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Um den Kinderwunsch wahr werden zu lassen, braucht es zwei. Was aber, wenn sich ein Dritter einmischt? Genau das macht Tatjana, ist sie sich doch sicher, dass es höchste Zeit ist, Großmutter zu werden. Nur verspürt Tochter Pauli keineswegs einen Baby-Wunsch und weist weit von sich, den ersehnten Enkel in die Welt zu setzen. Da muss sich doch was machen lassen, denkt sich Tatjana, die schon ganz andere Probleme wie Midlife-Crisis und Partnersuche in den Griff bekommen hat. Die Oma in spe spendiert eine romantische Kreuzfahrt. Im harmonischen Familienurlaub werden bei dem jungen Paar die Hormone Fahrt aufnehmen, wird es stürmischen Sex auf wogendem Meer geben! So die Idee. Doch erst einmal macht das wogende Meer den Schwiegersohn nur seekrank. Dann kommen bislang ungeahnte Mutter-Tochter-Konflikte auf den Tisch des Bordrestaurants. Und schließlich macht durch alle weiteren Pläne einen Strich, dass Tatjana schmerzgeplagt ins Schiffshospital eingeliefert und schließlich in ein Inselkrankenhaus ausgeflogen werden muss. Während sie laut eigener Diagnose dem Tod ins Auge schaut, scheint sich die Sorge der Familie nur darum zu drehen, dass das übliche Comedy-Programm unterm Weihnachtsbaum ausfallen wird. Ein turbulenter, zum Schreien komischer Familienroman, Meissner-Kost vom Feinsten.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.
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© 2018 Tatjana Meissner, Potsdam, www.tatjana-meissner.de
Büro
Art-things, Jörg Grimmer
Lennéstraße 43 a, 14469 Potsdam
Umschlaggestaltung: buchgut, Berlin
Foto von Robert Lehmann, Lichtbilder Berlin
Die Bücher von Tatjana Meissner erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
www.eulenspiegel.com
Über das Buch
Die immer aktive, zupackende Tatjana soll in einer Krise sein? Das Leere-Nest-Syndrom, diagnostiziert die besorgte Schwester: die Tochter aus dem Haus, die geliebte Katze gestorben, mehr Muttergefühle, als der Lebensgefährte verkraften kann, und kein Enkel in Sicht. Da weiß Tatjana, was passieren muss – und nimmt, wie stets, die Dinge in die Hand. Warum das auf ganzer Linie schiefgeht, darüber kann sie nachdenken, als der Familienurlaub für sie im Schiffshospital endet. Wie alles doch noch eine glückliche Wendung nimmt, das erzählt die Autorin mit viel Humor in einer turbulenten Geschichte.
Über die Autorin
Tatjana Meissner wurde in Tangermünde geboren und wuchs in Erfurt auf. Mit einem BWL-Abschluss in der Tasche arbeitete sie als Tänzerin und Choreografin und moderierte über 800 Fernsehsendungen. Seit 1993 steht sie deutschlandweit auf Kabarett- und Kleinkunstbühnen und tourt mit ihren Solo-Comedy-Shows. 2008 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, finde-mich-sofort.de, es folgten Alles außer Sex – Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein (2010), Herr Möslein ist tot (2012) und Du willst es doch auch (2016). Tatjana Meissner lebt in Potsdam.
Für Oma
Ein Großteil der handelnden Person und Geschichten ist von meinem eigenen Leben inspiriert, einige der Geschehnisse sowie ein Teil der Protagonisten und deren Handlungen sind jedoch fiktional.
Ich hätte meiner Tochter das Mini-Hängebauchschwein nicht verbieten dürfen!
Pauli hatte mir das Foto eines sogenannten Mini-Pigs gezeigt und dabei euphorisch gejubelt: »Guck mal, Mama, das ist ein Teacup-Pig, ist das nicht zuckersüß?«
Ich schaute in zwei schwarze Knopfaugen eines mir seine kugelrunde Schnauze entgegenreckenden rosa Schweinchens und hätte am liebsten »Ist das süüüüüüß!« zurückgequietscht, erwiderte aber sofort mit leicht erhobener Stimme: »Egal wie süß es ist, so ein Tier braucht Zeit. Überleg doch mal, wie dich das in deinem Leben einschränken würde. Du brauchst immer jemanden, der sich darum kümmert, wenn du etwas unternehmen möchtest!«
»Och, Mami, sei kein Spielverderber! Bitte!« Paulis braune Augen flehten mich an. Meine Augen rollten Richtung Küchendecke, über den leicht eingestaubten Glastisch, vor dem ich saß, weiter hinunter zum Sofa, in dessen rotem Jacquard-Bezug sich unzählige Katzenhaare im Kampf gegen meinen Staubsauger verkrallt hatten. Dann sah ich mein Kind an, atmete hörbar ein, wie ich es sonst nur während einer Yoga-Übung mache, und entgegnete mit mütterlicher Strenge: »Pauli, glaub mir, du wirst das ›ach so süße‹ Mini-Pig bald hassen, wenn es stinkt und quiekt, dir deine Zeit raubt und ständig deine Aufmerksamkeit will!«
Mein Kind fixierte mich mit einem Blick, in dem Verzweiflung, Unsicherheit und Wohlerzogenheit nervös wechselten, dann verzog sie ihr Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, und ihr spitzer Mund quengelte: »Mamaaa!«
Damit Pauli die Unsicherheit nicht bemerkte, die mich bei diesem flehenden Gesichtsausdruck regelmäßig überkommt, schaute ich durch die Balkontür auf den Innenhof unserer Wohnanlage, wo sich auch heute wieder etliche Nachbarskinder tummelten. Seit man inmitten unseres Häuserkarrees einen Spielplatz angelegt hatte, wusste ich, wozu falsche Erziehung führt. Wie oft schon hatte ich mich über die Eltern der Schreihälse aufgeregt, die nur wenige Meter von mir entfernt Krawall machten, als würde ihnen ein Bein amputiert. Manchmal, wenn meine Schwester Alexandra zu Besuch kam, tauschte ich mich mit ihr bei einer Tasse Kaffee und mit wütendem Blick auf die kleinen Mistwänster über die mangelnden pädagogischen Fähigkeiten heutiger Eltern aus.
