Von Köln nach Ouranopolois 2087 - Teil 1 - Karin Fruth - E-Book

Von Köln nach Ouranopolois 2087 - Teil 1 E-Book

Karin Fruth

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Beschreibung

Köln im Jahr 2087. Zwei Senioren leben schon viele Jahre friedlich und zufrieden in Köln. Aber in der Stadt passieren viele ungewohnte Dinge. Die Stadt ist sehr sauber geworden, die KVB und sogar die Taxis sind kostenlos. Die neue Regierung setzt neue Prioritäten, ab sofort soll alles nur für die Kinder und junge Familien unternommen, und der Rest, besonders die Alten, sollen aus dem Stadtbild verschwinden. Hans und Marthe sind heimatlos geworden, sie werden verfolgt, und sie müssen flüchten. Unterwegs treffen sie auf viele seltsame, aber auch hilfsbereite Menschen, Hans ertrinkt, und Marte ist alleinauf ihrem Weg durch Osteuropa, bis sie endlich in Ouranopolis in Griechenland landet. Hier findet sie eine neue Heimat.

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Von Köln nach Ouranopolis

Teil 1

Inhalt

Cover

Titelblatt

Vorgedanken zu Köln im Jahre 2023

November 2089

Ein neuer Tag

Kann das denn alles wahr sein?

Im Krankenhaus

In der Tagesklink

Kleine Heimat Campingplatz

Bei Uwe

Eine Begegnung mit Raphael

Von Köln nach Ouranopolois 2087 - Teil 1

Cover

Titelblatt

Vorgedanken zu Köln im Jahre 2023

Eine Begegnung mit Raphael

Von Köln nach Ouranopolois 2087 - Teil 1

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Vorgedanken zu Köln im Jahre 2023

Als meine Großmutter vor langer, langer Zeit lebte, hießen die Zahnärzte noch Dentisten und damals konnten sich noch nicht jeder Deutsche die dritten Zähne leisten.

Als damals meine Tanten der Großmutter stolz ihre neugeborenen Enkelkinder präsentierten, sinnierte die alte Frau: „Wie kann es bloß sein, dass die kleinen Kinder ohne Zähne als possierlich, aber die zahnlosen Alten als hässlich betrachtet werden?“

Die Antwort gab ihr das Bibelwort: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Himmelreich eingehen".

Dieser fromme Spruch tröstete sie, denn er erklärte ihr den körperlichen Verfall der Menschen seit uralter Zeit. Großmutter ist nach einem Leben in der Großfamilie 1972 gestorben. Sie war 77 Jahre alt geworden.

Und wie geht es heute mit den alten Menschen? Sie werden immer älter, und die Phase zur Rückentwicklung alter Menschen zum Säugling (meist ohne dessen Zufriedenheit) wird immer länger.

Die Kinder fehlen schon jetzt und die Alten werden bald in der Mehrheit sein. Wie wird sie dann aussehen, unsere gealterte Welt? Kein Problem ist unausweichlicher, keines allgemeiner, keines bedrohlicher; es ist bekannt; es lässt sich sogar berechnen, denn es folgt einer mathematischen Notwendigkeit, aber es hat die Phantasie der Gesellschaft des Jahrhunderts noch immer nicht erreicht.

Die Überalterung der Gesellschaft sind keine Prognosen, nein, diese Zahlen liegen heute schon fest, weil die menschliche Fortpflanzung langfristigen biologischen Rhythmen folgt, die sich über Nacht nicht verändern lassen. Schon heute sind wir die älteste Gesellschaft, die jemals auf Erden gelebt hat.

Alles das, was heute versäumt wird, wird schon in zehn, spätestens zwanzig Jahren als schwerer Vorwurf auf alle zurückfallen. Es geht schließlich um das, was Wissenschaftler die „demographische Zeitenwende" nennen.

Die finanzielle Situation der Senioren weist im Augenblick noch ein großes Spektrum von arm und reich auf, aber schon jetzt werden die meisten Rentner durch die verfehlte Sozialpolitik der Agenda 2010 schon während ihrer Arbeitszeit mit Dumping-Löhnen ausgebeutet, wie sollen sie ausreichenden Rücklagen für ihr Alter aufbringen?

Wenn sie dann mit 55 Jahren von den Unternehmen aussortiert, altersdiskriminiert und arbeitslos werden, dann müssen sie ihre letzten Arbeitsjahre bis zur Rente mit 67 bei der Arbeitsagentur verbringen, müssen ihre wenigen Ersparnisse aufbrauchen, bis sie letztendlich wirklich arm und bedürftig geworden sind.

Bei solch erzwungener vorzeitiger Rente müssen sie nicht nur ihren letzten Kontoauszug, sondern auch noch gigantische Rentenkürzungen hinnehmen. Der Staat erklärt dies für rechtens, denn dasselbe Geld muss ja für immer mehr Senioren reichen. Also wird die staatliche Rente in den nächsten Jahren immer geringer ausfallen und noch mehr Altersarmut ist bereits jetzt schon vorprogrammiert.

Und danach werden sie gezwungen, ihr gewohntes Wohnumfeld zu verlassen, weil die Mieten gigantisch angewachsen sind. Dort, wo sie so viele Jahre verbracht haben, wo sie Freunde haben, wo man sie kennt und schätzt, und wo sie sich ihr Leben lang wohl- und zu Hause gefühlt haben? Viele bleiben jetzt schon auf der Strecke und die verloren geglaubte Geißel der Altersarmut grinst schon um die nächste Ecke.

Und wenn sie als Rentner nicht mehr allein zurechtkommen? Noch werden zwei Drittel der Pflegebedürftigen von ihren Familienangehörigen zu Hause gepflegt. Ohne diese aufopferungsvoll direkte Familienpflege wäre die Pflegeversicherung in kürzester Zeit bankrott.

Eine bezahlbare 24-Stunden-Haus-Tag-und Nacht-Betreuung durch drei examinierte Fachkräfte würde mehr als zehntausend Euro im Monat kosten. Dies erledigen darum Frauen aus Osteuropa, die Tag und Nacht für einen Hungerlohn ausgebeutet werden.

Und wie sieht die Situation heute in den Altenheimen aus? Es gibt viel zu wenige vorbildliche Heime, und die heutige Situation in der Pflege spiegelt den Umgang der Gesellschaft mit alten und den dementen Menschen, sie ist beschämend.

Auf einen Platz im Altenheim wartet man oft ein bis zwei Jahre, er ist für 4000 Euro monatlich zu haben, und die Pflegeversicherung deckt nur einen winzigen Bruchteil der Kosten. Und welche Familie kann schon solch gigantische Beträge aus eigener Tasche bezahlen? Da muss das Sozialamt einspringen und die Belastungen pro Bewohner steigen rapide.

Außerdem pflegt das geltende Pflegestufen-System die Alten in die Betten, denn eine hohe Pflegestufe bringt mehr Geld ein. Sie werden nicht für Prophylaxe und Therapie, sondern für Wundliege-Geschwüre mit mehr Geld belohnt; die Verbesserung der Gesundheit der Alten wird mit Rückstufung, also Kosteneinsparung bestraft. Zwei von drei Altenpflegern würden es ablehnen, in dem Heim zu leben, in dem sie gerade arbeiten.

Die organisierte Entwürdigung der Alten ist also keine Ausnahme. Sie sind doch selber schuld, so alt zu werden. Nur so zynisch lassen sich die oft grausigen Zustände in viel zu vielen Alten- und Pflegeheimen erklären.

Neuerdings ist es verboten, die Senioren im Bett und Stuhl zu fesseln, Fixierung genannt. Sie werden bei ihrer Ankunft sofort gewindelt, auch wenn sie noch selbst zur Toilette gehen könnten, das spart Zeit und ist für die Pfleger viel praktischer.

Und wenn dann doch einmal ein Foto von einer alten Frau in den Nachrichten erscheint, die nackt auf einem Toilettenstuhl sitzt, das Essen vor sich auf dem hochgeklappten Tischchen, weinen wir Krokodilstränen über so viel menschliche Grausamkeit, und sind schockiert und betroffen. So ein Leben ist ja wohl kein gutes Leben mehr, oder?

