Angekommen im Glück - Jae - E-Book

Angekommen im Glück E-Book

Jae

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Beschreibung

Sechs Kurzgeschichten, die uns Einblicke in das Leben von Luke, Nora und den anderen Figuren aus dem historischen Liebesroman Westwärts ins Glück geben. Im Morgengrauen: Als ihre Mutter stirbt, beschließt die zwölfjährige Lucinda, ein neues Leben als Junge zu beginnen. Alles, was nötig ist: Niemand weiß, dass der Bordellbesitzerin Tess auch der Mietstall und einige andere Geschäfte gehören. Auf einem ihrer geheimen Rundgänge macht sie eine überraschende Entdeckung. Die Pflicht des Hahns: Die Hamiltons hatten auf einen ersten milden Winter in ihrem neuen Zuhause gehofft, doch nun sind sie eingeschneit und selbst ihr Hahn macht Probleme. Die Kunst der Verstellung: Tess findet heraus, dass jemand sie bestiehlt. Sofort verdächtigt sie Frankie, eine Frau, die sie an Luke erinnert. Aber nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Weihnachtseiche: Luke macht sich auf die Suche nach einem Weihnachtsbaum und findet stattdessen etwas ganz anderes. Mitgerissen: Die größte Überschwemmung in der Geschichte von Oregon reißt Häuser, Scheunen und Tiere entlang des Willamette River mit sich. Gleichzeitig wird die vierzehnjährige Amy von ihren Gefühlen für ihre beste Freundin überwältigt.

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Seitenzahl: 162

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhaltsverzeichnis

Von Jae außerdem lieferbar

Vorwort der Autorin

Im Morgengrauen

Alles, was nötig ist

Die Pflicht des Hahns

Die Kunst der Verstellung

Die Weihnachtseiche

Mitgerissen

Über Jae

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Westwärts ins Glück – Band 1

Westwärts ins Glück – Band 2

Aus dem Gleichgewicht

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Von Jae außerdem lieferbar

Tintenträume

Ein Happy End kommt selten allein

Alles nur gespielt

Aus dem Gleichgewicht

Perfect Rhythm – Herzen im Einklang

Hängematte für zwei

Herzklopfen und Granatäpfel

Vorsicht, Sternschnuppe

Cabernet & Liebe

Die Hollywood-Serie:

Liebe à la Hollywood

Im Scheinwerferlicht

Affäre bis Drehschluss

Die Portland-Serie:

Auf schmalem Grat

Rosen für die Staatsanwältin

Die Serie mit Biss:

Zum Anbeißen

Coitus Interruptus Dentalis

Die Gestaltwandler-Serie:

Vollmond über Manhattan

Oregon-Serie:

Westwärts ins Glück (Band 1)

Westwärts ins Glück (Band 2)

Vorwort der Autorin

Nach der Veröffentlichung der beiden Bände meines historischen Liebesromans Westwärts ins Glück gab es noch viele interessante Ereignisse im Leben der beiden Hauptfiguren, die ich im Roman nicht näher betrachten konnte. Warum hat Luke angefangen, ein Leben als Mann zu führen? Wie kam es, dass Nora in Tess’ Bordell gearbeitet hat? Wird Tess irgendwann auch die große Liebe finden? Wie ging es mit den Hamiltons weiter, nachdem sie in Oregon angekommen waren? Was wird aus den beiden Töchtern, Amy und Nattie?

Die vorliegende Kurzgeschichtensammlung beantwortet diese Fragen. Ich hoffe, Sie genießen das Wiedersehen mit Luke, Nora und Tess.

Im Morgengrauen

Galena, Illinois

24. November 1838

Lucinda Hamilton presste ihre Wange gegen ihre aufgeschürften Knie und schlang die Arme enger um ihre Beine. Der kalte Wind, der vom Fluss her kam, zupfte an ihrem dünnen Mantel und trieb den Gestank aus der Gasse in ihre Richtung. Sie zog den Kopf ein und vergrub die Nase in ihrem Rock.

Hin und wieder hob sie ihre schwieligen Hände zum Mund und hauchte hinein, um ihre Finger zu wärmen. Ihr Hintern fühlte sich taub an und sie rutschte unbehaglich auf der obersten Stufe der Treppe herum, die zum Hintereingang führte.

