Asche - nur Asche - Karin Fruth - E-Book

Asche - nur Asche E-Book

Karin Fruth

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Beschreibung

Asche, nur Asche - Erinnerung an einen vielgeliebten Vater Laura, ist die Tochter eines Archäologen und sie liebt ihren Vater sehr. Auch bei seinen Studenten ist der gut aussehende Wissenschaftler sehr beliebt. Im Testament Ihres Vaters steht nun, dass sie die Asche ihres Vaters an vier ihr unbekannte Frauen mit einem Geldbetrag persönlich überbringen soll. Dort gibt es sogar fremde Geschwister, von denen sie nichts gewusst hat. Also macht sie sich auf den Weg und gerät dabei auch auf Abwege. Schließlich findet sie doch den richtigen Beschützer an ihrer Seite

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Über den Autor

Karin Fruth

© 2022 Karin Fruth

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

Verlagslabel: TRAdeART

ISBN Softcover: 978-3-347-57123-5

ISBN Hardcover: 978-3-347-57124-2

ISBN E-Book: 978-3-347-57125-9

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Asche- nur Asche

1. Papas plötzlicher Tod

Papas letzter Anruf war irgendwie anders gewesen, so bedrückt klang er am Telefon. So kannte ich ihn gar nicht, denn früher war er immer guter Laune gewesen und nichts konnte ihn umwerfen. „Bitte komm so schnell wie möglich nach Hause, ich muss ganz dringend etwas Wichtiges mit dir besprechen, und das geht nicht so einfach am Telefon. Es ist wirklich sehr dringend, denn sonst hätte ich bestimmt nicht bei dir angerufen,“ sagte er leise.

Meinen flapsigen Einwand, ob er denn vergessen hätte, dass ich gerade in Münster lebe und studiere, beantwortete er lapidar, das wüsste er schließlich, und ob ich ihn etwa für bekloppt oder senil halten würde. Er meinte es schon ganz genauso, dass er mir dringend etwas sehr Wichtiges zu sagen hätte, und das ginge nun mal nicht am Telefon, sondern nur persönlich. Und dann hatte er einfach so aufgelegt und ließ mich mit meinen aufgewühlten Gefühlen total allein.

Da musste zu Hause bestimmt irgendetwas schlimmes passiert sein, und langsam wuchs in mir die Sorge. Na gut, in der letzten Zeit lebte er allein, Mama war schon seit acht Jahren ausgezogen, und im Augenblick hatte er auch keine Freundin, aber was besagte das schon? Das konnte es doch wohl nicht sein, nee, da musste bestimmt irgendetwas schlimmeres dahinter stecken. Ob er wohl krank geworden sein.

Langsam wurde ich nervös, nun hielt mich nichts mehr an der Uni. Sofort rannte ich zum Bahnhof und nahm den nächsten IC nach Köln. Vom Hauptbahnhof stieg ich direkt in ein Taxi und fuhr zum Hahnwald, zu unserem Haus. Nach nur zwei Stunden war ich in Rekordzeit zu Hause angekommen, ich klingelte Sturm, aber niemand öffnete. Na, das war mal wieder typisch, erst großes Theater machen und dann nicht zu Hause sein. Zum Glück hatte ich von früher noch meinen Haustürschlüssel dabei, ich fand ihn sogar ziemlich schnell in meinem Rucksack.

Im Hausflur wunderte ich mich über die Stille, und sogar auf mein Rufen antwortete er nicht. Nur die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand weit offen. „Hallo Papa, da bin ich. Los, schieß los, was hast du auf dem Herzen? Was hast du mir denn so Dringendes zu sagen?“ Aber er antwortete nicht, er saß wie immer an seinem Schreibtisch und sah mit weit offenen Augen zum Fenster in den Garten hinaus, aber er lebte nicht mehr.

Ich war zu spät gekommen, mein Vater war tot, ich war fassungslos, und mein Entsetzen steigerte sich immer weiter, als ich dies nach und nach begriff. wieso konnte er nun einfach so tot sein? Einfach so ab ins Nirwana zu verschwinden, und das ohne jede Vorwarnung, das war verdammt unfair. Wir hatten doch gerade noch letzten Monat seinen 64. Geburtstag gefeiert, mit allen Studenten, und da war doch der Riesen-Skandal mit seiner neuesten Flamme gewesen. Und da war er so fit und strahlend und so lustig wie immer, nein, das konnte doch gar nicht sein. Papa, das kannst du doch nicht machen, einfach so abzuhauen.

Ich sah mich um, alles war da wie immer, penibel und ordentlich sortiert. Aber da bemerkte ich zwei Dinge, die irgendwie nicht auf seinen Schreibtisch gehörten. Da stand ein halbvolles Glas, ich schnupperte daran, es war Retsina, merkwürdig und ziemlich ungewöhnlich. Und daneben stand ein gerahmtes Foto. Als ich es in die Hand nahm, staunte ich. Das war ja ich, auf unserer ersten gemeinsamen Fahrt mit dem „Klausi“, meiner neuen Mini-Heimat auf Rädern. Klausi war nämlich ein zu einem Campingbus umgebauten Transporter. Da war ich gerade mal 11 Jahre alt gewesen, und das Foto war irgendwo in Griechenland aufgenommen worden, aber ich erinnerte mich noch ganz genau daran.

Papa, ach mein lieber Papa, Mann, du bist gemein, einfach so ohne mich ins Nirwana abzuhauen. Oder bist du tatsächlich beim lieben Gott und den tausend Engelein und guckst jetzt auf mich runter? Bitte gib mir eine Antwort, bitte. Und was soll ich jetzt ohne dich tun? Meine Tränen stürzten aus den Augen und nun konnte ich mit dem Heulen einfach nicht mehr aufhören.

Ich war völlig fertig, in meiner Verzweiflung rannte ich aus seinem Arbeitszimmer und knallte die Tür zu. Zum Glück gab es noch mein altes Kinderzimmer im ersten Stock. Es roch zwar muffig und ungelüftet, darum stieß ich die Fenster auf, dass sie klirrten, fiel ins Bett und heulte und heulte und heulte mir die Augen aus dem Kopf.

Warum klingelte im Flur andauernd das Telefon, und warum hatte er den Anrufbeantworter bloß ausgestellt? Ich musste irgendwas unternehmen, sonst würde dieses dämliche Telefon niemals Ruhe geben. Ob ich einfach nur den Stecker ziehe, dann wäre erst mal Ruhe. Aber dazu konnte ich mich einfach nicht aufraffen.

Da unten im Arbeitszimmer saß mein Vater, und der war jetzt tot. Aus – Ende – vorbei, und ich konnte ihm noch nicht einmal richtig auf Wiedersehen sagen. Nun war mir klar, warum er noch einmal so dringend mit mir sprechen wollte. Er hatte es wohl irgendwie vorher gefühlt, dass er bald sterben müsste. War das nicht sonderbar, wieso wusste er es vorher? Trotzdem, irgendwie war ich sauer auf ihn, dass er sich einfach so aus dem Staub gemacht hatte. Ich war gerade mal 22 Jahre alt, und mit dem Tod hatte ich noch nie irgendetwas zu tun gehabt.

Aber was muss man eigentlich tun, wenn jemand tot ist? Sofort fiel mir meine Mutter ein, die lebte in Zürich, aber trotzdem musste ich die wohl zuerst mal anrufen. Die beiden lebten zwar seit acht Jahren getrennt, sie waren also nicht geschieden. Ja, die muss sich jetzt um das alles kümmern.

Als ich schniefend und heulend bei ihr anrief, klang ihre Stimme ganz schrill am Telefon, sie war eigentlich gar nicht betroffen, sondern ziemlich cool und sachlich. „Komm, Laura, du bist doch erwachsen und ein tapferes Mädchen, du warst doch nie eine Heulsuse gewesen. Eigentlich hattest du doch gar nicht mehr so viel mit deinem Vater zu tun, oder? Du warst doch von zu Hause ausgezogen und bist jetzt eine emanzipierte junge Frau, du schaffst das mit der Beerdigung bestimmt schon allein, da bin ich ganz sicher.