Für die Masse der armen Alten werden seelenlose gigantische Altenheime entstehen, die zu reinen Verwahr- und Aufbewahrungsanstalten verkommen, wo sieche kranke uralte Bewohner bis zum bitteren Ende beherbergt werden. Ihre Vergangenheit wird ihnen nicht vergehen, und eine bessere Zukunft wird sich für sie nicht einstellen außer der finalen Zukunft auf dem Friedhof.

So wird der Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ insgeheim mit einem Zusatz versehen: „… es sei denn, er ist altersdement oder hat Parkinson.“ Das ist kein guter Boden für eine gemeinsame Zukunft von Jung und Alt.

Was wäre eigentlich los, wenn kleine Kinder per Nasensonde ernährt würden, weil das Füttern zu lange dauert? Was wäre, wenn kleine Kinder in der Krippe regelmäßig gefesselt würden? Was wäre los, wenn sich ein so gefesseltes Kind zu Tode strangulierte, weil das Betreuungspersonal die Gurte falsch angelegt hat? Der Hort würde sofort geschlossen und das Personal angeklagt.

Es ist ja richtig, dass die Investition in Kinder und ihre Betreuung eine Investition in gesellschaftliche und ökonomische Leistungsfähigkeit für die Zukunft darstellt. Aber auch diese wird vernachlässigt.

Aber der Respekt vor den Alten und der Respekt vor den Kindern gehören doch zusammen. Alpha und Omega- Das ist die Klammer, die das ganze Leben auch in der Zukunft umspannt.

Die Jugend der Zukunft wird das Alter nicht lieben, denn die Masse der armen und kranken Alten werden eine seelisch bedrückende Last darstellen. Das Gefühl einer verbauten Zukunft könnte sich lähmend ausbreiten, da kann sich das Klima zwischen den Generationen leicht vergiften. Man wird grausame Altenwitze machen, um sich wenigstens verbal an den Alten zu rächen, die ihnen so zur unerträglichen Last werden.

Ach, es wird für uns Alte ein Abschied ohne Lächeln sein, denn wer wird uns anlächeln, wenn wir alt und achtzig sind? Wer wird uns würdig beerdigen?

Vielleicht ist es klug, sich heute schon von der Schönheit dieser Welt allmählich zu verabschieden?

November 2089

Endlich ist alles auf dem richtigen Weg. Die sich ewig zankende und schwächelnde Parteien- Demokratie wurde abgeschafft, sie funktionierte sowieso nicht mehr.

Stattdessen entstand ein neues Gremium, das vom „Ältesten Onkokratenrat“ regiert wurde, einer kleinen Gruppe verdienter Banken- und Großindustriellen, deren Vorstand und Gründer Onko-Bewegung, Karl-Otto Onko, war.

Er wurde am 18.01.2044 in Köln geboren, er erbte von seinen Eltern Gold- und Diamantgruben in Südafrika, er war Multimilliardär und großzügiger Mäzen zahlreicher Stiftungen. Er war der Gründer der „Onko-Partei“, die Reform des neuen Weges.

Sie kam völlig legal und demokratisch an die Macht. Onko erkannte schnell die große Gefahr der enorm steigenden Lasten der Renten- und Krankenversicherung einer überalterten Bevölkerung. Also wurde zügig die ohnehin nicht mehr funktionierende Demokratie durch die Onko-Reformpartei des neuen Weges ersetzt.

In seiner Heimatstadt Köln gelang der Umbau auf Anhieb, weil Karl-Otto Onko sein gesamtes Vermögen der Staatspartei in einer Stiftung zur Verfügung stellte, der schnelle und unvermeidliche Umbau des kompletten Sozialstaates wurde innerhalb von nur acht Jahren vorbildlich und konsequent durchgesetzt.

Mit schöner Regelmäßigkeit setzte sich seitdem überall in Deutschland die Onko-Einheitspartei durch und die Stadt Köln war zum „Leuchtturm“ dieser neuen zukunftsweisenden Bewegung geworden.

Die quälende Geißel des 20. Jahrhunderts, die Arbeitslosigkeit und die Sozialhilfe wurden abgeschafft, jeder Bürger hat ein Anrecht auf einen Arbeitsplatz, viele sind in staatlichen Programmen beschäftigt und erhalten ein angemessenes Bürgergeld dafür. Das bedeutet also Vollbeschäftigung für die ganze arbeitende Bevölkerung.

Ein moderner Staat kann nur dann funktionieren, wenn seine Kinder einen optimalen Start ins Leben haben. So entstand die Familien- und Kinderförderung „Onkind". Jede Familie kann nun dank des großzügig bemessenen Kindergeldes mindestens vier Kinder ohne finanzielle Probleme aufziehen. Überall im Land entstehen kinder- und familienfreundliche Wohneinheiten, vorbildliche staatliche Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen. Das Personal, und ganz besonders die Lehrer werden optimal ausgebildet, nur die allerbesten dürfen in diesem Sektor arbeiten, denn für die Kleinen ist der Regierung nichts zu schade.

Überall sieht man jetzt viele Onko-Polizisten in neuen dunkelblauen Uniformen und Baretten auf dem Kopf, an jeder Ecke steht einer, in den Stadtteilen patrollieren sie jeden Tag, niemand muss mehr das Gefühl haben, Opfer einer kriminellen Tat zu werden.

Fast lautlos ist ein Heer von Onko-Straßenreinigern mit orangeroten Overalls im Einsatz, die überall mit Besen, Kehrschaufeln und langen spitzen Stöcken unterwegs, um auch die kleinsten Papierchen aufzuspießen. Niemand mehr würde es wagen, eine Zigarettenkippe auf die Straße zu werfen, sofort wäre ein Müllmann zur Stelle, der sie mit einem Bußgeld zur Rede stellen würde. Der gesamte Bahnhofsvorplatz mit der großen weißen Onko-Statue aus Marmor, des Gründers und Mäzens der neuen Welt, ist nun zu einem einzigen Blumenmeer geworden.

Auch der Bahnhof neben dem Dom wurde zu einem perfekten Servicecenter umgebaut, klinisch saubere Türen öffnen sich lautlos zu den Toiletten und den Servicestationen, und überall sorgen Bahnhofshostessen für einen problemlosen Ablauf aller Wünsche.

Alle Bahnfahrten sind kostenlos, und niemand wünscht sich die alten Zeiten wieder zurück, als man noch vor apokryphen Fahrkartenautomaten verzweifelte oder stundenlang in einer Schlange warten musste. Außerdem werden Frauen mit Kinderwagen bevorzugt zum Bahnsteig und auf ihren Sitzplatz gebracht und sogar ihre Koffer werden im Zug für eine angenehme Reise verstaut.

Auch draußen, am früheren Taxistand, stehen jetzt viele schwarze komfortable Onko- Limousinen, die Fahrer warten einheitlich und adrett in ihren weißen Overalls gekleidet auf Kunden, und sogar Taxifahren ist neuerdings kostenlos für die Gemeinschaft der modernen Zivilisation geworden!

Aber wo sind bloß die Junkies mit ihren bunten Haaren und rasierten Schädeln geblieben, die überall an den Straßenecken mit ihren Hunden rumlungerten und die immer so frech fragten: „Hassemalnen Euro. Auch die vielen Penner sind einfach verschwunden, genau wie die vielen Strichjungen und Prostituierten, die hier auf Kundenfang waren.

Es gibt keine „Klau Kids“ mehr, nirgendwo findet man bettelnde und verwahrloste Kinder, die sich in den Ecken rumdrückten und die Mülleimer filzen, um sich die weggeworfenen Pizza- und Essensreste herauszuangeln. Sonst lungerten die doch überall herum, die in ihren schmierigen Händchen lässig eine Zigarette hielten, und die sofort um die nächste Ecke flitzten, wenn die Polizei auftauchte? Und wer bleibt heute noch stehen und diskutierte mit den „Zeugen Jehovas“ über den bevorstehenden Weltuntergang?

Sogar die hässlichen Tauben sind weg, die sich früher mit ihren verkrüppelten Füßen im Rinnstein um die Brotreste und die Abfälle zankten.

Auch die Straßenbahnen sind sehr sauber und vorbildlich geworden, niemand würde es so wie früher wagen, die Sitze zu zerreißen, die Scheiben zu zerkratzen oder Graffitis in die Ecken zu schmieren und Kaugummi auf den Boden zu spucken.