Aus der Ferne drangen die Geräusche des geschäftigen Hafens am Fluss zu ihr herüber. Dockarbeiter riefen sich etwas zu und das Pfeifen eines Dampfschiffs ertönte. Lucinda stellte sich vor, wie das Schiff mit Blei aus den Minen der Stadt beladen wurde und es seine Fracht dann zu einem fernen Ort namens St. Louis brachte.

Sie presste ein Ohr gegen die Tür und lauschte, doch aus dem Haus drangen keine Schritte.

Wieso dauert das heut’ Nacht so lang?

Lucinda starrte in den Nachthimmel hinauf und versuchte, abzuschätzen, wie lang sie schon hier draußen saß und wartete. Der Mond war vor etwa einer Stunde untergegangen und langsam schälten sich die Konturen des Bordells und der umliegenden Gebäude aus der schwindenden Dunkelheit. Die orangefarbenen Backsteine des Bordells wirkten im fahl-blauen Licht grau.

Es dämmert schon fast. Ihr Kiefer knackte, als sie herzhaft gähnte. Sie rieb sich die Augen.

War ihre Mutter betrunken eingeschlafen, nachdem der letzte Kunde gegangen war, und hatte sie hier draußen vergessen?

Sie schüttelte den Kopf. Nein, sicher würde ihre Mutter sie gleich ins Haus rufen. Sie musste sich nur noch einen Moment lang gedulden. Vielleicht will Mama mich überraschen. Vielleicht hat sie Kate überredet, ihr für ’ne Stunde die Küche zu geben, damit sie mir einen Kuchen für Thanksgiving backen kann. Oder sie hat Geld für einen Truthahn gespart.

Ihr Magen knurrte bei dem Gedanken daran und sie leckte sich die kalten Lippen.

Hinter ihr schwang die Tür auf.

Na endlich! Lucinda sprang auf und stolperte beinahe die Treppe hinab, als ihre eingeschlafenen Beine unter ihr nachgaben. Doch als sie sich fing und sich umdrehte, stand ein Fremder vor ihr.

Ein Mann in einem langen, schwarzen Mantel schob sich an ihr vorbei und eilte die Treppe hinab. Noch vor ein oder zwei Jahren hatte Lucinda es als lustiges Versteckspiel betrachtet. Doch mittlerweile verstand sie, dass er sich durch den Hintereingang aus dem Haus schlich, weil ein Bordell ein Ort der Schande war.

Denk nicht darüber nach. Sie versuchte, sich mit dem vertrauten Ratespiel abzulenken und zu erraten, wer der nächtliche Besucher wohl war. Ein Minenarbeiter? Ein Bauer? Vielleicht der Kapitän eines Dampfschiffs? Wohin er nun unterwegs war? Eilte er nach Hause, um Thanksgiving mit seiner Familie zu verbringen oder um später zum Gottesdienst zu gehen?

Lucinda würde nicht zur Kirche gehen. Selbst wenn ihre Mutter rechtzeitig ihren Rausch ausschlafen würde, so würden die braven Bürger von Galena die Kirchenbank nicht mit einer Hure und ihrem unehelichen Kind teilen wollen. Aber vielleicht konnte sie sich nachher wegschleichen und sich den Schießwettbewerb oder die Pferderennen ansehen.

Sie setzte sich wieder und lehnte den Kopf gegen die Tür.

Das Klimpern des verstimmten Klaviers drang durch das dünne Holz, gefolgt von Schritten.

Lucinda nahm den Kopf von der Tür, gerade als diese erneut geöffnet wurde.

Ein weiterer Mann trat heraus. Er hatte einen Arm um Rose geschlungen und hielt sie eng gegen seinen Körper gepresst. Als er die Treppe hinabging, sah Lucinda, dass er Roses Hintern begrapschte.

Sie rutschte zur Seite, um die beiden vorbeizulassen, und starrte auf ihre Stiefel hinab, bis seine Schritte sich entfernten.

Rose stieg die Treppe hinauf und setzte sich neben sie. Zwei Münzen klirrten, als sie das Geld in ihren tiefen Ausschnitt schob.

Lucinda fragte sich, was sie wohl darunter trug. Sofort schob sie den Gedanken beiseite.