Wie stellst du dir das vor, dass ich jetzt einfach so nach Köln kommen soll? Glaub mir, ich kann ausgerechnet jetzt kann ich dummerweise hier nicht weg, außerdem habe ich hier so viele Verpflichtungen mit meiner Mama, denn sie braucht mich jeden Tag, und das kannst du mir ruhig glauben. bar trotzdem, ich kann es immer noch nicht glauben. Und der Papa ist wirklich richtig tot?“

„Ja, ich habe ihn gerade eben in seinem Arbeitszimmer gefunden, er saß einfach so in seinem Arbeitssessel und sah hinaus in den Garten. Er hatte mich kurz vorher noch angerufen, und gesagt, dass ich schnell kommen sollte, aber er hatte mir nicht gesagt, warum. Warum ist das passiert, warum nur? Er war doch noch viel zu jung zum Sterben, er hatte doch noch so viel vor,“ heulte ich los.

„Na ja, die Vorhaben sind ja allgemein bekannt gewesen. Fakt ist doch, dass er mal wieder eine neue Freundin hatte, die hatte sogar ein Kind von ihm, stell dir mal vor. Und seine eigentliche Familie stand für ihn doch immer ganz hintenan. Also, meine liebe Laura, jetzt beruhige dich doch erst mal, und nun erzähl mir das alles noch mal von Anfang an. Was hast du denn bis jetzt in dieser Sache unternommen? Was, noch gar nichts? Du weißt nicht, wie so eine Beerdigung funktioniert?

Dann rufst du zuerst mal das Bestattungsunternehmen Pilartz an, die hatten sich damals um die Beerdigung der Tante Kathrinchen gekümmert. Die werden dir bestimmt weiterhelfen, das sind nämlich Profis. Mit deren Hilfe kommst du bestimmt auch alleine mit allem klar. Aber zur Beerdigung werde ich ganz bestimmt kommen, gib mir ruhig später noch den Beerdigungstermin durch. Oder, besser, ich melde mich morgen früh noch einmal bei dir, erst dann werde ich sehen, ob ich hier weg kann oder nicht. Tschüssie und Kopf hoch, du schaffst das schon.“ Klick….. tuuuut…. tuut……

Das Gespräch war schnell zu Ende. Typisch Mutter, nie hatte sie richtig Zeit für mich, und nun wollte sie sogar mit dem Tod ihres Mannes nichts zu tun haben. Immer ließ sie mich in den wichtigsten Situationen allein, und ich fühlte mich mal wieder vollkommen hilflos wie ein kleines Kind. Aber was hatte ich eigentlich von ihr erwartet? Ich hatte sie mindestens zwei Jahre nicht mehr gesehen, und wenn ich richtig drüber nachdachte, dann vermisste ich sie überhaupt nicht. Und jetzt sitzt nebenan mein toter Vater, und ich bin mal wieder ganz allein mit allem Schlamassel. Wie soll ich das nur schaffen? Mein lieber Papa, was hast du mir bloß angetan, einfach so zu sterben?

Das Telefonat mit dem Bestatter war einfach, kurz und bündig, ja, sie würden sich selbstverständlich sofort um alles kümmern, ich brauchte nur meine Adresse anzugeben und danach auf ihren Besuch zu warten, es würde auch nicht lange dauern. Sie würden auch den Arzt bestellen, der den Tod meines Vaters beglaubigen müsste, erst dann könnten sie tätig werden.

Und nun sitze ich grübelnd am Küchentisch, eine Wespe hat sich verflogen und sirrt böse am Fensterglas, aber ich will ihr nicht raushelfen. Die Türklingel schrillt plötzlich aufdringlich laut, ich zucke erschrocken zusammen, das ist der bestellte Arzt, er muss vor der Beerdigung einen Totenschein ausfüllen. Seine Diagnose steht auf einem gelben Zettel mit grünem Durchschlag: Plötzlicher Herztod. Mit 62 Jahren plötzlicher Herztod. Das Formular lässt er achtlos auf dem Küchentisch liegen, die Tür klappt zu und er ist verschwunden. Es ist wieder still, ich bin wieder allein und versinke in Traurigkeit.

Wieder klingelt es nervtötend an der Haustür, zwei schwarzgekleidete Männer vom Bestattungsinstitut stehen vor der Tür. Die beiden Herren waren sehr freundlich, geduldig und hilfsbereit erklärten sie mir den ganzen amtlichen Ablauf, was hätte ich nur ohne sie getan? Nur, wo hat mein Vater seine Urkunden und Dokumente aufbewahrt? Keine Ahnung. Ich hatte noch nie etwas mit dem Tod zu tun gehabt und auch mein Vater hatte nie mit mir über seinen Tod gesprochen. Daher kannte ich auch seinen letzten Willen nicht, und von einem Testament wusste ich auch nichts. Nun musste ich alles für ihn bei der Beerdigung alles ganz allein entscheiden. Schließlich fragten sie mich nach einem Familiengrab, er war ja schließlich Professor gewesen, und bei der Villa wären wir ja schließlich auch nicht arm.

Nein, ich wusste von keinem Familiengrab, und ob er wirklich bei Tante Kathrinchen in ihrem Grab beerdigt werden wollte? Eigentlich wollte ich für meinen Vater gar kein Grab irgendwo in der dunklen Erde auf einem traurigen Friedhof. Ob ich dann als Alternative lieber eine Urne in einem Friedewald bestatten wollte? Nein, dann wurde er doch verbrannt, und hinterher war es doch wieder mit der Urne dasselbe wie auf einem Friedhof, er würde in der dunklen Erde landen und den Regenwürmern Gesellschaft leisten.

Dann gab es als Alternative noch die Seebestattung. Dies gefiel mir schon viel besser, denn mein Vater war früher mal als junger Mann bei der Marine gewesen. Aber so etwas kostet ziemlich viel Geld, nur weil dann der Kapitän des Schiffes eine Rede halten würde? Also wollte ich auch keine Seebestattung, und das hätte er bestimmt auch nicht gewollt.

Vielleicht sollte man ihn doch verbrennen, das würde ihm bestimmt nichts ausmachen, denn er hatte viele buddhistische Bücher gelesen und daher einen Zugang zur buddhistischen Religion. Und ich dachte an die vielen alten indischen Sagen, die er mir immer vorgelesen hatte, dass in den Flammen die Seele befreit ins Nirwana schweben würde. Am liebsten hätte ich eine Urne, die ich zuerst einmal zu Hause aufbewahren würde.

Die Bestatter waren zuerst entsetzt, dann erschrocken, aber als ich nicht mit meinen Argumenten nachließ, fanden sie meine Idee eigentlich gar nicht so schlecht. Sie klärten mich aber auf, dass dieses Vorhaben offiziell in Europa und ganz besonders in Deutschland verboten war, es gäbe schließlich eine Friedhofsordnung, an die sich alle in Deutschland zu halten hätten. Im Ausland wäre das etwas anderes, da müsste ich mich selbst im Internet um Informationen bemühen.

Wir kamen schließlich zu folgender Vereinbarung: Eine schlichte Kremierung in den Niederlanden, nur ich werde dabei sein, und am Schluss kann ich die Urne mit nach Hause nehmen, um sie später nach meinen eigenen Wünschen beisetzen zu lassen, das ist dort nämlich erlaubt. Sie würden sich um alles kümmern, kein Problem.

Einer der Herren hatte sogar rein zufällig einen Prospekt mit einer Einladung zum Tag der offenen Tür im Krematorium dabei, der heute und morgen im Westerwald stattfinden würde. Man könnte ganz leicht mit Zug und Bus hinkommen. Ich sollte ruhig mal hinfahren, es mir in Ruhe überlegen und danach ihnen meinen Entschluss baldmöglichst mitteilen.

Am Schluss unterschrieb ich eine Kosten-Anerkenntnis über 3800 Euro für die Kremierung inklusiv vierer Urnen. Wie ich das begleichen wollte, war mir in dem Moment noch völlig gleichgültig, darum werde ich mich ganz bestimmt später kümmern. Jetzt ist alles auf dem richtigen Weg.

Die beiden schwarzen Herren verschwanden mit dem Toten und der Bahre im Treppenhaus. Mir war keine Zeit mehr geblieben, endgültig von ihm Abschied nehmen, ich wollte meinen Vater viel lieber so in Erinnerung behalten, wie er zuletzt als Lebender gewesen war.

Als ich die Haustür schließe, sehe ich, wie die Nachbarin gegenüber neugierig durch die Hecke glupscht. Ach, was die über eine spätere Beerdigung denken, ist mir total egal, ich werde denen einfach sagen, dass er im Grab seiner Eltern in Passau beerdigt wird, und das ist zum Glück für die Nachbarn weit genug weg, um nicht an der Beerdigung teilzunehmen.