In jeder Bahn fährt außerdem ein Onko- Servicemann mit, der für Ordnung sorgt und den jungen Müttern mit den Kinderwagen beim Ein- und Aussteigen hilft. Man bekommt immer einen Sitzplatz, und vor allen Dingen, alle Fahrten sind kostenlos.

Wer erinnert sich eigentlich noch an früher, als Millionen von Privatautos die Stadt verstopften und für schlechte Luft sorgten?

Aus ökologischen Gründen wurde das Benzin abgeschafft, und die alternativen Kraftstoffe waren viel zu kostspielig geworden. Daraufhin ließen die Autobesitzer einfach ihre sinnlos gewordenen Autos stehen und sie mussten überall auf Staatskosten aufwändig ins osteuropäische Ausland entsorgt werden.

Die Bevölkerung gewöhnte sich schnell an ein Leben ohne Individualverkehr, egal, ob man etwas transportieren, zum Amt oder zum Arzt muss, ein Anruf genügt, und die schwarzen Autos mit ihrem uniformierten Fahrer im weißen Overall sind immer verfügbar, freundlich und zuverlässig, zu allen Tag- und Nachtzeiten.

Nun hört man überall wieder auf den Straßen fröhliches Kinderlachen, lärmende Schulkinder, adrette, oft sehr hübsche, blonde Teenies bevölkern die eleganten Eiscafés und die Straßenbahnen.

Man konnte die schönen Erfolge und Fortschritte förmlich mit den Händen greifen. In den schönsten Lagen der City und Fußgänger-Zentren entstanden prächtig glitzernde Einkaufsmeilen. Beauty-Salons, HealthCare-Center und Sonnen- und Fitnessstudios ersetzten die veralteten Arztpraxen, Apotheken, und Massagepraxen. Nur der beste Service wird für den neuen perfekt gestylten modernen und gesundheitsbewussten Menschen angeboten.

Die Kaufhäuser haben sich zu richtigen Erlebnisparks für die ganze Familie gemausert, wo stolze Eltern ihren hoffnungsvollen Nachwuchs ausführen. In der Kinder- und Jugendabteilung wartet perfekt geschultes Personal für die Beratung der umfangreichen Spiele- und Computerangeboten, und ohne eine komplette Kuscheltier-Etage kommt heutzutage kein modernes Kaufhaus mehr aus. Die wichtigsten Läden sind sowieso alle von der Wohnung aus leicht erreichbar. Da geht man doch gerne zu Fuß, da muss man sich auch keine Sorgen um die Kinder machen, sie können jetzt unbehindert wieder richtig auf der Straße spielen.

Die Touristengruppen fallen natürlich sofort positiv im Stadtbild auf, sie bewegen sich in wohlgeordneten Gruppen, eine Hostess mit Fähnchen ist immer dabei, ihr ganzer Aufenthalt in der Stadt ist von Anfang bis zum Ende perfekt organisiert. Die fremden Gäste sollen nicht orientierungslos in der Stadt herumrennen, sondern gezielt mit den Highlights der Stadt vertraut werden.

Individualtourismus? Ist jetzt unerwünscht. Man stelle sich vor, jemand würde sich verlaufen oder in die falschen Stadtteile geraten? Das wäre doch viel zu gefährlich, wer sollte dort für ihre Sicherheit sorgen?

Gerade darauf ist die neue Regierung besonders stolz, und jeden Tag verkünden die Nachrichten, dass heutzutage jedermann sicher ist, an allen Tages- und Nachtzeiten.

Dieser hohe Standard gilt natürlich nur für die „entwickelten“ Stadtteile, einige andere wie Ehrenfeld, Kalk und Nippes waren nun fast entvölkert, denn wer wollte schon da leben? Natürlich niemand. Um diese verlassenen Stadtteile baute die Stadt Köln daraufhin einen umweltfreundlichen Schutzwall, und die so entstandenen „No-Go-Zonen“ existierten fortan nicht mehr auf den Stadtplänen, sie wurden einfach von der Bevölkerung vergessen.

Vor dem grünen schönen Wall in der properen Innenstadt hat man gepflegte Beete mit kleinen Spazier- und Wanderwegen mit Bänken angelegt, auf denen im feinsten Sonntagsstaat stolze Eltern mit ihren Kindern flanieren können. Was schert sie, was auf der anderen Seite der Mauer gewesen war?

Die Überwachung des Geländes wurde von der Sicherheitsfirma „Mono-Emvass“ übernommen, es gab nur ein einziges Tor, das äußerst gut geschützt und für Unbefugte fast unsichtbar geworden war.

Warum war das so, was war hier passiert? Und es fällt noch mehr auf. Überall verschwindet die dunkle Haarfarbe aus dem Straßenbild der Stadt. Wo sind die vielen ausländischen Männer und die kopftuchtragenden Frauen, wo sind ihre zahlreichen schwarzköpfigen Kinder geblieben?

Und nach und nach verschwanden die vielen kleinen Geschäfte aus dem Straßenbild, die Reparatur- und Änderungsschneidereien, die Frittenbuden mit Gyros und Falafel und den ewig stinkenden Pommes-Frites, die vielen kleinen Gemüseläden und sogar die Ein-Euro- Shops waren jetzt geschlossen worden.

Ja, sogar die vielen italienischen Eissalons, Cafés und die vielen Ristorantes und Pizzerien verschwanden. Die indische Tandoori-Bar und die mexikanischen Tapasläden, der Chinamann, alles erledigt, weg und vergessen, und die Straßen sind menschenleer gefegt. Das braucht man jetzt alles nicht mehr.

Überall in den abgehängten Stadtteilen sieht man nur noch verrammelte Schaufenster mit verstaubten Auslagen, manchmal sogar Lebensmittel, die in den Regalen verfaulen, niemand räumt sie mehr weg. Draußen hängt manchmal noch eine windschiefe kleine Cola-Lichtwerbung mit einem fremden Namen herum, irgendjemand hat einen Stein reingeworfen und irgendwann wird sie von allein runterfallen.

Ist das nicht irgendwie seltsam? Niemand geht doch einfach so mittendrin und lässt alles stehen und liegen. Haben sie wirklich alle freiwillig, glücklich und zufrieden Köln verlassen, das über Jahrzehnte auch ihre Heimat gewesen war?

Der Staat hatte ein gigantisches Umsiedlungsprojekte in Gang gesetzt, der Express berichtete in dürren Worten von einem großen Umsiedlungsprogramm in Anatolien, aber das interessierte wirklich niemanden. Man wusste nur so viel, dass die ausländischen Regierungen Unsummen für die Rückkehrer erhielten, damit sie für die Heimkehrer Wohnungen, Schulen und Arbeitsprogramme schafften.

Köln 2089 – ist jetzt eine vorbildlich geführte Stadt der Onkokratie mit einer Leuchtturm-Wirkung für ganz Europa.

Ja, es war ein langer und steiniger Weg, aber er hat sich wirklich für alle gelohnt. Die glückliche Zeitenwende wurde endlich vorbildlich vollzogen.

Ein trauriger Abend

Marthe steht am Fenster und schaut auf die Straße. Ach, schon wieder so ein trostloser Novemberabend, es regnet immer noch, aber was kann man hier in Köln schon anderes erwarten?

Es ist furchtbar, älter zu werden, meine alten Knochen tun weh und wollen auch nicht mehr so richtig, und irgendwie hasse ich den Herbst und Winter immer mehr. Ach, man müsste einfach in den Süden auswandern, am besten nach Griechenland, und diese unstillbare Sehnsucht nach Helligkeit, Wärme und Sonne lassen mich einfach nicht mehr los

Wo Hans nur so lange bleibt, es ist schon dunkel, der wird langsam etwas dusselig, und ein bisschen ungeschickt war er immer schon gewesen, und nun man kann ihn noch nicht mal mehr allein zum Einkaufen schicken. Wie soll das bloß später mal mit ihm werden, wenn er älter wird? Ach, bloß nicht daran denken… immer muss ich alles alleine machen, er ist gar keine Hilfe mehr wie früher.