Wenn Marie-Johanna auf ihren dicken Windelhintern fiel und loskreischte, als hätte ihr der Weihnachtsmann mit der Rute gedroht, zeterte ich von meiner hinter der Balkonbrüstung sicher stehenden Gartenbank Richtung Hof: »Früher, da gab’s sowas nicht. Mit vier Jahren noch einkacken!«, und fügte für meine Schwester hinzu: »Da wurde die Baumwollwindel einfach weggelassen, bis sich der kleine Scheißer so ekelte, dass er von allein auf den Topf ging!«
Alexandra bestätigte mich: »Diese Eltern diskutieren heutzutage jedes Problem und jede Entscheidung basisdemokratisch mit Anderthalbjährigen aus. Das verstehen die natürlich nicht und kacken weiter.«
Worauf ich dann bemerkte: »Die hören doch gar nicht, was die Mutter zu ihnen sagt, so laut sind die. Früher wurde man kurz in der Umkleidekabine des Schwimmbads eingesperrt, wenn man so brüllte. Bis Ruhe war. So einfach war das.«
So oder so ähnlich verliefen unsere Gespräche bei jedem Besuch meiner Schwester. Wir kennen uns einfach aus.
Darum versuchte ich jetzt, beim Anblick von Paulis Zitronengesicht oder, wie meine Mutter sagen würde: Blechbüchsengesicht, pädagogisch wertvoll zu reagieren, indem ich vorübergehend so tat, als nähme ich ihren Hängebauchschweinwunsch ernst. Mit sanfter Eindringlichkeit sagte ich: »Bitte Paula, denk doch mal nach«, und hoffte, meiner Tochter mit der Verwendung ihres normalen Vornamens die Wichtigkeit des gleich folgenden Textes zu signalisieren. Das machte meine Mama bei mir genauso. In den meisten Fällen belächelte ich ihre in meinen Augen veralteten Lebenseinstellungen zwar, aber: Egal wie alt ich wurde, wenn meine Mama mich nicht mit meinem Spitznamen »Tati« ansprach, sondern ihren Ausführungen »Tatjana« voranstellte, räumte ich sofort mein Zimmer auf oder dachte zumindest über ihre Betrachtungsweise nach. Dieser psychologische Trick würde auch bei Pauli funktionieren. Ich lächelte verständnisvoll und erklärte: »Paula, so ein Schwein kann bis zu siebzehn Jahre alt werden, das lebt ewig! Wenn du unbedingt ein Haustier haben möchtest, probier es doch mit einem Meerschwein. Das lebt überschaubar lange!«
»Mama, ich möchte nicht mehr darüber reden!«, flüsterte Pauli mit plötzlich tränenerstickter Stimme.
»Aber ich will darüber reden, Paula! Weil es mich aufregt«, überhörte ich den weinerlichen Ton. Leider sprudelten jetzt ungefragt und zwanghaft die im Lauf meines langen Lebens gefestigten Ansichten aus mir heraus. Ich konnte nicht anders! Ich weiß nicht, ob das ein typisch weibliches oder eher ein mütterliches Phänomen ist. Oder beides. Egal. Ich redete mich in Rage.
»Ich möchte nicht, dass du dir dein Leben versaust. Und für das Tier ist es auch nicht schön, wenn es vernachlässigt wird! Ich sage es noch mal: kein Schwein! Das ist bekloppt!«
»Mamaaaa!« Pauli betonte beide Silben und zog die zweite sehr lang, wie immer, wenn sie ihren Willen durchzusetzen versuchte. Die Masche kannte ich schon! Das erste Tier, das meine Tochter mit Tränen in den Augen, Augenaufschlägen und Küssen bei mir erbettelt hatte, war Wellensittich Willi, der alle Buchrücken in den Regalen unserer Wohnung abknabberte, hinter jeden Schrank kackte und mich ab Sonnenaufgang mit lautem Trillern zur Weißglut brachte. Zum Glück lebte er nicht lange. Aber kaum war Willi von der Stange gefallen, ging die Bettelei meines Kindes weiter. Ich wurde zu ihrer Freundin geschleppt, deren Familienhauskatze gerade gejungt hatte, und ließ mich von Paulis Tränen und dem vor mir sitzenden mickrigen, rotweißen Wollknäuel mit Triefaugen und Rotznase erweichen. Trotz meines unruhigen und für Katzen nicht gerade zuträglichen Lebens als Kabarettistin zog Chica bei uns ein.
»Du schaffst es ja nicht mal, dich anständig um deine Katze zu kümmern!«, meckerte ich darum jetzt folgerichtig. »Ich bin diejenige, die das Tier füttert, pflegt, zum Tierarzt bringt und das Katzenklo säubert! Ich! Nicht du! Ich verbiete dir, so ein blödes Hängebauchschwein anzuschaffen! Ende der Dis…!«
»Mama!«, unterbrach Pauli lautstark und ohne eine einzige Zitronenfalte im Gesicht meine Schimpftirade, »du kannst mir gar nichts verbieten! Ich bin schon zweiunddreißig!«
Ich ließ mich weder von diesem Einwand und der mir durchaus bewussten Tatsache irritieren, dass mein Kind knapp tausend Kilometer von mir entfernt in Amsterdam ihr eigenes Leben lebte, noch von Paulis bleistiftstrichschmalem Mund und ihren mich via Laptop-Bildschirm wütend anfunkelnden Augen. Ich war beleidigt. Wie konnte eine intelligente, junge Frau, die ganz genau wusste, wie sehr ich gerade wegen ihrer Katze Chica litt, so eiskalt über ein neues Haustier nachdenken? Ich war so enttäuscht, dass ich etwas sagte, von dem ich vermutete, dass es meine Tochter verletzen würde.
»Genau, Pauli! Du bist sogar bald dreiunddreißig! In deinem Alter haben normale Frauen Kinder und keine Hängebauchschweine!«
Mein Kind schaute mich verächtlich an und spottete: »Super Argumentationskette, Mama. Du meinst also, ein Kind lebt nicht länger als ein Meerschweinchen und würde nicht kacken, quieken und mir die Zeit rauben?«
Ich schluckte. In dem kurzen Moment, den es mir nach dieser wirklich nur schwer zu widerlegenden Ansage die Sprache verschlug, legte Pauli ihre Hände ganz langsam und ohne dabei eine Miene zu verziehen auf die Tastatur ihres Laptops. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Bei meiner eigenen Tochter versagten meine pädagogischen Fähigkeiten leider total und führten, wie ich bald schmerzvoll erfahren sollte, in eine Katastrophe.