Was für ein gruseliger Gedanke, dass mein lieber Papa nun ein paar Tage in der Kühlung des Bestattungsinstitutes liegt, bis er erst in einigen Tagen die letzte Reise nach Holland in die Flammen unternimmt. Am Schluss wirst du als Asche in einer Urne wieder bei mir zu Hause zurückkehren.

Weißt du was, mein lieber Papa, ich habe eine grandiose Idee. Wir beide werden noch einmal genau wie früher gemeinsam nach Griechenland reisen. Und dann wird deine Asche in Olympia, Mykene und Dion verstreut werden. Dort wirst du dann für immer den olympischen Göttern nahe sein. Ja, dieser Gedanke war für mich sehr tröstlich.

Ja, die Gedanken an Friedhof und Tod sind für mich immer mit dem uralten Melaten-Friedhof eng verbunden, und der war nur ein paar hundert Meter von meinem Elternhaus entfernt. Ich war nur ein einziges Mal mit meinem Vater dort gewesen, am Grab von Millowitsch, der war am 20. September 1999 gestorben. Das gefiel mir überhaupt nicht, der Grabstein war so glatt und viereckig und total langweilig.

Manchmal ging ich dort mit meinem Kindermädchen Marga hin – natürlich heimlich -, um Blumen zum Grab ihrer Mutter zu bringen. Sie kniete dann vor dem kleinen Erdhügel und betete, und ich ging dabei auf Zehenspitzen unter den Blumen und den Grabsteinen herum, schaute mir die merkwürdig fremden, schönen Engel an, die rundlichen Babys mit ausgebreiteten Flügeln, die großen, gütig blickenden Frauen in wehenden Gewändern, die mit fromm geneigten Köpfen und freundlich geöffneten Armen über manchen Gräbern wachten.

„Das ist die Madonna“, erklärte Marga feierlich. „Die Mutter unseres Herrn.“ Ich nickte, voller Scheu über diese plötzliche Nähe zu einem Gott, von dem ich nur eine ganz nebelhafte Vorstellung hatte, weil wir nie in die Kirche gegangen waren. Daher war dieser Friedhof für mich voller unerklärlicher Geheimnisse und aufregender Abenteuer. Ich wusste, dass unter dem Marmor und den Blumen Tote lagen, aber die waren freundliche, gütige Wesen, die hier unter der Erdoberfläche ihr ganz gewöhnliches, geschäftiges Menschenleben führten. Marga erklärte mir, dass ihre Körper verfaulten, und dass die Würmer sie langsam bis auf die Knochen abnagten.

Wenn Marga, die sich für Begräbnisse begeisterte, eine besonders lebhafte Beschreibung einer schönen Leiche lieferte, dann träumte ich nachher, dass ich die Toten in ihren unterirdischen Gemächern besuchen würde. Steif lagen sie in ihren Särgen, aber ich redete mit ihnen; aber dann sah ich, wie ihre Körper in den grauen Totenhemden zerfielen, es schüttelte mich vor Entsetzen über die Masse der sich windenden Würmer; ich hasste Würmer, und die armen Toten, die sich ja nicht mehr wehren konnten, taten mir schrecklich leid.

Mein Vater bemerkte natürlich bald, womit sich meine Gedanken beschäftigten, und er ging daran, ein bildendes Element einzubauen, indem er mir vorsichtig erklärte, wie nützlich die Würmer waren, weil sie die Erde durchwühlten und damit den Blumen und Früchten beim Wachsen halfen. Die Vorstellung, dass sich ein Toter hinterher in eine wunderschöne Blume verwandelte, regte meine Phantasie nur noch mehr an. Gab es denn wirklich Totenblumen, oder lagen etwa unter jeder Blume ein Toter?

Und was ist mit dem lieben Gott? Gibt es den denn wirklich? Mein Papa sagte immer ja, denn er würde ihn persönlich kennen. Manchmal hätte er ihn im Stadtwald am Flaschencontainer oder im Bio-Markt gesehen und er hätte mit ihm gemeinsam auf einer Parkbank am Kanal gesessen, wo er aus einer Thermoskanne Kaffee getrunken und mit seinem Brot die Enten gefüttert hätte.

Einmal hatte er ihm lachend erzählt, dass er mehr als sechs Milliarden Jahre gebraucht hätte, bis er sich zum Urknall entschließen konnte. "Was für eine anstrengende Grübelei!“, rief er. "Und dann das hier, was für ein trauriges Ergebnis!“ sagte er kopfschüttelnd, und sein langer, weißer Bart wehte im Wind.

„Und wie sieht der liebe Gott denn genau aus? Was hatte er an, und warum glaubst du, dass er wirklich der Liebe Gott gewesen war?“ Wollte ich dann neugierig von ihm wissen.

„Also, Gott ist ein älterer Herr, etwa zwanzig Milliarden Jahre alt, er trägt einen langen weißen Rauschebart, mit einem schmalen, scharf konturierten Gesicht, die weißen, immer noch vollen Haare sind vielleicht einen Tick zu lang, irgendwie hat er einen müden Zug um die alten (aber doch wachen) Augen. Er trägt einen älteren grauen Wollmantel, und riesige russische Pelzstiefel, ach ja, und alte speckige Lederhandschuhe, jedenfalls im Winter.

Nein, Gott ist nicht stolz auf das, was er bisher geschaffen hat, bekannte er freimütig, und manchmal hätte er sogar die Übersicht verloren, und viele Dinge wären viel zu kompliziert und manches seiner Schöpfung wäre sogar schlichtweg überflüssig gewesen.

„Was meint er denn damit?“ fragte ich mit großen Augen.

„Da ist zum Beispiel der Schmetterling! Er war wirklich gut in Form, als er den Schmetterling machte. Dann aber wollte er im Gegenzug auch etwas richtig Fieses erschaffen und darum erschuf er die Wespe. Weißt du, was Wespen mit den Raupen von Schmetterlingen tun? Sie machen sie bewegungsunfähig, sie töten sie nicht, nein denn sie lähmen sie nur mit Stichen von chirurgischer Präzision.

„Das ist aber wirklich gemein, und warum machen sie das denn?“

„Damit sie ihre Eier auf ihnen ablegen können und damit der Wespennachwuchs nach dem Schlüpfen sofort frisches Fleisch vorfindet. Verstehst du? Die Wespenkinder fressen ein lebendes Wesen langsam auf!“ Dabei starrte er zu Boden, als ob dort irgendetwas seltsames verborgen wäre.

„Dann ist Gott ja gleichzeitig gut und gemein, warum hat er denn sowas dummes zugelassen? Was die Wespe tut, ist einerseits sehr böse. Aber andererseits sorgt sie doch perfekt für ihren Nachwuchs, der hat doch gleich was zu fressen, wenn er auf die Welt kommt. Du weißt doch selbst, wie das ist, wenn man fürchterlichen Hunger hat, die Larven gehorchen doch nur ihrem Instinkt.“

„Er hätte aber die Wespe trotzdem nicht machen sollen, denn aus dieser Raupe soll doch später ein wunderschöner Schmetterling schlüpfen, und wenn die Larve dann tot ist, dann kann auch kein neuer Schmetterling mehr rauskommen. Blöd eigentlich, dieser liebe Gott, der weiß wirklich manchmal nicht, was er will.“

Und nach einer langen Pause sagte er leise zu mir: „Gott kann niemand ganz verstehen. Keiner weiß, welche Verantwortung es bedeutet, Gott zu sein. Warum hat er nur das menschliche Leben so konstruiert, wie er es getan hatte, es also mit der Geburt beginnen zu lassen, und dann so viele verschiedene Menschen entstehen zu lassen, schwarze, braune, gelbe, weiße, und jeder einzelne besteht aus einer Anhäufung von Wissen, Können, Gefühl, Hunger und Durst. Ein Mensch ist manchmal so kompliziert, er hat so viele Fähigkeiten, Zartheit, Witz, und trotzdem ist sein Blut immer rot. Egal welche Hautfarbe er hat.“

„Aber warum lässt Gott es dann zu, dass dann menschliches Leben einfach brutal ausgelöscht wird, und Unfälle, Krieg und Verbrechen passieren? Ob Gott wirklich jeden kennt, alles sieht und auf jeden aufpasst? Aber dann hat er doch nicht richtig aufgepasst, dem dürfte sowas schreckliches doch nicht passieren? Warum ist das so? Papa, das musst du Gott das nächste Mal sagen, wenn du ihn triffst, dass er besser auf seine Sachen aufpassen muss, oder etwa nicht?“