»Was machst du denn hier draußen?«, fragte Rose. »Für ’n Mädchen so ganz allein kann’s gefährlich sein.«

»Auch nicht gefährlicher als drinnen, oder? Hier ist es wenigstens schön ruhig.«

Rose seufzte. »Wie lang sitzt du schon hier? Sag nicht, deine verdammte Mama hat dich schon wieder vergessen.«

»Oh nein, sie ruft mich rein, sobald der letzte Gast gegangen ist.«

Roses volle Lippen zuckten, aber sie sagte nichts. Sie strich mit den Händen ihren Rock glatt, der so kurz war, dass die Frau des Gemischtwarenhändlers ihn letzte Woche als skandalös bezeichnet hatte. »Komm, Schätzchen.« Rose erhob sich. »Du kannst mir ’ne Weile Gesellschaft leisten.«

Die warme Luft im Inneren des Bordells ließ Lucindas kalte Wangen brennen. Es fühlte sich an wie tausende von Nadelstichen. Sie stolperte den Flur entlang. Ihre Stiefel sanken tief in den Teppich, der purpurrot gewesen war, als sie ihn vor fünf Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Nun war die Farbe zu einem langweiligen Rostbraun verblasst.

Von unten drangen das Klirren von Gläsern und heisere Rufe vom Pharo-Tisch in die obere Etage.

»Es ist schon fast Morgen«, sagte Lucinda. »Warum gehen die Männer nicht nach Hause?«

»Kate will den Salon die ganze Nacht und morgen den ganzen Tag offen halten.« Rose zuckte mit den Schultern. »Sie sagt, an Thanksgiving können wir so ein nettes Extra-Sümmchen verdienen.«

Lucinda ließ den Kopf hängen. Wie lang würde es noch dauern, bis sie endlich ins Bett kriechen und ein paar Stunden schlafen konnte?

Rose öffnete eine Tür und zupfte an Lucindas Ärmel. »Ich bin fertig für heute. Du kannst reinkommen und das Bett mit mir teilen.« Ein abgebrochener Schneidezahn kam zum Vorschein, als sie kicherte. »Hätte nicht gedacht, dass ich das heute Nacht noch mal sage.«

Lucinda schoss das Blut in die Wangen und sie drehte den Kopf, damit Rose nicht sah, wie sie errötete. Sie setzte sich auf die Bettkante, denn wie im Zimmer ihrer Mutter gab es sonst keine Sitzgelegenheit.

Das Plätschern von Wasser ließ sie aufsehen.

Rose tauchte ein Tuch in die Waschschüssel und wusch sich das Gesicht. Unter einer dicken Schicht Rouge kam ein bleiches Gesicht zum Vorschein.

Lucinda konnte nicht anders, als sie anzustarren, selbst als Rose sich umdrehte und sie ansah. Für sie war Rose immer nur eine Freundin ihrer Mutter gewesen. Na ja, eigentlich keine richtige Freundin, sondern vielmehr jemand, der dasselbe Schicksal teilte. Doch nun, als sie Rose ohne das Rouge sah, stellte sie fest, dass Rose nur einige Jahre älter als sie selbst war, vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Doch Lucinda war schlaksig und flachbrüstig, während Rose elegant und kurvig war. Der wachsame Ausdruck in ihren Augen verriet, dass sie Dinge gesehen und getan hatte, die Lucinda nur durch geschlossene Türen hindurch gehört hatte.

In drei oder vier Jahren könnte ich das sein. Der Gedanke erschütterte sie.

»Was ist?«, fragte Rose, eine Hand auf die Hüfte gestützt.

Lucinda wandte rasch den Blick ab. »Nichts.«

»Nichts?« Rose spritzte Wasser in ihre Richtung. »Warum starrst du mich dann an, als wär’ ich ’ne Kuh mit zwei Köpfen?«

»Weil … weil …« Ein Tropfen Wasser lief Lucindas Kinn hinab. Sie wischte ihn weg. »Weil du wunderschön bist.«

Rose lachte. Es war nicht das aufgesetzte Gelächter, das sie benutzte, um den Männern das Geld aus der Tasche zu ziehen, sondern ein kehliges Lachen, das wie ein erfrischender Regen durch Lucinda hindurchfloss. »Danke, Schätzchen«, sagte Rose. »Du bist süß.« Dann verklang ihr Kichern und sie schüttelte den Kopf. »Deine Mama hätte dich nicht hierherbringen sollen. Dieses Drecksloch ist kein Ort für dich.«

Die Bettkante presste sich in Lucindas Haut, als sie sich daran festklammerte. Sie hielt den Blick auf ihre Hände gerichtet. »Ich weiß.« Sie schielte zu Rose und blickte dann beiseite. »Es ist auch kein Ort für dich oder für die anderen Frauen.«

»Ich bleibe nur hier, bis ich genug Geld zusammen habe, um ein neues Leben anzufangen«, sagte Rose.

