Die blaue Tür - Karin Fruth - E-Book

Die blaue Tür E-Book

Karin Fruth

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Beschreibung

Zwei 11-jährige Mädchen, Nadia und Viola reisen in den Sommerferien zu ihrer Tante Bohuna nach Tschechien in die mittelalterliche Stadt Litomysl. Hier wurde der berühmte Komponist Smetana geboren. In Böhmen leben besonders viele skurrile, aber auch seltsame Menschen, die meistens immer lustig sind. In dieser alten Stadt finden sie ein geheimnisvolles altes Haus mit einer blauen Tür, hinter der sich eine wunderschöne junge Frau verbirgt, die ihnen die Zukunft voraussagt.

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Über den Autor

Karin Fruth

Dobry dien,

ich heiße Karin Fruth und wohne seit vielen Jahren in Köln. Früher unternahm ich mit meinem Mann, dem Archäologen Hermann-Josef viele Reisen mit dem grünen VW-Bus.

Eine Reise führte uns auch durch Tschechien, und besonders das Städtchen Litomysl hat mir sehr gefallen.

Dort habe ich auch viele nette Leute getroffen, die alle in meinem Buch vorkommen

Dieses Buch habe ich ganz besonders für Nadia und Viola geschrieben, zwei schwerbehinderte Mädchen, für die Sommerferien in Litomysl ein unmöglicher Traum gewesen wären

Karin Fruth

Die blaue Tür

Sommerferien in Litomysl

© 2022 Karin Fruth

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

Verlagslabel: TRAdeART

ISBN Softcover: 978-3-347-59095-3

ISBN Hardcover: 978-3-347-59096-0

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Das alte verträumte Renaissance-Städtchen Litomysl liegt in Böhmen in Tschechien, dem Geburtsort des berühmten Komponisten Friedrich Smetana.

Und hier geschah das Wunder, das verträumte Städtchen erwachte nach der Wende 1992 zu neuem Glanz, überall entstand bunte Vielfalt, nur wie alte kariös gewordene Zähne ragen noch die wenigen Häuschen heraus, deren Vorbesitzer nicht mehr zu ermitteln sind. Und die uralten Gebäude verbergen ihre Geheimnisse, die bestimmt noch zu lüften sein werden.

Viola und Nadia sind zwei elfjährige Mädchen, die ihre Sommerferien bei ihrer böhmischen Tante Bohuna in Litomysl verbringen. Eines Tages entdecken sie in einem ziemlich verfallenen Haus eine blaue Tür, dahinter treffen sie eine wunderschöne blonde Frau, von der sie sogar eingeladen werden. Zur Erinnerung schenkt sie ihnen ein Armbändchen mit einem blauen Fisch aus Lapislazuli.

Und es gibt noch mehr Begegnungen mit Menschen der Vergangenheit. Bei einer Schloss-Besichtigung schaut Nadia ein historisches Kinderzimmer an und plötzlich spricht das Mädchen zu ihr, dem dieses Spielzeug gehört hatte. Und bei einem Ausflug am See finden sie einen uralten jüdischen Friedhof mit einer verfallenen Mauer, ein jüdisches Kind erscheint und redet seltsame Dinge, die sie nicht verstehen.

An einem Regentag entdecken sie auf dem Speicher nicht nur die Hinterlassenschaften der weitläufigen Familie Bohunas, sondern auch Koffer von Reisenden aus der ganzen Welt. Und Katharina Smetanas Tagebuch scheint der Beweis zu sein, dass es die blaue Tür mit der schönen Frau wirklich geben muss.

Und als sie wieder nach Hause kommen, erfährt Nadia, dass ihr geliebter Opa gestorben ist, bei dem sie die ganze Zeit gelebt hatte. Aber es gibt trotzdem ein Happy End, denn Viola bekommt eine neue Schwester. Nadia wird mit in ihre Familie aufgenommen und so leben die beiden Freundinnen immer zusammen.

Diese Geschichte ist eine Hommage an die wunderschöne böhmische Landschaft mit seinen unzähligen Schlössern und Städten und seinen humorvollen und liebenswerten Menschen, in denen Schweyk um die Ecke zu grinsen scheint.

Und Nadia und Viola gibt es wirklich. Die echte Nadia hat eine hellbraune Haut und kirschschwarze Augen, sie trägt einen kurzen schwarzen Igelhaarschnitt und kann so schelmisch lachen und kichern.

Viola ist hellhäutig mit schneeweißer Haut und Sommersprossen. Sie trägt einen Riesenbusch knallroter Haare, hat träumerische grasgrünen Augen, und sie wirkt so zerbrechlich wie eine kleine Märchen-Prinzessin. Beide waren damals, als ich sie kennenlernte, 11 Jahre alt und gingen in die Körperbehindertenschule in Köln-Müngersdorf.

Und als ich mit ihnen spielte und sie nachmittags in ihren kleinen Rollstühlen in den Grünanlagen herumfuhr, erzählte ich ihnen viele Geschichten. Und dabei stellte mir die ganze Zeit vor, sie könnten in Wirklichkeit einmal fröhlich und unbeschwert wie Nadia und Viola in den Sommerferien zu ihrer Tante Bohuna nach Litomysl fahren. Natürlich haben sie nicht jedes Wort verstanden, aber ganz bestimmt hat es ihnen viel Spaß gemacht.

1. Endlich Sommerferien

Die Schulglocke bimmelt schrill, alle Türen in der Schule werden auf einen Schlag aufgestoßen und alle Kinder rennen kreischend aus den Klassenzimmern hinaus. Der letzte Schultag vor den großen Sommerferien ist eben immer der schönste und aufregendste Tag, auf den sie alle schon so lange gewartet haben!