Was riecht denn da so komisch? Scheiße, das Kartoffelgratin im Backofen, das habe ich ja total vergessen. So ein Mist, jetzt ist es ganz verbrannt. Wozu mache ich mir eigentlich die ganze Arbeit, wenn er schon wieder zu spät zum Essen kommt? Seit über zwei Stunden ist er weg, bloß, um ein bisschen Gemüse zu kaufen, er müsste doch schon längst zurück sein. Mal sehen, vielleicht kann man doch noch was unter der schwarzen Kruste herausholen, der Rest kann in die Mülltonne…

Da ist er endlich, der Schlüssel im Schloss knirscht, die Haustür geht auf, klappt zu, dann passiert eine Weile gar nichts mehr, es ist still geworden, wieso kommt er denn nicht rein? Komisch, was macht er denn da im dunklen Flur, ob er wieder weggegangen ist? Warum sagt er denn nichts?

„Hans, wo warst du bloß so lange? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, du warst fast zwei Stunden weggewesen. Und was rumorst du die ganze Zeit da im dunklen Flur herum? Komm jetzt endlich rein und zieh dir erst mal die Schuhe aus, der ganze Flur wird nass.“ Aber nichts passiert, er rührt sich einfach nicht da draußen.

„Hans, nun sag endlich mal was. Was machst du da im dunklen Flur? Hast du alles auf dem Markt bekommen? Was ist denn bloß los mit dir? Ich warte schon so lange mit dem Essen auf dich, das Gratin ist ganz verbrannt, das muss doch nicht sein. Hans, was ist mit dir los? Jetzt komm endlich rein!“ Der antwortet einfach nicht. „Muss ich denn immer alles alleine machen. Wieso sagst du denn nichts? Soll ich dich etwa holen kommen?“

Im Lichtkegel der Flurlampe steht er mit seiner nassen Jacke und mit hängenden Armen, das Einkaufsnetz liegt auf der Erde, er steht einfach da und weint, ohne einen einzigen Laut, die Tränen laufen ihm nur so übers Gesicht. Ein alter Mann wie er, wie kann er einfach weinen, das geht doch nicht? Das hat er doch noch nie getan, er hat doch noch nie geweint. Es gab so viele schlimme Ereignisse in ihrem gemeinsamen Leben, über die man hätte weinen können, aber er, er hat früher nie geweint! Niemals! Da muss irgendetwas ganz schlimmes passiert sein.

„Hans, was ist los mit dir? Nun sag schon was! Was ist denn passiert? Was hast du denn?“

„Marthe, ich habe es genau gesehen, ich habe es ganz genau gesehen!“ stammelt er zitternd und weint weiter vor sich hin.

„Was, was hast du gesehen? Was ist passiert? Nun rede doch endlich!“

„Sie haben ihn abgeholt, ich habe es ganz genau gesehen! Er hat sich noch gewehrt, und sie haben ihn trotzdem einfach mitgenommen! Und ich konnte gar nichts machen, nichts konnte ich machen! Marthe, ich habe solche Angst vor ihnen!“ sagt er und weint lauter vor sich hin.

„Wen haben sie geholt, wen und wer und warum? Was sagst du denn da? Du bist ja vollkommen durcheinander.“

„Den Fritz Werner, unser Fritz, dein Cousin, er hat mir noch zugewunken, er war da drinnen im Auto, mit zwei weißen Männern, in dem großen schwarzen Wagen.“

„Was für ein schwarzer Wagen und was für Männer? Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Also, du hast unseren Fritz gesehen, wie er in ein schwarzes Auto gestiegen ist, und was passierte dann weiter?“

„Onkomobil stand drauf. Onko-Direkthilfe für ältere Mitbürger. Er musste da einsteigen, und dann haben sie seinen Arm rumgedreht. Er hat sich gewehrt, und sie haben ihn trotzdem einfach mitgenommen, sie waren doch zu zweit, einfach so und sie haben ihn nicht mehr rausgelassen!“

„Jetzt begreife ich gar nichts mehr. Hast du wirklich Fritz gesehen? Aber wohin haben sie ihn denn mitgenommen? Er war doch gar nicht krank gewesen, oder hatte er gestern irgendwas gesagt? Weißt du etwas davon? War das Auto wirklich schwarz und war es nicht ein weißes mit roten Streifen gewesen? Ein Krankenwagen vielleicht? Irrst du dich auch nicht?“

„Spinnst du, so blöd bin ich doch nicht, dass ich nicht schwarz von weiß unterscheiden kann. Nein, es waren diese seltsamen Onko-Leute mit ihrem schwarzen Wagen, sie haben ihn einfach ins Auto gezerrt und er durfte nicht mal mehr rausgucken, aber er hat mir trotzdem zu gewunken! Marthe, da habe ich solche Angst bekommen und da bin ich schnell abgehauen!“ sagt er und beginnt, heftig zu zittern.

„Das können die doch nicht machen, das geht doch nicht! Wir waren gestern noch bei den beiden zum 75. Geburtstag und haben ein Schnäpschen zusammen getrunken, da war er ganz kregel gewesen, oder etwa nicht? Oh Gott, was mögen die bloß mit ihm vorhaben?

Und was ist mit Paula? Was hat Paula gemacht, hast du Paula gesehen? Nun sag schon, saß Paula auch im Auto?“

„Paula, wieso fragst du denn nach Paula? Die war doch gar nicht mit dabei! Paula habe ich überhaupt nicht gesehen! Das weiß ich auch nicht! Ich hatte doch nur Fritz in dem schwarzen Wagen gesehen! Und dann raste der Wagen mit ihm weg, er konnte nur noch einmal winken!“

„Hans, nun denk doch mal scharf nach, wieso war Paula denn nicht mit im Auto, sie musste doch auch dabei gewesen sein? Die beiden gehen doch immer zusammen einkaufen, da fährt doch keiner alleine ohne den anderen weg, das gibt es doch gar nicht! Hans, spinnst du auch nicht, hast du das wirklich ganz genau gesehen? So etwas kann doch gar nicht wahr sein!“

„Doch, Marte, doch, ich habe es ganz genau gesehen…“ stammelt er leise.

„Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen! Denk noch mal nach, bist du ganz sicher, dass wirklich Fritz in dem schwarzen Auto saß und niemand anderes? Waren es wirklich Onko- Leute im schwarzen Auto, die ihn da mitgenommen haben? Denk noch mal genau nach. Er hat dir also mit der Hand gewunken und dann raste das Auto mit ihm weg?

Mein lieber Hans, ich kann kaum glauben, dass du das alles wirklich gesehen hast, du siehst doch ziemlich schlecht in der letzten Zeit und in den letzten Tagen warst du auch ein paarmal schrecklich durcheinander gewesen, oder etwa nicht? Na warte mal, das haben wir gleich geklärt, ich rufe jetzt sofort Paula an! Dann wissen wir ganz genau, was da wirklich passiert ist!“

„Marthe, ich habe solche Angst vor denen! Und wenn die auch zu uns kommen und uns abholen? Was machen wir denn dann?“ flüstert Hans heiser.

„Jetzt spinn nicht rum, Hans, aber kann es einfach nicht glauben, was du gesehen hast, ich glaube es einfach nicht! Du bist mir viel zu durcheinander und schon ganz konfus, wer weiß, was du da wirklich gesehen hast. Ich rufe jetzt Paula an und frage, was da wirklich passiert ist. Weißt du ihre Telefon-Nummer auswendig? Nein, ich auch nicht. Ach ja, hier steht sie im Heftchen, 95-84-227.“

In der Leitung ertönt ein leises Tuten, einmal, zweimal, ein Anrufbeantworter springt an. Da muss sie sich verwählt haben. Noch einmal auflegen und ganz langsam wählen. Aber wieder springt nach dem zweiten Tonsignal ein Anrufbeantworter an, schnell wieder auflegen.

„Das ist aber sehr seltsam, Hans, ich glaube, ich muss mich zwei Mal verwählt haben, war das auch wirklich die richtige Nummer? Noch einmal, ich wähle jetzt 95-84-227, und da ist schon wieder ein Anrufbeantworter dran! Aber Fritz und Paula haben doch gar keinen Anrufbeantworter, so neumodisches Zeug haben sie doch immer abgelehnt, damit wollten sie doch nie etwas zu tun haben!“

„Siehst du, Marthe, mit ihnen ist irgendwas Schlimmes passiert, siehst du, da hast du es, ich bin nicht konfus, ich habe alles gesehen…ganz genau habe ich alles gesehen,“ stammelt Hans ängstlich und die Tränen laufen ihm über das Gesicht.