„Der kann doch nicht überall gleichzeitig sein. Und außerdem hat er immer eine ganze Kompanie Schutzengel, die überall auf der Erde für ihn unterwegs sind.“ Und dann lenkte er mich immer mit einer lustigen Frage ab: „Wenn ein Baby auf die Welt kommt, ist es meistens 50 cm lang. Dann wächst es und wird immer größer, nach drei Monaten ist es 70 cm lang, dann wäre es also 30 Monate später schon 2,50 m groß. Und wie groß ist es, wenn es 10 Jahre alt ist?“

„Aber Papa, das ist doch Quatsch, so ein Kind kann doch keine 2,50 m groß werden, das wird doch niemals später ein Riese. Wie macht das der liebe Gott eigentlich, wann sagt er stopp mit dem Wachstum?“

„Kein Baum wächst in den Himmel, und wenn du noch mehr fragst, dann wirst du trotzdem immer größer und größer werden. Denk doch mal an das Märchen von Pinocchio, dessen Nase wurde immer länger, wenn er gelogen hatte.“ Und dann lachte er wie ein Spitzbube, weil er mich mal wieder vollkommen durcheinander gebracht hatte.

Ach mein lieber Papa. Nun sitze ich tatenlos in der Küche, und ich habe seltsamerweise noch nicht mal Hunger. Die Stille im Haus wächst zu einem Monster, und die Wespe nervt immer noch am Fenster. Ich raffe mich auf, und mit einem Handtuch wird sie endlich hinaus expediert. Nun ist überall nur noch Totenstille in einem Haus, das sich plötzlich so furchtbar fremd anfühlt. Wie soll das alles jetzt nur weitergehen? Ich fühle mich plötzlich wie ausgebrannt und so furchtbar allein.

„Ach mein lieber Papa, warum hast du das nur gemacht, warum bist du einfach so ins Nirwana abgehauen, ohne mit mir vorher noch mal vernünftig zu reden?“ Es ist so furchtbar traurig, aber in diesem Hause wird kein Papa mehr antworten, von alten Zeiten reden, mir Geschichten erzählen, sich streiten, trinken, fernsehen, nerven, und ewig nörgelnd seine Brille suchen, die dann meistens auf seiner Nase saß.

Im Süden verhängt man alle Fenster und Spiegel, wenn jemand gestorben ist. Ich möchte plötzlich das Gegenteil tun, alle Fenster weit aufreißen, alle Bett- und Krankenwäsche in einen Sack stopfen und verbrennen, und erst mal das ganze Haus putzen. Aber ich kam nicht weit, schon im Schlafzimmer überkam mich das heulende Elend, da liegt noch seine Lieblingsjacke auf dem Stuhl. Sie riecht sogar noch nach ihm, nein, die kann ich nicht so einfach wegwerfen. Im Arbeitszimmer ist es dasselbe, da liegt noch seine Lesebrille, darunter das aufgeschlagene Buch von Heinrich Heine, die Geschichte von Atta Troll, dem Problembären, darin hatte er zuletzt gelesen.

In der Küche ist es auch nicht viel besser, denn auf der Spüle stehen zwei benutzte Weingläser und daneben ein halber Krug Rotwein. Im Bad stehen zwei Zahnbürsten im Becher, aber er brauchte doch nur eine, oder? Ob hier zuletzt wohl eine Frau bei ihm gewesen war? Ob ich die wohl kannte? Seltsam, im Schlafzimmer war nichts Verdächtiges zu erkennen gewesen, auch kein typischer Geruch nach einer Frau oder irgendein zurückgebliebenes Kleidungsstück.

Plötzlich wird mir alles viel zu viel, ich muss hier raus, ich halte es hier einfach nicht mehr aus. Draußen geht gerade die Sonne unter, in renne einfach los, immer weiter in Richtung Rhein, unterwegs begegnen mir kaum Menschen, nur die Straßenbahn Linie 1 fährt pünktlich alle fünf Minuten an mir vorbei.

In der Abenddämmerung bin ich unten am Rhein angekommen, ich laufe immer weiter in Richtung Norden, durch die neuen Kranhäuser, bis ich endlich irgendwo im Grünen bin, dort sitze ich bis Mitternacht und grübele vor mich hin. Was wäre, wenn ich mich jetzt einfach da reinfallen lassen würde, ein bisschen Wasser schlucken, und Aus und Ende forever. Nein, das geht überhaupt nicht, das wäre ein viel zu gruseliger Tod, dazu wäre ich viel zu feige. Ich war doch noch viel zu jung, ich musste mich doch um die Beerdigung meines Vaters kümmern.

Ich springe auf und gehe hastig weiter, dann bleibe ich erschrocken stehen. Direkt neben mir huscht eine riesengroße Ratte und verschwindet eilig in der Kanalisation, igitt, die war ja mindestens so groß wie ein Terrier gewesen. Dann höre ich plötzlich heiseres Hundegebell direkt vor mir, tatsächlich, da wühlt eine ganze Hundemeute in einem umgestürzten Müllcontainer herum, so dass sich schon der ganze Müll über die Straßen verteilt hat. Sie scheinen tatsächlich so furchtbar hungrig zu sein, dass sie mich gar nicht beachten. Ja, so ein Straßenköterleben ist wirklich hart, und ich dachte immer, dass es nur im Süden so hungrige Tiere gibt.

Ich gehe weiter und bleibe schließlich ziemlich ratlos unter der Deutzer Rheinbrücke stehen. Über mir rasen die Autos mit hoher Geschwindigkeit, ich stolpere über das Pflaster, der Boden ist sandig, hier unten wächst nichts mehr, nur zerbrochene Flaschen und Unmengen Müll. Plötzlich raschelt etwas direkt hinter mir, ich erstarre in Panik, das war bestimmt kein Tier, das konnte nur ein Mensch sein, der hinter mir unter die Brücke schlich, ob das wohl ein Penner war? Ich trete leise hinter einen Pfeiler, direkt vor mir tappt ein Mann unbeholfen hin und her, zum Glück entdeckte er mich nicht. Umständlich steigt er in einen großen Pappkarton, der wie zufällig daliegt, rollt sich zusammen und klappt einfach den Deckel über sich zu und ist verschwunden. „Na, dann gute Nacht.“ Denke ich nur noch matt und klettere auf der anderen Seite der Brücke wieder nach oben.

Oben auf der Brücke angekommen, weiß ich einfach nicht mehr weiter, ich kann nur noch weinen, weinen, weinen. Um Glück hält direkt neben mir ein Taxi an, ich steige einfach ein und sage die Adresse, zum Glück spricht der Fahrer nicht allzu viel, er scheint auch ziemlich müde zu sein. Die Uhr am Neumarkt zeigt drei Uhr nachts, seltsam, wie die Zeit vergeht. Die Zeit schläft, niemand ist unterwegs, und nun beginnt es auch noch leise zu regnen.

Ich betrete das totenstille Haus, nun ich bin ganz allein. Was soll ich jetzt nun machen? An schlafen ist einfach nicht zu denken. Also hole ich den halben Krug Wein aus der Küche, spüle ein Glas und setze mich an seinen Schreibtisch. Seltsam, dass ich das früher noch nie getan hatte, denn er war immer sehr eigen mit seinen persönlichen Dingen.

Vorsichtig ziehe ich die oberste Schreibtischschublade auf. Dort liegen seine Herz- und Blutdruck-Medikamente, das Insulinbesteck und das Messgerät. In der Schublade drunter liegen die Schreibgeräte, ein Lineal und ein Taschenrechner, alles ganz exakt ausgerichtet.

In der untersten Schublade liegen zwei unbezahlte Rechnungen, ein paar Kontoauszüge hat er penibel auf einen Lochstreifen geheftet, und ganz oben drauf liegt ein viereckiger, dunkelbrauner Briefumschlag. Ratlos halte ich ihn in der Hand, mit seiner krakeligen Schrift hat er oben drauf „Testament“ geschrieben. Wann mag er das wohl geschrieben haben? Das würde ja bedeuten, dass er bald sterben würde. Ob er darüber wohl mit mir sprechen wollte? Ich öffnete das Kuvert, was stand da auf dem beiliegenden Briefbogen? Es war kaum leserlich geschrieben.

„Testament von Martin Schleifer, geboren am 22.02.1944 in Köln.