Draußen lacht die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab. „He, hurra, los, nichts wie raus hier, wer ist der erste am Tor? Nun komm schon! Nadia, wo bleibst du denn? Du brauchst du dich nicht mehr über die blöde Lehrerin aufzuregen. Es ist vorbei, wir haben jetzt sechs Wochen Sommerferien, jetzt brauchen wir nicht mehr über die Schule nachzudenken! Stell dir mal vor, und ich bin noch nie die ganzen Sommerferien bei Tante Bohuna gewesen. Dort können wir endlich mal sechs Wochen faulenzen, schwimmen gehen und in der Sonne braten, das wird gaz toll,” ruft Viola laut und rennt hüpfend die Straße entlang.

“Ja, aber sie war doch wirklich ungerecht, und bei….”

“Nadia, hör jetzt endlich auf, du bist meine allerbeste Freundin, das weißt du ganz genau, aber ich will jetzt keinen Pieps mehr von der Schule hören, denn wir haben Sommerferien, sechs Wochen Sommerferien! Und außerdem darfst du die ganzen sechs Wochen mitfahren! Mensch, nun freu dich doch endlich auch mal!“

„Ja, da hast du wirklich recht, ich freue mich auch schon so drauf, ich war noch nie in den Sommerferien verreist gewesen,“ ruft Nadia fröhlich. Die Welt ist auf einmal wunderschön und die olle Lehrerin ist mit einem Schlag vergessen!

„Los, komm, die Mama hat bestimmt schon die Fahrkarten gekauft! Los, nun komm schon endlich und beeil dich mal ein bisschen,” schreit Viola aufgeregt und zerrt Nadia an der Hand hinter sich her. Sie stürmen durch die Haustür, rennen die Treppen des alten Mietshauses hoch in den vierten Stock, Viola klingelt stürmisch und trommelt ganz ungeduldig gegen die Tür, warum macht denn keiner auf? Sie kann einfach nicht mehr abwarten, so zappelig ist sie schon wegen ihrer Reise.

„Viola, spinnst du, du weißt doch, du sollst nicht immer so gegen die Tür knallen. Andre war gerade eingeschlafen, und jetzt hast du ihn schon wieder aufgeweckt! Hörst du, da heult er schon wieder! Ach, du bist ein schreckliches Kind!” sagt Violas Mutter, als sie endlich die Tür aufbekommt. Viola springt auf sie zu, und will sie stürmisch umarmen, aber die Mutter guckt ihr großes Mädchen vorwurfsvoll an.

Das beeindruckt Viola überhaupt nicht, heute kann keiner ihre gute Laune stören. „Mensch, Mama, Mama, wir haben Sommerferien, endlich Sommerferien! Hurra, hurra, hurra,” schreit Viola,“endlich Sommerferien!”, dabei schmeißt sie ihren Ranzen in den Flur und springt aufgeregt von einem Bein aufs andere um ihre Mutter im Indianertanz herum, so dass ihre langwallenden roten Locken wie ein dicker Mop nur so um ihr Gesicht springen. Dabei funkeln ihre Augen vergnügt.

Nur wer sie genauer ansieht, bemerkt, dass ihre Augen unterschiedlich gefärbt sind. Eins ist dunkelgrau und eins ist grasgrün mit lauter goldenen kleinen Einsprengseln. Außerdem hat sie im ganzen Gesicht Sommersprossen, besonders auf der Nase sprießen sie in jedem Sommer und sie werden immer mehr.

„Hurra, Ferien, Ferien, Ferien!” schreit sie laut und rennt der genervten Mama ins Kinderzimmer nach, wo ihr kleiner Bruder Andre gerade von ihrem Geschrei wach geworden ist und laut brüllend am Gitter seines Bettchens steht. Viola springt auf ihn zu und drückt ihm einen dicken Kuss auf die Wange.

Der Kleine hört schlagartig auf zu brüllen, und streckt Viola ganz aufgeregt seine dicken Händchen entgegen, jetzt lacht er sogar auf, als ihn Viola mit einem Schwung aus dem Bettchen nach oben reißt, und als sie ihn hochwirft, juchzt er laut auf. Nadia steht auf dem Flur und guckt sich alles lachend an. Sie kennt ihre beste Freundin Viola ganz genau, die ist immer so wild und die kommt immer damit durch, immer!

Da ist Nadia ganz anders. Sie ist ein hoch aufgeschossenes, dünnes großes dunkelhaariges Mädchen mit einem ganz kurzen Igel-Haarschnitt, ihre Haare stehen wie eine Bürste vom Kopf nach oben. Sie hat riesige dunkelbraune Augen und das ganze Jahr über eine bräunliche Hautfarbe. Manche Kinder in der Klasse ärgern sie immer wieder und nennen sie “Zigeunerkind”, und darüber kann sie sehr sauer werden. Und wenn es zu schlimm wird, muss sie vor lauter Wut oft darüber heulen, weil sie sich nicht so gut dagegen wehren kann! Die beiden Mädchen sind vom Temperament so verschieden, dass niemand vermuten würde, dass die beiden schon seit Kindergartentagen die allerbesten Freundinnen sind!

Schon kommt Viola wieder aus dem Kinderzimmer gesaust und umarmt ihre beste Freundin stürmisch, dann schiebt sie Nadia den langen Flur entlang in die Küche und sieht sich suchend um. Aha, da hinten auf der Fensterbank liegen schon die Zugfahrkarten und ein großer Fahrplan.

Sie will sich die Unterlagen gerade vom Fensterbrett hangeln, als ihre Mutter lachend im Türrahmen steht. Sie sieht wie eine erwachsene Kopie von Viola aus, hat den gleichen Mop roter Haare auf dem Kopf wie ihre Tochter und hat große dunkelgraue Augen und sommersprossige Haut.