G enau neun Monate später liege ich auf dem Rücken in einem der wenigen Betten des Schiffshospitals der MS Sangria. Verwundert blicke ich auf meinen zwar altersgerecht schwabbeligen, aber sonst flachen Bauch, der seit heute früh unnatürlich aufgebläht ist und wie ein Mahnmal vor mir liegt. Nicht nur optisch, sondern auch durch Grummeln, Piksen und wellenartig wiederkehrendes Bauchstechen verdeutlicht er mir den kausalen Zusammenhang zwischen unfairem pädagogischen Verhalten und Hängebauchschweinen.
Statt an diesem warmen Dezembertag auf dem Sonnendeck des Kreuzfahrtschiffes, das uns gerade über den Atlantik von Lanzarote nach Madeira befördert, im Whirlpool zu planschen oder in der Shoppingmall zu flanieren, befinde ich mich in einem Untersuchungszimmer des Schiffshospitals. Es ist klein, aber wie alle Räume des MS Sangria praktisch eingerichtet. Die Liege, auf die ich mich, mit gewünscht freiem Oberkörper, wegen ihrer Höhe nur unter Schmerzen rollen konnte, dominiert den Raum. Rechts neben mir steht ein Ultraschallgerät vor einer mit Dosen, Flaschen und Verbandsmaterial gefüllten Glasvitrine, links von mir hantiert eine Krankenschwester an einem langen Tisch mit Spritzen und Ampullen. Ich blicke auf meine nackte Brust, die vor meinem strammen Bauch ziemlich klein wirkt, und frage mich, ob die Emsigkeit, mit der die burschikos wirkende Schwester das mir eben entnommene Blut in einem Glasröhrchen schüttelt, in ihrer Hoffnung begründet sein könnte, neben dem Kreuzfahrtallerlei von Seekrankheit und Verletzungen durch heftigen Urlaubsverkehr endlich mal einen anspruchsvollen Fall auf der Liege zu haben, oder ob das Schicksal gerade auf grausame Weise in meine Familienplanung einzugreifen versucht. Die ganze Situation erscheint mir völlig irreal. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, ernsthaft krank zu sein.
In meinem bisherigen Leben war ein den Blick auf die eigenen Füße verhindernder Waschtrommelbauch immer Zeichen größter Gesundheit. Während meiner Schwangerschaft mit Pauli genauso wie vor ungefähr fünfzig Jahren, als mir meine Großmutter ihre große Liebe in erster Linie mit häufigem und gutem Essen angedeihen ließ. Auch, damit ich im Krankheitsfall etwas zuzusetzen hätte.
Wenn der Dorfkonsum nichts Ordentliches zu bieten hatte, wurde mein Opa – natürlich zu Fuß – in einen kilometerweit entfernten Ort geschickt, um mir KINA-Babymilch oder Milasan-Babybrei zu besorgen. Opa durfte sich in keinem Fall weigern, denn jeder Widerspruch hätte dazu geführt, dass Oma laut fluchen und ihre böseste Drohgebärde gegen ihn einsetzen würde. Mit wildem schwarzen Haar, welches bei großmütterlichem Zorn noch weiter vom Kopf abzustehen schien, und mit weit aufgerissenen, hellblauen Augen, die furchtbar böse funkeln konnten, drohte sie jedem, der mir Böses antun oder gar das Essen verweigern wollte, mit der Faust und schimpfte wie ein Rohrspatz.
Als Ausdruck meiner Liebe zu Oma aß ich immer artig alles auf, was sie über Tage und Wochen aus eigener Ernte oder durch Beziehungen zu Mitarbeitern des Dorfkonsums an Leckereien und kulinarischen Raritäten für mich erstanden hatte. Eine besondere Freude konnte ich Oma bereiten, wenn ich auf einmal vier Tomatenstullen mit Butter und Mayonnaise oder an Festtagen die eigens beim Bäcker aus Schraplau erstandene Sahnetorte zur Hälfte allein aufaß. Ich entwickelte einen nach Omas Vorstellungen gesunden Appetit und wuchs heran, vor allem nach vorn, am Po und an den Seiten. Ich war ein wirklich fettes Kind mit großen braunen Augen im mopsigen Gesicht und hasste enge Gummibänder in meinen für einen eventuellen Krankenhausaufenthalt stets sauberen Schlüpfern.
Aber ich war in meinen dickbäuchigen Lebensphasen nie ernsthaft krank. Bis heute nicht.
B eim Frühstück mit Carsten hatte ich meine in der Nacht plötzlich aufgekommenen Bauchschmerzen noch ignorieren können.
Wir hatten im Frühstücksrestaurant einen Fensterplatz ergattert und zwar gemütlich, aber schweigend zusammen gegessen. Ich freute mich über den wolkenlosen Himmel und die sich im Atlantik spiegelnde Sonne. Weil ich meinen Körper hasse, wenn der Magen-Darm-Trakt Sperenzien macht, aß ich aus Protest Setzei mit Frühstücksspeck und eine handtellergroße Scheibe Brot. Gerade biss ich in mein reichlich mit Butter, Wurst und Tomaten belegtes Vollkornschnittchen, als ein ungefähr zehnjähriger Bengel, den die »Apotheken Umschau« sofort zur visuellen Verdeutlichung des Problems der zunehmenden »Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland« engagiert hätte, seinen großen, mit einer Eierkuchenpyramide gefüllten Frühstücksteller an unseren Nachbartisch schleppte.
Kaum war das Kind auf seinen Stuhl geplumpst, stopfte es mit fettigen Fingern einen Eierkuchen nach dem anderen in seinen Mund. Pummelchen saß zwischen seinen ihn rechts und links am runden Tisch flankierenden und riesige Portionen Rührei und Croissants mampfenden Eltern. Beide bekleidet und mit überdimensional großen Schmuckstücken behängt, als würden sie gleich den roten Teppich zur Verleihung der Goldenen Henne betreten. Die strassbesetzten Kreolen der Mutter schaukelten im gleichmäßigen Rhythmus ihrer Kaubewegungen, und das Uhrenarmband des Vaters schnitt in seinen Arm, während er mit ruhiger Hand ein Nürnberger Würstchen nach dem anderen zerteilte.
