mit schlechter Musik. Carsten, der auf der Terrasse arbeitet, ist besonders genervt. Zumal die Stimme von Fritz an sein spezielles Lieblingskind auf unserem Hinterhof erinnert. Dann wird „Häschen hüpf!“ im Pool gespielt und Fritz wiederholt den Satz so oft, dass ich schon wieder an die chinesische Wasserfolter denken muss. Morgen reist diese Familie ab. Mal sehen, was uns dann erwartet. Abends vor dem Fernseher muss ich ganz laut lachen. Nicht böswillig, eher liebevoll, aber aus ganzem Herzen. Grund dafür ist der Beitrag von Jan Hofer bei „Let´s Dance“. Es ist brüllkomisch, ihn als Tanzbär über die Fläche hüpfen zu sehen. Dabei lächelt er freundlich, verhopst sich hier und da. Alles in allem sehr sympathisch. Man möchte ihn knuddeln. Ich schreibe über Jans Auftritt in einer App an meinen Fernsehfreund, der den ehemaligen Tagesschau-Chefsprecher genauso mag wie ich. Er antwortet: „Don't Go Breaking My Heart“. Warum nur? Mein Herz öffnet Jan mit seinen Tanzkünsten.

6. März 2021

Sonnenaufgang auf der Terrasse. Ab und zu tropft es vom Himmel, die Sonne strahlt dazu und die Palmen rauschen wütend im Wind. Die Schlafzimmertür knallt geräuschvoll zu. Dieses Wetter beunruhigt mich nicht so sehr, wie die plötzlichen Änderungen auf Facebook. Die Geburtstage meiner Freunde werden nicht mehr angezeigt. Ich verplempere die Zeit des ersten Kaffees mit der Suche nach diesen für mich wichtigen Informationen. Nichts. Warum müssen eigentlich ständig irgendwelche Apps und Computerprogramme bis zur Unkenntlichkeit verändert werden, ohne dass der Nutzer eine Verbesserung bemerkt? Dann gibt es eben vorerst keine Glückwünsche mehr. Vielleicht hilft das ja gegen meine von mütterlicher Seite genetisch übertragene Glückwunschsucht. Apropos. Ich rufe Mama an. Sobald wir nicht mehr über die Krankheiten und Arztbesuche meiner Eltern reden, wird unser Gespräch beschwingter. Meine Cousine ist Oma geworden, in Erfurt scheint die Sonne, Mama hat wieder wunderbare Bücher gelesen, keins unter 600 Seiten. Sie bedauert, dass jetzt die Buchläden geöffnet werden, es aber keine Sitzplätze vor Ort geben wird. Das ist traurig für ältere Mitbürger, die nicht so lange stehen können. Während ich telefoniere, wird der Himmel über Fuerteventura immer blauer, der Wind verzieht sich, die Sonne strahlt. Als wir frühstücken, wird die Nachbarterrasse gründlich gereinigt, der Pool frisch befüllt. Die Fritz-Familie ist schon auf dem Weg zum Flughafen, denn Samstag ist Ab- und Anreisetag. Unsere anderen Nachbarn können nicht auschecken, die Rezeption ist nicht besetzt. Dann übernimmt eine der Putzfrauen die Auszahlung der Kaution für die Strandhandtücher. Beim Zähneputzen vor dem Spiegel stelle ich erschrocken fest, dass meine tote Katze nicht bereit ist, wieder zu schrumpfen. Eher im Gegenteil. Darum ziehe ich meine weiteste Hose an. Dann bewegen wir uns Richtung „neues“ Morro Jable. Bewegung ist wichtig, auch wenn das Ziel der Bewegung ein Restaurant ist. Vor zwei Tagen hatten wir im Internet ein Gourmet-Restaurant gefunden, haben die beeindruckende Internetseite besucht, die bewundernswert angerichteten Speisen auf den Fotos bestaunt und per E-Mail um einen Termin gebeten. Jetzt wollen wir uns anschauen, was dieses Restaurant für einen Eindruck macht, wenn man davorsteht. Es befindet sich auf der anderen Seite der Hauptverkehrsstraße unseres Ortes, in der zweiten Reihe, zwischen Hotel- und Appartementanlagen, mitten in einem offenen dreigeschossigen Shopping-Center. Hier, wo normalerweise hunderte Urlauber in Cafés und Bars sitzen, kleinen Geschäften einkaufen, sich Fahrräder ausleihen oder einfach nur bummeln, herrscht gähnende Leere. Hier und da stehen noch zusammengeschobene Tische und Stühle im Außenbereich, trotzdem kann man sich nicht vorstellen, dass in diesem Center überhaupt irgendein Laden überlebt. Alles zu, verriegelt und verrammelt. „Unser“ Restaurant allerdings auch. Es liegt sehr versteckt in der obersten Etage. Von außen kann man weder erkennen, ob es überhaupt geöffnet ist, noch, dass hier große kulinarische Highlights zu erwarten sind. Wir laufen weiter durch die Haupteinkaufsstraße, fast allein. Auch, wenn unsere Anlage und das Dezemberhotel viel besser ausgelastet sind als im Februar, hat das noch nichts zu bedeuten, wenn man weiß, wie viele Hotels mittlerweile schließen mussten. Unser Strand ist ebenfalls leerer als an all‘ den anderen Tagen, wahrscheinlich wegen des Urlauberwechsels. Aber die Berliner Fahne weht im Wind und ihre beiden Besitzer sitzen nackt daneben. Obwohl wir sie schon so oft gesehen haben, würden wir sie nicht erkennen, kämen sie uns auf der Straße entgegen. Es sei denn, sie wären nackt und schwenkten die Fahne vor sich her. Wir lümmeln auf der Terrasse, ein Haustechniker kommt vorbei. Carsten traut sich, ihn anzusprechen, ob er unser Poolwasser ein wenig wärmer einstellen könnte. Er macht es und uns damit glücklich. Zwei Terrassen links neben uns ziehen drei junge Leute aus Deutschland ein, zwei Frauen und ein Mann, die sofort ihren Whirlpool in Beschlag nehmen. Auf der dritten Terrasse rechts von uns gackern drei Frauen, lassen Sektkorken knallen, Bob Marley singt. Wir verschwinden zum Abendessen in die Stadt. Was für ein Abend! Auf dem Hinweg ist die Strandpromenade voll. Viele junge Leute sitzen in den Restaurants oder auf der Strandmauer mit einem Drink in der Hand. Die Wellen donnern über den Sand. Die Innenstadt dagegen ist leer. Auch unser Restaurant ist nur spärlich besetzt. Wir hatten Plätze im Pallizco bestellt, einem Restaurant mitten in Morro Jable. Vom äußeren Eindruck her erinnert es eher an einen Imbiss. Um die Gitter an den Fenstern zu kaschieren, hängen Plasteblumen daran herunter. Kühltruhen an der Wand, darüber seltsame Ölgemälde ohne Rahmen, der Boden gefliest, die Wände dunkelblau, das Mobiliar weiß. Die Kellnerin spricht nur Spanisch und wir verstehen auch nur Spanisch. Wissen nicht, ob sie uns versteht, und setzen uns einfach. Dann lässt sie uns ein wenig warten, Carsten guckt bereits besorgt. Wir hatten so gute Bewertungen im Internet gelesen und jetzt das. Dann bringt sie uns Desinfektionsmittel und die Karten, zeigt auf ihre Uhr, spricht von 20 Minuten und Chef. Vom Nachbartisch kommt Hilfe durch Übersetzung. Essen gibt es erst, wenn der Chef in 20 Minuten kommt. Er kauft noch ein. Wir bestellen auf Anraten der Nachbarn einen Kaffee. Mit gezuckerter Kondensmilch, Likör, Milchschaum und Zimt. Geschichtet. Und sehr gut. Das heitert auf, obwohl alle Gäste außer uns den Heimweg antreten. Aber dann! Dann geht alles sehr schnell. Wir bestellen von der Tapaskarte. Lachs mit Birne und Mango, sauer eingelegte Garnelen mit Kaviar- genannt Ceviche, Kroketten mit Serrano und Brot mit Knoblauch. Wir bekommen das Beste Aioli aller Zeiten mit frisch aufgebackenen Brötchen, der Lachs mit aufgestellten Birnenscheiben ist auf einer weißen Keramikplatte drapiert, das Ceviche in kleine essbare Schälchen gefüllt. Alles schmeckt so gut, dass wir nachbestellen müssen. Wir ordern noch Garnelen in Knoblauch und Käse aus Fuerte. Das sind Ziegenkäsetaler mit Erdbeermus obendrauf und irgendetwas Knusprigem. Wir sind so begeistert, dass wir nicht nur die dreierlei Schokoladen zum Dessert, sondern auch gleich für den kommenden Donnerstag einen Tisch bestellen. Die Kellnerin nennt uns mittlerweile Familie Meissner und macht noch ein Foto von uns für die Facebook-Seite des Restaurants. Das Restaurant hat sich mittlerweile gefüllt, am Nachbartisch sitzt ein kleiner Junge auf einem Kinderstuhl und schäkert mit Carsten. Zum Abschluss gibt es noch einen Likör. Meine tote Katze drückt auf dem Nachhauseweg gegen den hervorstehenden Magen. Es ist 21 Uhr und die Restaurants der Innenstadt sind voll. Überall sitzen Menschen, essen, trinken, reden. Ich kann es kaum glauben. Die kleine Restaurantgasse wirkt wie ein Film aus längst vergangenen Zeiten. Wir sind glücklich. Zu Hause machen wir nur den Fernseher an und sprechen wenig, weil wir satt sind und verdauungsmüde.