Verschmitzt lacht sie auf und sagt: „Langsam, langsam, mein Violchen. Warte mal, ich setze mich gleich zu euch. Zuerst zeige ich euch den Fahrplan und dann die kriegt ihr die Fahrkarten erklärt. Außerdem habe ich eben noch mit Tante Bohuna telefoniert, aber jetzt ist alles klar. Die freut sich schon auf euch kleine Bestien, ich kapiere zwar nicht, warum, aber….!”

“Mama, du sollst nicht immer Violchen zu mir sagen, das hasse ich, das weißt du ganz genau! Und außerdem sind wir keine wilden Bestien, sondern liebe nette und freundliche junge und wohlerzogene Mädchen, die auf eine große Reise gehen!”

“Hahaha, ihr zwei lieb und nett, ich lache mich tot! Die arme Tante Bohuna, die tut mir jetzt schon leid! Aber jetzt mal Spaß beiseite, jetzt wird’s ernst. Seht mal, schon heute Abend um sechs Uhr fährt der Schnellzug ab, ihr fahrt mit dem Liegewagen nach Prag, um acht Uhr frühmorgens seid ihr da, dann müsst ihr dort umsteigen, aber ihr habt genau 20 Minuten Zeit dazu. Dann fahrt ihr weiter über Pardubice nach Hradec-Kralove, dort kommt ihr etwa gegen 10 Uhr früh an, und Tante Bohuna holt euch am Bahnhof ab.

Sie will mit euch in der Stadt frühstücken gehen, und dann fahrt ihr mittags zusammen mit dem Autobus nach Litomysl. Sie sieht zu schlecht und kann daher einfach nicht mehr Auto fahren. Stellt euch vor, nächsten Sonntag hat sie Geburtstag, sie wird dann schon 76 Jahre alt. Denkt bloß mit dran, dass ich euch das Geburtstags-Geschenk mit einpacke.

„Wie, wir fahren schon heute Abend los? Aber ich habe doch noch gar nichts eingepackt,” sagt Nadia erschrocken, „ich dachte, wir fahren erst morgen Abend los!”

„Für morgen war kein Liegewagenplatz mehr frei, nur für heute Abend gab es noch zwei Plätze für euch beiden. Mach dir mal keine Sorgen, meine liebe Nadia, ich habe vorhin schon deinen Opa angerufen, er weiß also schon Bescheid, dass ihr beiden heute Abend fahren werdet. Und der hilft dir doch bestimmt beim Packen, oder?“

„Aber ich kann doch alleine packen, ich bin doch schließlich kein Baby mehr,“ sagt Nadia fröhlich.

„Aber nehmt bloß nicht zu viele Sachen mit, ihr wollt doch dort keine Modenschau machen, oder? Ein paar Jeans, ein paar kurze Hosen, T-Shirts, Badezeug und fertig ist die Kiste. Handtücher und Bettzeug hat die Tante genug da, das alles braucht ihr nicht mit rumzuschleppen. Nadia, dein Rucksack steht schon fertig in deinem Zimmer. Und denke dran, du musst alles schleppen können!”

„Mama, und wo ist der Proviant? Wir brauchen unbedingt ein richtiges Fresspaket, sonst kommen wir nicht heil bei der Tante Bohuna an. Und außerdem, wer fährt uns zum Bahnhof? Nadias Opa hat Spätschicht, du kannst uns doch fahren, oder? Bitte, sag schon ja!”

“Na gut, aber wir müssen pünktlich und früh genug abfahren, ich will keinen Stress mit euch. Wir fahren also genau um 5 Uhr 30 von hier ab, dann haben wir noch genug Zeit auf dem Bahnhof!” lacht die Mutter. „Ihr habt noch genau 2 Stunden Zeit, also los!”

“Hurra, Mama, du bist die beste, du bist einfach die beste,” schreit Viola und springt ihre Mutter an, umarmt sie und küsst sie, bis sie fast keine Luft mehr kriegt.

„Los, Nadia, jetzt gucken wir mal in meinen Rucksack, und dann bist du dran!”

„Neee, Viola, das geht nicht. Mein Opa hat heute Spätschicht, oh Mann, dann muss der ja jetzt gleich weg zur Arbeit! Los, komm mit, ich muss jetzt sofort nach Hause rasen. Los, wir haben nicht mehr so viel Zeit. Frau Schwarzenberg, rufen Sie bitte den Opa an, dass er unbedingt auf uns warten soll! Wir beeilen uns auch!”

„Also beeilt euch, wie lange braucht ihr, schafft ihr es in 10 Minuten?”

„Na klar, das letzte Mal hatten wir es schon in sechs Minuten geschafft. Los, Viola, auf gehts! Also, Mama, bis gleich!” rufen beide im Chor und rennen los, die Haustür fliegt krachend hinter ihnen zu. Violas Mutter muss über die beiden Wildfänge schmunzeln, sie war als Kind genauso gewesen, sie hatte auch immer Hummeln im Hintern, daher weiß sie ganz genau, von wem Viola das Temperament geerbt hat!

Auf der Straße angekommen, rennen die beiden los, als ob sie einen Weltrekord gewinnen wollen, und nach ganz genau sechs Minuten flitzen sie durch das Tor auf den Hof, durch den Flur ins Hinterhaus, drei Treppen rauf, raus auf die Dachterrasse, noch eine Dachtreppe hoch, die Haustür steht offen, der Opa wartet schon ungeduldig auf die beiden!