Ein Brennen begann in Lucindas Hals und breitete sich aus bis in ihre Magengrube. Diese Worte hatte sie nur zu oft gehört. Ihre Mutter hatte dasselbe in jeder neuen Stadt, in jedem neuen Bordell und jeden Abend gesagt, wenn sie Lucinda zum Warten nach draußen geschickt hatte.

Sie hat es schon seit einer Weile nicht mehr gesagt. Lucinda fiel auf, dass ihre Mutter schon seit Längerem nicht mehr darüber sprach, ein neues Leben anfangen zu wollen. Ihre Ziele beschränkten sich nun darauf, genug Whisky und Laudanum zu ergattern, um irgendwie die Nacht zu überstehen.

»Komm.« Rose schlüpfte aus ihrem bunten Rock und ihrem engen Mieder und stand nun lediglich in einem halb transparenten Unterhemd vor Lucinda. »Lass uns ins Bett gehen.«

»Ähm.« Lucinda kniff die Augen zu. Der Gedanke, mit Rose das Bett zu teilen, machte sie nervös. Irgendwie war es etwas ganz anderes, als das Bett mit ihrer Mutter zu teilen. »I-ich glaube, ich gehe und schaue nach, ob Mama für heute fertig ist.« Sie schlüpfte aus dem Raum, bevor Rose sie zurückhalten konnte.

Auf dem Weg den Gang hinab ignorierte sie die Geräusche, die aus den Zimmern zu beiden Seiten drangen: Schnarchen, Ächzen, Stöhnen. Vor dem Zimmer, das sie mit ihrer Mutter teilte, blieb sie stehen und presste das Ohr gegen die Tür.

Drinnen war alles still.

Kein Stöhnen, kein schweres Atmen, nicht einmal das trunkene Schnarchen ihrer Mutter.

Lucinda atmete auf. Vielleicht hatte ihre Mutter beschlossen, keinen weiteren Kunden mit aufs Zimmer zu nehmen, um etwas Zeit mit Lucinda zu verbringen. Vielleicht hatte sie schon nach ihr gesucht. Sie öffnete langsam die Tür, immer auf der Hut und bereit, sich schnell zurückzuziehen, sollte doch noch ein Kunde bei ihrer Mutter sein.

Doch es blieb alles still.

Sie schlich sich in den Raum.

Der Gestank abgestandenen Alkohols, gemischt mit Schweiß und billigem Parfüm, stach ihr in die Nase.

Übelkeit stieg in ihr auf. Sie durchquerte den Raum, um das Fenster zu öffnen. Im Dämmerlicht wäre sie fast über ein Paar Stiefel gestolpert. Die Öllampe auf dem wackeligen Nachttisch flackerte, als das Öl darin zur Neige ging.

Lucinda blieb stehen und betrachtete ihre Mutter.

Lilly lag auf dem Bett. Die veilchenblaue Decke unter ihr war zerknittert. Ihr ohnehin zu kurzer Rock war ein Stück nach oben gerutscht, sodass eines ihrer Strumpfbänder zu sehen war. Eine Whiskyflasche hing lose in ihrer Hand und ihr Inhalt war auf den Boden getropft.

Rasch nahm Lucinda ihr die Flasche ab. Nun war es ohnehin zu spät. Die Flasche war leer.

Als Lucinda sich aufrichtete, fiel ihr Blick auf das leere Fläschchen in der anderen Hand ihrer Mutter. Der schwere Geruch von Laudanum lag in der Luft. Lucinda rümpfte die Nase. Nicht schon wieder.

Heute würde sie nicht mehr mit ihrer Mutter reden können. Statt mit Lucinda Thanksgiving zu feiern, würde ihre Mutter den Tag in einem lethargischen Dämmerzustand verbringen.

Sie zog die Decke unter ihrer Mutter hervor und deckte sie zu. Dabei streifte ihre Hand kalte Haut. »Mama?«, flüsterte Lucinda. Sie beugte sich über sie.

Ihre Mutter rührte sich nicht. Sie atmete nicht.

Angst ergriff Lucinda, sodass sie keine Luft mehr bekam. »Mama!« Sie schüttelte ihre Schulter. »Mama, bitte!«

Das leere Fläschchen entglitt der schlaffen Hand ihrer Mutter und fiel zu Boden.