Sie ignorierten ihren Sprössling und seinen unnatürlichen Appetit genauso wie Carsten mich, der kaffeetrinkend neben mir saß und in der Tageszeitung der MS Sangria blätterte. Sogar als ich mich vor Empörung über das Essverhalten am Nachbartisch verschluckte und in die Serviette hustete, klopfte Carsten mir nur linkisch auf den Rücken. Er starrte in die Zeitung, als seien Kreuzfahrtanekdoten, die Öffnungszeiten der Schiffrestaurants, angebotene Kurse und Shows überlebenswichtig. Natürlich hätte er mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt, wenn ich ihm von meinen Bauchschmerzen erzählt hätte. Dagegen sprach aber, dass ich der Überzeugung bin, Schmerzen solle man übergehen, wenn man ernsthafte Krankheiten verhindern will. Gibt man kleinen Unpässlichkeiten zu viel Raum, ist galoppierendes Siechtum kaum vermeidbar.
Im Moment bot sich mit der verfressenen Familie am Nachbartisch ein Gesprächsthema an, das nicht nur Carstens Lieblingsthema der Nahrungszubereitung und -aufnahme mit unserem gemeinsamen Hobby des Komische-Menschen-Beobachtens verband, sondern auch banal genug war, mich von meinem körperlichen Unwohlsein abzulenken.
»Guck mal, Carsten!«, flüsterte ich, ohne den Blick von der sich vor meinen Augen vollziehenden Fressorgie wenden zu können. »Das dicke Kind da stopft gerade sämtliche Eierkuchen in sich hinein! Alle! Und die Eltern interessiert das gar nicht.« Widerwillig hob Carsten den Blick. »Guck doch mal!«, stupste ich ihn erneut an. Sein Blick wechselte von anfänglicher Genervtheit über Ekelfaszination zu ironischer Fröhlichkeit.
»Erstaunlich, dass die ein Kind gezeugt haben. Ihre Kleidung wirkt abschreckender als jedes Verhütungsmittel!«, sagte er lachend und nach einer kurzen Pause, in der seine ironisch hinter den Brillengläsern blitzenden Augen schon die nächste Bösartigkeit ankündigten: »Da siehst du mal, dass Geschmack keine Frage des Geldes ist!«
»Ja, aber das meine ich nicht. Guck zu dem Jungen. Ich habe Angst, dass er gleich platzt!«, erwiderte ich aufgeregt.
»Wird er schon nicht. Mich amüsiert eher die Erkenntnis, dass Fettsucht kein Unterschichtenproblem ist!«, versuchte Carsten unser Gespräch zu beenden und hob schon wieder seine Zeitung in Lesehöhe. Ich drückte sie empört auf den Tisch zurück.
»Das ist doch nicht lustig! Das ist verantwortungslos. Bei dem Kind sind die Augen schon zugeschwollen, so moppelig ist es!«, wisperte ich und ließ mich auch nicht von meinem Trommelbauch, der an die Tischplatte drückte, zu mehr Toleranz verleiten.
Carsten versuchte meine Empörung abzuwürgen, indem er direkt und mahnend auf meine Wampe blickte. Ich zog dieselbe schlagartig ein, verhechelte den anschwellenden Schmerz und erklärte: »Dicke Kinder sind ja auch süß. Ich finde kleine Wabbelbäuche und Fettfalten an Beinchen und Ärmchen absolut zum Knutschen!«
Carsten nickte. »Musst du ja sagen, warst ja selber ein dickes Kind!« Dann hob er die Zeitung. Ich drückte sie wieder auf den Tisch.
»Aber nur bis zum vierten Lebensjahr. Danach müssen die Eltern dafür sorgen, dass ihre Kinder ein normales Gewicht haben, sonst werden sie zu Mobbingopfern und später zu Herz-Kreislauf-Patienten!«
»Mach dir keine Sorgen, Tati!«, erwiderte mein Liebster leicht genervt. »Deine Enkel werden von klein auf so schlank aussehen, dass jeder, der sie sieht, reflexhaft zufüttern möchte!«
Das vermutete ich auch, denn bei Pauli gibt es immer nur gesundes Essen. Smoothie, Couscous und Gemüse. »Mein Enkel wird nie so knuddelig und mopsig werden wie Pauli in ihren ersten Lebensjahren.« Ich lächelte wehmütig bei der Vorstellung eines kleinen Hungerleiders mit Paulis spitzer Nase, Jannis rotblonden Haaren und Spinnenbeinchen. »Es sei denn, wir füttern heimlich Kartoffelbrei mit viel Butter und fette Bouletten, wenn er oder sie zu Besuch kommt!«, schlug ich Carsten vor und lachte halbherzig, während er wieder konzentriert in seine Zeitung schaute.
Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass Carsten nach dem gestrigen Streit lieber seine Morgenmuffeligkeit auslebte, als mit mir zu smalltalken. Trotzdem ärgerte ich mich so sehr über seine Zeitungslese-Ignoranz und Maulfaulheit, dass ich kurz in Erwägung zog, mir mit dem Frühstücksmesser eine blutende Schnittwunde zuzufügen. Das würde mir Carstens Interesse immerhin so lange sichern, bis er in Ohnmacht fiele. Vielleicht war mein Aufmerksamkeitsdefizit aber auch meinem blöden Darm geschuldet. Während ich beim morgendlichen Aus-dem-Bett-Federn das Bauchzwicken als normale Reaktion auf unser gestriges pompöses Sechs-Gänge-Menü und den abendlichen Familienstreit verbuchte, verunsicherte mich nach dem Frühstück ein zunehmend starkes Pochen, Pieksen und Zwacken. Es fühlte sich an, als hätte sich über Nacht eine Darmschlinge verlegen. In der mich plötzlich überfallenden Sorge hätte ich Carsten gern die Zeitung aus der Hand gerissen und meine Spontandiagnose durchdiskutiert, wusste aber: Beides würde ihn verärgern. Er ist zwar der verantwortungsbewussteste Mann, den ich in meinem Leben kennengelernt habe, sorgt sich stets um mein Wohlbefinden, aber bei Krankheiten reagiert er hilflos. Wie alle Männer. Wenn in Filmen Operationen gezeigt werden oder einfach nur Blut zu sehen ist, hält er sich die Augen zu. Bis ich ihm sage, dass es vorbei ist.