„He, Mädels, ihr seid aber spät dran, ich habe gerade noch mal 10 Minuten Zeit für euch, dann muss ich los zur Spätschicht. Wie machen wir das bloß, ach, wie machen wir das bloß?” fragt der Opa ganz aufgeregt. Er ist mit seinen 63 Jahren nicht mehr der schnellste, und seitdem die Oma tot ist, ist er ziemlich klapperig geworden, das ist sogar schon Nadia aufgefallen. Aber Nadia liebt ihren Opa über alles, sie hat ja sonst niemanden mehr.

„Mädel, du bist meine Einzigste, das weißt du ja. Aber mit deinen 11 Jahren bist du eigentlich schon ein vernünftiges großes Mädchen. Also, pass gut auf dich auf! Du fährst ins Ausland nach Tschechien. Als ich Kind war, bin ich nie so weit alleine gefahren!“

„Aber wir fahren doch zusammen, da kann doch gar nichts passieren,“ sagt Viola und sie meint das wirklich so.

„Das weiß ich doch, du passt gut auf sie auf. So, und jetzt schau mal, hier ist dein Kinderpass, da drinnen liegt die schriftliche Bestätigung von mir, dass du allein ins Ausland reisen darfst. In diesem Umschlag ist das Geld für Violas Mutter für die Fahrkarte, und im zweiten Umschlag ist dein Taschengeld. Am besten tust du all diese Sachen erst mal in deine Gürteltasche, ich passe auf, damit du ja nichts vergisst. Sie hängt hier schon hier am Türgriff.“

„Klar Opa, alles o.k.“ sagt Nadia leise.

„So, seine Papiere muss man immer zuerst versorgen. Deinen Haustürschlüssel brauchst du ja nicht mitzunehmen. Wenn du deinen Rucksack gepackt hast und aus dem Haus gehst, schließt du die Haustür ab und wirfst den Schlüssel einfach in den Briefkasten, klar? Genauso, wie wir das immer gemacht haben, du weißt schon.“

„Klar, Opa, wir machen es so wie immer, nun mach dir bloß keine Sorgen, ich bin doch kein Baby mehr,“ sagt Nadia tapfer. Aber irgendwie muss sie etwas schlucken, ob sie es wirklich die ganze Zeit ohne den Opa aushalten wird?

So, Mädel, jetzt wird‘s aber Zeit, ich muss los, sonst kriege ich meine Bahn nicht mehr. Also, mach es gut, meine Nadia und pass gut auf dich auf. Komm her, ich drück dich noch mal fest! Ich muss nun aber wirklich los!”

„Opa, ich schreib dir bestimmt sofort am ersten Tag eine Karte, direkt, wenn wir angekommen sind. Mach es gut, also pass du auch gut auf dich auf. Tschüs.” flüstert Nadia und sofort laufen ihr die Tränchen übers Gesicht.

“Ach ja, auf dem Tisch ist noch Proviant für dich, da im Stoffbeutel, aber iss nicht alles auf einmal auf, sonst wird dir noch schlecht, hörst du?”

“Mann, ich ess doch nicht alles auf einmal auf! Los Opa, du musst jetzt wirklich gehen, sonst kommst du nachher zu spät und kriegst Stress auf der Arbeit, also beeil dich, und ab die Post!” sagt Nadia schniefend und schiebt ihn zur Tür.

„Mann, so ein großes Mädel heult doch nicht mehr. Los, jetzt aber ab in dein Zimmer, mach voran und vergiss bloß nichts, einzupacken. Und ich warte jede Woche auf eine Karte von dir, ist das klar? Guck mal, in sechs Wochen bist du doch wieder da, schön braun gebrannt und gut erholt.“ sagt er leise und drückt sie fest an sich.

Dann dreht er sich schnell um, schnappt seine abgeschabte Aktentasche mit der Thermosflasche und rennt los. Die beiden Mädchen hören ihn noch auf der Bodentreppe tappen, eine Tür klappt zu, und schon nach kurzer Zeit sehen sie durch das Flurfenster, wie er schnell über den Hof läuft und auf der Straße verschwindet.

“Ach, mein lieber Opa ist so ein lieber Mensch, und meine Oma war früher noch viel lieber,” sagt Nadia traurig, dann läßt sie sich auf einen Stuhl fallen und beginnt auf einmal, ganz heftig zu weinen.

“Mensch, Nadia, jetzt heul doch nicht rum, das wird doch alles ganz toll bei der Tante! Hör jetzt sofort mit der Flennerei auf, ist das klar? Wir sind doch jetzt die ganzen sechs Wochen in den Sommerferien zusammen, da hast du doch mich, oder etwa nicht?” sagt Viola tröstend und nimmt sie in die Arme. Sie weiß eben ganz genau, wie sie ihre beste Freundin richtig trösten kann.

“Viola, deine Haare kitzeln mich im Gesicht, und hör endlich auf, mich zu kitzeln! Hihihi, hör auf!” quietscht Nadia endlich atemlos, und schon wälzen sich die beiden Mädchen lachend über den Boden. Das geht so eine ganze Weile hin und her, bis im Wohnzimmer die Wanduhr anfängt, zu schlagen. Sie hören ganz andächtig zu und zählen mit, bis sie aufhört. Es ist genau drei Uhr.

“So, jetzt müssen wir aber deinen Rucksack endlich fertig packen!” In ihrem Zimmer liegen auf dem Bett schon die wichtigsten Dinge, die Nadia mitnehmen will. Sie müssen aber den Rucksack mindestens drei Mal ein- und wieder auspacken, bis endlich das allerwichtigste reingegangen ist. Am Schluss kommt noch der dicke Pinguin oben drauf, der muss unbedingt mit, denn ohne den kann sie nie schlafen. Er guckt gerade noch oben mit dem Schnabel aus dem Rucksack raus, das sieht sehr lustig aus. Die Wanderschuhe werden draußen an der Seite ganz zünftig festgeschnallt.