Alle Unterlagen wurden bei Dr. Maximilian Rehbein hinterlegt.“

Darunter war ein Siegel und der Stempel des Notars „Dr. Maximilian Rehbein“ mit einem Aktenzeichen deutlich zu sehen.

Na, dann würde ich eben morgen früh einen Termin bei diesem Notar vereinbaren, und der würde mir bestimmt Aufschluss über Papas letzte Wünsche geben. Darunter hatte er seine krakelige, kaum entzifferbare Unterschrift gesetzt, und ein Datum, das war gerade mal fünf Tage alt.

Was mag nur in diesem verflixten Testament stehen? Ob er wirklich vorher noch mit mir darüber reden wollte? Meine Augen wurden plötzlich feucht, also wusste er schon seit fünf Tagen, dass er bald sterben würde. Wie kann man das einfach vorher so wissen? Oder vielleicht hatte er seinen Tod selbst herbeigeführt? Aber auf dem Totenschein steht doch – Herzversagen? Dieser Arzt konnte sich doch nicht geirrt haben, oder etwa doch? Vielleicht hatte er sich doch selber umgebracht, aber das war vollkommen unmöglich. Mein Vater war doch ein so lebenslustiger Mensch, das würde er bestimmt niemals tun. Morgen früh werde ich mehr darüber wissen, was dieses geheimnisvolle Testament enthält.

Vielleicht habe ich ja dieses Haus von ihm geerbt? Und was hat dann meine Mutter geerbt? Sie würde ganz bestimmt nicht mehr nach Köln umziehen wollen, die hat doch in Zürich ihre eigene Familie zu versorgen, und die haben dort schon ein riesengroßes Haus. Aber was will ich denn mit so einem riesengroßen Haus im Hahnwald anfangen, das ist doch viel zu groß für mich allein. Verkaufen? Niemals, keiner verkauft sein Haus, in dem er aufgewachsen ist.

Und wie soll es denn überhaupt jetzt mit mir und meinem Leben weiter gehen? Und was erwarte ich eigentlich von der Zukunft? Ich studiere jetzt im dritten Semester Ethnologie in Münster, mit dem Schwerpunkt „Neu-Guinea“. Ja, ich habe ja noch nicht mal einen festen Freund, der hier langfristig bei mir mit einziehen könnte. Und Vaters viele Bücher und die schweren Eichenmöbel, sie drücken mir schon jetzt aufs Gemüt. Ach, ich werde alles am besten so lassen, wie es ist, später kann ich immer noch alles ändern, dachte ich, fiel todmüde in mein Bett und war sofort eingeschlafen.

2.Der erste Tag allein

Draußen wird es langsam dämmerig und die Sonne geht rosa auf. Mann, ich habe total schlecht geschlafen, immer wieder bin ich aufgewacht. Nun ist es gerade fünf Uhr früh, aber zum Glück ist diese schreckliche Nacht vorbei, dachte ich, als ich todmüde in die Küche schlich, um mir einen Tee zu kochen. Die Tageszeitung ist auch schon da, für mich ist es immer ein Miraculum, wann wer das wohl machte, denn der musste ja noch viel früher als ich aufgestanden sein.

Viel Lust zum Zeitunglesen hatte ich nicht, denn es rasten mir zu viele Gedanken durch den Kopf. Ach, mein lieber Papa, ich mag gar nicht daran denken, dass du jetzt irgendwo in einer eisig kalten Kühlschublade rumliegst und mausetot bist. Nein, du bist in Wirklichkeit noch hier in dieser Wohnung, alles riecht noch nach dir, alles gehört noch dir, denn hier warst du immer mein Papa und der Chef vom ganzen und du wirst es für mich auch immer bleiben. Da liegt deine alte, verbeulte taubenblaue Strickjacke, in die ich mich immer gekuschelt hatte, wenn ich mal traurig war und wenn du mich getröstet hattest.

Die freundlichen Bestatter hatten mir gestern nahegelegt, dass ich als allererstes sofort die Personalabteilung der Universität informieren müsste, um dort den Sterbefall meines Vaters anzuzeigen. Zum Glück fand ich seine Personalakte sofort, sie lag in der Schublade links unten. Die Gehaltsabrechnungen der letzten beiden Jahre waren exakt abgeheftet. Ich staunte, denn das war ja monatlich eine ganz schöne Summe, die er da für seinen Job ausgezahlt bekam. Zum Glück hatte ich meinen Laptop dabei, und die Mail an die Personalabteilung war schnell erledigt.

Nun konnte ich das nächste Projekt zügig in Angriff nehmen. Für die Beerdigung wurden Personenstands-Dokumente benötigt, unter der Personalakte fand ich alle notwendigen Papiere griffbereit in einem dunkelgrünen altmodischen Stammbuch der Familie, die kann ich dann heute Nachmittag dem Bestattungsinstitut übergeben. Ich kramte weiter in den Schreibtisch-Schubladen, da lagen seine Geldbörse mit drei Scheckkarten, zum Glück waren auch 600 Euro Bargeld drin enthalten, und die würde ich bestimmt schon bald gebrauchen müssen. Danach würde ich sowieso mit dem Bankberater sprechen müssen.

Danach konnte ich den Notar Dr. Rehbein in den Gelben Seiten suchen, vielleicht verrät mir seine Adresse ja irgendetwas vorab? Komisch, im Branchenbuch stand er nicht, aber im Netz stand unter der Adresse der Dürener Straße 285 ein Dr. Marc-Sebastian Rehbein, vielleicht war das der Sohn von diesem Maximilian. Ein Anruf genügte, ja, Dr. Rehbein ist zuständig, und die Akte wurde schnell gefunden. Man hatte sie glücklicherweise gerade erst vor 10 Tagen aus dem Archiv geholt, erklärte mir die freundliche Sachbearbeiterin. Ein Termin war schnell ausgemacht, schon in drei Tagen, am Montagnachmittag, würde er das Testament eröffnen.

Vielleicht hat er mir das Haus vererbt. Es hängen so viele Erinnerungen an diesem Zuhause, ich war erst vier Jahre alt gewesen, als wir hier einzogen, und ich habe fast mein ganzes Leben in diesem Haus verbracht. Ich hatte ein großes Kinderzimmer im ersten Stock, rosa Blümchentapeten, vollgestopft mit Steiff-Tieren, und später hingen an den Wänden meine Teenie-Stars, für die ich damals schwärmte. Zum Glück hatten wir damals ein ziemlich großes Bett eingebaut, in dem ich sogar heute noch schlafen konnte.

Da war auch noch mein riesengroßer Kleiderschrank, der aus zwei Teilen bestand. Die linke Seite hatte ich mindestens seit meiner Kindheit nicht mehr geöffnet. Ach, da hingen sie noch alle, die vielen Kleidchen, mit denen ich wie ein Püppchen herausstaffiert worden war. Ach, die waren aber ziemlich niedlich. Und rechts lagen nur noch etwas Bettwäsche, zwei zu enge Jeans und zwei riesige Schlabberpullover.

Was sollte ich nun mit diesem angebrochenen Freitag anfangen? Ich konnte einfach nicht im Haus bleiben, ich muss mich unbedingt ablenken, aber wie nur? Telefonate und Gespräche über Papas Tod konnte ich jetzt einfach nicht ertragen. Zurück nach Münster und so tun, als ob nichts gewesen wäre, nein, das käme auch nicht in Frage. Eine Entschuldigungsmail war schnell geschrieben, und da auf dem Küchentisch lag immer noch der Prospekt vom Tag der offenen Tür im Rhein-Taunus-Krematorium in Dachsenhausen.

Also den Rechner aufgeklappt, tatsächlich da ist die Homepage des Krematoriums, ein Lageplan, man fährt also bis Lahnstein mit dem Zug, danach weiter mit dem Reisebus, die haben für diesen Tag der offenen Tür sogar einen Extra-Einsatzbus organisiert. Langsam keimen Zweifel auf, soll ich da wirklich hinfahren? Ach was, warum eigentlich nicht, vielleicht kann das ganz lustig werden?

Nach zwei Stunden steige ich aus dem Bummelzug, Lahnstein-Hauptbahnhof, und tatsächlich, da steht ein Minibus mit der Aufschrift „Krematorium“. Ich erwische gerade noch den letzten Platz zwischen beige-gewandeten plus 60-igern, die sich aufgeregt die Nasen an den Scheiben plattdrücken.