Also versuchte ich das Darmschlingenproblem ohne Carstens Beistand zu lösen und rieb meinen Bauch mit sanften, kreisenden Bewegungen, wie Oma es nach jedem meiner großen, restlos aufgegessenen Liebesbeweise getan hatte. Über Carstens Schulter konnte ich in der Bordzeitung lesen, dass gleich ein Yoga-Kurs beginnen würde. Da Doktor Google auf offener See nicht erreichbar war, ließ ich den zufälligen Blick als Zeichen gelten und empfahl mir als Therapie ein paar geeignete Streckungen und Dehnungen meines Körpers. Damit hatte ich bei Rückenschmerzen gute Erfahrungen gemacht. Wenn Yoga die Wirbelsäule auf Linie bringen konnte, klappte das beim Darm mit Sicherheit genauso gut, war ich mir sicher.
Hätte ich gewusst, dass diese indischen Übungen meine Diagnose auf den Kopf stellen, ganz andere Krankheitsmöglichkeiten hervorturnen und mich für Stunden von Carsten trennen würden, hätte ich meinen Liebsten trotz seiner derzeitigen Stoffeligkeit in die Arme genommen und zärtlich geküsst. So aber sprang ich ahnungslos vom Frühstückstisch auf, verabredete mich mit ihm nach der Sportstunde zum Shopping und winkte zum Abschied. Mit gequältem Lächeln.
M issgelaunt und gereizt betrat ich den Kursbereich des Fitnesscenters der MS Sangria. Die Uhr über dem wandgroßen Spiegel zeigte erst kurz vor neun. Eine Uhrzeit, die ich normalerweise ausschließlich schlafend verbringe. Aber mein verschlungener Darm schien mich zu außergewöhnlichen Leistungen zu motivieren.
Der Yoga-Lehrer, ein paar Gazellen in hippen Yoga-Klamotten und ich waren nicht die Einzigen, die sich im Sportbereich quälen wollten. Für mein Dafürhalten tobten viel zu viele Urlauber auf den an der offenen Seite des Saales aufgestellten Fitnessgeräten. Als wäre das Kreuzfahrtschiff eine Galeere, die sie mit Körperkraft antreiben mussten. Das Keuchen und Trampeln ärgerte mich genauso wie das ständige Wassertrinken. Alle trinken den ganzen Tag literweise Wasser, als würde man ohne Wasserflasche in der Hand plötzlich vom Dehydrierblitz getroffen und staubend zu Boden fallen. Wer, so wie ich, mit dem Trinken wartet, bis er Durst hat, ist eigentlich schon tot.
Die Feststellung, dass ich die Älteste unter den Yoga-Gazellen war, verschlechterte meine Laune noch mehr. Seit geraumer Zeit passierte mir das ständig. Egal ob ich Sport trieb, ein Konzert oder eine Party besuchte, fast immer schien ich allen anderen an Jahren haushoch überlegen. Sogar zu Hause. Auf der Internetsuche nach einem Mann hatte ich in meinem Profil mein gefühltes Alter angegeben und den sieben Jahre jüngeren Carsten gefunden.
Seitdem wiegt jede beim morgendlichen Spiegelblick neu entdeckte Falte in meinem Gesicht doppelt schwer, weil mein Lebenspartner nicht nur jünger, sondern als Mann auch mit festerem, Runzelfalten verhindernden Bindegewebe ausgestattet ist. Mein einziger Trost in diesem täglich sichtbarer werdenden Dilemma ist die höhere Lebenserwartung bei Frauen, die normalerweise dazu führt, den Lebensabend allein verbringen zu müssen. Bei jüngeren Partnern rücken Ruhestand und Ableben in Zweisamkeit in greifbare Nähe. Ich weiß nicht, ob diese Gedanken ein typisch weibliches Problem sind. Als ich jedenfalls Carsten nach unserem Kennenlernen mein wahres Alter verraten wollte, sagte er nur: »Ist doch egal, wann man geboren ist, Hauptsache, man ist da.« Ist sicher richtig. Trotzdem gehe ich lieber zum Kardiologen als zum Yoga, weil ich in dessen Wartezimmer immer zu den Jüngsten zähle.
Zwischen den wassertrinkenden, blutjungen Yoga-Mädels konnte mich nicht einmal die über dem Spiegel des Raumes drapierte, mit roten Schleifen und Lichterkette verzierte Tannengirlande friedlich stimmen. Auch wenn deren Silberkugeln das durch die wandhohen Fenster rechts von mir strahlende Sonnenlicht reflektierten. Ich saß genauso grummelig wie mein Darm auf einer Matte, massierte meinen Unterbauch und fragte mich, warum ich nicht zur Wassergymnastik für Best Ager oder zum Nordic Walking für die Sangria-Silberperlen auf Deck 11 gegangen war.
Fast schien es, als wolle der im Lotussitz und mit geschlossenen Augen in sich gekehrte Yoga-Lehrer seinen versäumten Nachtschlaf nachholen, da tickte die Saaluhr auf neun, und der kleine ausgezehrte Mann erwachte zum Leben. Er öffnete die Augen und stierte träge wie ein Ersatzweckerbenutzer in die lotussitzende Runde.
»Ich heiße Beddrig!«, säuselte der Yogi in einem auf Hochdeutsch getrimmten sächsischen Dialekt mit weinerlicher Stimme. Er klang wie meine Nachbarschafts-Öko-Mütter, die permanent unter postnatalem Dauerstress leiden, dem sogenannten Bornout-Syndrom.