Mit zitternden Fingern hob Lucinda die Hand, um sie vor Mund und Nase ihrer Mutter zu halten. Selbst nach endlos erscheinenden Sekunden spürte sie keinen Atem.

Sie presste sich eine Hand auf den Mund, um ihr Schluchzen zurückzuhalten. Als ihr die Beine den Dienst versagten, sank sie zu Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Bett. »Gütiger Gott, Mama, was hast du getan? Was hast du bloß getan?«

Ihr Körper fühlte sich taub an, als hätte sie selbst das Laudanum getrunken. Sie rieb sich die brennenden Augen, doch es fielen keine Tränen.

Als die Sonne aufging, kam Lucinda taumelnd auf die Beine. Sie stand da und sah auf ihre Mutter hinab. Dann hob sie eine Hand und fuhr mit einem Finger sanft über die rouge-gefärbten Wangen und die nachgezogenen Augenbrauen. Als ihre Mutter noch am Leben gewesen war, hatte sie eine solche Berührung nie erlaubt.

Draußen schlug eine Tür zu.

Lucinda zuckte zusammen. Sie straffte sich, wandte sich von ihrer Mutter ab und ging, um Kate Bescheid zu sagen.

Kate las langsam und unbeholfen aus der Bibel vor. Immer wieder hielt sie inne, um ein Wort zu entziffern, bis sie schließlich zum »Amen« kam und die Bibel schloss.

Auch Lucinda murmelte ein leises »Amen«. Wenigstens diesen Teil des Vaterunsers kannte sie von den anderen Beerdigungen, denen sie beigewohnt hatte. Erst vor wenigen Wochen war Fanny, die junge Frau aus dem Nachbarzimmer, von einem Kunden erwürgt worden.

Einige der Freudenmädchen hatten sich aus dem Bett gequält, um von Lilly Abschied zu nehmen, aber ein Pfarrer war nicht anwesend. Er hatte sich geweigert, Lilly im geweihten Boden des Friedhofs zu beerdigen, deshalb hatte Kate jemanden dafür bezahlt, ein Grab an einer einsamen Wegkreuzung am Stadtrand auszuheben.

Lucinda starrte auf das Holzkreuz auf dem Grab ihrer Mutter hinab. Da sie sich keinen Grabstein leisten konnte, hatte jemand den Namen ihrer Mutter in ein einfaches Kreuz aus Holz geritzt. Nun standen dort zwei der wenigen Wörter, die Lucinda lesen konnte: Lilly Hamilton.

War das überhaupt der richtige Name ihrer Mutter? Lucinda wusste es nicht. Die meisten der Frauen im Bordell verwendeten nicht ihre wahren Namen, sodass es in den Freudenhäusern zahlreiche Mädchen namens Daisy, Rose oder Lilly gab. Falls ihre Mutter jemals einen anderen Namen getragen hatte, so war dieser längst in Vergessenheit geraten.

Eine Hand, die auf ihre Schulter gelegt wurde, ließ sie zusammenzucken.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Kate. Sie hakte sich bei Lucinda unter und führte sie zum Bordell zurück.

Lucinda knabberte an ihrer Unterlippe. »Ich weiß es nicht.«

»Hast du keine Verwandten, die dich aufnehmen könnten?«

»Nein.« Ihr Vater war einer der vielen anonymen Kunden, die das Bett mit ihrer Mutter geteilt hatten, und Lucinda hatte ihre Großeltern nie kennengelernt. Sie stand nun ganz allein da. Ihr Magen krampfte sich zusammen bei dem Gedanken.

Als sie um eine Ecke bogen, kam die orangefarbene Fassade des Bordells in Sicht.

»Wie alt bist du denn inzwischen?«, fragte Kate.

»Ich bin gerade zwölf geworden.«

Kate musterte sie wie ein halbes Rind, das sie womöglich kaufen wollte. »Du kannst gerne bleiben. Mit ein wenig Rouge und ein paar Baumwollpolstern in deinem Korsett würdest du recht hübsch aussehen.«

Lucinda starrte sie an.

Das grimmige Gesicht der Bordellbesitzerin mit den nach unten gezogenen Mundwinkeln wirkte, als würde sie ständig auf etwas Saures oder Bitteres beißen. Das Rouge konnte die geplatzten Äderchen auf ihrer Nase und ihren runden Wangen nicht verbergen.