Der Minibus stoppt direkt neben einem Partyzelt ein Riesen-Grill, von dem verführerisch die Bratwürste mit gerösteten Zwiebeln duften, die in Brötchen gestopft auf die hungrige Masse warten. Hinten springen juchzend und kreischend die Kids durch die Hüpfburg.

Im Partyzelt spielt die Band „It never rains in Süd-California“, der Organisator ist Klaus Gal, ein ehemaliger evangelischer Pfarrer mit seiner Band „Rock am Stock“ organisiert er Tanzfeste im Alter von 70 – 93 Jahren, mit Rollator oder Stock stolpern sie durch die Gegend, begleitet von den Schlagern Helene Fischers und Nana Mouskouri.

Da winkt ein uniformierter Angestellter, es wird eine stündliche Führung durch das Krematorium durchgeführt. Dazu spielt die Band Update moderne Kirchenlieder. „Ja, ja, so eine Einäscherung scheint ein lukratives Geschäft zu sein. „So eine Einäscherung kostet ungefähr 3000 Euro, und die Nachfrage ist ziemlich groß. Gerade wird ein neuer Ofen gebaut, damit können jetzt Menschen bis 450 kg verbrannt werden. In einem guten Monat machen wir bis zu 200 Leichen, wenn es gut läuft.

Hier ist das Auffangbecken der verbrannten Toten, die in eine Urne geschaufelt werden. Wir garantieren, dass wir niemals die Asche unserer Toten vermischen würden. An der Wand hängt ein großes Foto von Überresten, die nicht verbrannt werden können. Beckenknochen, künstliche Hüft-und Kniegelenke, es sieht aus wie moderne Kunst.

„Ja, es ist schon seltsam, wenn die Leute sich ein Auto kaufen, überlegen sie tagelang, aber wen sie bei ihrer Beerdigung dabeihaben wollen, planen sie nicht.“ resümiert eine ziemlich breitrahmige Frau, die am Stehtisch Kuchen mampft. „Wer geht denn heutzutage noch auf einen Friedhof? Über 50% der Deutschen lassen sich schon verbrennen, das ist sehr praktisch und effektiv.“

Hungrig stelle ich mich in die Bratwurst-Schlange, es dauert nicht lange und mit einer doppelten Portion mache ich mich auf den Heimweg. Ja, alles hat meinen Entschluss bestätigt, dass mein Papa kremiert wird, ich werde mich selbst um seine Asche kümmern, das hatte ich ihm schließlich versprochen.

Zu Hause angekommen, blinkte der Anrufbeantworter wie wild. Acht Mal meine Mutter, einmal eine fremde Nummer auf dem Display. Einfach löschen, ich war nicht scharf auf die vielen sinnlosen Gesprächen mit meiner Mutter. Mein Ethnologie-Studium in Münster, in ihren Augen war das alles nur sinnloser Kram, außerdem machte ich in ihren Augen sowieso immer alles falsch.

Und mein Vater war in ihren Augen genauso ein schlimmer Finger, ein Hallodri und verludertes Subjekt mit seinen vielen Freundinnen. Wieso denn eigentlich? Er war eben ein sehr beliebter Professor bei seinen Studenten in der Universität, ein fröhlicher Rheinländer mit ewig guter Laune, und alle seine Studentinnen waren permanent in ihn verliebt. Er reiste durch die ganze Welt und betreute diverse Archäologie-Projekte, das bedeutete für uns oft ein Jahr Einsamkeit, aber das machte meiner Mutter eigentlich überhaupt nichts aus. Und ich war natürlich immer sehr stolz auf meinen Papa gewesen, aber ich vermisste ihn sehr.

Die beiden passten eben von Anfang an irgendwie nicht richtig zusammen, sie waren viel zu verschieden. Meine Mutter war ein blondes, ehrgeiziges Schweizer Mädel, wuchs wohlbehütet bei ihren Eltern in Zürich auf, und sie durfte damals ein Archäologie-Gastsemester in Köln machen. Sie wohnte bei einer Tante, und mein Vater war da gerade Doktorand an der Uni geworden. Die beiden verliebten sich sofort ineinander. Das Ganze blieb nicht folgenlos, und meine Ankunft machte ihrem Studium frühzeitig und endgültig einen Strich durch die Rechnung. Also heiraten die beiden schnellstens, und schon bald saß meine Mutter in einem winzigen Kölner Haushalt in der Südstadt.

Sie war immer sehr ehrgeizig gewesen, und sie brachte ein kleines Vermögen mit, mit dem sie nun nicht nur die kleine Familie gut ernährte, sondern auch ihren aufwändigen Lebensstil weiter führte. Sie hatte sich irgendwie ihr eigenes Leben eingerichtet, aber um auszubrechen oder etwas Eigenes zu machen, fehlte ihr entweder der Mut oder die Fantasie. Außerdem war ich ja da, und ich war ein ziemlich anstrengendes Kind. Erst richtig toll wurde es, als ich endlich laufen konnte, da hatte ich tausend tolle Ideen und immer Hummeln im Hintern.

1960 starb Vaters Lieblingstante Kathrinchen, von der hatte er diese alte Villa in Hahnwald geerbt, und wir zogen ein. Endlich war genug Platz für alle, und seitdem arrangierten wir uns alle irgendwie in Kathrinchen Villa. Das wichtigste für meinen Vater war sein großes Arbeitszimmer, in dem in das er sich immer öfter resigniert zurückzog, wenn meine Mutter mal wieder mit neuen Ideen anrückte, um endlich mal das Haus zu modernisieren, um neue Möbel, Teppiche und Lampen anzuschaffen.

Ja, sie setzte sogar eine Putzfrau zwei Mal in der Woche durch. Dann verbarrikadierte sich mein Vater vor ihrer Putzwut, und sein Arbeitszimmer war tabu für alle. Egal, wieviel die Weiber grollten und drohten, seine wissenschaftlichen Arbeiten brachte ihm keiner mehr durcheinander.

Das ging so lange einigermaßen gut, bis Vaters erstes Techtelmechtel bekannt wurde. Meine Mutter war anfangs sehr geschockt, sie bekam einen Nervenzusammenbruch und stürzte in eine tiefe Krise. Ein Archäologie-Professor mit Affären mit Studentinnen, die von Jahr zu Jahr immer jünger wurden, so ein Verhalten war für sie unannehmbar und vollkommen unverzeihbar.

Nein, so etwas hielt sie einfach nicht mehr aus und darum kehrte sie total beleidigt in ihr Elternhaus am Züricher See zurück, wo sie seitdem mit ihrer alten Mutter und deren Cousine Clärchen lebte. Es war mir aber trotzdem immer unerklärlich geblieben, warum sich die beiden nie scheiden ließen.

Meine Mutter hatte sich sowieso nie viel um mich gekümmert, ich war für sie ein Statussymbol wie ein Kühlschrank gewesen, ich musste pflegeleicht sein, immer gut funktionieren und gut aussehen, und meine persönlichen Gefühle waren ihr sowieso immer total egal gewesen.

Mein Handy klingelt, einmal, zweimal, die Nummer auf dem Display ist ziemlich lang und mir vollkommen unbekannt. „Hallo, Laura, hier ist deine Mama. Meine Süße, ich kann dich doch nicht mit all den Sachen alleine lassen, du brauchst doch bestimmt kompetente Hilfe. Ich bin hier gerade auf dem Züricher Flughafen und mein Flieger geht in 20 Minuten. Ungefähr in einer Stunde bin ich bei dir in Köln. Hol mich doch bitte am Flughafen ab, ja? Tschüssie, bis gleich.“

„Oh Gott, das fehlt mir gerade noch, meine Mutter im Anmarsch, damit hatte ich jetzt gar nicht mehr gerechnet. Auf einmal zeigt sie Verantwortungsgefühle für mich und ihren verstorbenen Ehemann? Oder ob sie nur Interesse an dem zu erwartenden Erben hatte? Ich weiß schon jetzt, dass wir mindestens nach 30 Minuten Krach bekommen werden, besonders dann, wenn ich ihr erzählen werde, dass ich alles so geregelt habe, dass es keine pompöse Beerdigung geben wird.