»Zu Beginn unserer Praxis chanten wir ein dreifaches Shanti«, flüsterte er. Unwillkürlich musste ich an »Mainz bleibt Mainz – wie es singt und lacht« denken. Ein dreifach donnerndes Helau! Das habe ich immer mit meinen Großeltern geguckt. Nicht weil ich Karneval toll fand oder gar ein Wort in Mainzer Dialekt verstanden hätte, sondern um länger aufbleiben zu dürfen. Ich wollte gerade zu schunkeln beginnen, da erklärte Beddrig: »Das Shanti ist ein Aufruf des Friedens. In der buddhistischen und hinduistischen Tradition repräsentiert Shanti, dreimal hintereinander getönt, Frieden im Körper, in Worten und im Geist.«
Weil Frieden für meinen Körper das eigentliche Ziel meines Sportausfluges war, gab ich mir sofort redlich Mühe, meinen Lotussitz nicht wie einen Lokussitz aussehen zu lassen, streckte meinen Rücken durch, zog den Bauch ein und legte die Hände locker auf die Knie.
»Om Shanti Shanti Shanti«, quäkte Beddrig.
»Om Shanti Shanti Shanti«, sangen die Gazellen erstaunlich konzentriert. Bei der zweiten Wiederholung hatte ich den Text drauf und brummte ebenfalls: »Om Shanti Shanti Shanti.«
Danach sprang Beddrig wie von der Tarantel gestochen auf. Sein T-Shirt klebte schweißfleckengetränkt am sehnigen Körper. Seine schwarze Pumphose war so zerknittert, als hätte er sie seit Beginn unserer Reise getragen und auch die Nächte mit ihr verbracht. Modedesigner Guido würde sein Outfit mit den Worten kommentieren: »Der benötigt dringend textile Betreuung!« Bei Beddrigs Anblick hätte ich meinem Bauchgefühl folgen, spätestens nach dem dritten Om sein Friedensangebot ablehnen, meine Schuhe schnappen und verschwinden sollen. Stattdessen quälte ich mich in die Senkrechte und turnte mich direkt ins Verderben. Das lag nicht an Beddrig und nur ein bisschen an meinem Bauch. Schuld am desaströsen Ausgang meiner Yoga-Therapie waren die jugendlichen Gazellen. Ihre schlanken, beweglichen Körper erinnerten mich an meine Jugend als Tänzerin und stachelten meinen Ehrgeiz an. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich auch mit fünfundfünfzig und Waschtrommelbauch noch so biegsam und elastisch war, dass sie gegen mich abkacken würden.
Der Kurs begann.
»Augen sanft schließen. Die Aufmerksamkeit auf die Atmung lenken. Ruhig tief ein- und ausatmen und den Atem mit einem flüsternden Geräusch ausfließen lassen«, jammerte Beddrig mit weichen »T’s« und lockerem Unterkiefer.
»Haaaaaaaaaaa!«, raunte ich lautstark, die Gazellen übertönend.
»Hände auf Höhe des Herzens falten. Führe die Hände zur Stirn«, leierte der traurige Guru.
»Nimm dir einen Moment Zeit, um dein Yoga einer Person oder einem Ereignis zu widmen, die für dein Leben bedeutsam sind. Und führe deine Hände zum Herzen.«
Ich widmete meine Yoga-Stunde nicht, wie sonst immer, meinem noch zu produzierenden Enkelkind, sondern ausnahmsweise meinem Darm. Der fühlte sich durch Beddrigs Worte provoziert und kniff zu. Ich zischte: »Fffffffff!« Was von Beddrig mit einem nervösen Zwinkern quittiert wurde, bevor er weitersprach: »Wir beginnen mit dem Sonnengruß. Einatmen. Die Arme werden über außen nach oben geführt. Nach vorn beugen. Ausatmen.«
»Haaaaaaaaaa!«, stöhnte unser Yoga-Chor, und ich dachte dabei an die Sonne, deren angeblich außerordentliche Wirkung mich auf dieses Schiff geführt hatte. Mittlerweile glaubte ich, dass der propagierte Gute-Laune-Effekt durch Sonne als reines Wunschdenken der Wissenschaftler einzustufen war. Wie hätte es sonst passieren können, dass sich gestern meine Familie nach fünf extrem sonnigen Tagen auf den kanarischen Inseln mir gegenüber so aggressiv verhalten hatte? Mein Bauch antwortete auf die mich quälende Frage mit einem Tritt von innen.
»Yoga-Übung: der lächelnde Baum!«, lächelte auch Beddrig und befahl: »Einatmen!«
Ich führte die Hände über den Kopf und hielt, weil kein weiterer Atmungsbefehl kam, die Luft an.
»Lege dein rechtes Bein auf den Oberschenkel. Hände auf Höhe des Herzens falten.«
Mit zusammengepressten Lippen zog ich mein Bein zuerst auf den Unterschenkel, weil mein Bauch den Oberschenkel blockierte. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass die Gazellen ihren Fuß fast in ihrer Leiste platzieren konnten. Darum zerrte ich weiter an meinem Fuß, bis er unter dem Bauch verschwand. Stolz faltete ich die Hände wie angewiesen und führte sie dann über den Kopf, der wegen des Luftmangels und der Anstrengung gerade zu platzen drohte.
»Und weiteratmen!«, rief Beddrig, gerade noch rechtzeitig vor meinem Erstickungstod.
»Haaaaaaaaaaa!«, pustete ich erleichtert schlechte Luft in den Saal, in dessen wandgroßem Spiegel ich neben vielen schlanken und lächelnden Bäumen eine Rotkopfschlange entdeckte, die einen Sitzball verschluckt hatte. Mich. Was dachten die hübschen Gazellen-Bäume bei meinem Anblick? Die meisten schauten konzentriert in den Spiegel. Nur meine höchstens zwanzigjährige Nachbarin widmete mir einen mitleidig flackernden Rehblick. Die dicke Schlange im Spiegel begann mitten im lächelnden Wald zu schwanken und riss fast das Rehlein in die Tiefe. Mein Fuß platschte als erster auf die Matte.
»Alles in Ordnung?«, wisperte das aufgeschreckte Reh und setzte seinen linken Fuß grazil neben den rechten.
»Ja, ja!«, stöhnte ich, und Beddrig kündigte die nächste Assana an.
