Hurra, wir leben noch! - Tatjana Meissner - E-Book

Hurra, wir leben noch! E-Book

Tatjana Meissner

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Beschreibung

Sechs Quadratmeter Leben (Teil 8): Hurra, wir leben noch! Im achten und letzten Teil erzählt Tatjana Meissner von den Monaten Mai und Juni 2021, von Dichtmachern und Empörten, von Spa(h)nplatten und Bestattern, von Normalität mit Nachweis, von Kulturstartern und vollen Stadien, von David Hasselhoff und kleinen Piksen, von Ostbeaufragten ohne Geografiekenntnisse, von Gesunden und Berechtigten, von Tatortrekorden und korrekter Hula Hoop Gesinnung, von bösen Zungen und Instagram-Impfwettbewerben, von Annahmen und Hoffnungen, von Brandenburger Pleiten, Pech und Pannen, von Liebe und geliebt zu werden, von tanzenden Coronaleugnern und Bestrafungs-Phantasien aber auch von vielen, lustigen Alltagsgeschichten...

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Tatjana Meissner

Hurra, wir leben noch!

Sechs Quadratmeter Leben (Teil 8)

Diese Tagebuchserie ist ein Pandemie-Rückblick auf das Leben und eine Komödie, wie sie nur in Krisensituationen geschrieben werden kann. Ich erzähle ungefiltert und offen über meine täglichen Erlebnisse und Gefühle und halte auch meine Meinung über den alltäglichen Wahnsinn nicht zurück.

Inhaltsverzeichnis

Willkommen in meinem Leben!

Vorwort

Prolog

Mai 2021

Juni 2021

Danksagung

Über die Autorin

Mehr zum Lesen

Impressum

Willkommen in meinem Leben!

Ich freue mich, dass Sie dieses Buch gekauft haben. Hiermit halten Sie den achten Teil meiner Tagebuch-Serie mit dem Titel „Sechs Quadratmeter Leben“ in der Hand, von dem ich gehofft hatte, ihn nicht mehr veröffentlichen zu müssen, weil ich bereits auf einer 20 oder 30 Quadratmeter großen Bühne stehen, in gut gefüllte Sitzreihen schauen und die Zuschauer zum Lachen bringen würde. Weil Politiker dafür gesorgt hätten, dass Hygienekonzepte, Digitalisierung, Impforganisation, Nachverfolgung und Teststrategien wieder zu einem lebenswerten Dasein für ALLE geführt hätten. So ist es leider nicht. Als Künstlerin befinde ich mich seit Monaten im Berufsverbot. Immerhin nehmen Teile unseres Lebens im Mai und Juni wieder Fahrt auf. Wahlkampf und galoppierend in den Abgrund sinkende Inzidenzen machen es möglich. Deutschland macht sich locker. Zähklebrig, doch Carsten und ich nutzen jede sich bietende Möglichkeit: von einer Reise an die West-Ostsee, über eine Eimer-Demo bis zum testfreien Restaurantessen. Außerdem darf ich wieder das Gefühl normalen Arbeitens bei einer Fernsehsendung genießen, genauso wie das Privileg von ausufernder Freizeit, die es mir ermöglicht, meine Ängste, die zeitweilige Niedergeschlagenheit und Wut durch Tagebuchschreiben zu therapieren und dabei meinen Blick für die Absurditäten des Pandemie-Alltags zu schärfen. Ich hoffe sehr, dass Sie beim Lesen, genau wie ich beim Schreiben, erstaunt, vielleicht auch betroffen sein werden, sich wundern und freuen, weinen und lachen können.

Darum wünsche ich jetzt viel Spaß bei Teil VIII: Hurra, wir leben noch!