Der Flughafenbus war zum Glück nach 20 Minuten Fahrzeit da, und ich erreichte die Halle gerade, als eine Schlafzimmerstimme dämlich säuselte „Meine sehr geehrten Damen und Herren. Die Germanwings-Maschine von Zürich ist gerade auf Gate 4 gelandet. In wenigen Augenblicken beginnt das Checkout. Achtung: Gate 4 – in wenigen Augenblicken beginnt das Checkout für Reisende aus Zürich.“

Bäh, diese Stimme klingt einfach falsch und widerlich, ich hasse diese Flughäfen mit ihrem falschen Glamour, daran werde ich mich wohl nie gewöhnen können. Und das musste ich alles nur ertragen, um meine blöde Mutter vom Flugzeug abzuholen. Ist es nicht schon schlimm genug, dass mein Vater, mein lieber, guter Papa, gerade gestorben ist? Ich hatte auch alleine alles mit der Beerdigung hinbekommen, dazu brauche ich die ganz bestimmt nicht, die macht alles nur noch schlimmer als es sowieso schon ist.

„Laura, Schätzchen, da bist du ja. Du weinst ja, komm in meine Arme, meine Kleine, ich werde dich trösten. Aber warum bist du denn nicht am Gepäckband? Dann muss ich ja meine Koffer abholen, da hast du wohl nicht richtig mitgedacht, oder? Mein Gott, wie siehst du denn aus? Du hast ja gar nichts Schwarzes an, und deine alten Jeans sind aber sehr unpassend, das musst du aber sofort ändern. Du bist doch schließlich die Tochter eines C5-Professors, da musst du schon etwas repräsentieren.“

„Oh Gott, Mama, nun fang doch bloß nicht damit an, ich trage das, was ich immer trage, und ich werde das auch nicht so bald ändern.“ Sage ich traurig, und schaue meine Mutter verstohlen an. Oh Gott, die hat sich aber aufgebrezelt, überall nur schwarzer Tüll, sie trägt sogar ein passendes schwarzes Tüllhütchen mit einem schwarzen Schleier, das finde ich total peinlich. Ihre schwarzen hochhackigen Schuhe klappern vor mir auf dem Weg zum Gepäckband, dabei murmelt sie die ganze Zeit aufgeregt vor sich her.

„Mama, nun renn doch nicht so, ich bin so traurig über Papas Tod, ich kann mich noch gar nicht richtig damit abfinden.“

„Ja, da hast du recht, meine Süße, wenn wir gleich zu Hause sind, besprechen wir alles von Anfang an. Wie und wo ist er denn gestorben? Im Krankenhaus? Soweit ich weiß, ist er doch nie richtig krank gewesen. Ach, zu Hause, und du hast ihn in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch gefunden?

Auf dem Totenschein steht „Plötzlicher Herztod“, na, dann ist ja alles geklärt, ich dachte schon, er hätte sich was angetan, denn er war doch noch gar nicht so alt gewesen. So, da sind ja glücklicherweise meine Koffer, gibt es hier denn keine Gepäckkarre? Wo hast du denn dein Auto geparkt?“

„Aber Mama, ich habe gar kein Auto, ich bin Studentin, da brauche ich keins. Außerdem fährt der Flughafenbus alle 20 Minuten.“

„Ach, wie umständlich, das vergesse ich immer, ich wüsste gar nicht, wie ich ohne Auto im Leben zurechtkommen könnte. Na, dann nehmen wir uns eben ein Taxi. Gibt es denn hier keinen Gepäckträger? Meine Koffer sind für mich doch viel zu schwer.“

„Ach, nun komm schon, Mama, diese zwei Koffer können wir auch so tragen. Mein Gott, die sind ja wirklich schwer, hast du denn da Steine eingepackt?“

„Wieso, bis zur Beerdigung sind es doch mindestens drei Tage, da brauche ich schon einiges an Klamotten. Na, dann also raus zum Exit, da stehen wohl hoffentlich genug Taxis.“

Der Taxifahrer ist zum Glück ziemlich einsilbig, dafür redet meine Mutter am Stück auf mich ein, wie sie die Beerdigung organisieren will, wie sie das Erbe regeln will, das Haus muss natürlich sofort verkauft werden. Ich lasse sie einfach reden und schalte die Ohren auf Durchzug, das hatte ich schon früher immer so gemacht. Und seltsamerweise regte ich mich auch nach fünf Minuten noch nicht mal auf.

Als das Taxi vorsichtig vor das Haus fährt, sehen wir zuerst nur viele Menschen, dann Berge von Kerzen und überall liegen Blumen auf dem Gehsteig. „Was ist denn hier los?“ fragt meine Mutter mit kreischender Stimme, und will sofort aus dem Taxi springen, um die Leute zu vertreiben.

„Hallo, gute Frau, Sie müssen noch bezahlen, und Ihre Koffer sind auch noch hinten drin. Das kostet 44,80, hoffentlich haben Sie genug Kleingeld dabei, denn ich kann nicht wechseln.“

„Ach, Laura, ich habe gerade nur Schweizer Franken im Portemonnaie, wieso hast du denn kein Geld dabei? Gib ihm ruhig genug Trinkgeld, du bekommst es gleich von mir zurück. Mit einem Fünfziger zieht er zufrieden ab, und ich wundere mich nur über die Menschenmenge, die sich hier versammelt hat.

„Aber sag mal, was ist denn hier bloß los? Wo kommen denn auf einmal all die Menschen her? Hast du vielleicht eine Kundgebung organisiert, oder was soll das hier? Na, das werde ich bestimmt gleich rausbekommen. Hallo, Sie da, warum sind sie denn hier? Und was machen Sie denn da?“

„Guten Tag, wir sind Archäologie-Studenten aus Köln, und die Personalabteilung hat einen Aushang am Schwarzen Brett gemacht, dass unser Prof. plötzlich gestorben ist. Er war sehr beliebt bei uns Studenten, und darum haben wir uns spontan entschlossen, Kerzen und Blumen an seinem Haus vorbeizubringen. Ein Kondolenzbuch haben wir auch schon im Institut ausgelegt, und es haben sich schon viele Leute eingetragen. Wissen Sie schon, wann die Beerdigung ist? Wir werden alle dabei sein und sogar einen zünftigen Fackelzug für ihn organisieren.“ Sagt eine rothaarige Studentin mit verweinten Augen. Sie verstreut gerade eine Menge roter Rosen vor unserer Haustür.

Ich sehe mich erschüttert um, mit so viel Anteilnahme hatte ich nicht gerechnet. Hier sind ja mindestens 20 Studenten versammelt, ziemlich viele Frauen allen Alters, und alle weinen um meinen toten Vater. „Laura, nun sag den Studenten schon, dass das alles ja sehr nett und rührend ist, was sie da veranstalten, aber sie sollen uns bitte jetzt in Ruhe lassen, denn wir sind schließlich eine Trauerfamilie, und ich finde den ganzen Zinnober, den die hier veranstalten, ziemlich unnötig und total überflüssig.“

„Aber Mama, man kann die trauernden Studenten doch nicht so einfach vertreiben, das fände ich sehr herzlos. Lass mich das lieber machen, ich werde schon die richtigen Worte finden, geh du einfach schon mal rein, du kennst dich ja schließlich aus.“

„Ja, mach das mal, denn ich habe jetzt schon Kopfschmerzen, und ich brauche meine Ruhe. Außerdem muss ich mich etwas frisch machen, und umziehen muss ich mich auch noch. Ach, welches Zimmer hast du für mich vorbereitet? Du weißt ja, ich kann mit Lenor gespülte Bettwäsche nicht ausstehen.“

„Aber Mama, wann hätte ich das denn machen sollen? Ich bin doch selber gerade erst gestern Abend hier angekommen, und du wolltest doch gestern doch noch gar nicht kommen.“

„Aber ich kann dich doch mit dieser ganzen Geschichte nicht alleine lassen, außerdem muss ich doch die Beerdigung organisieren. Schick jetzt erst mal die Leute weg, ich glaube, ich nehme das Gästezimmer, das hat wenigstens ein eigenes Bad. Hast du etwas zu trinken im Haus? Hunger habe ich noch nicht, ich hatte zum Glück gerade noch vor dem Flug gut gefrühstückt.“

„So, Mama, mach, was du willst, aber ich werde erst mal mit den Leuten draußen reden und mich für ihr Mitgefühl bedanken. Den Studenten werde ich 100 Euro für die Ausschmückung und das Kondolenzbuch geben, dann kommen sie auch nicht mehr vor unser Haus, sondern gehen gleich dorthin trauern.“

„Danke dir, mein Schatz, du bist schon so erwachsen, du bist mir wirklich eine große Hilfe. Bitte trag mir nur noch die Koffer rauf, dann kann ich mich schon mal frisch machen, und danach werde ich erst mal alles auspacken.“ Mann, geht die mir auf die Nerven, denke ich nur noch, verdrehe die Augen, schnappe ihre Koffer und lasse sie oben auf den Boden plumpsen.