»Kommt in den Vierfüßlerstand. Dann bringt ihr die Knie zum Boden und kommt zur Stellung des Kindes.«
Irgendetwas bewegte sich in meinem Unterleib. Heftig. Mein Darm wehrte sich mit schmerzhaften Stichen gegen meine Entspannungsübungen. Wie eine alte Frau stützte ich mich auf einem Knie ab und kam grunzend auf meinen Unterschenkeln zum Sitzen. Es gelang mir, meine Stirn auf die Matte und die Hände nach vorn zu legen. Die Oberschenkel drückten gegen mein Fass, das mit einem wehenhaften Ziehen reagierte. Für einen kurzen Moment überlegte ich – wahrscheinlich wegen des Stichwortes »Stellung des Kindes« – tatsächlich, ob ich vielleicht schwanger sein könnte. Immerhin hatte ich vor über zweiunddreißig Jahren, wenige Stunden nach Paulis Zeugung, als ich im Rahmen des Studentensommers in einem Restaurant des Fernsehturms das Geschirr spülte, auch so ein komisches Ziehen im Unterleib verspürt. Damals wusste ich gleich, dass ich schwanger war. Aber heute? Konnte das tatsächlich sein?
Panisch rechnete ich in der von Beddrig befohlenen Stellung nach, wann es passiert sein könnte. Letzte Nacht jedenfalls nicht. Da waren wir nicht nur verärgert, sondern auch viel zu vollgefressen. Und zu betrunken ohnehin. Ich blickte auf meine Biotonne und kam auf die für mich eher vorstellbare Idee der Scheinschwangerschaft. Psychosomatisch sozusagen. Mir war ja durchaus bewusst, zu welchen realen körperlichen Schmerzen eine leidende Seele führen konnte. Das hatte ich in meinem Leben mehrfach am eigenen Körper erfahren.
Als zum Beispiel vor ungefähr zehn Jahren meine Stimmbänder versagten, sich Ödeme bildeten und ich nur noch heiser sprechen konnte, fragte mich mein Logopäde, ob ich gerade seelischen Stress hätte. Es war mir völlig unverständlich, wie dieser fremde Mann darauf kommen konnte, dass ich seelisch leiden würde, obwohl ich gerade meinen Carsten kennengelernt hatte, frisch verliebt und beruflich erfolgreich war. Damals ignorierte ich meine permanente Überforderung. Das mir von meinen Eltern anerzogene Pflichtbewusstsein, die durch den jahrelangen Ballettunterricht erworbene Disziplin und die Angst, auf der Bühne nicht perfekt zu sein, führten dazu, dass ich auch Gemeinheiten von Journalisten und Kollegen als Kritik und jedes Auftrittsangebot ohne Rücksicht auf die eigene Belastbarkeit annahm. Zum Glück musste ich nicht bis zu meiner völligen Stimmlosigkeit auf meine Einsicht warten. Mir wurde gekündigt. Erst als ich aus meiner vermeintlichen Not, plötzlich allein auf der Bühne agieren zu müssen, eine Tugend machte, weniger Gastspiele annahm, mit Kollegen arbeitete, die mich bestärkten, und mich wieder auf mein Bauchgefühl verließ, regenerierten sich meine Stimmbänder innerhalb eines halben Jahres wie von selbst, und ich erkannte: Mein Körper hatte tatsächlich auf seelischen Stress reagiert. Nicht mit einem zunehmend verbreiteten Burnout, sondern mit der altmodischen Krankheit »Stimmbandödem«.
Darum vermutete ich, dass sich, so wie Stimmbänder bei beruflichen Sorgen zu Ödemen neigen, auch in Bäuchen Wasser einlagern kann, wenn die jeweilige Bauchträgerin auf eine Schwangerschaft ihrer Tochter hofft, und machte pflichtbewusst das, was Beddrig mir befahl: »Und jetzt kommen wir wieder in den Vierfüßler. Die nächste Assana heißt Katze und Kuh!«
Bei der Kuh musste ich einfach nur im Vierfüßler meinen Bauch der Schwerkraft überlassen. Normalerweise fällt er dann wir eine tote Katze über den engen Bund meiner Yoga-Leggings. Jetzt schwang mein Schmerbauch wie ein totes Mini-Hängebauchschwein Richtung Matte. Die Kuh im Hohlkreuz wirkte entspannend auf meine Eingeweide, der Katzenbuckel hingegen bescherte mir bohrende Schmerzen.
Ich beobachtete den geschmeidig auf und ab schwingenden Po der Gazelle vor mir und kämpfte mich verbissen durch fünf Kühe und vier Katzen. Die fünfte musste ein Tiger gewesen sein. Sie schlug mir ihre Reißzähne direkt in die Darmschlinge.
Ich ließ mich stöhnend in die stabile Seitenlage fallen, das Rehlein seufzte »Ooooh!«, und Beddrig befahl: »Und jetzt alle in den Lotussitz. Zum Abschluss der Yoga-Praxis singt die Gruppe ein Om.«
Ich blieb kraftlos liegen und stöhnte ein tief aus dem Bauch kommendes »OOOOOOOOM.«
Beddrik reagierte professionell auf meinen Schwächeanfall. Er übersah ihn einfach und sächselte: »Namasté! – Das Göttliche in mir grüßt das Göttliche, dass ich in dir sehe.«
Ich hätte ihn gern gefragt, was er denn Göttliches in meinem Bauch sehen könne. Aber dazu kam ich nicht. Kaum versuchte ich aufzustehen, durchfuhr mein Gedärm ein entsetzlich brennender Schmerz. Schnaufend fiel ich zurück auf die Yoga-Matte.
W ährend ich mit nacktem Oberkörper im Behandlungszimmer rumliege und auf den diensthabenden Arzt der MS Sangria warte, überlege ich krampfhaft, von welcher schweren Krankheit ich befallen sein könnte. Eigentlich bekomme ich nur Krankheiten, die ich kenne. Oder anders gesagt: Was ich nicht kenne, kriege ich auch nicht.
Als mir mein Hausarzt vor einiger Zeit nach einem großen Blutbild mitteilte, dass er Antikörper gegen Pneumo-Chlamydien in meinen Körpersäften gefunden hätte und meinen Husten auf das rege Treiben dieser Krankheitserreger zurückführte, habe ich vehement widersprochen. Von wegen Husten. Mir ging es gut. Außerdem, was sollte das sein? Pneumo-Chlamydien? Das seien Bakterien, erläuterte er mir, die zu einer Lungenentzündung führen können, aber nicht müssen. Wenn ich gesund sei und keine Beschwerden hätte, bekäme mein Körper diese Infektion in den Griff. Kaum war ich zu Hause und machte es mir auf meinem Küchensofa gemütlich, spürte ich, wie sich die Chlamydien in meiner Lunge ausbreiteten. Echt schlimm. Ich musste mir Antibiotika verschreiben lassen.