Vorwort

Tatjana Meissner- Wer bin ich? Kabarettistin, Autorin und Moderatorin Tatsächlich? Aber was sonst? Früher, als ich noch als Tänzerin arbeitete, wurde ich von Zuschauern als Show-Girl bezeichnet. Dann, beim MDR, als Glücksfee. Nach dem Erscheinen meines ersten Buches als die, die sich öffentlich zur virtuellen Partnersuche bekennt. „Wie kannst du nur?“ Nach meinem zweiten Roman bezeichnete mich ein Fernsehmoderator als die „Femme fatale der Midlifecrisis“, nach dem dritten Buch war ich die mit dem ostdeutschen Migrationshintergrund und nach dem vierten die Erika Berger des Ostens. Zuschauer, die sich meinen Namen nicht merken können, sagen: „Die mit den roten Klamotten.“, oder „Die mit den blonden Strubbelhaaren.“, oder „Die mit dem Sex!“ Ich würde sagen: Ich bin eine glückliche Frau, die zwar bereits das Bergfest des Lebens gefeiert hat, aber das tun darf, was ihr Spaß macht: auf der Bühne stehen, Menschen zum Lachen bringen und lustige Lieder singen, obwohl meine Tochter meinen Gesang in ihrer Kindheit immer schrecklich fand. Ich bin die, die manchmal das Gefühl hat, sagen zu müssen: „Ich habe studiert!“. Vor allem, wegen der Themen, die ich gern in meinen Programmen und Büchern zum Besten gebe. Oder, wenn ich offen zugebe, dass ich ein Dschungelcamp-Gucker bin und statt Lyrik lieber Krimis lese. Ich bin die, die die sozialen Medien liebt, weil sie mir die Möglichkeit geben, mit meinen Zuschauern Kontakt zu halten. Ich bin die, die aus demselben Grund gern nach den Vorstellungen am Büchertisch sitzend oder direkt von der Bühne mit ihrem Publikum redet. Und ich finde, man sollte dem Leben, so oft wie möglich, seine komischen Seiten abringen und sich selber nicht zu ernst nehmen. Darum passt Komikerin ganz gut zu mir, oder? Privat gibt es mich auch. Meistens zu zweit. Carsten und ich lieben uns seit 15 Jahren, für jeden von uns die am längsten anhaltende Beziehung des Lebens. Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir es von Anfang an bevorzugten, in getrennten Wohnungen zu leben. Meine erwachsene Tochter Pauli zog wegen ihres Studiums an der Uni Amsterdam in die Niederlande und blieb. Außerdem bin ich stolze Oma eines Enkelhundes namens Lemmy. Ich selber hatte eine schwere Kindheit und eine freudlose Jugend. Ich bin Lehrerkind. Meine Eltern leben dort, wo ich einen Teil meiner Kindheit und Jugend verbracht habe, in der Landeshauptstadt Thüringens, in Erfurt. Meine jüngere Schwester Alexandra wohnt aus mir unerfindlichen Gründen seit fünf Jahren in Dortmund. Einen Teil meiner unzähligen privaten und beruflichen Erlebnisse der vergangenen knapp 60 Jahre meines Lebens findet ihr in Auszügen in meinem Tagebuch. Und jetzt geht´s los:

Prolog

Mein letzter Tagebucheintrag stammt aus meiner frühen Jugend. Damals, einen Tag vor meinem allerersten Sex, habe ich mich ausführlich darüber geäußert, dass Geschlechtsverkehr gar nicht nötig sei, weil mich mein Freund auch einfach so lieben würde. Ich sehe mich in meinem vielleicht etwas mehr als 6 qm großen Kinderzimmer unserer Neubauwohnung auf dem Erfurter Johannesplatz sitzen und schreiben. Meine Mutter sagte damals Jugendzimmer, denn mit dem Besuch der Heinrich-Mann-Oberschule bekam ich statt des Spielzeugschrankes eine kleine Hellerauschrankwand mit Schreibtisch an die Stirnseite des Zimmers gestellt. Das ist über 40 Jahre her. Danach habe ich nie wieder Tagebuch geschrieben. Warum? Auf keinen Fall, weil mein Leben danach weniger aufregend war. Immerhin werde ich im kommenden Jahr 60 Jahre alt. Das klingt alt. Ich fühle mich trotzdem zu jung, eine Biografie zu schreiben. Aber ich werde die Zeit des Corona-Lockdowns nutzen, auf mein Leben zurückzublicken, auf gute und schlechte Zeiten, werde mich erinnern und reflektieren, Erfahrungen und einen Teil meiner unzähligen privaten und beruflichen Erlebnisse der vergangenen knapp 60 Jahre in Auszügen mit meinen Tagebuch-Lesern teilen. Wenn ich meine pubertären Einträge von damals durchblättere, ärgere ich mich und werde das Gefühl nicht los, dass ich sogar in diesen privaten Aufzeichnungen meine Gedanken und Gefühle zensiere. Nur aufschreibe, was auch meiner Mama gefallen könnte, sie nicht enttäuschen würde. Heute, nach über 40 Jahren beginne ich wieder Tagebuch zu schreiben. Nicht in einem Kinderzimmer, aber wieder auf einer Fläche von nur 6 Quadratmetern, meinem Balkon. Weil etwas Neues, mein Leben stark Beeinflussendes passiert. Ein Virus stürzt die ganze Welt in eine Pandemie, die zu Verordnungen führt, zu einschränkenden Maßnahmen und mich in eine psychisch sehr angespannte Situation. Ich will darüber diesmal ungefiltert und offen schreiben, meine täglichen Erlebnisse und Gefühle schildern, meine Meinung kundtun. So, wie ich es vielleicht schon vor über 40 Jahren und auf jeden Fall vor 30 Jahren hätte tun sollen, als es den ersten großen Umsturz in meinem Leben gab. Mauerfall und Wende 1989/90. Was damals mit mir passierte, was ich dachte und fühlte kann ich nur aus heutiger Sicht erinnern und wüsste doch gern Genaueres. Damals veränderte sich ein limitiertes Leben in ein freies. Jetzt ist es umgekehrt.