7. März 2021

Komisches Wetter heute. Der Himmel milchig, die Palmen laut. Immer wieder böiger Wind. Aber kein Regen. Carsten und ich schweigen in den Sonnenaufgang. Die Inzidenz in Deutschland steigt leicht. Liegt knapp unter 70 und lässt die Hoffnung auf Öffnungen dank Merkels undurchschaubarer Lockerungs-Strategie in weite Ferne schwinden. Obwohl heute unter 100 „an und mit“ Verstorbene gemeldet werden, die Intensivstationen in Deutschland nur 10 % Covid-Patienten betreuen und sogar im gebeutelten Thüringen 19 % der Betten leer sind, gibt es darüber keine Meldungen. In dem Zusammenhang redeten Carsten und ich gestern über unsere Kindheit. Wie schön es war, krank zu sein. Es ist tatsächlich so, dass ich meine ständigen Angina-Infektionen in meiner sehr frühen Kindheit immer sehr genossen habe. Trotz Fieber, Halsschmerzen und ekliger Medizin. Wenn ich krank war, bekam ich mein Lieblingsessen von Mama. Süßsaure Eier und als Kompott die von Oma eingekochten Birnen aus dem Garten. Mit Nelken. Mama brachte mir alles, was ich mir wünschte, ans Bett, auch die Micky-Maus-Hefte ihrer Kindheit, von denen Papa nicht wollte, dass ich sie las.

---ENDE DER LESEPROBE---