Seitdem halte ich mir die Ohren zu, wenn Ärzte, Freunde und Bekannte von neuesten, mir bisher unbekannten Gebrechen und Unpässlichkeiten berichten wollen. Was Leuten meiner Altersgruppe immer häufiger widerfährt. Als sei eine Jammerpandemie ausgebrochen. Aber nicht mit mir. Bei mir reichen Omas Wadenwickel, und zack, bin ich wieder fit.
Bei dem letzten Gedanken wird mir kalt. Die Klimaanlage summt und kühlt den fensterlosen Raum gerade auf deutsche Weihnachtstemperaturen. Ich befürchte jetzt eine Chlamydien bedingte Lungeninfektion. Meine Brustwarzen haben sich bereits drohend aufgerichtet. Die Krankenschwester raschelt. Es ist die Burschikose. Sie hantiert stumm und konzentriert mit Ampullen und Röhrchen auf dem Tisch links neben mir, das Gesicht zur Wand gerichtet. Seit mindestens zehn Minuten hat niemand mehr mit mir gesprochen. Hoffentlich ist sie bald fertig mit der Blutuntersuchung, damit ich den restlichen Urlaubstag noch genießen kann.
Als Pauli klein war und über Schmerzen klagte, habe ich die betreffende Stelle einfach mit Florena-Creme eingeschmiert. Hat immer schnell geholfen. Vielleicht hätte ich meinen Kugelbauch einfach einfetten sollen?
Endlich öffnet sich die Tür zum nächsten Akt des stummen Hospital-Theaters. George Clooney betritt die Bühne. Die ungewisse Situation ist für mich ohnehin schon aufregend genug, aber warum haben die hier auch noch so gut aussehende Ärzte, dass ich um meine Herzgesundheit fürchten muss? Reflexartig ziehe ich den Bauch ein.
»Frau Meissner scheint ne heftije Entzündung mit sich rumzutragen!«, verkündet die Burschikose nun so euphorisch, als wolle sie mich und George über eine Auszeichnung mit dem Comedy-Preis informieren.
George nickt professionell, zieht sich Gummihandschuhe über die Klavierspielerhände und greift nach einer Tube Gel. Dabei wirkt er komplett unbeeindruckt von meiner durch Luftanhalten in Form gebrachten Nacktheit. Er scheint mich genauso zu ignorieren wie die Comedy-Preis-Jury und würdigt mich keines Blickes. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt mitbekommen hat, dass ich noch am Leben bin, so kalt und unerotisch, wie er das Gel in meinen Bauch einarbeitet.
»Ähm!«, mache ich auf mich aufmerksam. »Eigentlich bin ich nur hier, weil ich an Seetagen immer nicht weiß, was ich machen soll! Hahaha!«
George lacht nicht, sondern betrachtet per Ultraschall meine Innereien auf einem Bildschirm. Natürlich lasse ich mir den Schmerz, den der Druck auf meinen Bauch auslöst, nicht anmerken. Ich bin ja eine Frau. Nein, ich ziehe ihn aus Eitelkeitsgründen weiterhin ein. Trotz aller Bemühungen schaut der schöne Schiffsarzt ausschließlich auf den Monitor. Er sucht wahrscheinlich irgendetwas, was er interessanter findet als mein Äußeres.
»Und?«, frage ich. George schüttelt seinen Kopf, ohne den Blick zu wenden. »Sie werden es nicht glauben, aber eine Schwangerschaft ist in meinem Alter ausgeschlossen!«, versuche ich erneut, eine freundliche Kommunikation in Gang zu bringen. George blickt fasziniert von mir weg. »Ich bin fünfundfünfzig!«, setze ich nach. Fishing for Compliments. Keine Reaktion. Spätestens an dieser Stelle hätte er kurz innehalten und ein bisschen ungläubig gucken können! Vor lauter Frust über so viel Ignoranz lasse ich die Luft in meinen Bauch strömen, bis er wieder prall und schwanger vor mir liegt.
George nimmt die Brille ab, reibt sich seine Augen und erklärt nicht mir, sondern meinem Urlaubsbauch: »Ich kann leider nichts Genaues sehen. Vermute aber, dass der Blinddarm entzündet ist! Darum empfehle ich, dass Sie die Nacht auf der Station verbringen. Wegen der hohen Entzündungswerte werden Sie in Operationsbereitschaft gehalten, bis wir morgen früh Madeira erreichen und Sie in einer richtigen Klinik untersucht und gegebenenfalls operiert werden können.«
»Und was bedeutet das jetzt für mich?«
Die Burschikose wischt neben mir so hektisch auf dem Labortisch rum, dass ich sofort mit dem Schlimmsten rechne.
»Das bedeutet, dass wir Ihnen zwei verschiedene Antibiotika verabreichen und Sie bis zur Ankunft in der Klinik in Funchal weder essen noch trinken dürfen!«
Diese Mitteilung schockiert mich mehr als die eventuell bevorstehende Operation. Wenn ich nicht essen darf, werde ich so böse wie Omas Dackel, dem ich als Kind seinen Knochen wegnahm. Bis heute erinnere ich mich beim Blick auf die Bissnarbe an meinem Oberschenkel täglich an dieses kleine Mistvieh. Ich werde in den nächsten Stunden ganz sicher durch Hunger und Durst zum bissigen Köter. Einen letzten Strohhalm gibt es noch. »Und rauchen?«, frage ich Doktor Clooney und spüre, wie sich nach seinem Kopfschütteln eine Panik in mir breitmacht, die mich auf der untergehenden Titanic nicht furchtbarer hätte ereilen können.
»Ich gehe davon aus, dass Sie nicht allein auf Reisen sind?«, fragt er, als bemerke er meine Aufregung überhaupt nicht.
»Nein, meine ganze Familie ist mit!«, stottere ich und habe große Mühe, nicht loszuheulen.