Mai 2021

1. Mai 2021

Mein Der Tag beginnt zu früh, denn ich will heute noch vor dem Anruf meiner Eltern Kaffee trinken, Sudoku lösen, schreiben. Das klappt alles ganz gut. Außerdem gibt es Grund zur Freude: Unsere Ostseebuchung ist unter Vorbehalt angenommen. Wir müssen eine Erklärung unterschreiben, um an dem Modellprojekt „Restart Tourismus“ teilnehmen zu können. Darin stehen die Modalitäten wie „Nutzung der Luca-App“, Test bei Anreise und wiederholt nach drei Tagen. Außerdem müssen wir bei positivem Test auf eigene Kosten abreisen. Wir freuen uns trotz der Umstände. Hauptsache Urlaub. Meine Mama hustet laut ins Telefon. Ihre Erkältung wird einfach nicht besser, auch Papa ist heiser. „Aber wir haben ja bald einen Arzt-Termin, schon am 7. Mai.“, sagt sie. Ihre Immuntests sind auch da, beide sind nach wie vor immun gegen Covid-19, Mama mehr als Papa. Dafür ist sie auch mehr erkältet. Wir reden über meinen Geburtstag. Mama hat ein paar Fotos davon gesehen und eine Meinung zu den Frisuren der Anwesenden, die ihr alle nicht so sehr gefallen. Alexandra hat ihr von ihrem Besuch bei uns berichtet, dabei versichert, dass sie fast nicht gesprochen hätte. Das Gefühl hatten wir nicht. Aber so ist das mit der Eigen- und Fremdwahrnehmung. Unser heutiger Kreislaufspaziergang führt uns an der 1. Mai-Demo des DGB am Lustgarten vorbei, wo vorher bereits andere Parteien den kleinen Imbisswagen als Tribüne nutzten und die AfD für den Nachmittag ihre Demo ankündigte. Immerhin stehen hier ein paar Interessierte zusammen, das ist bei der „Kultur-im-Eimer-Demo“ vor dem Stadtschloss nicht erlaubt. Es wurden Zeitfenster für einzelne Künstler vergeben, in denen sie ihren Eimer mit Maske und Abstand abstellen dürfen. Fest steht, es ist zu kalt und feucht für jeden kulturellen Widerstandskampf. Auch darum sind nur wenige Zuschauer und Beteiligte auf dem Alten Markt erschienen. Nachdem Carsten und ich einige Zeit auf den Stufen des Barberini-Museums das Geschehen vor der Nikolaikirche beobachtet haben, betritt eine größere Gruppe den Platz vor der Nikolaikirche. Es sind die Kollegen des Potsdamer Kabaretts, mit denen ich vor vielen Jahren zusammengearbeitet habe: Techniker, Ticketverkäufer, Geschäftsführer, Kabarettisten. Ich freue mich, sie nach langer Zeit mal wieder zu sehen, wir reden ein wenig. Die Chefin sagt, sie hoffe mit einer schwarzen Null durch dieses Jahr zu kommen. Die Fördermittel fließen, aber spärlich. Die Kollegen proben an neuen Programmen, allerdings fehlt ihnen ein wenig die Motivation, so ganz ohne Perspektive. Die ersten sind bereits geimpft. Mit Astrazeneca hat es in Berlin beim ersten Anruf und sofort geklappt. Bella, als Gastmitglied des Kabarett-Ensembles, und ihr Mann Ghassen sind auch dabei. Bella dokumentiert die Demo-Aktion von #potsdammachtkultur auf Instagram, Ghassi fotografiert. Sie wirken beide ein wenig müde, wahrscheinlich wegen des Ramadans, den sie zur Gewichtsreduzierung nutzen wollen. Jeder hat seine tote Katze zu tragen. Carsten und ich essen trotzdem ein Eis. Ich eins mit Sahne. Während hier auf Zeitfenster geachtet, aber immerhin demonstriert wird, bekommen Gegner der Corona-Politik ein absolutes Demoverbot. Trotzdem steht die Polizei mit einem Großaufgebot dort bereit, wo die Demo stattfinden sollte. Heute wird Weimar besonders stark bewacht, weil Zettel und weiße Rosen auf die Stufen des Verwaltungsgerichtes gelegt werden, die von den Ordnungshütern weggeräumt werden müssen. Auf den Zetteln steht:"Für die Unabhängigkeit der Justiz und unabhängige Richter in unserem Rechtsstaat" "In Gedenken an den Rechtsstaat und seine mutigen Verteidiger im Amtsgericht Weimar" Fotos davon werden auf Facebook gepostet. Man ergreift Partei für den Weimarer Richter, der ein Urteil gegen die Maskenpflicht in Schulen fällte, woraufhin Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet und dessen Wohnung und Büro durchsucht wurden. Am Abend hängt zum allerersten Mal, seit ich mangels Beschäftigung meinen Balkon als Beobachtungsposten besetzt habe, keine Bettwäsche auf der Leine. Heute hängen da Sweatshirts und ein Arbeitsanzug. Man muss eben nur genau hinschauen, wenn man die kleinen Besonderheiten und Überraschungen des Lebens entdecken will. Und viel Zeit haben.