Endlich sind sie fertig, der Rucksack muss auf den Rücken. „Oha, das muss ich irgendwie schaffen,“ schnauft sie und schnallt sich die Gürteltasche um. „Jetzt muss ich mir nur noch den Stoffbeutel schnappen, ich will ja schließlich nicht im Zug verhungern! Was mag mir der Opa bloß alles eingepackt haben?“ sagt sie lachend zu ihrer besten Freundin. Ade, mein liebes Zimmerchen, denkt Nadia noch einmal kurz, aber dann geht’s raus, sorgfältig schließen sie die Haustür ab, wirft den Schlüssel in den Briefkasten und jetzt kann das große Abenteuer beginnen!

Keuchend kommen die beiden bei Viola zu Hause angewetzt, wo die Mutter schon ganz ungeduldig auf die beiden Mädchen wartet. “So, ihr zwei Hübschen, gut, dass ihr endlich da seid. Nadia, stell deine Sachen in den Flur und dann geht euch die Hände waschen. Zuerst werdet ihr erst mal etwas vernünftiges essen. Es gibt Schnitzel mit Blumenkohl, keine Widerworte. Und dann packen wir deinen Rucksack fertig, Viola.”

“Mensch, Mama, du weißt doch ganz genau, dass ich jetzt überhaupt keinen Hunger habe, ich muss jetzt sofort meinen Rucksack packen!” mault Viola.

“Nichts da, keine Widerworte, mein liebes Violchen, erst mal wird etwas gegessen, und dann wird erst gepackt!” sagt Violas Mutter streng. Das heißt für Viola, dass jetzt der Punkt gekommen ist, wo sie folgen muss, denn sonst gibt es wirklich Ärger mit der Mutter, und das will sie heute überhaupt nicht riskieren.

Dann sitzen sie brav am Küchentisch, bekommen ihre Teller und plötzlich haben sie einen Riesenhunger und spachteln drauflos. Hinterher verdrücken sie noch ein Schälchen Schokoladenpudding, dann sind sie wirklich pappsatt, so dass sie sich kaum noch bewegen können.

„So, Mama, ich bin fertig, kann ich jetzt endlich aufstehen? Wir müssen endlich packen, wir haben nicht mehr so viel Zeit!” sagt Viola und rutscht ganz nervös auf ihrem Sitz hin und her.

“Mein liebes Violchen, du hast noch eine ganze Stunde Zeit, bis wir los müssen, da wirst du doch deinen Rucksack gepackt kriegen, oder etwa nicht?” lacht die Mutter.

Die beiden Mädchen flitzen in Violas Zimmer, auf der Kommode liegt schon alles fix und fertig, sie brauchen es nur noch einzupacken, das geht ganz schnell. Schon nach kurzer Zeit ist alles reisefertig gepackt, und Viola nimmt sich auch ein Plüschtier mit, ihren alten Alf, der ist zwar schon was struppig geworden, aber der muss unbedingt auch mit.

„Mama, können wir nicht jetzt direkt fahren? Ich bin total aufgeregt,“ fragt Viola atemlos und hat ihren Rucksack schon aufgepackt.

„O.K., Kinder, habt ihr auch wirklich nichts vergessen? Wo ist das Geburtstagsgeschenk der Tante, hast du das auch eingepackt?“

„Ja, wir haben alles dabei, auch die Gürteltasche und den Fressbeutel, wir können endlich los.“

„Na dann, auf zum Auto, jetzt geht’s los.“ Sagt die Mutter lachend, die beiden Mädchen rennen aufgeregt voraus, so, als ob ihre Rucksäcke federleicht wären. In der Stadt ist überhaupt nichts los, in Rekordzeit sind sie am Bahnhof und finden sogar direkt einen Parkplatz. Jetzt haben sie fast noch zwei Stunden Zeit, bis der Zug endlich abfährt. Sie kaufen sich noch eine Bravo und ein paar kalte Getränke, dann gehen sie zum Bahnsteig Gleis 2 und warten ungeduldig auf den Schnellzug. Er wird zum Glück in Köln eingesetzt, das heißt, dass er schon eine halbe Stunde vorher einfährt.

Da können sie ganz gemütlich ihre Rucksäcke einräumen, ihre reservierten Liegewagenplätze beziehen, alle ihre Sachen verteilen und es sich richtig schön gemütlich machen. Zum Glück hat der alte Zug noch Fenster auf dem Gang, die man problemlos öffnen kann. Und als endlich der Zug pünktlich auf die Minute genau abfährt, hängen sie sich weit aus dem Fenster und können sie der Mutter noch lange zum Abschied winken.

„Ruft mich bitte sofort an, wenn ihr angekommen seid. Und grüßt die Tante Bohuna von mir. Und vergessst nicht, ihr morgen früh das Geschenk zu geben, hörst du?” ruft sie den beiden Mädchen im anfahrenden Zug hinterher.

“Tschüs, Mama, bis in 6 Wochen, tschüs, tschüs, tschüs!” schreit Viola mit ganzer Kraft, dann wird der Zug immer schneller, biegt um die Ecke und verschluckt die winkende Mama mit dem weißen Taschentuch.

“Uff, jetzt geht es endlich richtig los, hurra, wir haben Ferien, erst mal 6 Wochen Ferien, hurra!” ruft Viola und springt den langen Gang entlang.“Jetzt machen wir es uns erst mal bequem, und dann essen wir unseren Proviant auf und trinken was, dann……”

“Mensch, Viola, wir haben doch gerade eben noch Mittag gegessen, hast du etwa schon wieder Hunger?” sagt Nadia und beginnt, leise zu lachen. Ihre Freundin hat immer einen Bärenhunger!