„Ja, ja, ich glaube dir ja, du bist nicht konfus, du hast alles ganz genau gesehen, aber vielleicht bin ich jetzt verrückt geworden? Ich kann mich doch nicht zweimal verwählen. Komm mal her, jetzt wähl du mal! 95-84-227. Und ich stelle den Lautsprecher an, ja? Nun komm schon her, sei doch nicht so ungeschickt!“

Der Ruf geht ab und aus dem Lautsprecher tönt: „……Hallo, hier ist der Anrufbeantworter 95-84-227, Paula und Fritz Werner, wir sind gestern in Urlaub gefahren, wir brauchen auch mal ein bisschen Erholung. Bis bald. Tschüss.“

„War das wirklich Paulas Stimme? Die fahren doch sonst nie weg, schon seit 20 Jahren nicht mehr, wieso können sie dann einfach so plötzlich in Urlaub fahren? Und warum haben sie uns denn vorgestern auf ihrem Geburtstag nichts davon erzählt? Davon hätten sie uns ganz bestimmt etwas erzählt, Paula kann doch nie etwas für sich behalten, ich begreife es einfach nicht.“

„Siehst du Marthe, siehst du, da ist bestimmt etwas ganz schlimmes passiert,“ stammelt Hans und beginnt wieder zu zittern.

„Mann, Hans, jetzt beruhige dich erst mal ein bisschen, du machst mich noch ganz verrückt, ich kann ja schon selber gar keinen klaren Gedanken mehr fassen. Und selbst, wenn die beiden wirklich in dem schwarzen Auto gesessen haben, dann frage ich mich doch, seit wann diese Onko-Leute jetzt auch Urlaub organisieren?

Soweit ich weiß, betreuen die doch nur die alten Leute, die nicht mehr allein zu Hause zurechtkommen. Und für die anderen organisieren sie für die einen Platz im Altersheim. Jetzt kommt mir das Ganze aber wirklich sehr seltsam vor, so tatterig waren die beiden doch noch gar nicht. Aber warum haben sie uns nichts davon gesagt? Meinst du, wir sollten mal in der Onko-Zentralstelle nachfragen?“

„Und was ist, wenn doch? Laß das lieber sein, wer weiß, was dann noch alles passiert,“ murmelt Hans und beginnt wieder zu weinen.

„Was meinst du damit, wenn doch? Jetzt beruhige dich ein erst mal ein bisschen, zieh deine Schuhe aus, der ganze Flur ist schon nass geworden und komm erst mal in die Küche. Zeig mir mal lieber, was du vom Markt mitgebracht hast.

Was, das ist alles? Einen Weißkohlkopf hatten sie nicht? Nur diese paar schrumpeligen Tomaten? Mann oh Mann, das Angebot an Frischgemüse wird aber auch immer dürftiger. Da steckt doch eine böse Absicht dahinter, die wollen uns bloß zwingen, diesen Industrie-Fertigfraß zu fressen, aber wir werden schon noch einen anderen Gemüseladen finden, der noch frisches Obst und Gemüse anbietet.

Na gut, dann machen wir eben Tomatensalat, das ist ja auch kein Beinbruch. Jetzt setz dich erst mal hier an den Tisch! Und zieh deine nasse Jacke aus, die halbe Küche ist schon voller Wasser.“

„Marthe, ich habe solche Angst und wenn die auch zu uns kommen?“

„Ach Quatsch, Hans, hier bist du zu Hause und hier brauchst du keine Angst zu haben, und außerdem bin ich ja auch noch da. Du bist so blass um die Nase, weißt du was, ich hole dir erst mal einen Kabänes! Und ich kann auch einen vertragen.“

„Aber Marthe, sie haben wirklich Fritz abgeholt, ich habe ihn ganz genau erkannt, und auf dem Markt haben sie auch davon gesprochen, dass plötzlich so viele alte Leute weg sind, und der nette Herr Fink ist auch seit einer Woche verschwunden, das machen alles diese Onko-Leute, ich weiß es ganz genau.“

„Ja, mein Hans, ja, ich habe das auch schon gehört, aber jetzt beruhige dich erst mal ein bisschen, ich glaub dir doch alles, was du gesehen hast! Hier ist ein großes Glas Kabänes, ich trinke auch einen mit! Brr, was für ein schreckliches Zeug!“

„Ich habe aber trotzdem Hunger, ich habe seit heute früh nichts mehr gegessen, und mir ist schon ganz schlecht,“ flüstert Hans kläglich und streicht sich die nassen Haare aus dem Gesicht.

„Warte, ich hole dir zuerst mal ein Handtuch, damit trocknest du dir die Haare und das Gesicht ab. Und hol dir deine warmen Hausschuhe, sonst kriegst du noch einen Schnupfen. Und dann mache ich schnell einen kleinen Tomatensalat, das Unterste vom Gratin können wir vielleicht doch noch essen, dazu trinken wir ein Glas Kölsch, hol schon mal die Teller aus dem Schrank, und danach werden wir weitersehen!

Aber das mit Fritz und Paula lässt mich wirklich nicht mehr los, da kann man es wirklich mit der Angst bekommen. Spätestens morgen gehen wir zu ihrer Wohnung, vielleicht sind sie nur zum Arzt gefahren, und dann sind sie wieder da?

Aber da ist dieser komische Anrufbeantworter, ach, alles wird sich morgen aufklären, es wird schon nichts Schlimmes mit ihnen passiert sein. Und was soll man schon vom Geschwätz auf dem Markt halten?“ sagt Marthe entschlossen, aber ihre Gedanken kreisen nur noch um dieses Thema.

Vielleicht ist doch was Wahres an den Gerüchten? Nicht auszudenken. Was wäre, wenn man die Wahrheit über alles das rausbekäme? Warum verschwinden denn in der letzten Zeit so viele ältere Leute? Und alle wohnen dann auf dieser winzig kleinen Ferieninsel Mallorca, ist denn da genug Platz für alle?

Sie essen schweigend, viel bringen sie nicht runter, und das Bier ist schnell getrunken. „Hans, magst du nichts mehr? Dann räume ich eben ab. Komm, setzen wir uns ins Wohnzimmer, du hast die Tageszeitung noch nicht gelesen.“

„Steht denn irgendwas besonders interessantes drin?“

„Nee, die Nachrichten sind immer dieselben, ja, das waren noch Zeiten, als es mehrere Zeitungen zur Auswahl gab, jetzt gibt es nur noch den Express, eine Zeitung für die gesamte Stadt. Und immer steht derselbe Müll drin. Auf der ersten Seite eine dicke Schlagzeile, auf Seite zwei das Busenmädel und in den beiden Innenseiten der Lokalteil und das Fernsehprogramm. Und der Sport auf der Rückseite interessiert mich sowieso nicht.“

„Und warum soll ich dann die Zeitung dann lesen?“

„Dann werde ich sie eben wegschmeißen und nie mehr kaufen. Manchmal steht doch was Interessantes drin. Was hältst du denn von dieser Nachricht? Hier auf Seite drei steht es in Großbuchstaben, hör mal zu. „Die Kommune Köln billigt längere Rentner-Reisen“ Köln. Die Rentner Kölns können sich auf ein paar mehr Wochen Ferien in Südeuropa auf Staatskosten freuen.“ meldete Bürgermeister Nideggen im Stadtrat.

Einstimmig wurde eine dreijährige „Versuchsanordnung“ beschlossen. Alle 1.500 Senioren in Köln im Alter von mindestens 65 Jahren sollen auf Kosten der Gemeindekasse einmal richtig langen Urlaub machen können.

Hier steht die Begründung: „Derartige Kurreisen steigern den gesundheitlichen Zustand der Senioren erheblich und somit werden große Kosten-Einsparungen erzielt, nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus sozialpolitischer Sicht. Diese Maßnahme führt zur Entlastung des ganzen Staates. Also sind die Alten auch in Köln eine Belastung des Staates? Sieht man das heute überall so? Wieso sind wir eigentlich eine Belastung?“

„Meinst du denn, dass Fritz und Paula……..?“ stammelt Hans aufgeregt.