2. Mai 2021

Alles wie immer: Kaffee, Sudoku, Kater Gurke. Das Besondere: diesmal frisst mein Lieblingskater und bettelt nicht nur. Gegen acht sitze ich am Schreibtisch und sehe Carsten mit seinem roten Fahrrad über den Hof radeln. Er fährt zum Spargelstand unter der Brücke des Bahnhofs Charlottenhof, wird dort einen Schwatz mit der Verkäuferin halten und dann die wichtigste Zutat für das heute zum Abendessen geplante Spargelrisotto kaufen. Wenig später küsst er mich in meinem Arbeitszimmer und verschwindet in die Küche. Ich gehe ihm hinterher. „Guck mal!“, sagt er und weist auf den vor ihm ausgebreiteten Bruchspargel. „Was fällt dir auf?“ „Jedes Stück hat eine Spitze! Das ist ja großartig!“, freue ich mich. Die Verkäuferin, so erzählt mir Carsten nach dieser gelungenen Überraschung, war früher auch Künstlerin. Sie schaue ihn in dieser Saison immer mitleidig an, frage ihn oft, wie es ihm ginge. Und weil Carsten heute aus Risotto-Gründen nur wenig Spargel kauft, vermutet die Verkäuferin gleich das Schlimmste, guckt ihn ausgesprochen traurig an und rät Carsten, sich bei Hartz IV anzumelden. Und obwohl ihr mein Liebster versichert, dass sie sich wirklich keine Sorgen machen muss, sucht die nette Frau für ihn nur die allerbesten Spargelstücke aus der Kiste. Die mit Spitze. Das ist so herzergreifend! Der Sonntag war bis jetzt ausgesprochen schön und entspannt. Wir haben ein bisschen gearbeitet, Carsten an seiner Steuer, ich am Tagebuch. Am Nachmittag gibt es frischen Apfel-Crumble zum Kaffee, dabei überlegen wir, worüber ich heute live auf Facebook mit meinen Zuschauern reden werde. Bei einer Zigarette auf dem Balkon will ich gerade gucken, ob unter meiner Ankündigung für heute Abend schon ein paar Kommentare meiner Fans stehen, da wird mein Auge magisch von einer Überschrift angezogen und schon ist die Stimmung genauso im Eimer wie die Kultur. Die Qualitätsmedien können einfach nicht lockerlassen. Jetzt titeln die PNN bzw. der Tagesspiegel, dass hinter der Aktion #allesdichtmachen ein ominöser Drahtzieher aus der Querdenkerszene steckt. Die Beweisführung klingt ähnlich wie die, die mir als Abiturientin in der DDR nach meiner Kritik am kalten Klassenraum vorgehalten wurde. Lächerlich. Wenn Liefers nach seinem kurzen Video zum Thema „derzeitige Berichterstattung der Presse“ nicht im Nachgang beteuert hätte, dass es sich dabei um Satire, um eine Überhöhung handle, würde ich jetzt glauben, es wäre tatsächlich eine 1:1 –Schilderung gewesen. So diffamierend, schlecht recherchiert und propagandistisch ist dieser Artikel. Beim Spargelrisotto schauen Carsten und ich den sehr regierungskritischen Bericht aus Berlin. Neben vielen anderen Unzulänglichkeiten in der Organisation und dem Umgang mit der Pandemie, die erörtert werden, freut mich vor allem, dass sich nun endlich gewundert wird, dass alle Maßnahmen angeordnet werden, ohne dass es eine valide Grundlage für deren Sinnhaftigkeit gibt. Vierzehn Monate lang wird ohne zahlenmäßige Voraussetzung, ohne Studie darüber, wo sich tatsächlich infiziert wird, mittels Lockdown durchregiert. Diese Erkenntnis, auch wenn sie kurzfristig nichts bringt, ist für mich wie ein Aha-Erlebnis, weil es meinen Eindruck, meine Meinung bestätigt. Carsten weist mich auf einen Artikel bei Facebook hin, der sich immer noch an #allesdichtmachen abarbeitet. Die „Märkische Allgemeine Zeitung“ fragt: „Was meint ihr, darf man den Münsteraner Tatort gucken?“ und wird in den Kommentaren für diese Frage zu Recht beschimpft. Gut, dass sie sich nicht mehr „Märkische Volksstimme“ nennen, denn vom Volk und seiner Meinung sind sie genauso weit entfernt wie damals, als sie sich noch so bezeichneten. Dann gucken wir Tatort mit Jan Josef Liefers aus Münster.