“Na klar, was denkst du denn! Ich wachse doch noch, ich hab immer Hunger,” sagt Viola und muss auch lachen.

“Wir fahren, wir fahren, hurra, wir fahren, wir fahren, wir fahren!” rufen beide und fallen sich lachend in die Arme.

In ihrem Abteil sitzen noch zwei alte, sehr freundliche Leute, die ihnen einige Ingwerstäbchen und Marzipankartoffeln schenken. Die beiden erzählen den alten Leuten aus der Schule, von allem möglichem, so vergeht die Zeit sehr schnell. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, sie bauen sich ihre Liegen auf und machen es sich gemütlich, erzählen noch ein bisschen, futtern ihren ganzen Proviant auf, lesen, räkeln sich rum und sind schon bald fest eingeschlafen.

Und der Zug ratterte durch die Nacht. Zwischendurch werden sie von der Zollkontrolle geweckt, verschlafen suchen sie ihre Pässe und halten sie den uniformierten Männern entgegen. Die prüfen und drehen ihre Ausweise hin und her, gucken ganz streng auf den Begleitbrief und wollten einfach nicht mehr mit dem Kontrollieren aufhören. Endlich können sich die beiden Mädchen wieder zusammenrollen und etwas weiterschlafen.

Aber schon bald am frühen Morgen wird es unruhig in den Abteilen, überall tauchen unausgeschlafene Leute auf und stolpern auf den Fluren herum. Sie sind mit den abenteuerlichsten Dingen bekleidet, in denen sie die ganze Nacht geschlafen hatten. Vor dem Klo steht eine riesige Schlange mit wartenden Leuten mit Zahnbürsten und ganzen Kosmetikkoffern, denn für alle gibt es nur diese einzige Toilette mit einem winzig kleinen Waschbecken.

Verschlafen gucken sie kurz raus. Bei der Schlange müssen sie mindestens eine Stunde lang warten. Da bleiben sie lieber ungewaschen, sie fühlen sich noch sauber genug von gestern und sie wollen lieber noch etwas dösen. Aber die Ruhe ist vorbei, denn immer wieder rennen neue Leute auf den Fluren auf und ab, reißen geräuschvoll die Zugfenster auf, um zu rauchen, schieben die Abteiltüren auf und zu, zerren Koffer und Kartons hin zur Ausgangstür, reden, lachen, schimpfen, dazwischen quengeln einige Kinder, der Krach ist langsam nicht mehr auszuhalten.

Ein früher grauer Morgen bricht an, eine große und blanke Sonne geht auf, jetzt hält der Zug öfter und durch die offene Zugfenster hören sie die fremden tschechischen Zugansagen. Es wird 8 Uhr und nach dem Fahrplan müssen sie jetzt bald da sein.

Und plötzlich geht es geht ganz schnell und der Zug rattert in den Bahnhof von Prag ein. Schnell packen Viola und Nadia ihre Sachen zusammen, drängeln sich ungeduldig mit ihrem Rucksack durch die völlig verstopften Gänge, dann hüpfen sie fröhlich als erste aus dem Zug heraus, gerade in dem Augenblick, als er mit kreischenden Bremsen anhält. „Komm, Nadia, wir sind endlich da, nichts wie raus,“ ruft Viola fröhlich und nimmt Nadias Hand.

Überall stehen Leute auf dem Bahnsteig in Grüppchen herum, Koffer werden aus den Fenstern herausgereicht, Leute umarmen und küssen sich lange, ein alter Mann überreicht gerade einer noch viel älteren Omi eine langstielige Rose, zwei Kinder laufen mit einem Vogelkäfig den Bahnsteig entlang, in dem sich ein einzelner Wellensittich krampfhaft auf der Stange festzuhalten versucht.

Zwei Rucksacktouristen versperren ihnen den Weg, als sie die steile Treppe in die Wartehalle hinunter laufen, aber irgendwie quetschen sie an ihnen vorbei. Die Rucksäcke der beiden Mädchen sind auch nicht gerade sehr leicht, aber sie schleppen sie standhaft die nächste Treppe in die große Bahnhofshalle runter.

“Komm schon Nadia, hier ist Gleis 8, der Zug nach Hradec-Kralove fährt sonst ohne uns ab. Schau, da kommt er schon.“ Schnell steigen sie ein und er fährt pünktlich auf die Sekunde ab. Drinnen ist es ziemlich voll, aber sie finden noch einen freien Platz und sitzen im Abteil mit zwei Frauen und zwei kleinen quengeligen Kindern, die einfach nicht stillsitzen wollen. Die beiden Frauen gucken sie freundlich an und sagen etwas, aber als sie merken, dass die beiden kein Wort tschechisch verstehen, reden sie miteinander immer weiter.

Nach einer Stunde Fahrt sind sie endlich in Hradec-Kralove angekommen und der Zug fährt ganz langsam in den alten Bahnhof ein. Die beiden Mädchen hängen ungeduldig weit aus dem Abteilfenster. Sofort entdecken sie die gute alte Tante Bohuna auf dem Bahnsteig, sie hat die beiden Mädchen sofort gesehen und winkt aufgeregt.

Jetzt geht alles blitzschnell, sie springen blitzschnell aus dem haltenden Zug und zerren ihre schweren Rucksäcke einfach hinter sich her, und lassen sie auf den Bahnsteig plumpsen, dann rennt Viola mit weit ausgebreiteten Armen los, und schon nach ein paar Sekunden wirft sie sich der Tante Bohuna in die Arme.