„Vielleicht gibt es jetzt erst dieses Programm für ältere Bürger, von dem wir bis jetzt noch gar nichts gewusst haben? Aber Fritz und Paula hätten uns bestimmt etwas davon gesagt, dann wären wir bestimmt auch mitgefahren. Stell dir mal vor, wir könnten endlich mal wieder richtigen Urlaub im Süden machen, ach, noch einmal das Mittelmeer sehen, das stelle ich mir wunderbar vor. Nun sag doch mal was, Hans!“

Aber Hans schweigt still vor sich hin, aus ihm ist kein Wort mehr herauszubekommen. Grübelnd starrt er in sein halbvolles Kölsch Glas. Endlich rührt er sich doch, schaut ganz umständlich auf seine Uhr, steht auf und stellt den Fernseher an. „Gibt es irgendwas besonderes heute Abend im Fernsehen?“

„Ja, heute Abend kommt eine Reportage, Herr Fittipaldi von nebenan sagte mir gestern, das sollte man sich mal angucken, soweit ist es schon gekommen, es geht um die Reichen von Düsseldorf, es heißt „Leben in der Zitadelle Düsseldorf“, im 2. Programm um 20.30 Uhr.“

„Zitadelle Düsseldorf? Seit wann interessierst du dich für Reiche? Und Düsseldorf ist doch gerade mal 100 km weg, was soll denn daran schon besonderes sein? Und in Köln gibt es keine Reichen?“

„Wieso, vielleicht könnten wir nach Düsseldorf umziehen, und dann … “

„Jetzt spinnst du aber total, Hans. Was sind denn das für krause Ideen? Ich will in Köln wohnen bleiben, was soll ich denn in Düsseldorf, außerdem sind wir nicht reich. Na los, dann mach mal den Ton an, die Sendung hat schon angefangen.“

Hans drückt die Fernbedienung und auf dem Bildschirm erscheint ein junger Mann in einer Khaki-Uniform, der aufgeregt ins Mikrofon spricht: „Willkommen! Treten Sie ein! Werden Sie Teil einer Gemeinschaft von Menschen, die das Landleben in einer sicheren, natürlichen Umwelt vorziehen, die mit dem Ruf des Kiebitzes einschlummern und mit dem leisen Gemurmel des Rheines aufwachen wollen. Das Paradies, dass ich Ihnen jetzt vorstelle, heißt Düsseldorf. Es liegt im Nordwesten Kölns, gerade mal 100 Kilometer von der gefährlichen Großstadt Köln entfernt.“

„Wieso soll denn Köln gefährlich sein? So ein Quatsch.“

„Lass doch mal hören, was der zu sagen hat.“

„Dieses Gelände, das „Düsseldorfer Villenviertel“ ist 300 Hektar groß, es wird von 60 Wächtern und 56 Kameras rund um die Uhr observiert und von einem 7,5 Kilometer langen Ring aus Stahlpalisaden und Mauern umfriedet, die mit acht Stromleitungen versehen wurden.

Dieser Schutzwall trennt die gefährlichen No-Go-Zonen da draußen von unserem wunderschönen Villenviertel. Da draußen sehen Sie nur verwahrlostes Gelände, aber hier drinnen finden Sie eine sanfte grüne Landschaft mit Silberweiden, Eichen, und Blumenrabatten. Hier wurden Villen im sardischen Stil errichtet, richtig elegante Landhäuser und vereinzelt findet man auch Fachwerkhäuser im historischen Stil. Das ist ein einmaliges Städtchen, alles adrett, wohlgeordnet und sauber, die Straßen und Trottoirs sind überall picobello.“

Der Reporter surrt mit seinem Elektroauto auf ein riesiges gepanzertes Portal zu, aber schnell wird er von zwei Wachleuten mit preußischblauen Uniformen gestoppt. „Ihren Besucherpass, bitte! Aha, Sie sind Mister Manfort? Auf Sie haben wir schon gewartet, man hatte Sie ja bereits avisiert, willkommen Sir im Düsseldorfer Villenviertel,“ sagt einer von ihnen zackig.

Der zweite Wachmann schiebt sich vor die Kamera, seine Oberarme sprengen fast seine Uniform und sein feister Stiernacken quillt über dem Kragen hervor.

„Die allgemeine Sicherheit ist das allerwichtigste Kriterium für die Bewohner dieser Stadt. Danach kommt die Bewegungsfreiheit, dann die gesunde Umwelt und vor allen Dingen ist hier die Ruhe sehr wichtig. Hier wohnen nur gutsituierte Menschen, die genug haben von der Welt da draußen, vor der Kriminalität, vom Lärm und von den Abgasen, von der allgemeinen Verwahrlosung der No-Go-Zonen, wie zum Beispiel in Köln, die sich überall wie Krebsgeschwüre in unserem Lande ausbreitet.“

Der Kameraschwenk geht über gepflegte Blumenrabatten und Parks des Villenviertels. „Ist das nicht wunderschön hier?", schwärmt ein junger Mann in die Kamera. „Hier leben 1800 Einwohner, es gibt eine eigene Privatschule, eine Bank, eine Privatklinik, jede Menge Ärzte, 47 Sicherheitsleute, 14

Streifenwagen und 12 Motorräder. Daher fühlen wir uns hier drinnen wirklich sicher.

Stellen Sie sich vor, unsere Kinder können sogar im Dunkeln mit dem Fahrrad ihre Freunde besuchen. Nachts müssen wir noch nicht mal die Haustür zusperren. Infrastruktur, soziales Klima, Lebensqualität - alles ist erstklassig hier. Und exklusiv: Die Aufnahmegebühr für die Privatschule beträgt 14.000 Euro. Da ist man unter sich, da kann nicht jeder Krethi und Plethi rein, da herrscht noch Zucht und Ordnung, da gibt es noch richtig schöne Schuluniformen und es herrscht hier ein freundlicher und kameradschaftlicher Umgangston zwischen Schülern und Lehrern.“

Wie aus dem Nichts taucht ein Pressesprecher auf. „Guten Tag, ich bin der Medienvertreter dieses wunderschönen Fleckchens Erde. Die da draußen werfen uns immer wieder vor, dass wir in einer Zitadellen Gesellschaft leben, aber wir müssen uns einfach vor den vielen Kriminellen da draußen schützen, denn gleich hinterm Zaun liegt das Ghetto, Sie wissen schon. Ersparen Sie mir bitte die Einzelheiten, wie die da in Köln in den Müllhalden vegetieren, sowas kannte man früher nur in den Slums von Indien. Dort wachsen die Kriminellen zu Tausenden nach. Die kreisen um unseren Honigtopf wie Bienen, sagt meine Frau immer.

Ich bin hauptberuflich Geschäftsführer einer großen Firma, und ich muss öfter bis Köln oder Nürnberg mit dem Privatwagen durchfahren. Wissen Sie, ich bin nicht gern abhängig von Fahrern oder sonstigen Bediensteten. Darum haben wir uns ein gepanzertes Fahrzeug angeschafft, mit 32-Millimeter-Glas, Kalaschnikow fest, für 80.000 Dollar das Stück. Mit allem Luxus inclusive, sogar, hahaha, sogar ein diskretes Fach mit Urinal, Sie wissen schon, man kann ja zwischendurch nicht anhalten und zum Pinkeln rausgehen, aber dafür fühlt man sich da drinnen besonders sicher, und meine Frau schätzt gerade diese Sicherheit ganz besonders. Für mich ist es ein Glück, nach getaner Arbeit in diese geschützte Insel nach Hause zurückkehren zu können.“

Die Kamera macht einen großen Schwenk und landet vor dem Rathaus, wo sich der Bürgermeister mediengerecht platziert hat, ein älterer beleibter Mann mit schütteren Haaren.

„Unsere Bürger der Zitadelle Düsseldorf weigern sich, höhere Steuern und Abgaben zu zahlen, mit denen die da draußen saniert werden sollen. Und sie haben doch recht, warum sollen wir mit dem Gesoks da draußen teilen? Wir haben uns doch alles hier selbst erarbeitet.

Da draußen gibt es doch nur Korruption, Mafia, Bestechlichkeit und Schlamperei. Warum sollen wir diese Kriminellen auch noch finanzieren? Wir brauchen unser schwer erarbeitetes Geld für unsere eigene Sicherheitstechnik.“ Ein paar Menschen, die zufällig vorbeigeschlendert kommen, nicken bestätigend in die Kamera.