„So, jetzt muss ich mich da unten um alles kümmern, und dann brauche ich mindestens erst mal zwei bis drei Stunden Zeit für mich.“ Sage ich ziemlich patzig, so dass sie mich nur noch erschrocken ansieht, aber das ist mir jetzt ziemlich egal.

Draußen vor der Tür haben die Studenten inzwischen ein Blumenmeer mit hunderten Kerzen auf dem Fußweg aufgebaut. Sie drängeln sie sich sofort um mich und fragen nach dem Beerdigungstermin und den Gründen für seinen plötzlichen Tod, und die meisten weinen tatsächlich, denn sie hatten ihn bestimmt sehr gerne gehabt.

Ich sage ihnen spontan, dass es in Köln keine Beerdigung geben wird, wir hätten eine Seebestattung in der Ägäis geplant, aber nur für den engsten Familienkreis. Der rothaarigen Studentin drücke ich 100 Euro für das Buch und Blumen in die Hand. Sie sagt mir spontan, dass sie gern alles organisieren würde, denn sie wäre schließlich im Augenblick die ihm am nahe stehendste gewesen. Sie würde den Bestattungswunsch meines Vaters gern vorne ins Kondolenzbuch schreiben. Ein großes Foto von ihm hatte sie von der letzten Preisverleihung, das würde sie vergrößern und dort aufhängen.

Befriedigt zieht die Gruppe ab, nun würde es wieder ruhig vor unserem Haus werden, und nur noch die vielen Blumen und Kerzen erinnern an den Toten, der gestern hier noch hier zu Hause gewesen war. Ich fühle geradezu die große Lücke, die er hinterlassen hatte. „Laura, mein Schatz, hast du denn gar keinen Whisky im Haus? Ich könnte nämlich dringend einen vertragen.“ Reißt mich Mamas zänkische Stimme aus meinen traurigen Gedanken.

„Mama, bitte sieh selbst mal nach, du weißt ja, wo er sonst immer steht. Ich mache mir eine Flasche Bier auf, vielleicht möchtest du auch ein Glas haben? Ich habe nämlich fürchterlichen Durst.“

„Nein danke, Schätzchen, Bier ist so proletarisch, und außerdem macht es doch nur dick, ich habe gerade 15 Pfund abgenommen mit der Atkins Ananas-Diät, und diesen Erfolg will ich mir doch nicht gleich wieder ruinieren. Ja, hier stehen tatsächlich noch zwei angebrochene Flaschen Whisky im Vorratsschrank. Schade, dass keine Eiswürfel im Kühlschrank sind. Komm und setz dich zu mir, und dann erzählst du mir alles mal der Reihe nach, was du bisher unternommen hast.“

„Also, mit der Firma Pilartz habe ich vereinbart, dass Papa in Holland eingeäschert wird, wir werden hinterher die Asche in einer Urne nach Hause bekommen, genauso hat er es gewollt. Und die Asche werde ich dann nach Griechenland bringen und dort zerstreuen, wo er sich immer am wohlsten gefühlt hat. Den Leuten sagen wir, dass Papa eine Seebestattung in der Ägäis erhält, die nur im engsten Familienkreis erfolgen wird.“

„Aber Laura, sowas ist doch gesetzlich verboten, nein, ich will eine richtige Beerdigung auf dem Melatenfriedhof, mit allem Pipapo, das mit der Asche musst du sofort wieder rückgängig machen. Er war doch schließlich ein C-3-Professor, das ist man der Uni und den ganzen Verwandten schuldig. Ich muss noch eine riesige Liste anfertigen, wen wir alles zur Beerdigung einladen werden, und hast du auch schon an eine Anzeige in der Zeitung gedacht? Mindestens eine halbe Seite müssen wir im Stadt-Anzeiger für die Wochenend-Ausgabe reservieren, die Kosten sind vollkommen egal.

Außerdem, hast du denn nie daran gedacht, später mal sein Grab zu pflegen und ihn dort zu besuchen, um mit ihm zu reden, wenn du mal Sorgen hast? Außerdem ist ein repräsentatives Grab auf dem Melatenfriedhof doch total wichtig für die Reputation der ganzen Familie. Außerdem sind in Tante Clärchens Grab noch drei offene Grabstätten, die für die Familie reserviert sind, die sind kostenlos und eine hatte ich davon für ihn reserviert. Mein Platz wäre dann noch frei, ich möchte lieber in Zürich beerdigt werden. Und die dritte Grabstelle ist natürlich für dich vorgesehen.“

„Nein, das würde ich ganz furchtbar finden, außerdem wäre so eine Beerdigung bestimmt gegen seinen Willen gewesen, in Kathrinchen Grab zu vermodern. Nein, ich habe den Studenten vorhin gesagt, dass es eine Seebestattung in der Ägäis geben würde, und das erschien ihnen irgendwie ganz logisch und vernünftig, er ist doch Archäologie-Professor und er hatte immer eine große Liebe für Griechenland. Aber er hat doch das Testament hinterlassen, vielleicht steht da etwas über seinen Beerdigungswunsch drin. Dann werden wir uns auch danach richten.“

„Laura, Testament hin oder her, was sollen denn die Leute sagen? Das sieht ja ganz so aus, als ob wir uns keine vernünftige offizielle Beerdigung leisten könnten. Ich hatte da so an Kosten von mindestens 7000 Euro gedacht. Und das Haus wollte ich sowieso schon lange verkaufen, aber das hatte er ja früher immer abgelehnt. Was sollen wir denn mit diesem alten Kasten? Ach ja, das war auch einer der Gründe, warum ich schließlich hier ausgezogen bin. Dieses Köln fand ich immer so proletarisch, da lebt es sich in Zürich ganz anders, da ist ein viel besseres Publikum.“

„Ach, und ich dachte immer, dass du damals wegen seiner vielen Frauengeschichten ausgezogen warst.“

„Erinnre mich bloß nicht dran, das war doch die Hölle für mich. Du hast ja so recht, was hatte er mir nicht alles angetan. Schenk mir lieber noch einen Whisky ein, du solltest besser auch einen trinken. Meine Liebe, jetzt setz dich doch endlich mal hin, die ganze Zeit rennst du nur rum. Was hattest du gerade von einem Testament gesagt? Ist es hier im Haus? Kann ich es mal sehen? Was steht denn da drin? Hast du schon mal nachgesehen?“

„Nein, ich habe nur einen Umschlag mit der Adresse eines Notars gefunden, das Original -Testament liegt in der Kanzlei. Ich habe dort sogar schon einen Termin vereinbart. Wenn du möchtest, können wir das morgen Nachmittag zusammen erledigen.“

„Aber natürlich gehe ich mit, du bist vielleicht lustig, natürlich muss dein Vater angemessen begraben werden, aber hauptsächlich bin ich eigentlich wegen des Testamentes gekommen, das sollte doch so schnell wie möglich geklärt werden, oder etwa nicht?“

„Morgen um 14 Uhr werden wir mehr wissen.“ Typisch Mutter, dachte ich, wo Geld zu erwarten ist, da ist sie immer sofort ganz vorne mit dabei. An meinen Papa denkt sie schon gar nicht mehr, diese blöde widerwärtige Ziege.

„So, meine Liebe, ich ziehe mich jetzt zurück, denn ich habe noch unendlich viele Telefonate zu führen. Vielleicht bestellst du zwischendurch bei einem Caterer ein kleines Abendessen mit Salat, etwas Champagner, so etwa in ein bis zwei Stunden. Du machst das schon, meine Süße. Also bis gleich“.

Caterer, Champagner, die kann mich mal, ich bin nicht ihr Dienstmädchen, das kann sie selber machen. Ausgerechnet ich soll für sie einen Caterer anrufen, sowas blödes kann auch nur meiner Mutter einfallen. Ohne Bescheid zu sagen, verlasse ich das Haus, ich brauche unbedingt frische Luft, denn meine Mutter zu ertragen, fällt mir furchtbar schwer. Zuerst werde ich gleich die nächste Frittenbude ansteuern, mir ist nach Gyros, Greek Salat und Pommes rot-weiß zumute, heiß, fettig und total ungesund.