3. Mai 2021

Halb acht ziehe ich die Gardine des Schlafzimmers auf und lass‘ die Sonne rein. Beim Gang durch die Küche freue ich mich über meinen Geburtstags-Blumenladen. Alle Pflanzen sehen bisher genauso schön aus wie am ersten Tag. Noch während des Sudokulösens kommt die Sonne um die Häuserecke. Es ist zwar kalt, trotzdem macht das Wetter sofort gute Laune. Natürlich hatte Herr Spahn bereits gestern in den Nachrichten geäußert, dass die Inzidenz sinken wird, immer weiter sinken. Dass sie sich tatsächlich seit Tagen an Spahns Ansage hält und sogar übereifrig im zweistelligen Prozentbereich purzelt, um genau zu sein, seit der Notbremse, finde ich irgendwie erstaunlich. Genauso erstaunlich wie den schnellen Anstieg davor. Ohnehin, so sagte man gestern im ZDF, ist die Meldung der Zahlen nicht genau. Manchmal gibt es noch Tage später Nachmeldungen, ohne diese zu kennzeichnen. Vielleicht lässt man die jetzt weg? Damit die Kanzlerin glaubt, die Notbremse helfe? Egal warum, sinkende Zahlen machen mich genauso optimistisch wie der Sonnenschein heute früh. Wanderfreundins Tochter gratulierte mir zum Geburtstag zur Aufnahme in die Prio-Gruppe drei. Dazu gehören alle über 60 und bestimmte Berufsgruppen, die sich ab heute in Deutschland für eine Impfung gegen Corona anmelden können. Theoretisch. In Brandenburg ist man allerdings noch nicht soweit. Trotz des Einsatzes des Innen- statt des Gesundheitsministeriums bei der Impforganisation. Hier gibt es bis Mitte Mai mangels Impfstoffes keine Erstimpftermine mehr. Und ich weiß immer noch nicht, was ich will. Darum gehe ich erstmal unter die Dusche, singe die Songs der zwar anderthalb Jahre alten, aber neuen Show. Nicht nur in der MAZ, auch auf Twitter, riefen gestern alle Beleidigten, Humorlosen und Dauerbetroffenen, die Andersmeinende nach wie vor Covidioten nennen, zum gestrigen Tatort-Boykott auf. Hat gut geklappt, würde ich sagen. Die Einschaltquote erreichte eine Höhe wie zum letzten Mal 2017. Über 39 % der Zuschauer, also 14,22 Millionen, wahrscheinlich alle Querdenker, haben gestern den Tatort eingeschaltet. Das ist mir ein innerer Parteitag. Dann klingelt es. Mein PC-Freund hat sich bereit erklärt, mir bei der Auswahl eines neuen Laptops behilflich zu sein. Er tippt dafür auf meinem alten Laptop herum, der schmeißt ihn, so wie er es öfter mal grundlos macht, aus dem WLAN. Weil wir wegen meines Zahnreinigungstermins nicht viel Zeit haben, darf mein Freund nicht nach dem Fehler suchen, wir müssen auf Frauenart zurück ins Netz. Einmal ausmachen, einmal an. Klappt, trotzdem kommen weitere Probleme auf uns zu. Wir stellen die Suchmaske auf PC-Freunds Lieblingscomputersuchseite ein. Dort erscheint oben auf dem Reiter von notebooksbilliger.de ein Herz, dazu der Satz "I miss you". "Was ist das?" Mein PC-Freund ist irritiert. Ich habe natürlich keine Ahnung. Wenig später bricht die Seite zusammen. Error. Auf den Handys können wir sie öffnen. Mein Gerät benimmt sich nicht, fast geniere ich mich wie eine Mutter wegen ihres unerzogenen Kindes. Das Kind scheint sich aber zu besinnen, die Seite ist plötzlich wieder erreichbar, wenn auch mit Herz im Reiter. Meine Zeit wird knapp. Wir haben noch 20 Minuten und mein PC-Freund sagt, er habe immer Probleme mit der Entscheidungsfindung. Er könne das nicht. Also muss er jetzt die Eckdaten filtern und ich entscheide unwissend. Zack. Fertig. Verabschiedung, Drücker, Dank, Zähneputzen, los. Ich kann zwar mit weit geöffnetem Mund kaum sprechen, erfrage bei meiner Zahnärztin dennoch, dass sich in der gesamten Pandemie noch niemand beim Zahnarztbesuch angesteckt hat. Trotz Frontalbehandlung und Schleimhautkontakt. Interessant. Mit blitzblanken Zähnen mache ich den steuerlichen Monatsabschluss, zahle ein paar Rechnungen, schreibe, telefoniere. Dann Abendessen und "Sörensen hat Angst" auf Netflix gucken. Wie ich solche Tage liebe, in denen die Zeit knapp wird, weil man Verabredungen, Termine und am Schreibtisch zu tun hat und sich nicht von sozialen Medien und Unwichtigkeiten aus Langeweile ablenken lässt! Heute bin ich mal nicht grundlos müde! Beruhigend.