Das Bild wechselt ins Studio zurück. „Sehr geehrte Damen und Herren, diese Reportage stammte von unserem Journalisten Bartholomäus Grill vom Sender NBBVC. Jetzt folgen weitere Nachrichten aus dem Inland.“ sagt ein freundlicher junger Mann, sein helles Haar ist sehr kurzgeschnitten und er ist modisch gekleidet, seine Stimme klingt begeistert und engagiert, ungefähr so, wie früher in ihrer Jugend die Sportreporter redeten.

„Was soll man denn von so einer Reportage halten? Düsseldorf, Zitadelle, das ist doch alles Blödsinn. Hans, nun sag doch mal was dazu. Mann, du bist ja schon wieder eingeschlafen.“

„Was, ich schlafe? Nein, ich bin noch ganz wach,“ sagt Hans leise und fährt verwirrt hoch. „Ich habe alles ganz genau mitbekommen.“

„Ich glaube dir kein Wort, du schläfst immer beim Fernsehen ein. Aber nun drück doch mal auf die Fernbedienung und mach den Fernseher etwas lauter, ich verstehe ja sonst gar nichts! Jetzt kommen die Nachrichten aus der Region. Vielleicht finden wir jetzt irgendeine Erklärung, warum Fritz und Paula verschwunden sind, irgendeinen versteckten Hinweis in den Nachrichten, ob die vielleicht doch in den Urlaub gefahren sind.“

„Sehr geehrte Damen und Herren. Heute, am 11. November teilen wir Ihnen wie jeden Monat die neue monatliche Erfolgsstatistik unserer Onkokratie-Regierung mit. Es gibt nur gute Nachrichten zu vermelden.

Die aktuelle Rückführungsquote aller ausländischen Mitbürger beträgt inzwischen über 95%. Diese Zahl ist der Beweis, dass die Re-Integration nach nur drei Jahren durchschlagend und sehr effizient durchgeführt wurde. Alle beteiligten europäischen Staaten sind über dieses Ergebnis sehr zufrieden und danken uns für die vielen greifenden und überaus konsequenten und wirksamen Maßnahmen, mit denen unser Staat die Verantwortung für unsere ehemaligen ausländischen Gäste übernommen hatte.

Da, sehen Sie sich mal die drei neuen Städte in Ost-Anatolien an, die für unsere türkischen Einwohner errichtet wurden, und das alles wurde in nur drei Jahren mit Fördergeldern der EG geschaffen, überall gibt es nun neue Schulen, Krankenhäuser mit aller notwendigen Infrastruktur. Hier fanden über 10.000 türkische Einwohner eine neue Heimat.

Sogar die große Schutzmauer wurde von unserer Regierung gebaut, die diese kleine Stadt vor den einfallenden Horden aus der Wüste schützen soll. Ja, unser Bau-Konsortium hat sehr gute Arbeit geleistet und mit diesem Großauftrag wurde auch unsere deutsche Wirtschaftskraft gestärkt.

Während der dreijährigen Bauzeit konnten über 50.000 Arbeiter beschäftigt werden. Ja, im Ausland verdient man gut, und nun warten sie schon ungeduldig auf den nächsten Arbeitseinsatz irgendwo draußen in der Welt. Aber zuerst werden sie bald ihre Familien wiedersehen, denn nächsten Monat wird das Anatolien-Projekt abgeschlossen sein.

Mit ihrem selbstlosen Einsatz haben diese deutschen Bauarbeiter nicht nur ihre Familien in der Heimat ernährt, sondern sich auch Punkte des neuen Bonussystems erworben, nach dem sie sich schon nach 5 Jahren ein neues, nämlich ihr eigenes Häuschen bauen können. Da sehen Sie mal, überall gibt es nur zufriedene Gesichter bei uns“, ruft eindringlich der junge Nachrichtensprecher, seine Stimme klingt ganz begeistert und irgendwie etwas metallisch.

„Und die gerade erst im letzten Jahr neu gegründete Familienhilfe Onkind zeigt auch ihre ersten Erfolge! Zuerst lassen wir einmal unseren neuen staatlichen Anthropo-Philosophen Herrn Williamsdyk ein paar Worte dazu sagen.“

Auf dem Bildschirm erscheint ein älterer Herr mit einem länglichen grauen Schnäuzer und einem schwarzen Anzug, der etwas müde in die Kamera blickt: „Nur als Kind gewollt sein heißt, bloß als Objekt, nicht als Subjekt von Auslese zu existieren. Es ist die Signatur des technischen Zeitalters, dass Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion gelangen.

Wir haben jetzt so wichtige Dinge wie die eugenische Selektion angepackt, die auch die intellektuelle Qualität der Weltbevölkerung verbessern wird. Dies ist erst der Anfang, denn mit den neuen Anthropotechniken erreichen wir die explizite Merkmalsplanung, bezogen auf die Umstellung vom Geburtenfatalismus auf die optionale Geburt und pränatale Selektion einer gesunden Geburtenpopulation haben wir alle Eventualitäten mit in unsere Planung einbezogen.

Sobald in einem Feld Können und Wissensmächte positiv entwickelt sind, machen Menschen eine schlechte Figur, wenn Sie ..ähem.. eine höhere Gewalt, sei es denn Gott oder den Zufall, an ihrer Stelle handeln lassen wollen. Da bloße Weigerung an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren!“

„Hans, hast du das eben verstanden, was der gerade gesagt hat? Was meint der damit? Bin ich denn schon so senil geworden, dass ich gar nichts mehr begreife, was da in den Nachrichten abläuft?“ Aber Hans winkt nur müde ab und schüttelt den Kopf, das Ganze geht alles über seinen Horizont hinaus. Müde greift er nach seinem Bierglas und lehnt sich in seinem Sessel zurück.

Das Fernsehbild wechselt, der junge und adrette Nachrichtensprecher erscheint wieder. „Und hier sehen Sie die Erfolgsstory der neu gegründete Familienhilfe Onkind Köln mit einer ganz besonders vorbildlichen Umsetzung des Projektes. “

Auf dem Bildschirm erscheinen Kindergarten-Gruppen von ganz klein bis zu sieben Jahren, betreut von blitzsauberen jungen blonden Mädchen in braven dunkelblauen Kleidern mit großen weißen Kragen. Sie alle haben strahlend blaue Augen und rosige Haut, und ihr fröhliches Lächeln scheint ihnen angeboren zu sein, und alle sind jung, gesund und blond.

„Wir können doch die Kindererziehung nicht mehr den einzelnen Familien allein überlassen, dazu haben die modernen jungen Eltern doch gar keine Zeit mehr, und von Onkind erhalten sie ein komplettes professionelles Betreuungsprogramm. Und als Nebeneffekt sozusagen haben wir alle eine tolle qualifizierte Ausbildung als Kindererzieherin erhalten,“ sagt eins der jungen Mädchen und lächelt mit ihren schönen weißen Zähnen und ihre strahlend blauen Augen blitzen hell und freundlich in die Kamera.

„Sehen Sie selbst, sogar die Dreijährigen können schon schreiben und rechnen. Unsere familienspezifische Selektion war hier also auch sehr erfolgreich gewesen, man sieht heute überall nur noch gesunde, frische und quicklebendige Kinder. Ein kleiner dicker Knirps kommt durch das Bild gewackelt und grinst frech in die Kamera. „Ach, ist der niedlich!“ freut sich der Nachrichtensprecher.

Die Bilder wechseln und der Nachrichtensprecher sieht von seinen gelben Blättern konzentriert auf. „Und nun sehen Sie den Exklusiv-Bericht über die neu gegründeten Onko-Urlaubsstationen auf Mallorca für unsere älteren Mitbürger.

Diese Luxushotels, die früher nur für die Superreichen reserviert waren, wurden nun alle für unsere lieben älteren verdienten Mitbürger vollkommen altengerecht auf ihre ganz speziellen Bedürfnisse umgebaut. Ihre Zimmer sind hell und freundlich eingerichtet, denn für unsere verdienten Pensionäre ist uns nichts zu schade.