„Violchen, mein Liebchen, da bist du ja! Mensch, Mädelchen, bist du groß geworden, lass dich mal angucken, scheen siehste aus!“ ruft die Tante und umarmt und küsst das Mädchen. Das sieht sehr lustig aus, denn Viola ist jetzt mindestens schon einen ganzen Kopf größer als die Tante, aber die war ja immer schon etwas klein geraten, dafür ist sie aber ziemlich breit geworden.

„Tante Bohuna, Mensch, ist das nicht toll, dass wir schon da sind? Hurra, wir haben sechs Wochen Sommerferien, hurra, wir können 6 Wochen bei dir bleiben, das ist so schön!“ schreit sie, so laut sie kann und küsst ihre Tante wieder und wieder und tanzt mit ihr auf dem Bahnsteig herum.

Nadia ist neben Violas weggeworfenen Rucksack auf dem Bahnsteig stehengeblieben. Was soll sie jetzt machen? Auch zur Tante rennen und sie umarmen? Nee, das kann sie doch nicht so einfach machen, die kennt sie doch noch gar nicht persönlich! Plötzlich fühlt sie sich so fremd hier, ob das wohl richtig war, einfach so mit Viola in dieses fremde Land zu dieser fremden Tante zu fahren? Sie kann doch gar kein tschechisch, und ob sie diese Tante sie überhaupt mag? Und was soll sie dann hier machen, wenn sie keiner haben will?

Und Viola, ihre beste Freundin, hat sie einfach so stehen gelassen, einfach so vergessen, und kalt ist ihr auch noch, und sie hat überhaupt nicht gut geschlafen….und irgendwie kullern da auf einmal ein paar Tränchen, sie kann gar nichts dagegen machen, ach, warum ist sie so einfach mit Viola in dieses fremdes Land gefahren, sie hätte doch auch mit dem Opa am Sonntag angeln fahren können, warum wollte sie denn unbedingt…..

Aber da kommt auch schon Viola zu ihr zurückgerannt, ihre roten Haare wehen im Wind. „He, Nadia, wo bleibst du denn?“ und dann, als sie die Tränchen in ihrem Gesicht sieht, guckt sie ganz erschrocken! „He, Nadia, was ist denn mit dir los, warum heulst du? Meinst du denn, ich hätte dich einfach so vergessen und stehen gelassen? Spinnst du denn total? Du bist doch meine beste Freundin, los, nun komm schon, die Tante Bohuna will dich doch auch kennenlernen, die hat sich doch schon so auf dich gefreut!“

„Viola, ich weiß doch nicht, ob…..“

„Quatsch, los, komm jetzt, wir haben doch jetzt Sommerferien, es wird doch ganz toll hier, du wirst schon sehen , und stell dir mal vor, die Tante hat schon zwei Stunden hier auf dem Bahnsteig auf uns gewartet, wegen uns hat sie die ganze Nacht nicht geschlafen! Los, jetzt komm schon, und sei keine Heulsuse, das kann ich überhaupt nicht ab!“

Aber da kommt schon Tante Bohuna ganz aufgeregt den Bahnsteig entlanggelaufen, sie humpelt ein bisschen, und sie kommt direkt auf Nadia zu, breitet die Arme weit aus, umarmt sie einfach und ganz fest und küsst sie auf die Wange. Nadia läßt es sich gefallen, aber sie muss darüber plötzlich lachen, es kitzelt nämlich, die Tante muss wohl einen Bart haben, genau wie der Opa. Und sie riecht wie Lavendel mit Sommeräpfeln, und sie fühlt sich ganz weich und rund an.

„Nadia, Mädelchen, sei herzlich willkommen, die wilde Viola hat sich einfach vorgedrängelt. Du bist ja noch größer als mein Violchen, aber du bist mir ein bisschen zu dünn, du musst bei uns viel essen, und rote Bäckchen musst du auch kriegen, dafür werde ich schon sorgen.“

„Ja, bei der Tante Bohuna müssen wir immer unheimlich viel essen, da nehme ich immer ein paar Kilo zu,“ sagt Viola unbekümmert.

„Ja, ohne richtiges Essen geht es nicht, aber jetzt kommt erst mal, ihr beiden wilden Racker, ich habe Kaffeedurst und solchen Hunger. Ich bin schon um Mitternacht aufgestanden, ich hab‘s gar nicht mehr im Haus ausgehalten, und bin mit dem ersten Bus um vier Uhr morgens losgefahren. Jetzt ist es schon neun Uhr, also gehen wir erst mal richtig frühstücken!“

„Ja, wir haben auch seit gestern nichts mehr gegessen,“ sagt Nadia fröhlich und zerrt ihren Rucksack hoch, „ich habe Hunger wie ein Bär.“

„Oh, Kinderchen, was machen wir bloß mit den Rucksäcken? Die sind ja viel zu schwer, die können wir doch nicht die ganze Zeit mit uns rumschleppen. Aber wartet mal, ich hab da eine sehr gute Idee. Kommt mal mit!“

Die beiden haben sich schnell die schweren Rucksäcke aufgepackt, die Tante ist inzwischen schon im Bahnhofsgebäude verschwunden, ah ja, da hinten verschwindet sie gerade um die Ecke, schnell rennen sie ihr nach, dann aber stocken die beiden und bleiben erschrocken stehen.

Die Tante verschwindet gerade in der Herrentoilette, da dürfen sie doch wohl nicht rein! Ob sie die Signatur übersehen hat? Aber sofort kommt sie wieder rausgeflitzt und winkt ihnen aufgeregt zu.