»Nein«, krächzte Lucinda mit einem Kloß im Hals. Nein. Das kommt nicht infrage. Niemals.

Kate zuckte mit den Schultern. »Wie du willst. Aber komm bloß nicht weinend angelaufen, wenn du merkst, dass ein Mädchen allein es nicht weit bringen wird.«

Lucinda schob ihre Haarbrüste und das einzige gute Kleid, das sie besaß, in eine Reisetasche, ließ jedoch die Parfümflasche ihrer Mutter zurück. Als sie die Tasche schloss, fiel ihr Blick auf die Spiegelscherbe auf der Ankleide ihrer Mutter. Ein Kunde hatte den Spiegel schon vor Monaten zerbrochen, doch Lilly hatte nicht das Geld gehabt, ihn zu ersetzen.

Draußen jagten Pferde am Bordell vorbei und ihre Reiter johlten, während sie versuchten, das Wettrennen für sich zu entscheiden. Sie kannte viele der Reiter. Einige waren Stammkunden ihrer Mutter gewesen.

Lucinda hatte die Männer immer um ihre Freiheit beneidet. Niemand sprach schlecht von ihnen, nur weil sie ein Bordell besuchten. Niemand kritisierte sie, weil sie an Pferderennen teilnahmen oder taten, was immer sie wollten.

Ein Mädchen allein wird es nicht weit bringen. Kates Worte gingen ihr noch immer durch den Kopf.

Sie wusste, dass Kate recht hatte.

Viel Auswahl hatte sie nicht, wenn sie überleben wollte. Sie konnte weder lesen noch schreiben und für Handarbeit hatte sie kein Talent. Das Einzige, worin sie gut war, war der Umgang mit Pferden. Sie hatte sich bisher um die beiden Pferde gekümmert, die Kate im Mietstall der Stadt untergebracht hatte.

Aber niemand würde ein Mädchen einstellen, um im Mietstall zu arbeiten. Stalljungen waren eben Jungen.

Ein Mädchen allein.

Sie fuhr sich mit den Händen durch ihre langen, schwarzen Haare. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatten einige der jüngeren Prostituierten die seidenweichen Strähnen bewundert und ihr Haar gekämmt, als wäre Lucinda eine Puppe. Zwar hatte sie die Aufmerksamkeit genossen, aber an ihren langen Haaren hatte sie nie gehangen.

Was wäre, wenn ich …? Sie raffte ihre Haare hinter dem Kopf zusammen und starrte sich in dem zerbrochenen Spiegel an.

Ohne sich Zeit zum Zögern zu geben, griff sie nach einer Schere.

Schwarze Haarsträhnen rieselten auf die Ankleide und sie stellte sich vor, wie zugleich all die Trauer, die Wut und die Scham der Vergangenheit von ihr abfielen. Als sie fertig war, wischte sie die Locken vom Spiegel und musterte den dünnen, bleichen Jungen, der mit großen Augen zurückstarrte. Sie berührte ihren bloßen Nacken und fuhr mit den Händen über ihre noch flache Brust.

Konnte ihr Plan wirklich funktionieren? Würde es ihr gelingen, alle davon zu überzeugen, dass sie ein Junge war?

Sie versuchte, eine männliche Pose einzunehmen, und hakte die Daumen in imaginäre Westentaschen, doch da sie ein Kleid trug, wirkte die Geste ziemlich merkwürdig. Dann kam ihr eine Idee und sie grinste. Als sie nach unten sah, erwiderte der Junge im Spiegel ihr Lächeln.

Sie öffnete die Truhe ihrer Mutter. Unter einer halb leeren Flasche Whisky fand sie ein Männerhemd und eine Hose. Einer der Kunden ihrer Mutter hatte oft von Lilly verlangt, sich als Junge zu verkleiden.

Rasch schlüpfte sie aus ihrem Kleid, zog die Hose an und krempelte die viel zu langen Hosenbeine um. Der Bund war zu weit, doch die Hosenträger verhinderten, dass das Kleidungsstück über ihre schmalen Hüften nach unten rutschte. Das Hemd schlackerte um ihre Schultern. Wenigstens würde es jegliche Ansätze weiblicher Kurven verbergen, die sie womöglich hatte.

Sie sah erneut in den Spiegel und staunte über den Anblick, der sich ihr bot. Das bin ich!

Es war, als sähe sie sich selbst zum allerersten Mal.