Sehen Sie, bereits in diesen Tagen sind die ersten 500 Pensionäre in ihre neuen Wohnungen eingezogen und sie fühlen sich in ihrer neuen Heimat pudelwohl, die ihnen so viel bietet, denn so einen wunderschönen Lebensabend haben sie sich ja schließlich verdient. Es kostet sie keinen Cent, dort zu leben, alles zahlt die „Onko-Direkthilfe“ für ältere Mitbürger“.

Hier sehen Sie, wie unsere verdienten Senioren verwöhnt werden. Jeden Tag erhalten sie fünf Mahlzeiten, sie können von den abwechslungsreichen Buffets frei wählen, die Kost ist ausgewogen, eiweißreich, voller Vitamine und alles ist so gesund.

Früh morgens um 8 Uhr treffen sich alle am Strand zum Frühsport, und sehen Sie mal, alle machen mit, alle sind fit, gesund und munter. Krankheit ist für sie ein Fremdwort, kein Wunder bei diesem gesunden Klima und der vorbildlichen Betreuung. Sie erhalten Massagen, Bäder und alle erdenklichen medizinischen Leistungen, um ihre Leistungsfähigkeit auch bis ins hohe Alter zu erhalten, denn sie sollen sich doch noch lange ihrer Gesundheit erfreuen!

Die meisten Einrichtungen haben sogar einen angeschlossenen Psycho-Park, der nach neuesten psychologischen Erkenntnissen geführt wird. Dort können sie alle ihre seelischen Belastungen aus der Vergangenheit und ihren schweren Arbeitsbedingungen verarbeiten. Sie werden von examinierten Fachkräften und den besten Therapeuten unseres Landes vorbildlich betreut, so dass sie hier richtig aufblühen. Sehen Sie doch selbst, nur glückliche Senioren überall!“ ruft der Nachrichtensprecher und seine Stimme überschlägt sich fast vor Enthusiasmus. In die Kamera grinsen vier alte stark geschminkte Damen, die vor ihrem Stück Erdbeertorte und einem Kaffee unter einem bunten Sonnenschirm auf einer riesigen Terrasse direkt am Meer sitzen. Der Schmuck glitzert auf ihrer eidechsenfaltigen Haut.

„Und morgen zeigen wir Ihnen den Exklusivbericht von Sun-City, der großen Seniorenzitadelle in Arizona. Das müssen Sie einfach gesehen haben, also schalten Sie morgen um die gleiche Zeit wieder ein.“ ruft der Nachrichtensprecher ganz aufgeregt und seine Stimme wird fast metallisch schneidend, am Schluss, als er meint, dass die Kamera abgeschaltet wurde, verzieht sich sein Mund zu einer starren Grimasse.

„Ob der wohl selber glaubt, was er da sagt? Die können doch nicht alle auf Mallorca sein, soviel Platz gibt es doch nicht auf der Insel. Irgendetwas stimmt doch nicht, man kann es förmlich fühlen. Irgendetwas Unheimliches ist da im Gange, alles sieht äußerlich so ganz normal, nach außen sogar viel besser als noch vor ein paar Jahren, und zwar für die ganze Bevölkerung.

Aber was soll das denn für eine Gefahr da draußen am Stadtrand sein? Gut, Köln wurde als „Zitadelle“ umbenannt, was für ein seltsames Wort, aber an diese Leute draußen hat sie bis dahin noch keinen Gedanken verschwendet, man lebt ja schließlich in einer Großstadt. Aber seltsam hört es sich doch an.“

„Und am Schluss bittet die Starnberger Polizei um Ihre Mithilfe für eine Suchmeldung: Weiterhin ist das Verschwinden der Schwestern Anna Wild (77) und Maria Maiersbronn (73) aus Bernburg bei Ebersberg völlig unklar. Die vermögenden Seniorinnen aus Bernburg sind schon seit 13 Tagen spurlos verschwunden. Die fieberhafte Suche nach ihnen geht weiter.

Ihre Handtaschen waren vor einem Strand Café an der Starnberger Seepromenade gefunden worden, das war ihre einzige Spur gewesen. Die Polizei überprüft jetzt alle Hotels und Gaststätten der Region und fragt nach ihrem Verbleib, aber alle ihre Recherchen waren bis zum heutigen Tag erfolglos. Sogar in der die König Ludwig-Votivkapelle im Berg und die Wallfahrtskirche in Planegg wurde gesucht. In den Hotels der Starnberger Region und in den Gaststätten wurden Fotos der alten Damen gezeigt. Außerdem werden Streifenwagen weiterhin die Seeufer abfahren und auf abgelegte Kleidung, Schuhe oder andere Gegenstände achten. Bis jetzt fand man lediglich ihre Handtaschen mit Ausweispapieren, ein Zugticket und eine leere Geldbörse gefunden.

Die Polizei hat sogar mit Hubschraubern und Einsatzbooten und Tauchern die Uferstreifen intensiv abgesucht. Aber bisher gibt es noch keine Spur von den tiefgläubigen Frauen, auch keinen Abschiedsbrief. Generell sei aber ein Verbrechen nicht mehr auszuschließen, denn die beiden Seniorinnen hatten ein großes Vermögen zu vererben, aber es gab fast gar keine Verwandten.

In ihrem Heimatort sind die beiden Vermissten als große Marienverehrerinnen bekannt. Sie hatten intensive Kontakte zu den „Marienjüngern“, und über Marienerscheinungen seien die beiden Seniorinnen „Immer auf dem Laufenden" gewesen. Sie hätten auch ihren Nachbarn und Kunden erzählt, dass im Jahr 2127 die Welt untergeht und darüber geklagt, dass „so viel geraubt wird und niemand mehr richtig an Maria glaubt".

Sie seien noch nie für längere Zeit weggefahren, und ihre Hühner hätten sie niemals alleine gelassen, berichteten Nachbarn. Kurz vor ihrem Verschwinden hatten sie einen Räumungsverkauf in ihrem Schuhladen gemacht und einigen Kunden sogar kostenlose Schuhreparaturen angeboten. Das kam den Nachbarn seltsam vor, denn sonst waren sie als sehr geizig bekannt. Noch merkwürdiger erschien es, dass die beiden Schwestern Anfang Oktober der Onko-Direkthilfe mit großem Medienaufwand einen ansehnlichen Geldbetrag gespendet hatten.

An allen Wallfahrtsorten wurden bereits polizeiliche Ermittlungen aufgenommen. Wer sachdienliche Angaben über den Verbleib der beiden Schwestern machen kann, wende sich bitte an die Starnberger Polizei oder alle anderen polizeilichen Dienststellen. Die gesetzlichen Erbverwalter der beiden Schwestern haben eine Belohnung von 200.000 Euro ausgesetzt. Und jetzt kommt der Wetterbericht der Region. Ein Tief “

„Hans, mach den Ton weg, mach aus, ich kann diesen ganzen Quatsch nicht mehr hören! Was sind das bloß für blöde Nachrichten, das ist ja nicht mehr auszuhalten!“

Der Fernseher schweigt, es wird plötzlich ruhig im Zimmer, nur das Bild mit der Wetterkarte flimmert über den Bildschirm. Aber Hans kann es nicht mehr aushalten. „Marthe, was ist bloß los in unserer Welt? Was sind das für furchtbare Nachrichten? Das war doch früher nicht so! Alles ist ganz anders geworden, ich kapiere überhaupt nichts mehr.“

„Mir geht’s genauso, was sollen wir mit solchen Nachrichten anfangen? Warum so ein Theater um zwei alte Frauen in Bayern, die wahrscheinlich vor lauter Depression ins Wasser gegangen sind?“

„Aber trotzdem wissen wir immer noch nichts Gescheites. Wieso sind Paula und Fritz verschwunden, einfach so in Urlaub gefahren, ohne uns vorher Bescheid zu sagen? Die hätten uns bestimmt was davon erzählt, die haben doch eigentlich gar kein Geld für Urlaub übrig, es reichte doch gerade wie bei uns fürs Leben.

Und wo hätten sie denn auch hinfahren sollen? Außerdem haben die doch auch gar keine Kinder und auch keine Verwandten mehr, zu denen sie hätten fahren können, wir waren die einzigen Verwandten. Und so ein Luxushotel auf Mallorca ist doch für sie viel zu teuer.“

„Da hast du recht “ sagt Marthe und zieht die Stirn in Falten.