„Nun kommt schon rein, da drinnen im Klo arbeitet mein Großcousin Bernard, der passt da ein bisschen auf, damit alles sauber bleibt. Bei ihm können wir die Rucksäcke so lange unterstellen, dann müssen wir sie doch nicht mit uns rumschleppen. Das ist doch eine gute Idee, nicht wahr?“ lacht die Tante, „los, nun mal rein mit den Rucksäcken, der Onkel beißt euch nicht!“

Durch die offene Toilettentür guckt jetzt ein steinaltes Männchen, er grinst und lacht übers ganze Gesicht, er hat nur einen Zahn im Mund, das scheint ihm überhaupt nichts auszumachen! Fröhlich schüttelt er den beiden Mädchen die Hände und redet ganz freundlich auf sie ein, dann packt er ihre Rucksäcke, beide zugleich, in jeder Hand einen, der muss ja unheimlich stark sein!

Dann verlassen sie ganz erleichtert das alte Bahnhofsgebäude. Tante Bohuna guckt sich nach allen Seiten um, und dann zeigt sie auf ein altes Haus. „So, meine Mädelchen, jetzt geht‘s auf ins Café Smetana, das da hinten in der Ecke ist ein schönes altes gemütliches, mit viel Plüsch, aber lauft nicht so schnell, meine Hüfte will nicht mehr so richtig, ja, ja, wenn man alt wird, klappt das nicht mehr, so wie man will!“ sagt die Tante und schnauft schon etwas.

„Damit ich es nicht vergesse, Tante Bohuna, ich soll dich von der Mama grüßen, und ich soll dir sofort zum Geburtstag gratulieren, herzlichen Glückwunsch also, und ich soll dir auch etwas schenken, die Mama hat es gut eingepackt, damit es nicht kaputtgeht. Ach ja, das Geschenk ist leider im Rucksack, das kriegst du eben später noch!“ ruft Viola fröhlich. Sie hat Nadias Hand genommen und drückt sie ganz fest, und Nadia lacht inzwischen auch wieder, sie ist jetzt nicht mehr traurig, und diese Tante Bohuna mag sie richtig gern, das weiß sie jetzt schon.

Das alte Plüsch-Café ist am frühen Morgen erst halb gefüllt, die Tante dirigiert sie zu einem großen runden Ecktisch, und als sie sich hinsetzen, versinken sie fast in den alten dunkelgrünen weichen Plüschsofas. Dann gucken sie sich erwartungsvoll um, das sieht aber wirklich altmodisch hier drinnen aus, so ein altes Café gibt es in Köln nicht, und die vielen Spiegel und der dicke Kronleuchter sind für sie eine ganz andere Welt.

Es dauert endlos, bis endlich eine ziemlich unfreundliche lange dünne Frau mit einer schmuddeligen, ehemaligen weißen Schürze erscheint. Sie fragt etwas ganz mürrisch, die Tante redet und redet, sie bekommt einsilbige Antworten, das muss ja eine endlos lange Verhandlung sein. Dann schreibt sie etwas auf ihren Block und zieht endlich muffelig ab.

Die Tante lacht und sagt: „Puh, das ist wohl nicht ihr bester Tag heute, sie will uns einfach keine Palatschinken backen, ach, es ist doch immer dasselbe, sie wollen einfach nicht arbeiten am frühen Morgen, aber ein Stück Sahnekuchen von gestern bringt sie uns, aber frischen Kaffee wird sie uns wohl kochen! Es ist nicht zum Aushalten! Wann merken die mal endlich, dass wir zahlende Gäste sind, und dass der blöde Sozialismus endlich vorbei ist?“

„Ach, Tante Bohuna, wir essen eigentlich alles, wir haben solchen Hunger, wir könnten ein halbes Schwein aufessen,“ sagt Viola lachend.

„Ach, Kinder, warum rege ich mich denn überhaupt so auf, morgen früh mache ich euch ein richtiges Frühstück, aber mit Palatschinken, Marmelade, Kakao und alles, was dazugehört! Also, Kinderchen, regt euch nicht darüber auf, so ein blödes Verhalten bin ich inzwischen gewöhnt! Wie schön, dass ihr endlich da seid, ich habe mich schon so auf euch beiden gefreut. Ihr habt doch jetzt sechs Wochen Sommerferien! Und wisst ihr was, unser Bus geht in genau zwei Stunden. Bis dahin werden wir wohl was Warmes im Bauch haben!“

Es dauert ziemlich lange, als endlich der dünne Kaffee und die etwas lädierte Sahnetorte kommt. Und als alles bis auf das letzte Krümelchen vertilgt ist, haben die beiden Mädchen noch viel Zeit, sich in diesem uralten Plüsch Café umzusehen. Überall hängen alte Bilder von Königen, Menschen in Uniformen, Frauen in langen Gewändern, es gibt sogar ein großes total verstaubtes uraltes Klavier hinten in einem Saal. Und die Toiletten sind so groß wie Turnhallen, der einzige Unterschied ist nur, dass es sogar hier drinnen kleine Kronleuchter gibt.

Nach diesem etwas seltsamen Frühstück wandern sie ganz gemütlich zurück zum Busbahnhof, sie haben noch viel Zeit, ihre Rucksäcke aus dem Herrenklo zu holen, sagen dem Großcousin noch auf Wiedersehen, und dann schleppen sie ihre Rucksäcke an die Bushaltestelle.

„Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, aber Hauptsache, dass wir nicht zu spät gekommen sind,“ bringt Tante Bohuna nur noch schnaufend hervor und lässt sich auf eine Bank fallen.

Sie lachen und albern herum und endlich biegt ein alter klapperiger Bus um die Ecke und bleibt schnaufend direkt vor ihnen stehen. Ächzend gehen die alten Türen auf, der Busfahrer steht auf und klettert ganz steif heraus, murmelt kurz „dobry dien“, bleibt auf dem Fahrsteig stehen und zündet sich hastig eine Zigarette an.