4. Mai 2021

Wind auf dem Balkon. Für heute ist Sturm angesagt. Die Inzidenz sinkt so erstaunlich schnell, dass ich mich weiter wundern darf. Kaum habe ich mich ausgewundert und den ersten Kaffee getrunken, meldet sich meine Wanderfreundin, die gerade den März korrigiert. Sie staunt, dass ich mich in meinem Tagebuch für die Impfung ausspreche. Ich denke darüber nach. Eigentlich setze ich nur auf Impfung, weil die Regierung keine Alternative anbietet. Die Grundrechte, die eigentlich unantastbar sind, bleiben weggenommen, wenn man sich nicht impfen lässt. Das ist wahrscheinlich der Grund für mein eigentlich eher gespaltenes Verhältnis zum Corona-Impfen. Es geschieht nicht freiwillig, nicht überlegt, nicht aus eigenem Antrieb, sondern aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung und weil ich wie fast jeder Bürger so mürbe bin, dass ich diese Einschränkungen nur noch weghaben will. Eine junge Mutter, der ich auf Instagram folge, hat sich darüber gewundert, dass sie bei ihrer ersten Impfung weinen musste. Sie erklärte es sich mit der unglaublichen Erleichterung darüber, dass der ganze Spuk dadurch bald ein Ende hat. Andere glauben daran nicht. Manch einer hat Sorge und sieht in den Modellregionen Überlegungen der Politik für unsere Zukunft. Sofort frage ich mich: Warum sollten sie das tun? Doch im Unterbewusstsein ist genau das meine Angst. Der permanente Lockdown-Überwachungsstaat. Vielleicht werden wir alle nach und nach paranoid? Mir scheint eine Paranoia in diesen Zeiten völlig normal. Meine Sportfreundin erscheint pünktlich mit einer Geburtstagshortensie für mich, dann rollen wir unter Austausch der neuesten Neuigkeiten der vergangenen Tage unsere Yogamatten aus. Plötzlich klingelt es. Gisi war gerade in der Nähe, wir verschieben unsere Sportstunde auf den Balkon, heben bei ausführlichen Gesprächen die Kaffeetassen immer wieder zum Mund und frieren im immer stärker wehenden Wind. Dann bin ich wieder allein und das schlechte Gewissen macht sich bemerkbar. Dabei war ich wegen meines ausufernden Fleißes und überbordender Disziplin in den frühen Morgenstunden, in denen ich geschrieben, gesungen und gebügelt habe, eben noch so stolz auf mich. Nun schleiche ich untrainiert zurück an meinen Computer und schreibe weiter, die tote Katze freut sich. In einer Zigarettenpause, in der ich mangelnde Hygienebereitschaft von Gärtners leerer Leine ablesen kann, schaue ich nur ganz kurz bei Facebook rein. Die erste Meldung die mir ins Auge sticht, reißt mich aus meiner heilen, kleinen Lockdown-Welt. „Zwei Männer sind in einer S-Bahn in Leipzig aneinandergeraten, weil einer von ihnen seine Maske nicht richtig trug. Der Streit endete mit einem Tritt ins Gesicht.“ Das muss man sich mal vorstellen, da trägt einer seine Maske nicht richtig, vielleicht unter der Nase, ein anderer, sehr korrekter, ängstlicher, der mit dieser vorwitzigen Nase bereits sein nahes Ende vor sich sieht, spult sich auf, wird immer wütender, bis sich so viel Frust aufgebaut hat, dass er brüllt, schreit, tritt. Schaut man sich das Satire-Video von #allesdichtmachen mit Martin Brambach an, dem Kriminalhauptkommissar im Dresdner „Tatort“, in dem er sagt: „Ich brauche klare Regeln und es tut mir gut, wenn ich andere darauf hinweisen kann, was sie falsch machen!“, scheint das wahre Leben diese Überhöhung ganz klar zu übertreffen. Die Menschheit wird nicht nur humorlos und paranoid, sondern auch immer panischer und brutaler. Zwei Päckchen erreichen mich am Abend.

---ENDE DER LESEPROBE---